Und ich vergebe dir nicht - Erasmus Herold - E-Book

Und ich vergebe dir nicht E-Book

Erasmus Herold

4,5

Beschreibung

Gütersloh im Hochsommer 2011. Ein Serienmörder verunsichert die Stadt. Seine grausame Bilanz nach nur fünf Tagen: Jeden Tag ein neues Opfer, in der Regel abends im Schutz der Dunkelheit ermordet. Die Mordkommission der Kreispolizeibehörde Gütersloh gerät unter Druck, denn offensichtlich besteht zwischen den Getöteten nicht die geringste Verbindung. Kriminalkommissar Patrick Gruber, soeben aus dem Urlaub zurückgekehrt, und Sarah Berger, strafversetzt aus einer verschlafenen Kleinstadt, übernehmen den Fall. Doch umso intensiver sie ermitteln, desto mehr Fragen wirft ihr Fall auf. Warum liegen alle Leichen an Straßenabschnitten entlang der Autobahn A2 und warum hinterlässt der Mörder am Oberarm seiner Opfer diesen rätselhaften Zahlenaufdruck aus schwarzer Tinte? Schon bald müssen die neuen Partner erkennen, dass ihr Gegner seinen eigenen Idealen folgt und er ihnen dabei immer einen Schritt voraus zu sein scheint.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 402

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,5 (35 Bewertungen)
23
5
7
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Über den Autor:

Erasmus Herold wurde 1969 in Bonn-Beuel geboren. Aufgewachsen in Paderborn, wohnt er heute in Stromberg (bei Oelde), ist verheiratet und Vater von zwei Töchtern. Nach dem Abitur und einer Ausbildung zum Datenverarbeitungskaufmann arbeitete er erst in Paderborn, später in Gütersloh.

Seit 2009 schreibt Erasmus Herold Romane. Laut eigener Aussage entspricht die Idee zum thematischen Aufbau seiner Krimis oft persönlichen Interessen, seien es die komplexen Verstrickungen innerhalb seiner Bücher, die lebensnahe Beschreibung seiner Protagonisten oder die Einbindung der Geschichte seiner Heimat Westfalens.

Erasmus Herold ist Mitglied in der Autorenvereinigung Das Syndikat. 2011 wurde Erasmus Herolds Debütroman „Krontenianer - Rendezvous am Bogen“ für den Deutschen Science-Fiction-Preis nominiert und erreichte Platz 5. 2015 wurde sein Krimi "Und ich richte ohne Reue" für den Buchpreis nominiert und erreichte Platz 3.

Veröffentlichungen:

2010: Krontenianer – Rendezvous am Bogen

2012: Und ich vergebe dir nicht

2013: Und dein Lohn ist der Tod

2014: Und ich richte ohne Reue

2015: Die Frau am Kreuz

Zusätzliche Informationen und Leseproben unter:

www.ErasmusHerold.de

Für Euch Drei.

Inhaltsverzeichnis

Simon Roth / 08. Juli 2011 / 22:17

Dienstwechsel / 09. Juli 2011 / 08:29

Sebastian / 09. Juli 2011 / 20:48

Max Engel / 09. Juli 2011 / 21:14

anders als erwartet / 10. Juli 2011 / 09:52

Richard / April 1980 / 11:48

Rosis Reise / 10. Juli 2011 / 21:44

Patricks erster Tag / 11. Juli 2011 / 7:39

In der Stadt / 11. Juli 2011 / 14:19

Problem gelöst / 11. Juli 2011 / 17:05

Was nichts kostet / 11. Juli 2011 / 21:01

Gesetzmäßigkeit und Serienmörder / 12. Juli 2011 / 02:43

gemeinsamer Einsatz / 12. Juli 2011 / 06:58

die Entscheidung / August 1982 / 14:55

spurlos / 12. Juli 2011 / 12:33

Anhaltspunkte / 12. Juli 2011 / 17:41

in Gefangenschaft / 12. Juli 2011 / 20:39

Jagd / 12. Juli 2011 / 21:27

Bekenntnis / 12. Juli 2011 / 23:08

Psychologie / 13. Juli 2011 / 08:21

Die Spur der Opfer / 13. Juli 2011 / 08:27

Showtime / 13. Juli 2011 / 10:00

Jemand zu Hause? / 13. Juli 2011 / 10:20

zu Besuch / 13. Juli 2011 / 10:49

getrennt ermitteln / 13. Juli 2011 / 11:53

Strafzettel 6969 / 13. Juli 2011 / 12:33

gemeinsame Ziele / 13. Juli 2011 / 13:47

anders leben / November 1982 / 15:22

Anruf mit Auswirkung / 13. Juli 2011 / 17:19

Eingekreist / 13. Juli 2011 / 19:22

auf ein Wort / 13. Juli 2011 / 20:03

Pharmakon / 13. Juli 2011 / 21:10

kurze Nacht / 14. Juli 2011 / 08:02

Verfolgung virtuell / 14. Juli 2011 / 08:37

Du sollst nicht / 14. Juli 2011 / 10:05

wo alles begann / Oktober 1986 / 11:02

verseuchte Datei / 14. Juli 2011 / 10:34

weggesperrt / November 1986 / 13:13

nachstellen und jagen / 14. Juli 2011 / 11:10

Druck der Öffentlichkeit / 14. Juli 2011 / 11:12

Zwischenstopp / 14. Juli 2011 / 12:09

Regines Freund / 14. Juli 2011 / 12:58

lokalisiert / 14. Juli 2011 / 14:16

neue Fakten / 14. Juli 2011 / 15:12

Glamour / 14. Juli 2011 / 16:43

nach oben / 14. Juli 2011 / 17:21

anderer Blickwinkel / 14. Juli 2011 / 17:37

eine Hand voller Verdächtiger / 14. Juli 2011 / 18:51

Unterschlupf / 14. Juli 2011 / 20:17

Ich oder Du? / 14. Juli 2011 / 20:41

Verderben / 14. Juli 2011 / 21:05

ein Monat danach / 14. August 2011 / 20:39

1. Simon Roth / 08. Juli 2011 / 22:17

Vor zwei Stunden hatte die Nacht ihren Schleier über Gütersloh ausgebreitet. Richtig dunkel war es nirgends in der westfälischen Kreisstadt, die nur in den Vororten wirklich schlief. Das öffentliche Netz künstlicher Beleuchtung glich dem unregelmäßigen Aufbau des Baldachinnetzes der Neriene-Spinne und erhellte unermüdlich die Innenstadt.

Inzwischen ließ das Verkehrsaufkommen der A2 spürbar nach und dennoch drang das Grundrauschen der Autobahn bis tief in den Brockweg hinein. Die Werbetafeln der Tankstelle leuchteten weithin sichtbar und informierten nebenbei über den durchgehenden 24-Stunden-Service. Kunden gab es genug. Auch zu später Stunde und nach Mitternacht bestand Nachfrage nach den verschiedenen Snacks und Kaffees zum Mitnehmen. Abseits des Hauptgebäudes, vor einer kleinen Reifenstation, standen einige Jugendliche beisammen und diskutierten lautstark über die Veränderungen im angrenzenden Viertel, während sich drei osteuropäische Jungen auf ihren Fahrrädern dazugesellten. Keiner von ihnen beachtete den modernen, dunklen Geländewagen, der langsam den Brockweg entlangfuhr und vor der Einbiegung zur Tankstelle abbremste. Das Schotterbett seitlich der Straße knirschte, als das grobe Profil der Bereifung die lockeren Steine beiseiteschob, dann hielt der SUV abrupt an. Obwohl die Scheiben weder getönt noch verspiegelt waren, hätte niemand den Fahrer beschreiben können, der mit der Dunkelheit des Innenraums eine Einheit bildete. Durch die heruntergeregelte Armaturenbeleuchtung und die grau-schwarze Kleidung, die er trug, verschwammen jegliche Konturen. Er verdrehte den Rückspiegel und warf einen knappen Blick hinein. Sein Haar, dunkel wie die Kleidung, benötigte dringend einen Schnitt. Vielleicht morgen. Samstags hatte er Zeit. Sein Bartwuchs war das Indiz vergangener, tatenloser Tage; irgendwie hatte er sich gehen lassen. Doch das sollte sich schon bald wieder ändern. Zufrieden lächelte er seinem Spiegelbild entgegen, drehte den Spiegel in die Ausgangsstellung zurück und nahm sich eine Minute Zeit, die äußere Umgebung auszuspähen und auf sich wirken zu lassen. Um nicht identifiziert werden zu können, hatte er die Nummernschilder gewechselt; zu diesen existierte keine gültige Zulassung. Die aufgeklebte Plakette war ein selbst angefertigtes Duplikat, für einen Laien nicht von einem Original zu unterscheiden. In aller Ruhe stieg er aus und ließ seinen Blick ein weiteres Mal in die Runde schweifen. In der Ferne führte eine Frau ihren Terrier angeleint spazieren, ein Pizzabote verschwand auf der anderen Straßenseite hinter der Abzweigung eines zurückliegenden Wohnhauses und die Gruppe Jugendlicher von der Tankstelle schien weiterhin mit sich selbst beschäftigt. Zielsicher öffnete er die Heckklappe des SUVs, griff hinein, und für einen Moment musste der gut Mitte vierzigjährige Mann sich anstrengen, um etwas Schweres aus dem Fond des Geländewagens zu wuchten. Die warmen Juli-Temperaturen, die auch noch zu diesen späten Abendstunden vielen Bewohnern Güterslohs zu schaffen machten, trieben ihm den Schweiß auf seine Stirn und Handgelenke. Für Sekunden erklang ein leises, unbedeutendes Röcheln, vielleicht ein Winseln: Auf jeden Fall ein menschliches Geräusch.

