Kruento - Der Krieger - Melissa David - E-Book

Kruento - Der Krieger E-Book

Melissa David

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Beschreibung

Eine gebundene Vampirin, eine Abmachung, die nicht eingehalten wird und ein übermächtiger Gegner, der sein Eigentum zurückfordert.

Die Vampirin Etina lebt zurückgezogen in Frankreich, bis sie auf das Château des Fränkischen Blutfürsten geholt wird. Sie soll an der Seite ihres Ehemannes Sebum stehen, wenn er den Thron besteigt.
Das Leben an der Seite ihres brutalen Gatten treibt Etina in große Verzweiflung. Als sich auch noch ihr Sohn von ihr abwendet, verlässt sie der letzte Lebenswille. Sie beschließt zu sterben – schnell und schmerzfrei. Um sich diesen Wunsch zu erfüllen, geht sie mit einem geheimnisvollen Gefangenen im Château einen riskanten Handel ein und hilft ihm auszubrechen. Ein fataler Fehler, denn der Mann ist nicht bereit, seinen Teil der Abmachung einzuhalten. Stattdessen nimmt er Etina mit auf eine lange, gefährliche Flucht mit ungewissem Ausgang.

Jedes Buch ist in sich abgeschlossen.

Die Reihe im Überblick
Kruento - Heimatlos (Novelle)
Kruento - Der Anführer (Band 1)
Kruento - Der Diplomat (Band 2)
Kruento - Der Aufräumer (Band 3)
Kruetno - Der Krieger (Band 4)
Kruento - Der Schleuser (Band 5)
Kruento - Der Informant (Band 6)

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Inhalt

Klappentext

Impressum

Kruento

Vorwort

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Über die Autorin

Weitere Bücher

Kruento

Kruento

Die Chroniken von Usha

Cheetah Manor - Das Erbe

Glossar

Klappentext

Die Vampirin Etina lebt zurückgezogen in Frankreich, bis sie auf das Château des Fränkischen Blutfürsten geholt wird. Sie soll an der Seite ihres Ehemannes Sebum stehen, wenn er den Thron besteigt.

Das Leben an der Seite ihres brutalen Gatten treibt Etina in große Verzweiflung. Als sich auch noch ihr Sohn von ihr abwendet, verlässt sie der letzte Lebenswille. Sie beschließt zu sterben – schnell und schmerzfrei. Um sich diesen Wunsch zu erfüllen, geht sie mit einem geheimnisvollen Gefangenen im Château einen riskanten Handel ein und hilft ihm auszubrechen. Ein fataler Fehler, denn der Mann ist nicht bereit, seinen Teil der Abmachung einzuhalten. Stattdessen nimmt er Etina mit auf eine lange, gefährliche Flucht mit ungewissem Ausgang.

Impressum

E-Book

1. Auflage März 2018

204-346-01

Melissa David

Mühlweg 48a

90518 Altdorf

Blog: www.mel-david.de 

E-Mail: [email protected] 

Umschlaggestaltung: Juliane Schneeweiss

www.juliane-schneeweiss.de

Bildmaterial: © Depositphotos.com

Lektorat, Korrektorat:

Jana Oltersdorff

Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form bedürfen der Einwilligung der Autorin.

Personen und Handlungen sind frei erfunden, etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Menschen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Kruento

Der Krieger

Band 4

von

Melissa David

Vorwort

Lieber Leser,

dieses Buch enthält ein Glossar, das sich im Anschluss der Geschichte befindet. In diesem Glossar werden unbekannte Begriffe erklärt. Wenn du das Glossar vorab lesen möchtest, bitte hier klicken.

Um auch die Vampirbegriffe, die im Buch verwendet werden, zu verstehen habe ich unbekannte Wörter beim ersten Auftauchen direkt zur Erklärung verlinkt. Du musst also nur draufklicken. In der Regel kommst du mit „zurück“ wieder zur aktuellen Textstelle.

Ich hoffe, dir ist das Glossar eine Hilfe, um die Welt der Kruento besser zu verstehen. Solltest du technische Probleme haben, kannst du dich gerne unter [email protected] an mich wenden.