Unbeirrt griff der Fahrer nach seiner Fracht und zerrte eine gefesselte wie auch geknebelte, erwachsene, männliche Person aus dem hinteren Teil seines Wagens. Willenlos ließ sich das Opfer vor ein gut einen Meter hohes, metallenes Werbeschild der Tankstelle schleifen. In ihrer Formgebung bewies sich die Reklame nicht nur als unübersehbarer Blickfang bei Tag, sondern auch als dankbarer Sichtschutz in dieser Nacht. Benommen und mit flackernden Augenlidern kreiste der Gefangene seinen Kopf von einer Seite zur anderen. Sein weißer, ringförmiger Halskragen, sein Kollar, schien zu zwicken und ihn bei seinen zunehmend, unruhiger werdenden Atemstößen zu behindern. Der Entführer griff an dessen Nacken, löste den einen Knopf und lockerte dadurch das geistliche Erkennungsmerkmal. Fast dankbar öffneten sich die angstdurchdrungenen Augen, während das Opfer langsam zu Verstand kam. Der Entführer erhob sich aus seiner Hocke und kontrollierte den Straßenzug entlang des Brockwegs. Die Frau mit ihrem Hund war verschwunden, das Auto des Pizzaboten parkte immer noch in, für ihn, sicherer Entfernung, und sein SUV versperrte den Blick, falls unerwartet ein Fahrzeug aus Richtung Autobahn aufkreuzen sollte. Auf die Gruppe Jugendlicher und den Durchgangsverkehr der Tankstelle brauchte er nicht weiter zu achten, dem Werbeschild galt sein Dank. Der Entführer griff zur Außentasche seines Jacketts, zog eine handelsübliche Kunstoffspritze hervor und befreite die Einwegkanüle von ihrem Schutzhütchen. Ruhig, als wäre es der selbstverständlichste Akt, hockte er sich in die alte Position zurück und setzte die Nadel an den Oberarm des geweihten Amtsträgers. Jegliche Versuche, sich zu winden, den eigenen Arm aus dem Gefahrenbereich zu ziehen oder den gesamten Oberkörper vorne über zu werfen, scheiterten aufgrund der diffizilen Fesselung. Der starre Mundknebel gepaart mit unbändiger Panik, hervorgerufen durch die gegenwärtige Lebensgefahr, beschleunigten die Atemstörung des Opfers. Die daraus resultierende geringe CO2-Konzentration im Blut verursachte alsbald das Zusammenziehen der Hirngefäße. Die paradoxe Situation war vorprogrammiert: Trotz maximaler Sauerstoffsättigung durch die vermehrte Atemtätigkeit erfolgte die Unterversorgung des Gehirns mit Sauerstoff.

„Irrender, sterblicher Mensch. Wer machte ihn zu Gottes Stellvertreter? Nicht Gott!“

Mit diesen Worten injizierte der Geiselnehmer den Inhalt der Spritze in die Vene seines Gegenübers. Der Knebel wich nicht einen Zentimeter, und so blieb keine Chance, um vor den aufkeimenden Schmerzen aufzuschreien. Brennend, wie Feuer, wanderte die Flüssigkeit an den Muskeln des Oberarms vorbei, durchströmte die Achselhöhle, um danach seinen Weg Richtung Herz fortzusetzen. Ruckartig weiteten sich die Pupillen des Priesters zu gebanntem Starren, und noch bevor die Spritze an ihrem alten Platz im Jackett verschwunden war, verspürte das Opfer den kurzen Anflug von Blindheit, dann schoss ein weißer Blitz durch dessen Kopf. Herzstillstand.

Der Fahrer des SUVs schaute sich um, die Umgebung wirkte auf ihn unverändert. Für einen Moment bemerkte er den Geruch von schwerem Diesel in der Luft. Vorsichtig lehnte er sein Opfer nach hinten gegen die Reklametafel. Ein Blick zur Uhr. Es war schnell gegangen, schneller als erwartet. Aus der gegenüberliegenden Jackentasche holte er einen Stempel hervor, glich die Zahlen der Stempelplatte mit der aktuellen Uhrzeit ab und hinterließ seinen Abdruck auf dem Oberarm des Opfers, gut einen Zentimeter über der Einstichstelle. Das Aufstehen, das Umrunden und das Einsteigen in den Geländewagen glichen einer fließenden Bewegung. Wenig später startete der Motor.

Zurück blieb Simon Roth, der tote Priester.

2. Dienstwechsel / 09. Juli 2011 / 08:29

Bedächtig fuhr der 93er Honda Concerto den Westring entlang, um kurz vor seinem Ziel in die Herzebrocker Straße einzubiegen. Der Sprecher von Radio Gütersloh verkündete für den kommenden Tag warme 25 Grad, dazu eine leichte Brise. Nach den vergangenen Tagen voller Regen fieberte Sarah nach Sonne. Ihr Blick schweifte nach rechts, als sie die dreistöckige, weißgraugestreifte Kreispolizeibehörde erblickte. Ein leises Stöhnen entwich ihren Lippen und für kurze Zeit verkrampfte sich ihr Magen. Der Parkplatz für Angestellte wirkte überfüllt, dennoch lenkte sie ihren silbernen Viertürer über die betongraue Zufahrt.

Ah, eine Tiefgarage, dachte Sarah, als sie die Rampe zu den unterirdischen Parkflächen entdeckte.

Sie schaltete das Radio ab und riss den USB-Stick aus seinem Anschluss, um ihn anschließend in der Brusttasche ihrer Bluse verschwinden zu lassen. Entgegen jeder Erwartung bückte sie sich nach unten zum Beifahrerfußraum, denn der Stick hatte sich überraschend zwischen ihren Fingern selbstständig gemacht, als ein roter Kleinwagen aus einer der letzten Parkbuchten vor der Tiefgarageneinfahrt zurücksetzte. Sarah richtete sich gerade auf, da entdeckte sie direkt voraus die rote Beifahrerseite, dahinter das entsetzte Gesicht des sichtlich überraschten Fahrers. Adrenalin schoss durch Sarahs Adern, ihre Beinmuskeln spannten sich an und die Räder ihres ABS-losen Concerto blockierten. Der Wagen bockte und als der Motor erstarb, blieb ihr Fahrzeug im gleichen Atemzug stehen, wenige Zentimeter von einem leidigen Blechschaden entfernt.

„Verdammt!“, schrie sie auf und schlug mit der offenen Hand aufs Lenkrad.

Dann zog sie entschuldigend ihre Schultern nach oben und lächelte ihr Gegenüber zaghaft an. Mit schüttelndem Kopf setzte der andere seine Rückwärtsfahrt fort, lenkte hart ein und fuhr dann gemächlich an Sarah vorbei. Sie bemerkte, wie seine Blicke ihren Oberkörper musterten, ein Stück weit schien er sich seine eigene Art von Entschuldigung abzuholen.

„Schau nach vorne, du Penner“, fauchte sie ihm durchs offene Fenster entgegen. Doch ihr Vis-à-vis kümmerte das nicht.

„Was für ein beschissener Morgen! Wenigstens habe ich jetzt einen Parkplatz“, fluchte sie.

Sarah startet den Motor, steuerte an der Parkfläche vorbei und rangierte dann rückwärts in die freie Bucht. Wenige Minuten später stand sie vor dem Eckeingang der Gütersloher Polizeidienststelle.

Sarahs bisheriger Arbeitsplatz hatte sich im Erdgeschoss eines zweistöckigen Wohngebäudes befunden. Mit seinen drei langgezogenen Etagen und den zwei Untergeschossen war dieses Gebäude für eine einhunderttausend-Einwohner-Stadt nicht besonders groß, für ein Polizeirevier war es beachtlich. Die junge, brünette Frau starrte bewundernd an der Fassade empor und freute sich darüber, nicht für den Fensterputz der nicht enden wollenden Glaswand verantwortlich zu sein. Im Eingang rotierte ein großes Drehkreuz aus leicht satiniertem Glas und trennte die warme Außenluft von der heruntergekühlten Klimawelt im Inneren. Für einen Moment hielt sie inne und überlegte ihre nächsten Schritte, dann passierte sie den Durchgang. An der Aufnahme herrschte reges und vor allem geräuschvolles Treiben. Sarah blieb überrascht stehen. Zwei Männer, die nicht unterschiedlicher hätten sein können, und eine junge griechische Familie diskutierten über den Verbleib von inhaftierten Freunden oder Familienangehörigen. Zwei Frauen stritten miteinander um den Besitz einer eher altbackenen Tasche. Ein Mann schien den Verlust seiner Wertsachen melden zu wollen und äußerte schon vorab seinen Unmut über die Unübersichtlichkeit des auszufüllenden Formulars. Als drei Polizisten einen verhafteten, jugendlichen Skinhead vorbeiführten, der sich massiv zu wehren versuchte, erreichte die Lautstärke am Empfang ihren Höhepunkt. Es wurde diskutiert und durcheinandergeschrien, und obwohl die beiden Polizeibeamten hinter dem Tresen versuchten, den Wünschen ihrer Besucher gerecht zu werden, wirkte der erste Eindruck dieser Polizeiwache chaotisch und unorganisiert.

Ein Blick zur Uhr zeigte, es wurde Zeit, wenn Sarah pünktlich sein wollte. Vorsichtig schlängelte sie sich an den Leuten vorbei, holte ihren Ausweis hervor und hielt die Polizeimarke gut sichtbar über die Personen der ersten Reihe.

„Entschuldigen Sie! Wo finde ich Polizeihauptkommissar Ackermann? Andreas Ackermann?“

Es dauerte eine Weile, bis einer der beiden Polizisten ihre Marke entdeckte und Sarah beachtete.

„Wen suchen Sie?“, kämpfte er mit der eigenen Stimme gegen den herrschenden Lärmpegel an.

„Polizeihauptkommissar Ackermann. Andreas Ackermann.“

„Fahren Sie ...“ Er hielt inne und hob seine Hände schlichtend in die Höhe. „Bitte! Meine Damen und Herren! Seien Sie alle ein wenig ruhiger ..., sonst werden Tom und ich ...“, er klopfte seinem Kollegen auf die Schulter, „... eine Pause einlegen und Sie können hier warten.“

Tom lächelte zustimmend, stand unmittelbar auf und deutete an, zu gehen. Sofort reduzierte sich die Lautstärke der Anwesenden.

„Also - danke! Ackermann? Fahren Sie in die dritte Etage. Dort dem Gang nach rechts folgen, fünf Schritte später stehen Sie vor der Tür des Morddezernats. Falls Sie keine gültige Zugangskarte besitzen, einfach klingeln.“

Sarahs „Dankeschön“ ging im wiederkehrenden Tumult unter, denn sofort nahmen die anderen Gäste die zwei Polizisten erneut in Beschlag. Die Wegbeschreibung ließ keinen Irrtum zu und so erreichte Sarah schon bald die Räumlichkeiten ihrer neuen Arbeitsstelle. Die Tür stand offen und vor ihr eröffnete sich ein riesiges Großraumbüro mit sieben oder acht sich gegenüberstehenden Tischgruppen. An fast jedem der Arbeitsplätze liefen die Bildschirme, anscheinend unabhängig von der Frage, ob dort gearbeitet wurde oder nicht. Außen herum, vielleicht einen Meter von den Fensterfluchten entfernt, hingen Karten, Fotogruppen und Flipchart-Notizen an Leichtbauwänden. Dazwischen sorgten Nischen mit Petticoat- oder Yucca-Palmen für einen Anschein von Gemütlichkeit und Harmonie. Inmitten der Stützpfeiler, die in zwei langen Reihen den Raum durchschritten, hingen vergilbte Neonlichtschienen, hier und da elektrische Insektenfallen. Dieser Büroausstattung etwas abzugewinnen, fiel Sarah schwer, doch es überraschte sie, an einem Samstag so viele Mitarbeiter im Büro anzutreffen.

„Entschuldigung. Wo finde ich Polizeihauptkommissar Ackermann?“, fragte sie den nächstbesten Kollegen.

„Gehen Sie gerade durch. Sehen Sie dort hinten die drei abgetrennten Büroräume?“

Sarah nickte.

„Es ist die rechte Tür.“

„Vielen Dank.“

Entschlossen marschierte Sarah auf ihr Ziel zu. Während sie mit der rechten Hand die Bluse zurechtrückte fuhr sie mit der anderen durch ihre braunen, schulterlangen Haare. Ein letztes Mal kräftig durchatmen, dann klopfte sie an den Rahmen der angelehnten Tür.

„Es ist doch offen, kommen Sie rein!“

Sarah schob die Tür beiseite und betrat das kleine, aber überraschenderweise penibelst aufgeräumte Büro. Hinter dem hellen Schreibtisch saß ein korpulenter Mann Anfang fünfzig. Seine hellen, ausgedünnten Haare erlaubten die Sicht auf die Kopfhaut und erste graue Härchen unterwanderten seinen gepflegten Vollbart. Das dunkelgrüne Hemd mit den versetzt aufgenähten Stickern, das er trug, glich einem Fehlgriff im Kaufhaus; wirkte wie aus dem Schrank seines Sohnes. Als der Hauptkommissar Sarah erblickte, stand er auf und zum Vorschein kam eine altmodische, graue, zerknickte Bundfaltenhose.

„Frau Berger, nehme ich an?“

„Richtig, Sarah Berger“, entgegnete Sarah forsch und streckte ihm ihre Hand entgegen. Sie hatte sich vorgenommen, sich von vornherein durch kühnes und selbstsicheres Auftreten als emanzipiertes und selbstbewusstes Mitglied des neuen Teams zu verkaufen.

„Ich bin Andreas Ackermann, hier der Chef und ganzheitlich Verantwortlicher des Morddezernats.“

Er schüttelte Sarahs Hand und wies ihr den Stuhl vor seinem Schreibtisch. Beide nahmen Platz.

„Es ist nett“, ergriff Sarah sogleich das Wort, „dass ich hier bei Ihnen neu einsteigen darf.“

„Mit nett hat das nicht viel zu tun. Sie haben einen Polizisten und Kollegen geschlagen und ...“

„Das ist richtig. Ich habe ihm das Nasenbein gebrochen.“

„Sehen Sie! Mit nett hatte es also gar nichts zu tun. Letztendlich schuldete ich dem alten Schubert einen Gefallen. Nun habe ich Sie an der Backe.“

Ackermann musterte sein Gegenüber.

„Erzählen Sie mal, was ist da drüben bei ihrem Boss Schubert passiert? Warum gab es dieses Gerangel?“

„Der Kollege hieß Bernd Winkler. Stand nach dem Dienst auf dem Parkplatz plötzlich hinter mir. Hätte er nicht an meinen Arsch gefasst, hätt‘ ich ihm nicht die Nase geklatscht. Die ist nun hin.“

„Und Sie haben dafür ein Disziplinarverfahren am Hals.“

„Die Rechte der Frau sind manchmal leider nur mit den Waffen eines Mannes zu erstreiten.“

„Aber Nasenbruch?“

„Konditionierung!“, entgegnete Sarah keck und Hauptkommissar Ackermann schaute sie fragend an. „Lernen aus Schmerzen!“

Ein leichtes Schmunzeln legte sich auf Ackermanns Lippen, dann wurde er wieder ernst.