Du möchtest noch tiefer in die Welt von Kruento eintauchen? Auf meinem Blog findest du spannende Artikel mit Hintergrundinformationen über die Kruento.

Nun wünsche ich dir viel Spaß beim Lesen. Mache dich bereit, und tauche ein in die Welt der Kruento.

Deine Melissa David

Kapitel 1

Wochen. Monate. Jahre.

Rastus wusste nicht, wie lange er schon hier war. Ein steinernes Bett, kein Licht. Wenn er die Hände ausbreitete, berührten seine Finger den nackten Fels seines Gefängnisses. Jegliches Zeitgefühl war ihm abhandengekommen. Ab und an kam ein Wärter, öffnete die Klappe der schweren Holztür und schob einen Arm hindurch. Rastus war es egal, wem die Hand gehörte. Gierig machte er sich über das Handgelenk her, trank, so viel er konnte, ehe ihm die Nahrungsquelle wieder entzogen wurde. Sie gaben ihm nie genug, so dass er kaum zu Kräften kommen konnte und keinen Ausbruch wagen würde, aber immerhin so viel, dass er bei klarem Verstand blieb. Wenn die Holzklappe sich schloss, war er wieder auf unbestimmte Zeit allein.

Seit er das letzte Mal Blut getrunken hatte, war schon wieder viel zu lange her. Es drang zwar weder Tages- noch Mondlicht in seine Zelle, aber seit geraumer Zeit nagte der Hunger an ihm. Er konnte sich nicht erinnern, während seiner Gefangenschaft schon einmal so hungrig gewesen zu sein. Da die Zeit hier unten still stand, konnte er sich auch irren, und es waren noch nicht so viele Tage vergangen, wie er glaubte.

Rastus bewegte vorsichtig den Kopf. Die Bewegung tat seiner verspannten Muskulatur gut. Er stand auf und lockerte seine Schultern. Auch seine Beine waren steif.

Etwas streifte ihn. Es war kein richtiges Gefühl, eher eine Ahnung, die seine Aufmerksamkeit erregte. Rastus versuchte, sich auf seine Sinne zu konzentrieren. Ein undefinierbarer Geruch lag in der Luft. Beehrte einer der Gefängniswärter ihn mit seiner Aufmerksamkeit? Nein, das war es nicht. Es schien, als ob sich eine dunkle Nebelwand um das alte Gemäuer legte und jeden Winkel durchdrang. Er lauschte, sog die Luft tief ein, konnte diese seltsame Energie jedoch nicht näher beschreiben.

Er setzte sich, legte den Kopf gegen die Wand und schloss die Augen. Wann würde er endlich eine Chance bekommen, aus diesem verfluchten Gemäuer zu fliehen? Er konnte durchhalten, war immer zäh gewesen. Aber ohne den festen Glauben daran, dass er dieses Gefängnis überleben würde, hätte er längst aufgegeben. Es war die Einsamkeit, die ihm am meisten zu schaffen machte. Niemand, der mit ihm redete, niemand, dem er sich verbunden fühlen konnte. Sein Clangeruch hatte immer weiter abgenommen, bis er ihn schließlich nicht mehr wahrnahm. Stattdessen roch er nun nach diesem Loch. Er fühlte sich wie ein clanloser Vampir, abgeschnitten von der Außenwelt. Er war nicht dafür gemacht, allein zu sein. Er brauchte ein Gegenüber. Aber außer ihm gab es keine lebende Seele in diesem dreckigen, dunklen Gemäuer. Sogar das Ungeziefer hielt sich von ihm fern, als spürte es, dass er ein mächtiges Raubtier war. Seine Zähne waren ständig ausgefahren, und auch seine Augen hatten den besonderen Glanz seiner Spezies angenommen. Er war zu hungrig, um seinen Körper zu kontrollieren.