„Belassen wir es dabei. Dank Ihres letzten Vorgesetzten haben Sie hier eine zweite Chance.“

„Ich weiß das.“

„Gut. Nennen Sie mich ab jetzt Andreas. Das halten wir hier im Revier so unter Kollegen. Willkommen an Bord.“

Sarahs und Andreas‘ Blicke trafen sich. Für einen Moment wollte keiner von beiden weichen, dann gab sie nach, griff zur Umhängetasche und nahm eine braune Kladde heraus, die sie dem Hauptkommissar reichte.

„Hier sind meine Unterlagen im Original, die ich vorab per Mail gesendet hatte.“

„Prima - wieder etwas für die Akten.“

Andreas erhob sich aus seinem Bürosessel und legte die Dokumente auf eine der silbernen Hängeregistraturen neben dem Schreibtisch. Er schwenkte zu Sarah zurück.

„Ihr neuer Partner, Patrick Gruber, er ist Kommissar wie Sie - ähhh du. Also. Patrick kommt am Montag aus seinem Urlaub zurück. Ab dann seid ihr beiden ein Team.“

Sarah nickte. „Und wie ist Patrick so?“

„Hmmm. Vor drei Monaten hat er seinen alten Partner verloren. Er und Frank, sie waren ein eingeschworenes Paar, verstanden sich blind. Franks Tod hat ihn etwas aus der Bahn geworfen.“

„Was heißt: ,aus der Bahn geworfen‘?“, wollte Sarah wissen.

„Ich habe ihn danach eine Zeit lang alleine ermitteln lassen. Ihn später hier und da mal bei anderen Gruppen mit eingespannt. Aber das ist dauerhaft keine Lösung. Patrick braucht Bindung zu einer neuen Person. Ich denke, er ist kein Einzelgänger; benötigt ein Stück weit geregelte Bahnen. Und als Schubert angerufen hat ... “ Andreas schmunzelte. „Du bist die Lösung!“

„Bin ich hier der Sündenbock, der sich mit dem angeschlagenen Ermittler dieser Wache herumschlagen muss?“

„Sieht wohl so aus, Sarah. Wer als Letztes kommt, hat am längsten gevögelt. Soll heißen – dein Pech, Arschkarte.“

Sarah schwieg einen Augenblick, dann schaute sie wieder zu Andreas.

„Zumindest: Danke für das offene Wort.“

„Und? Hältst du dich an das vorgegebene Programm?“

„Natürlich, so wie abgesprochen. Zweimal die Woche, abends. Gestern war mein erster Termin, der nächste ist am kommenden Mittwoch.“

„Das ist gut. Wenn es irgendwo Schwierigkeiten geben sollte, kommst du zu mir.“ Andreas deutete zur Tür. „Damit wären wir fertig. Nun gehst du ins zweite Untergeschoss. Die Asservatenkammer ist direkt neben dem Lift. Waffe, Handschellen und Ausweis unserer Dienststelle liegen für dich zur Abholung bereit. Anschließend heißt es: Schönes Wochenende. Wir sehen uns Montag.“

Sarah stöhnte frustriert auf, als sie sich von ihrem Stuhl erhob.

„Ich glaube, ich wiederhole mich heute. Was für ein beschissener Morgen!“

Sie ging zur Tür, lächelte ihrem neuen Chef höflich zu und verließ das Büro.

3. Sebastian / 09. Juli 2011 / 20:48

Anstelle des Radios lief der Gütersloher Polizeifunk. Das Programm bot wenig Neues. Voneinander abweichende Meldungen über Einbrüche im Industriegebiet Spexard erforderten den Einsatz zusätzlicher Streifenwagen. Eine Verfolgungsjagd entlang der B61, der Hauptverbindung zwischen Bielefeld und Wiedenbrück, trieb das fliehende Fahrzeug unaufhaltsam auf die vorbereitete Polizeisperre zu. Eine Routinekontrolle am Mohns Park war in einem Schusswechsel zwischen Drogendealern und Gesetzeshütern geendet. Darüber hinaus die Tat eines verrückten Zoobesuchers, der in Bielefelds Tierpark Olderdissen das Gehege der Alaska Braunbären aufgebrochen und in der Folge die Leben der anwesenden Spät-Besucher riskiert hatte.

Unerwartet viele Vorkommnisse für eine Region mit nicht einmal fünfhunderttausend Einwohnern.

Von Ungeduld getrieben und bereits seit über einer Stunde unterwegs, kurvte der Fahrer des dunklen Geländewagens umher. Er spürte die Unruhe und das Verlangen, heute wieder zur Tat schreiten zu wollen. Doch er war zu früh dran, deshalb die ungezählten Umwege und Zwischenstopps. Neun Uhr, bis dahin lief die Frist.

An Ausfahrt 2 verließ er die Autobahn in Richtung Innenstadt und bog bald darauf in die Bruder-Konrad-Straße. Den ganzen Tag mit einem Ohr dem Funk folgend, hatte sich gezeigt: Nach einem dunklen Wagen, größer als Mittelklasse, wurde nicht fahndet.

Wie gleichgültig die Bewohner doch sind. Sie kennenden Nachbarn links und rechts, wissen die Nummer des Pizzaservice und zelebrieren den wöchentlich wiederkehrenden Transport ihrer Mülltonne an die Bordsteinkante. Lauter Leben voll von Gleichgültigkeit.

Die Ampel am Ende der Straße wechselte von Gelb auf Rot und der anthrazitfarbene SUV reduzierte seine Geschwindigkeit. Die Stimme des Navigationssystems überlagerte das Grundrauschen des Polizeifunks. Dreihundert Meter bis zum Zielpunkt.

Noch vor neun Uhr! Doch es wird bereits Nacht.

Der Fahrer lächelte zufrieden, deaktivierte das Navi und streichelte liebevoll über das kleine schwarze Kästchen seines Funkscanners. Wieder einmal bewahrheitete sich, was seine Mutter ihn immer gelehrt hatte: „Wenn du dir mit etwas eine Freude machen willst, kauf etwas Gutes. Du wirst ansonsten zweimal kaufen.“ Und natürlich hatte seine Mutter recht gehabt. Mutter. Vor Jahren gestorben, genauso wie sein Vater. Dort oben würden sie es besser haben, da war er sich sicher. Doch er nahm sich vor, diese Woche ihrem irdischen Gedenken gerecht zu werden und neue Blumen zu pflanzen.

Vorsichtig trennte er den Scanner vom Strom, um ihn hinter der Verkleidung der Mittelkonsole vor neugierigen Blicken zu verbergen. Obwohl er sich für Technik nur oberflächlich interessierte, begeisterte ihn die Ausgabequalität und die Reichweite des kleinen Geräts.

Dann endlich war es soweit. Er hatte sein Ziel erreicht, ein Hotel in der Neuenkirchener Straße. Die Lampen zu beiden Seiten der Einfahrt leuchteten hell, brachten ein Gefühl von Sicherheit.

Eine trügerische Sicherheit, dachte der Fahrer und fieberte voller Vorfreude dem unvermuteten Besuch entgegen.

Kurzerhand steuerte er den Wagen an drei parkenden Autos vorbei und wählte einen einzelnen Stellplatz am Ende des Grundstücks. Sein Seesack, vorbereitet als Vorwand, blieb vorerst im Fahrzeug zurück. Nach wenigen Schritten hatte er den Eingang erreicht, öffnete die Tür und betrat die Rezeption.

„Schönen guten Abend.“

Er benötigte lediglich den Bruchteil einer Sekunde, um festzustellen, dass die Situation nicht war, wie erwartet. Die Frau, die ihn am Empfang begrüßte, passte nicht in seine Planung. Doch sie schien in Eile, blickte kaum auf. Hektisch warf sie ihre Jacke über, suchte in der Handtasche nach ihren Schlüsseln. Mit einem Mal hielt sie inne und betrachte den dunkel gekleideten Gast, der nach ihrer Vorstellung so gar nicht in dieses Etablissement passen wollte.

„Ähhh, Sebastian wird sofort bei Ihnen sein. Einen kleinen Augenblick ... bitte.“

„Ist kein Problem, Sebastian wird mir sicherlich helfen können.“

Oder ... ich ihm.