Rastus ballte die Hände zu Fäusten. Diesem alten Vampir wäre er gerne gegenübergetreten. Den hätte er liebend gern in die Finger bekommen. Seine Faust schnellte auf die Liege nieder. Die Wucht des Aufpralls spürte er bis in die Schultern. Er hätte den Alten genüsslich zwischen seinen Händen zermalmt, zerquetscht wie eine Made. Ihn, der laut der Aussage seiner Schwägerin Sam nicht einmal mehr Zähne im Mund hatte, um sich zu nähren.

Rastus lachte laut. Seine Stimme hörte sich fremd an, als sie von den kahlen Wänden widerhallte.

Warum hatten sie ihn nicht umgebracht? Diese Frage schwirrte immer wieder durch den Kopf. Indem er zurückgeblieben war, hatte er den anderen die Flucht ermöglicht. Er lächelte, als er daran dachte, wie sein Bruder getobt haben musste. Darius verlor nicht gerne und hasste es, wenn andere den Helden spielten. Doch diesmal war er an der Reihe gewesen. Ein einziges Mal hatte er eine Aufgabe im undurchsichtigen Plan eines mysteriösen Schöpfers gehabt. Oder war es nur der Zufall des Universums, dass er Sam, Jendrael und Arnika zur Flucht hatte verhelfen können? Er hatte aufgehört, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Um klar denken zu können, war er ohnehin viel zu hungrig.

Ein Geräusch ließ Rastus den Kopf heben. Er lauschte angestrengt. Hatte er sich verhört? Nichts als Stille umgab ihn. Nur dieser undurchdringliche Nebel, der in alle Poren des alten Gemäuers kroch. Rastus konzentrierte sich darauf, versuchte zu erspüren, wo diese Kraft ihren Ursprung hatte. Doch er war geschwächt und viel zu müde. So ließ er es schließlich bleiben. Wenn einer seiner Gefängnisaufseher käme, um ihm die nächste Mahlzeit zu reichen, würde er nachfragen. Ein bitteres Lächeln umspielte seine Lippen, denn er wusste nur zu gut, dass er zu ungeduldig und zu hungrig war. Er würde nicht warten können, bis der Wärter ihm eine Antwort gab, sondern seine Zähne in das menschliche Fleisch graben, sobald das Handgelenk durch die Öffnung hindurchgeschoben wurde. Schon jetzt lief ihm bei dem Gedanken an frisches Blut das Wasser im Mund zusammen.

Verflucht, war er ausgehungert! Auch wenn der Hunger an ihm nagte, wusste er, es würde ihn nicht umbringen. Vampire verhungerten nicht. Bevor sein Körper alle Energiereserven aufbrauchte, würde er automatisch in eine Starre, dem tierischen Winterschlaf ähnlich, verfallen. Die nötigsten Körperfunktionen würden aufrechterhalten, alles andere vorübergehend eingestellt werden. Er hatte das zum Glück noch nie am eigenen Leib erlebt und wenn er ehrlich war, legte er auch keinen Wert darauf, diesen Zustand zu erreichen.

Müde streckte er sich auf dem kahlen Stein aus, der ihm als Lager diente. Ein Gähnen unterdrückend, drehte er sich auf die Seite, bettete den Kopf auf den Arm und schloss die Augen. Während sein Körper hungerte und sein Geist unruhig hin und her streifte, wartete Rastus auf den erlösenden Schlaf, der ihn glücklicherweise bald übermannte.

Ein Quietschen. Augenblicklich war Rastus wach und stand senkrecht. Wie lange hatte er geschlafen? Häufig schoss er im Schlaf hoch, glaubte, dass jemand zu ihm kam. Diesmal hatte er sich das Geräusch jedoch nicht eingebildet. Die schwere eisenbeschlagene Holztür, die den Kerker vom restlichen Haus trennte, wurde aufgeschoben und verursachte das knarzende Geräusch. Frische Luft strömte zu ihm herein. Sie trug den Duft des fränkischen Clans und noch etwas anderes mit sich. Schritte waren zu hören. Rastus lauschte angestrengt und machte zwei Personen aus.

„Kein Wort, sage ich dir!“, herrschte der eine den anderen an. Sie waren weit entfernt, mussten sich noch auf der Treppe befinden, doch Rastus’ Gehör war, wie bei allen Vampiren, äußerst gut ausgeprägt.