„Ja, es ist bereits seine Schicht. Ab Neun macht der Inhaber immer selbst Dienst. Ich muss nach Hause zu meinem Jungen.“

„Sie sollten Ihr Kind nicht warten lassen! Ich bin schon groß.“ Er lächelte höflich und irritierte die Angestellte damit ein weiteres Mal. „Sebastian wird schon kommen.“

„Danke, das ist aber nett. Wenn ich jetzt noch die verdammten ... Ach, da sind sie ja. Also danke.“

Im gleichen Atemzug hechtete die junge Frau durch die Eingangstür des Hotels nach draußen. Bald darauf startete ein Wagen und verließ mit aufheulendem Motor den Parkplatz.

Jetzt, endlich war es soweit. Er bemerkte eine gewisse Angespanntheit und Nervosität. Nicht Angst oder gar Zweifel. Mehr eine Art Vorfreude, das Ziel fest vor Augen.

Der kräftig gebaute Mann, der den Gang entlanggeschlurft kam und dem man ansah, dass er nötigenfalls zu einer gewissen Rauheit imstande war, verkörperte das Idealbild eines Kupplers und Zuhälters.

„‘n Abend“

„Guten Abend. Sebastian, denke ich?“

„Wieso denken Sie das?“, maulte dieser.

„Vielleicht, weil Ihre Kollegin, die eben nach Hause gehechtet ist, sagte, dies wäre Ihre Schicht.“

„Sabine ist schon weg?“

„Auf dem Weg zu ihrem Jungen.“

„Verdammter Schitt! Wie oft soll ich ihr noch sagen, dass der Empfang und die Kasse nicht unbeaufsichtigt bleiben dürfen.“

„Ich bin doch hier.“

„Sie könnten ein verschissener Dieb sein.“

„Oder ein nicht-verschissener Gast.“

„Ich werde das mit Sabine klären müssen.“

„Wohl eher nicht“, dachte er bei sich, hingegen antwortete er: „Wir werden sehen.“

Sebastian schaute seinen Besucher irritiert an.

„Also, was wollen Sie?“

„Dies ist ein Hotel. Wie wäre es mit einem Zimmer?“

Für einen Moment überlegte Sebastian, was er von seinem geschniegelten Gesprächspartner halten sollte.

Vorlauter Bengel.

Doch die Woche war nicht sonderlich gut gelaufen, die Kasse so gut wie leer.

„Dann wollen wir Sie mal in unser Gästebuch eintragen“, presste der Hotelchef mit gequältem Grinsen hervor. „Wie lautet Ihr Name?“

„Warum benötigen Sie meinen Namen? Ich will ein Zimmer für eine Nacht und ich werde im Voraus bezahlen. Natürlich in bar.“

„Ich muss Sie hier eintragen! Steuerprüfung, Sie verstehen?“

Er tippte genervt auf sein Buch, musterte den Gast und entdeckte auf dessen dunklem Troyer, seitlich am Kragen, den Schriftzug des Herstellers Dupont. Sebastian grinste.

„Haben Sie bereits ein Zimmer aus unserem Katalog gewählt? Vielleicht die Jungfrauengrotte oder das Nonnenzimmer?“

„Ich überlasse Ihnen die Wahl!“

Hauptsache es geht schnell und wir bleiben die nächsten Minuten ungestört.

Möglichst unauffällig musterte der Mann, für den Sebastian den Namen Dupont ins Gästebuch eingetragen hatte, die beiden angrenzenden Flure, die vom Empfang zu den Zimmern führten.

„Wie sieht es aus mit Geselligkeit?“, unterbrach ihn Sebastian. „Wünschen Sie im Verlauf des Abends Damenbesuch?“

„Geselligkeit? Nein, ich denke nicht.“

„Nun gut ..., Herr Dupont. Dann buchen wir für eine Nacht das Nonnenzimmer. Wie sieht es aus mit Gepäck?“

Endlich.

„Ich besitze einen Seesack, dazu einen verrenkten Rücken.“

Aufmerksam verfolgte Dupont, wie sein Gegenüber auf den inszenierten Plan reagierte. Er spürte, wie er unruhig wurde, seine Hände gerieten ins Schwitzen.

„Ob Sie mir helfen würden? Mein Wagen steht draußen vor Ihrer Unterkunft.“

„Service kostet extra.“

„Das sollte kein Problem sein.“

Die beiden verließen den Empfang des Hotels und betraten den Parkplatz. Am schlurfenden Gang des Hotelbesitzers hatte sich nichts geändert. Dupont verkleinerte seine Schritte, und als Sebastian ihn fast eingeholt hatte, blieb er für einen Schritt lang stehen, streckte die Hand aus und zeigte auf den dunklen SUV am Ende des Grundstücks. Nun war es soweit, er hatte das Opfer in der gewünschten Position. Sebastian übernahm den Vortritt und hatte nicht einmal bemerkt, wie sein Gast die Situation kontrollierte.

„Hey, warum so weit abseits geparkt? Neben dem Eingang ist alles frei!“

Anstatt zu antworten, versank Dupont in Gedanken. Die heutige Tour hatte sein Leben verändert, denn genau an diesem Ort hatte er ein Pseudonym erhalten, einen fingierten Namen.

„Ich bin Dupont“, dachte er zufrieden und deutete auf den Kofferraum.

Im gleichen Atemzug griff er zur Hosentasche und spürte die lange, sehr stabile und spitze, keinesfalls aber scharfe Klinge des mitgeführten Stiletts.

Schwerfällig öffnete Sebastian die Heckklappe, doch anstatt hineinzugreifen, schwenkte er herum und schubste seinen Gast zurück.

„Kleb mir nicht so dicht am Hintern! Was soll das? Sicherheitsabstand!“

Sichtlich überrascht riss Dupont die Hand aus seiner Tasche und stellte sich zwei Schritte abseits. „Alles gut, Großer. Bist nicht mein Typ. Der Seesack liegt gleich vorne, siehst du ihn?“

Sebastian fasste in den Kofferraum und zerrte das Gepäck heraus. Anders als zuvor von Dupont geplant, traten die beiden den Rückweg zur Rezeption gemeinsam an.

„Das Nonnenzimmer ist den ersten Gang runter, auf der rechten Seite die dritte Tür.“

Dann treffen wir uns dort, dachte Dupont. „Okay“, entgegnete er. „Ich gehe vor und bahne dir den Weg. Du bringst meinen Sack und ich kann endlich an der Matratze horchen. Es war ein langer Tag für mich.“

Der Hotelbesitzer murmelte irgendetwas, doch sein Gast hatte sich bereits zu weit entfernt, um die Worte verstehen zu können. Als Sebastian endlich um die Ecke gebogen kam, stand Dupont im Türrahmen und wartete. Ihre Blicke trafen aufeinander. Er hasste den kräftig gebauten Mann für das, was er trieb, und das, was er tat. Den Bruchteil einer Sekunde verschwendete Dupont an die Frage, ob er sich auch für sein eigenes Tun hassen müsste. Die Antwort schien Makulatur.

Blitzartig schoss der rechte Arm nach vorne und stach das silberne Stilett zielsicher ins Herz. Sebastian riss die Augen auf, schnappte nach Luft, dann entglitten ihm seine Gesichtszüge und sein Oberkörper begann zu zittern. Die Stichwaffe hatte erreicht, wofür sie geschaffen worden war, sie verursachte wenig äußerlich sichtbaren Schaden. Lediglich ein kleines Rinnsal färbte Sebastians Hemd rot. Der innere Schaden dagegen war beträchtlich. Tödlich.

Dupont genoss die innere Genugtuung, nach der er den ganzen Tagen gefiebert hatte, und zog die Klinge heraus. Das Opfer kippte vornüber, schlug auf seine Knie und dann der Länge nach hin. Ohne weiteres Mitgefühl reinigte Dupont seinen Gnadengeber am Hemd der Leiche, steckte die Waffe zurück an ihren Platz und schleppte das regungslose, korpulente Opfer in die Abgeschiedenheit des Nonnenzimmers. Nachdem sein prüfender Blick ihm bestätigte, dass er kein Aufsehen erregt hatte, schloss er die Tür, holte seinen Stempel hervor und glich die Zahlen der Stempelplatte mit der aktuellen Uhrzeit ab. Das Stigma, dass er auf dem Oberarm des Opfers hinterließ, glänzte in sattem Schwarz, und Dupont lächelte zufrieden.

4. Max Engel / 09. Juli 2011 / 21:14

Knatternd rumpelte der safrangelbe AMC Pacer auf die Parkfläche der Wohnanlage an der Fröbelstraße. Die Radkästen zeigten unübersehbare Spuren von Rost und die Quietsch- und Knarzgeräusche forderten einen baldigen Werkstattbesuch. Ungeachtet dieser Ermüdungserscheinungen liebte Sabine ihren Frosch über alles, der Dank feudaler Fensterflächen den Eindruck grenzenloser Freiheit vermittelte. Außerdem: Welches ausländische Auto konnte schon von sich behaupten, für einen bequemeren Einstieg in den Fond eine zehn Zentimeter längere Beifahrer- als Fahrertür zu besitzen? Sammler hatten Sabine mehrfach Geld geboten, doch der Pacer war ihr treuer Begleiter, hatte die junge Mutter in all den Jahren nie im Stich gelassen. Wenn die Hotelangestellte sich auch sonst nicht viel leisten konnte, dieser Wagen war ihr unverkäufliches Liebhaberstück, niemand in Gütersloh besaß ein baugleiches Fahrzeug.

„Hey Mom!“ Der Zwölfjährige, der sich über die Balkonbrüstung der dritten Etage lehnte, freute sich sichtlich. Die gelblich leuchtenden Scheinwerfer ihres Autos erkannte er unter tausenden. Endlich kam seine Mutter nach Hause. Max hatte den Tisch gedeckt, Nudeln gekocht und kleine Tomatenstücke zusammen mit Basilikumstreifen in die Soße geschnitten, so, wie seine Mom es gerne mochte. Als der Motor des Pacer erstarb, blickte der Junge hinab in die Dunkelheit. Mit mulmigem Gefühl im Bauch hielt er Ausschau nach Sabines Konturen. Der Hausmeister hatte schon vor Wochen versprochen, die Beleuchtung des Parkplatzes zu reparieren. Bei diesem Vorsatz war es geblieben, und so vergrößerte der weiträumige, mit Bäumen und Büschen bepflanzte Innenhof die Angst vor der Dunkelheit und all dem Ungewissen, das sich dort verbergen könnte. Denn nichts ist furchteinflößender und schürt mehr Ängste als das, was wir nicht sehen können. Ein Knacken hier, ein unbekanntes Geräusch dort. Was ist das? Ist es gefährlich? Wer weiß das schon.

Dann, endlich. Max vernahm Schritte, nur sehr schwach, aber eindeutig zu hören. Für Sekunden lenkte ihn ein vorbeifahrender Krankenwagen ab und faszinierte durch sein blau reflektierendes Licht, dass sich an der Häuserfassade der Fröbelstraße brach. Als der Junge von Neuem nach unten blickte, war es wieder still geworden. Er versuchte den Pacer im Dunkeln zu orten, bemühte sich irgendetwas zu erkennen.

Gleich wird sie wieder rennen, wird versuchen, den Innenhof schnellstmöglich hinter sich zu bringen.

Max hielt die Luft an, fragte sich, wo seine Mutter blieb.

Nun mach schon! Komm aus der Dunkelheit! Nichts passierte.

„Sabine?“, rief er zögerlich vom Balkon aus. „Wo bleibst du?“

Max erhielt keine Antwort. Das unerwartete und vor allem grobe Klopfgeräusch ließ den Jungen zusammenzucken.

„Seltsam“, dachte er. „Mutter besitzt einen Schlüssel und ich darf, ohne ihre Anwesenheit, ohnehin niemandem öffnen.“

Vorsichtig stieg er über die Türschwelle des Balkons und kehrte in die kleine Wohnung zurück. Es klopfte erneut. Max huschte über den Flur und legte sein Ohr an das helle Holz der Eingangstür.

„Max? Hilf mir!“

Die Stimme seiner Mutter erkannte er sofort.

„Mom?“

„Ja. Ich brauche deine Hilfe. Öffne die Tür!“

Zaghaft entriegelte Max die Wohnungstür und streckte seinen Kopf durch den kleinen, entstandenen Spalt.

„Kannst du mir dies hier abnehmen? Das Päckchen ist so schwer.“

Mit diesen Worten drückte Sabine ihrem Sohn ein zusammengeschweißtes Paket Getränkeflaschen in die Hand, rangierte unterdessen an ihm vorbei und hievte eine papierene Einkaufstüte neben die Spüle.

„Hattest du einen guten Tag, Max? Du siehst ein wenig müde aus?“

„Ja, Mom. Es geht mir prima.“ Der Junge schloss die Eingangstür, stellte die Getränke neben den Kühlschrank und umarmte seine Mutter. „Endlich bist du da!“

„Es ist alles gut! Es ist doch alles gut?“ Sabine schob Max ein Stück beiseite.

„Natürlich. Ich habe meine Hausaufgaben gemacht, anschließend war ich beim Fußballspielen. Und jetzt wartet das Abendessen.“

Sabine schaute auf den gedeckten Tisch und lächelte.

„Du bist ein toller Hausmann“, lobte sie.

„Nenn mich nicht so. Das hasse ich! Ich bin Max, dein Sohn. Außer uns beiden gibt es niemanden, auch keinen Mann.“

„Wie klug und vernünftig du bist. Komm her zu mir!“

Abermals umarmte Sabine ihren kleinen Mann und drückte ihn.

„Soll ich die Nudeln abgießen?“

Max nickte, nahm am Tisch Platz und überließ seiner Mutter das Auffüllen.

„Wie war dein Tag?“, fragte er nach einer Weile. „Alles wie immer!“

„Wie immer?“

Max’ Stimme wurde schroff. „War Sebastian auch wie immer zu dir?“

„Wir kommen diese Woche miteinander aus.“

„Ihr kommt aus?“, fauchte er, und Sabine verdrehte die Augen, weil sich ihr kleiner Zwölfjähriger wieder aufregte, wenngleich er natürlich Partei für sie ergriff.

„Sieh mal. Sebastian bezahlt unser Gehalt. Ohne ihn hätten wir weder diese Wohnung, noch könnte ich dir deinen Sport bezahlen.“

„Das mag sein. Aber er bezahlt dich als Angestellte des Hotels. Damit du die Zimmer in Ordnung hältst und die Rezeption betreust.“ Max überlegte einen Augenblick. „Wenn er dich wieder anfasst, lernt er mich kennen.“

Sabine lächelte freudlos, eine Träne rann an ihrer Wange herunter.

„Du meinst es gut, mein Junge. Danke!“ Sabine streichelte Max über sein Gesicht, dann rieb sie ihre Tränen fort. „Komm! Es riecht so gut. Lass uns essen.“

Eine Zeit lang schwiegen sich die beiden an, aßen Nudeln und genossen ihre Zweisamkeit. Mit einem Mal sprang Max auf und holte einen Briefumschlag aus der Küche.

„Der ist für dich!“

„Ein Brief. Wer hat uns geschrieben?“ Sabine nahm den weißen Umschlag und betrachtete die unbeschrifteten Seiten.

„Das kann ich nicht mit Sicherheit sagen“, entgegnete Max. „Wurde unter der Wohnungstür hindurchgeschoben. Eine Stimme hat gesagt, ich soll ihn dir sofort geben, wenn du nach Hause kommst.“

„Hast du die Tür geöffnet?“

„Mom! Natürlich nicht! Aber ich habe vom Balkon geschaut. Da war dieser seltsame Mann auf dem Parkplatz. Gekleidet ganz in Schwarz. Irgendwie elegant. Er hat so ein Zeichen gemacht und auf mich gezeigt.“

„Was für ein Zeichen?“

„Ich weiß nicht. Ich habe das nicht verstanden.“

Neugierig ritze Sabine den Umschlag mit ihrem Messer auf. Der Brief war doppelt gefaltet, der Text mit Schreibmaschine geschrieben. Sie lass die ersten Wörter, dann wurde sie blass.

An Sabine Engel.

Sebastian ist tot, wenn du diese Zeilen liest. Dies war unumgänglich. Meine Gründe werden sich dir nicht erschließen, das müssen sie auch nicht. Doch ab heute verbindet uns beide ein gemeinsames, unsichtbares Band. Meine Identität ist für alle Zeit verbunden mit dem Leben deines Jungen. Keine Seite sollte dieses Bündnis lösen.

PS: Das Geschäft in der Buschstraße hält dir für zwei Tage eine Stelle frei. Melde dich bei Gregor.

Mit zitternden Händen faltete Sabine den Brief und steckte ihn zurück in den Umschlag.