Er konzentrierte sich ganz auf die Geräusche, versuchte ein weiteres Atemgeräusch – seine Nahrung – zu lokalisieren. Doch er hörte nur die schweren Stiefel, die über den Boden scharrten, und den langsamen, regelmäßigen Atem zweier Vampire. Sie waren noch nie zu zweit gekommen.

Da war noch etwas, das sie begleitete. Rastus brauchte einige Augenblicke, bis bei ihm der Groschen fiel. Der fremdartige Duft schien ihnen nicht nur zu folgen, sondern hüllte seine Besucher regelrecht ein. Und dann wusste er plötzlich, was es zu bedeuten hatte. Der alte Vetusta war tot. Der Geruch des Clans hatte sich verändert, nur unwesentlich, aber für seinesgleichen dennoch deutlich wahrnehmbar.

Rastus war auf der Hut. Was wollten die Vampire? Kamen sie, um ihn zu holen, ihn in die Freiheit zu entlassen? Der kleine Hoffnungsschimmer verflog ebenso schnell, wie er gekommen war. Warum sollten sie ihn einfach gehen lassen? Wussten sie überhaupt, dass er da war?

Die Vampire waren ihm nun sehr nahe. Er konnte sie durch die geschlossene Tür zwar nicht sehen, aber er hörte und roch sie.

„Hier?“, fragte der zweite Vampir.

„Ich sagte dir doch, du sollst still sein!“, herrschte der andere ihn an. „Der Befehl kam von ganz oben!“

Sie schwiegen, wie immer, wenn sie sich ihm näherten. War es, um ihm alle sozialen Kontakte zu verwehren?

Ein Schlüssel wurde unweit von ihm umgedreht, allerdings nicht seine Tür. Metall quietschte. Die Schritte polterten weiter und blieben stehen. Rastus wartete, doch er konnte die folgenden Geräusche nicht richtig einordnen. Einmal glaubte er, dass ein Nagel in Holz geschlagen wurde, aber vielleicht irrte er sich. Seine Lider waren schwer, er sehnte sich nach Schlaf. Solange diese Unbekannten in seiner Nähe waren, würde er sich nicht erlauben, nachlässig zu sein.

„Fertig!“, stellte der Jüngere schließlich fest und bekam ein wütendes Zischen als Antwort.

Rastus ließ die Tür nicht aus den Augen. Würde sie sich öffnen? Hatten sie doch irgendwo eine Mahlzeit für ihn dabei? Seine Zunge klebte unangenehm am Gaumen, und sein Hals brannte. Doch die Tür öffnete sich nicht, und die Schritte entfernten sich.

Frustriert sank er in sich zusammen. Hätte er auf sich aufmerksam machen sollen? Aber was hätte das schon genützt?

Die schwere Tür schloss sich hinter den Männern, und er war wieder verlassen. Erschöpft sank er auf sein Nachtlager. Seine Augen schlossen sich von allein und noch ehe er einmal Luftholen konnte, war er eingeschlafen.

* * *

Es war weit nach Mitternacht, als ein schwarzer Mercedes die Privatstraße entlangfuhr, die zum Château de Potestas führte. Etina saß stumm auf dem Rücksitz und betrachtete die vorbeiziehende Landschaft. Der eindrucksvolle Vampir hinter dem Steuer, dessen Oberarme dicker als ihre Schenkel waren, hatte sie von dem Landsitz abgeholt, auf dem sie seit Jahren lebte. Schweigend hatte er ihr eine kurze Notiz von ihrem Homen überreicht und gewartet, bis sie die nötigsten Sachen zusammengepackt hatte. Was machte sie hier? Warum hatte der Dan sie herbestellt? Das flaue Gefühl in ihrem Magen ließ nicht nach. Sie hasste diesen Ort, hasste alles, was damit zusammenhing. Es war Jahre her, seit sie das letzte Mal herkommen musste. Damals war sie in Begleitung ihres Homen hier gewesen. Der Vetusta hatte sie herzitiert, um sein erstes legitimes Enkelkind zu sehen.

Der Mercedes bremste ab. Ein schmiedeeisernes Tor versperrte ihnen die Weiterfahrt und wurde nun eilig geöffnet. Der Fahrer nickte den Wache schiebenden Vampiren zu, dann setzten sie ihren Weg fort.

Der abartige Geruch nach Exkrementen und Mensch lag in der Luft. Übelkeit erfasste Etina, und sie musste sich beherrschen, sich nicht zu übergeben. Gut, dass ihre letzte Mahlzeit schon einige Tage zurücklag. Etinas Finger verkrampften sich in ihrem Schoß. Sie hielt den Blick gesenkt, wollte nicht sehen, was sich draußen neben dem Auto abspielte. Als sie aus den Augenwinkeln die dünnen Arme sah, die sich dem Wagen entgegenreckten, schloss sie die Augen und betete, dass sie schnell den Zwinger passiert hätten.

Warum war sie hier? Warum hatte Sebum sie auf das Château bringen lassen? Seit über einem Jahr hatte sie Sebum nicht gesehen. Er hatte ihr erlaubt, in Reims zu bleiben, und sie war dankbar gewesen, mit ihm nicht nach Paris gehen zu müssen. Sie hasste Paris. Es war laut und überfüllt. Sie liebte die Abgeschiedenheit ihres Hauses in Reims. Vier Dienstboten, die sich um all ihre Belange kümmerten. Nicht mehr und nicht weniger. Sie war froh, wenn sie niemanden sehen musste. Lediglich über Itans Gesellschaft hätte sie sich gefreut. Doch ihr Sohn war ihr in den letzten Jahren immer mehr entglitten. Seit einem halben Jahr lebte er in Fredrikstad, in der Nähe von Vetusta Haldor. Sie hatte nicht gewagt, sich dazu zu äußern, aber dennoch missfiel ihr das Tauschgeschäft, das Sebum mit dem Sjütischen Blutfürsten geschlossen hatte. Als Pfand der eigene Sohn. Etina hoffte, dass es Itan gut ging und er bald wieder nach Hause kommen durfte.

Das Auto wurde langsamer, als sie durch das steinerne Tor in den Innenhof des Château fuhren und schließlich vor dem Haupthaus hielten. Etina blieb sitzen. So absurd der Gedanke auch war, hoffte sie inständig, dass der Fahrer es sich anders überlegen und sie zurück nach Reims bringen würde.

Die Tür neben ihr wurde geöffnet. Der Fahrer streckte ihr die Hand entgegen. Etina ignorierte sein Angebot und ließ sich Zeit, während sie die weißen Handschuhe über die Hände zog. Dann stieg sie aus. Sie hasste es, von Fremden angefasst zu werden, und dieser Mann gehörte dazu.

Sie strich den dunkelgrünen Bleistiftrock glatt und zupfte an dem gleichfarbigen Blazer herum. Da sie wusste, dass Sebum Wert auf ein gepflegtes Äußeres legte, hoffte sie, dass ihre roten Haare im streng zurückgebundenen Dutt noch vorzeigbar waren. Während sie sich an ihre kleine Handtasche klammerte, sah sie sich suchend um. Die Gebäude um sie herum sahen heruntergewirtschaftet und unbewohnt aus. Es schien, als hätte der Alte sämtliche anstehenden Reparaturen geflissentlich ignoriert.

„Bitte, hier entlang, Mi.“ Der Fahrer deutete auf einen Eingang direkt vor ihr. Die Holztür hing etwas schief in den Angeln. Der dahinter liegende Gang war dunkel und wenig einladend. Etina schluckte ihre Verzweiflung hinunter, streckte den Rücken durch und betrat das Gebäude. Sie spürte, wie ihr der Fahrer folgte. Sie kannte nicht einmal seinen Namen. Er war hochgewachsen, trug eine enge Lederhose zu einem weißen Hemd. Unter seinem weiten Mantel mussten Waffen verborgen sein. Hin und wieder hatte sie es blitzen sehen. Nähere Bekanntschaft musste sie mit diesen Utensilien hoffentlich nicht machen.