„Mom?“ Sorgenvoll betrachtete Max seine Mutter. „Was steht in dem Brief? Geht es dir gut?“

„Du sagst, ein Mann hat diesen Brief gebracht? Dunkel gekleidet. Pulli, Hose, Schuhe. Alles schwarz?“

Max nickte zustimmend und Sabine atmete kräftig durch. Unzählige Gedanken schossen durch ihren Kopf. Es fiel ihr schwer, Richtig und Falsch zu bewerten. Mit einem Schlag hatte sich ihr Leben geändert. Sebastian. Das hatte er nicht verdient. Doch die junge Mutter war klug genug, um zu wissen: Heute begann ein neuer Lebensabschnitt für Sabine und Max, und niemand sollte einen Grund haben, an ihrer kleinen Familie zu rütteln.

„Mach dir keine Sorgen. Wenn ich ehrlich sein soll, war heute ein schrecklicher Tag. Aber wir werden diesen neunten Juli aus unserem Kopf streichen.“

Max stand auf und legte seinen Arm um Sabines Schultern.

„Und ich sage dir noch etwas. Ich werde deinen Rat befolgen und mich nicht länger von Sebastian herumschubsen lassen. Morgen suche ich mir einen neuen Job.“

5. anders als erwartet / 10. Juli 2011 / 09:52

Die Wohnviertel rund um den Gütersloher Stadtpark bestachen durch ihre Nähe zur Natur, einem wichtigen Gut bei all den Betonschluchten, die die Kreisstadt zu bieten hatte. Die öffentliche Grünanlage lockte mit unzähligen Wander- und Laufwegen gepaart mit genau zwei Touristenzielen, dem Botanischen Garten und dem städtischen Parkbad.

Sarah hatte nicht erwartet, eine Wohnung in dieser Nachbarschaft zu finden, geschweige denn, eine derartige Unterkunft bezahlen zu können. Doch letztendlich hatte ein Förderprogramm des Landes Nordrhein-Westfalen geholfen, ausgewählte attraktive Mietobjekte für Beamte im gehobenen Dienst bezahlbar zu machen. So wagte sie es, das selbst gesteckte Budget um fünfzig Euro zu überschreiten; das war es wert. Ihr Appartement am Ende der Schottischen Straße lag zwei Querstraßen vom Park entfernt, zum Supermarkt war es nicht weit und McFit befand sich unmittelbar gegenüber der Hauptstraße. Für die gestrige Fahrt zum Polizeirevier hatte Sarah weniger als fünfzehn Minuten benötigt, also ein traumhafter Arbeitsweg. Darüber hinaus konnte die Wohnung gleich beim ersten Besuch punkten. Frisch renoviert, zudem ausgestattet mit einem breiten Karree-Flur, der alle außenliegenden Räume miteinander verband und in seiner Mitte das Badezimmer beherbergte, bot die gut neunzig Quadratmeter große Bleibe üppigen Platz zum Wohnen und Entspannen für eine Person. Sarah hatte sofort unterschrieben.

Als das Telefon klingelte, legte Sarah ihr Buch beiseite, sprang aus dem Bett und rannte den rechteckigen Flur entlang. Im Wohnzimmer warteten etliche Umzugskartons darauf, ausgeräumt zu werden, und diverse Möbelstücke verlangten nach einem endgültigen Stellplatz. Mittendrin ein großer Esszimmertisch, auf dem sich die benutzen Teller und Tassen der letzten Tage häuften, dazwischen die Kartons von Cornflakes, Müsli und einige Tüten Milch. Alle geöffnet. Ein strenger Geruch von vergorener Milch zwang Sarah auf ihrem Weg zum Telefon zu einem Umweg, vorbei am Fenster. Während sie zwei von ihnen auf Kipp stellte, ertönte der siebte Ruf. Nun wurde es Zeit. Sarah griff zum Hörer.

„Sarah Berger.“

„Na, mein Kind. Bist du aufgeregt wegen morgen?“

„Hallo Paps. Wie geht es dir?“

„Wie soll es mir gehen? Deine Mutter und ich wollten dir für deinen ersten Arbeitstag viel Glück wünschen.“

Sarah sammelte derweil die Milchtüten ein und entleerte den Inhalt im Abfluss der Spüle.

„Paps! Ich brauche kein Glück. Einfach mal ein paar vernünftige Kollegen. Nicht nur so geile Spinner.“

Für einen Moment schwieg ihr Vater am Ende der Leitung.

„Ich, ähhh, wir wollten dir auch nur sagen: Wir denken an dich.“

Sie klemmte das Telefon zwischen Kinn und Schulter und beförderte den entstandenen Abfall in einen Müllsack, der umgekrempelt über einer der Stuhllehnen hing.

„Das ist lieb. Macht euch keine Sorgen. Ich verspreche, am ersten Tag niemandem die Nase zu brechen.“

„Wie wäre es mit einer Woche?“, neckte ihr Vater.

Sarah lachte. „Einverstanden.“

„Gut. Dann will ich dich nicht länger aufhalten. Unsere Kommissarin hat sicherlich genug zu tun.“

„Paps! Du hältst mich nicht auf. Es ist Sonntag! Zum Glück ist dieses Wochenende verkaufsoffen. Es gibt noch so einiges was in der neuen Wohnung fehlt.“

„Ruf uns an, wenn du was brauchst, und pass auf dich auf. Gütersloh ist nicht Emsdetten.“

„Mach ich - grüß Mum. Bis bald.“

Sarah trennte die Verbindung und legte das Telefon zurück in die Ladestation.

„Wie wäre ein wenig Ordnung?“, dachte sie bei sich und rümpfte ein weiteres Mal die Nase über den penetranten Geruch verdorbener Milch. Kurz darauf verschwanden Geschirr und Besteck in der Spülmaschine, anschließend die verbliebenen Frühstücksflocken in einem der Schrankfächer der Küche.

Nach einem prüfenden Blick in den Kühlschrank entschied Sarah das Einkaufenfahren nicht allzu lange hinauszuzögern. Zwei Flaschen Wasser, Ketchup, eine Packung Käse und ein Glas mit Honig, ansonsten Leere. Zu wenig für die kommende Woche, vor allem Süßes.

Eine halbe Stunde später, sie war geduscht und angekleidet, befand sich Sarah in der hinteren Ecke des Karree-Flures und prüfte ihr Aussehen vor dem antik wirkenden Standspiegel. Das Wochenend-Outfit: Graues Sweatshirt mit aufgedruckten, weißen Symbolen, gürtelfreie, blaue Jeans, dazu hellgraue Sneakers. Ihre braunen Haare lagen nach hinten gekämmt, die Spitzen berührten soeben die Schultern. Sarah nahm eine schwarze Spange vom Regal und steckte ihre brünetten Strähnen auf der linken Seite fest.

Aufmerksam musterte sie ihr Gesicht. Ihr Mund war breit und ausdrucksstark, vielleicht ein wenig zu breit im Verhältnis zur Größe des Gesichts. Kritisch bewegte sie ihre Lippen hin und her. Die dunklen Brauen, die über den trotzigen, blaugrauen Augen und der schmalen Nase verliefen, würde sie auf jeden Fall vor ihrem morgigen Dienstbeginn in Form bringen. Hastig strich sie mit dem Finger die Härchen nach außen. Die, nach ihrer Meinung, zu drallen Wangen hatte Sarah leicht abgetönt, das ließ ihr Gesicht schmaler und hohlwangiger erscheinen. Ansonsten verzichtete sie auf Make-up. Ein letzter prüfender Blick, dann griff Sarah ihre Schlüssel, verließ die Wohnung und rannte treppabwärts.

„Morgen, Sarah!“

Direkt neben der Haustür, auf einer kleinen, weißen Holzbank, saß Edith Krämer, die Mieterin der unteren Wohneinheit dieses Reihenhauses. Die Frau, Ende sechzig, verbrachte viel Zeit außerhalb ihrer Wohnung, zumindest seitdem Sarah vor vier Tagen eingezogen war. Sie schien alleine zu leben, und außer zweier kleiner Gespräche über alltägliche, allgemeine und unwichtige Dinge hatten die beiden Frauen noch nicht viel miteinander geredet.

„Morgen, Edith.“

„Hast du schon mal jemanden abgeknallt?“, begann Edith gleich mit der Frage, die sie seit dem Einzug der neuen Mieterin beschäftigte.