Ihre Augen hatten sich schnell an die dunkle Umgebung gewöhnt. Dank ihrer ausgeprägten Sinne sah sie auch bei dem spärlichen Mondlicht, das durch die Schießscharten fiel, ausgezeichnet.

Der Gang, der sie immer weiter in das verfallene Gebäude führte, schien nicht enden zu wollen. Drei Mal passierten sie eine Abzweigung, aber ihr Begleiter wies sie jedes Mal an weiterzugehen. Schließlich erreichten sie einen größeren Raum. An den steinernen Wänden hingen vergilbte Teppiche. Ein verblassender Geruch hing in dem alten Gemäuer. Sie kannte den Duft des Clans nur zu gut. Ihre Aufmerksamkeit richtete sich auf die riesige zweiflügelige Holztür, an der sich ihr Chauffeur zu schaffen machte.

Sie wusste, was dahinter lag. Die große Halle war das Herzstück des Château, der Lieblingsaufenthalt des Vetusta. Auch ohne sie zu sehen, spürte Etina die geballte Präsenz etlicher männlicher Vampire.

„Bitte!“, forderte der Fahrer sie auf und wartete darauf, dass sie eintrat.

Etina zögerte. Sie war nervös. Ihren ganzen Mut zusammenfassend betrat sie die Halle.

Das Erste, was sie sah, war der leere, steinerne Thron am anderen Ende des Raumes. Wo war der Vetusta? Nicht, dass sie sich um ihren Schwiegervater sorgte. Der Alte war ein Scheusal, dem es nur um Macht und seinen eigenen Vorteil ging.

Langsam ging Etina auf den Thron zu. Links davon standen einige Vampire zusammen und unterhielten sich angeregt. In ihrer Mitte auf einem kleinen Tisch waren einige Karten ausgebreitet. Einer der Männer löste sich aus der Gruppe und kam auf sie zu. Es war Dan Sebum, ihr Homen.

„Da bist du ja endlich!“

Etina senkte den Kopf. Er hatte keine Frage gestellt, also musste sie keine Antwort geben.

Mit schnellen Schritten kam er auf sie zu, riss sie unsanft an sich und raubte ihr einen Kuss. Von seinen feuchten Lippen wurde ihr übel. Sie unterdrückte den Brechreiz und brachte ein gezwungenes Lächeln zustande.

Seinen Arm fest um ihre Mitte geschlungen, führte er sie zu den anderen Männern.

„Meine Samera ist eingetroffen“, verkündete er stolz und fuhr ihr besitzergreifend mit der Hand über den entblößten Nacken.

Diese eindeutigen Besitzbekundungen seinerseits waren ihr unangenehm. Betreten sah sie zu Boden, inspizierte interessiert die Stiefel der anwesenden Vampire. Sie wagte es nicht, sie anzusehen, wollte nicht von ihnen gesehen werden. Was wollte Sebum von ihr? Warum hatte er sie herbringen lassen?

„Gut siehst du aus“, stellte er zufrieden fest. Seine Hand wanderte weiter, ihr Dekolletee hinab. Sie schluckte, als Panik sie ergriff. Es kostete sie ihre gesamte Willenskraft, um nicht aufzuschreien. Sie waren in diesem Raum nicht allein. Es war schon schlimm genug, wenn sie seine Nähe ertragen musste, solange sie sich hinter verschlossenen Türen aufhielten. Die meisten der Vampire hatten sich gelangweilt wieder den Karten zugewandt. Nur einer, ein schmaler Vampir mit wilder Mähne und einem blonden Vollbart, warf ihr anzügliche Blicke zu und besaß sogar die Frechheit, sich dabei ungeniert in den Schritt zu langen.

Sebums Hand hatte ihre Brust erreicht und knetete diese. Reglos ließ Etina seine Aufdringlichkeiten über sich ergehen. Er war schließlich ihr Homen, und sie war dazu erzogen worden, seinen Wünschen zu entsprechen.

Seine Lippen näherten sich ihrem Hals, schnupperten an ihr, ehe er sich ihrem Ohr zuwandte.

„In den nächsten Tagen werden wir sicher die Zeit finden, dass du mir einen weiteren Sohn schenken kannst.“ Seine widerliche Zunge glitt in ihr Ohr, und Etina schloss angeekelt die Augen. Sie zählte die Sekunden und bei zweiunddreißig ließ er endlich vor ihr ab.

„Du bist sicher müde“, sagte er nachsichtig und blickte sich um. Wie aus dem Nichts stand ihr vampirischer Fahrer neben Etina.

„Decker wird dir dein Zimmer zeigen. Ruh dich aus, ich muss hier noch einige Dinge erledigen, dann werden wir unser Wiedersehen gebührend feiern.“ Mit einem anzüglichen Grinsen auf dem Gesicht drehte er sich zu seinen Männern. „Also, machen wir weiter.“

Decker, immerhin wusste sie nun, wie er hieß, wartete, bis sie sich ihm zuwandte.

„Ich bringe dich in dein Zimmer, Mi“, erklärte er ruhig und wartete, bis sich Etina mit einem letzten Blick auf die Vampire umdrehte. Diesmal ging er voran, führte sie durch den Gang zurück, bog dann aber ab. Über eine schmale Treppe gelangten sie ins obere Stockwerk. Hier war es ein wenig heller, was wohl daran lag, dass es hier Fenster gab. Sie waren ohne Scheiben, und Etina fragte sich unwillkürlich, wie diese bei Tageslicht abgedunkelt werden konnten. Zu ihrer Linken befanden sich etliche Türen. Decker öffnete eine von ihnen und ließ sie eintreten. Er folgte ihr nicht, sondern blieb am Türrahmen stehen. Ihr sollte es recht sein. Sie war froh, wenn kein männlicher Vertreter ihrer Rasse ihr Zimmer betrat.

„Ich bin vor der Tür, falls etwas sein sollte“, erklärte er steif und schloss die Holztür hinter ihr.

Unschlüssig stand sie noch immer an derselben Stelle und betrachtete die wenigen Habseligkeiten, die dem Raum kaum Gemütlichkeit verleihen konnten.

Den Mittelpunkt des Zimmers bildete ein kleines, schmales Bett, dessen Matratze auf Brusthöhe lag. Wie sollte sie dort nur hinaufkommen? Das massive Holzgestell hatte eindeutig schon bessere Tage erlebt, ebenso wie der löchrige Baldachin darüber. Eine Kommode, ein leerer Schminktisch mit blindem Spiegel und einem zierlichen Schemel davor vervollständigten die karge Möblierung. Das konnte nicht Sebums Ernst sein. Er hatte sie nicht wirklich auf dieses verfluchte Château geschleift, um in diesem Loch zu hausen. Ruckartig drehte Etina sich um und riss die Tür auf.

Decker, der mit dem Rücken zu ihr stand, drehte sich überrascht um. Einen Moment begegneten sich ihre Blicke, dann senkte Etina den Kopf.

„Besteht die Möglichkeit, den Dan zu sprechen?“ Ihre Stimme zitterte leicht, und sie hasste sich dafür, dass der Vampir ihre Unsicherheit sehen konnte.

„Der zukünftige Vetusta ist ziemlich beschäftigt. Er muss etliche Dinge in die Wege leiten.“

Etina erstarrte.

„Der Vetusta ist tot?“, flüsterte sie erschrocken, und plötzlich ergab alles Sinn. Der alte Vetusta lebte nicht mehr. Sebum war hier, um seinen Platz einzunehmen. Etina zog hörbar die Luft ein. Es lief ihr eiskalt den Rücken hinunter, als sie daran dachte, wie Sebum diesen steinernen Thron zukünftig für sich beanspruchen würde. Mit allen Privilegien und Rechten, die es beinhaltete. Die Übelkeit schien bei ihr zu einem ständigen Begleiter zu werden. Eilig trat sie den Rücktritt an, verriegelte die Tür hinter sich, ehe sie am Boden zusammensank. Tränen hatte sie keine mehr – schon seit Jahren nicht mehr. Sie hatte gewusst, dass dieser Tag kommen würde, und hatte sich doch sehnlichst gewünscht, ihn nicht zu erleben. Sebum war ein Tyrann. Als Dan und Stellvertreter des Blutfürsten hatte er in den letzten Jahren bereits zu viel Macht besessen. Viele hatten darunter leiden müssen. Wenn er nun den Thron bestieg, lag das Schicksal der fränkischen Vampire allein in seinen Händen.