„Wie bitte?“

„Na, mit deiner Pistole. Jemanden getötet?“

„Woher weißt du, dass ich bei der Polizei arbeite?“

„Susanne sagt: Du ...“

„Wer ist Susanne?“, fiel Sarah postwendend ins Wort.

„Meine Freundin. Sie arbeitet im Supermarkt, dort hinter dem Wall. Am Tage deines Einzugs ist sie auf einen Kaffee vorbeigekommen. Sie sagt: Auf dem Umzugslaster standen einige Kartons mit Polizei-Emblem, darunter Aufkleber mit Abholort Emsdetten. Na ... da hast du dich schnell hochgearbeitet.“

„Man schlägt sich so durch“, entgegnete Sarah süffisant grinsend.

„Was ist nun?“

Sarah blickte Edith mit fragenden Augen an. „Was meinst du?“

„Schon mal jemanden getötet?“

„Nein, zum Glück nicht. Zwei Personen angeschossen. Ehrlich gesagt, das hat gereicht.“

„Verstehe.“ Edith legte eine Denkpause ein. „Verrätst du mir dein Alter?“

„Ich bin einunddreißig, wieso?“

„Nur so. Susanne und ich haben gewettet.“ Edith streckte die Arme nach oben und signalisierte ihren Sieg.

„Sag mal, der Supermarkt. Mit dem Auto muss ich außen herum?“ Sarah zeigte in Richtung Osten.

„Ist richtig. Rüber auf die Verler Straße, dann links dem Stadtring folgen. Wenn du magst, grüß Susanne von mir. Sie arbeitet um diese Zeit an der Information.“

Sarah winkte und ging zur Straße. Nachdem sie ihren Wagen aufgeschlossen hatte, stieg sie ein, kurbelte das Fahrerfenster bis zum Anschlag nach unten, aktivierte das Radio und wählte einen Pink Floyd Titel vom USB-Stick. Der Motor startete. Sarah rollte zur Kreuzung, blinkte vorschriftsmäßig und ließ zwei von links kommende Autos passieren. Ediths Blicke folgten ihr, bis sie hinter der Ecke verschwunden war.

Wenig später erreichte Sarah den Stadtring. Im Abstand weniger Sekunden jagten zwei Polizeiwagen mit heulender Sirene an ihrem Honda vorbei. Interessiert verfolgte sie deren Route im Rückspiegel. Als eine weitere Sirene aus einer der Nebenstraßen ertönte, wechselte Sarah vom MP3-Spieler auf Verkehrsfunk.

... einer Karambolage auf der Autobahn A2. Die Zufahrten 1, Rheda-Wiedenbrück, bis zur Ausfahrt 2, Gütersloh, werden derzeit von der Polizei gesperrt. Nach ersten Berichten wird davon ausgegangen, dass ein umgestürzter Sattelschlepper für den Massenzusammenstoß verantwortlich ist. Genauere Berichte über Verletzte und Tote liegen derzeit nicht vor. Laut ersten Hubschrauberübertragungen müssen wir jedoch von unzähligen Verkehrstoten ausgehen. Die A44 und die B61 werden als Alternative ...

Sarah schaltete das Radio ab, fuhr ihr Auto rechts an den Seitenrand und parkte. Sie blickte sich um. Die Polizeiwagen waren aus ihrem Sichtfeld verschwunden.

„Ich gehöre jetzt zur Gütersloher Polizei. Es ist meine Pflicht zu helfen“, grübelte Sarah. „Doch was kann ich tun, was die Einsatzkräfte vor Ort nicht auch ohne mich fertigbringen?“

Sarah fühlte sich hin- und hergerissen zwischen Unbeholfenheit und Entsetzen über dieses ungeheuerliche Ereignis.

„Sarah überleg!“, spornte sie sich an. „Ich bin Kommissarin ... , ermittele in Mordfällen und Tötungsdelikten. Gleichwohl hängen in meinem Schrank weder Polizeiuniform noch Signalstab. Welche Möglichkeiten habe ich, um an der Unfallstelle zu helfen?“

Ihre Finger kehrten zum Radio zurück, ein Klick.

... wurden bereits die Krankenwagen der gesamten Region angefordert. Da sich auslaufendes Benzin entzündete, wird sich die Zahl der Opfer bereits wenige Minuten nach dem Unfall weiter erhöhen ...

Ein weiterer Klick. Radio aus.

„Ich kann mich da nicht rausreden, nicht als Mitglied der Obrigkeit dieser Stadt. Die Menschen benötigen Hilfe!“

Sarah wandte sich erneut nach hinten. Wie still und ruhig die Stadt von hier aus wirkte. Doch Sarah wusste, nicht einmal fünf Kilometer entfernt sah es anders aus, ganz anders. Instinktiv griff sie zum Schlüssel, startete den Motor und gab Gas.

Der silberne Concerto bockte. Ganz unerwartet. Strebte von einem Augenblick zum nächsten vorwärts. Entsetzt riss Sarah den Kopf nach vorne. Ein betäubender Lärm durchbrach die vermeintliche Stille. Metalle schabten übereinander, gellende Schreie von Passanten, vielleicht ein Stöhnen direkt vor dem Kühler. Das Fahrzeug drängte entschlossen weiter, und obgleich die Hauswand den knirschenden Lärm reflektierte, konnte Sarah nichts und niemanden erkennen. Endlich riss sie den Gang heraus und trat die Bremse. Die junge Polizistin benötigte einen Moment, um sich vom ersten Schock zu erholen, dann bemerkte sie, welchen Streich ihr die Wahrnehmung spielte. Das Geschehene hatte sie wie einen extensiven Film empfunden, vergangen waren gerade einmal zwei oder drei Sekunden. Hektisch riss Sarah den Gurt beiseite, öffnete die Tür und sprang aus dem Auto, um zu schauen, was sich außerhalb ihres Sichtbereichs ereignet hatte.

„Bitte lass niemand verletzt sein“, schickte sie ein Stoßgebet zu Himmel, da erblickte sie einen Haufen Müll, einen Einkaufswagen und eine alte Frau, scheinbar eine Obdachlose.

Sofort standen einige Personen beisammen, schauten aufgebracht zu Boden, bloß, niemand half. Vorsichtig trat Sarah auf das regungslose Opfer zu. Indessen fühlte es sich an, als setzte ihr Herz für einen Schlag aus. Endlich - ein Lebenszeichen. Die Frau bewegte einen Fuß, zog ihr Bein an und schaute überrascht auf.

„Was zum Henker hat mich da getroffen?“, fauchte sie.

„Mein Auto“, entgegnete Sarah und war erleichtert, dass so, wie es aussah, keine Knochen gebrochen waren. „Gott weiß, woher Sie gekommen sind. Ich habe niemanden gesehen. Eine Heerschar von Schutzengeln scheint Überstunden zu machen.“

„Überstunden müssen Sie gemacht haben! Auf jeden Fall war ihr Blick nach hinten gerichtet. Wer soll da erwarten, dass Sie ohne Vorwarnung losfahren?“

„Es tut mir leid! Kann ich Ihnen auf die Beine helfen?“

Noch immer bot niemand der Umherstehenden seine Hilfe an. Die Frau überprüfte ihre Arme und Beine. Außer einer kleinen Blessur am Armgelenk entdeckte sie keine Verletzungen, und ohne ein Wort zu sagen, ging sie darüber hinweg. Ein Fleck am Mantel dagegen ließ sie aufstöhnen und die Stadtstreicherin verdrehte genervt die Augen. Sarah reichte ihr die Hand.

„Mein schöner Wagen ist ganz verbogen.“

„Es ist nur ...“ Sarah stockte. „Es ist ein Einkaufswagen.“

Der vierrädrige Wagen samt Drahtkorb klemmte auf der Beifahrerseite fest und hatte die Stoßstange des Concerto aus ihrer Verankerung gerissen. Sarah zerrte am Griff und ruckte das Gestell hin und her, doch die beiden Fahrzeuge hatten sich ineinander verhakt. Endlich trat ein Mann vor und hob die Stoßstange an. Als die Halterungen knackten, gelang es Sarah, das Gefährt der Obdachlosen zu befreien.

„Vielen Dank“, dankte Sarah ihrem Helfer.

„Der ist Schrott!“, zeterte die Frau und betrachtete wehmütig den zusammengedrückten Gitterkorb.

„Wir finden einen anderen Wagen für Sie. Ich werde Ihnen helfen.“

„Mir hilft niemand. Das war schon immer so!“