Eine furchtbare Vorstellung.

Kapitel 2

Etina war froh, dass Sebum sie an diesem Tag nicht mehr aufsuchte. Als sie sich schließlich gefasst hatte, zog sie sich um, kroch in das viel zu hohe Bett und fiel in einen unruhigen Schlaf. Immer wieder schreckte sie hoch, träumte, dass ihr Homen das Zimmer betrat oder sie von der Matratze fiel. Als die Sonne schließlich unterging, hielt sie es nicht mehr aus. Sie machte sich fertig und hatte sich gerade angezogen, als es an der Tür klopfte. Auf ihr „Herein!“ betrat eine blonde Vampirin das Zimmer.

Überrascht, aber auch erfreut über Gesellschaft, lächelte sie die Fremde an.

„Ich soll dir das bringen, Mi.“ Ohne eine Gefühlsregung zu zeigen, legte sie den roten Stoff, den sie über dem Arm getragen hatte, aufs Bett. Dann sah sie prüfend auf ihre Armbanduhr. „In zwei Stunden wirst du in der Halle zur Zeremonie erwartet.“

Etina war enttäuscht, so wenig Freundlichkeit von der anderen Vampirin zu erfahren. Sie vermisste ihre Vertrauten in Reims schon jetzt. Wenigstens eine Verbündete an diesem düsteren Ort wäre gut gewesen. Doch die Frau machte keine Anstalten.

„Danke“, murmelte Etina leise.

Die Vampirin nickte ihr noch einmal zu, dann verschwand sie wieder. Etina blieb allein zurück. Unschlüssig starrte sie den dunkelroten Stoff an, der auf dem Bett lag. Sie wollte nicht das Weiblein des großartigen Blutfürsten spielen. Sie wollte überhaupt nichts mit der Sache zu tun haben. Wenn es nach ihr ginge, würde sie einfach zurück nach Reims fahren und sich dort für den Rest ihres Lebens verkriechen. Vielleicht … wenn sie Decker fragte … Etina wusste, dass dieses Unterfangen aussichtslos bleiben würde. Seufzend griff sie nach dem Kleid und sah es sich näher an. Der Stoff fühlte sich wunderbar weich an. Andächtig hielt sie die Robe vor sich und strich vorsichtig über den Rock. Ein Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht. In diesem Kleid würde sie atemberaubend aussehen. Hatte Sebum es für sie ausgesucht? Wie sie ihn kannte, überließ er nichts dem Zufall und was seinen Geschmack für Kleidung anging, musste sie gestehen, dass er die letzten hundert Jahre stets ein gutes Gespür für Mode gehabt hatte.

Nun hatte Etina es eilig, ihre Kleidung abzulegen und in die edle Robe zu steigen. Der leichte Stoff schmiegte sich wie eine zweite Haut an ihren Körper. Der raffinierte Carmen-Ausschnitt betonte ihre zierlichen Schultern, während er ihre Brüste züchtig bedeckte. Das Kleid war ein Traum. Sie schlüpfte in ihre roten Pumps und nahm auf dem Schemel vor dem Spiegel Platz. Ihr Schminkköfferchen stand vor ihr. Etina trug nur selten Rouge auf, und auch diesmal legte sie Wert darauf, dass es dezent blieb. Tusche und etwas Lipgloss folgten. Zwischen all den unzähligen schwarzen Flecken im Spiegel war es nicht so einfach, eine Stelle zu finden, die nicht zu Silbersulfid geworden war. Schließlich war Etina mit dem Ergebnis zufrieden. Sie erhob sich, sah sich noch einmal im Zimmer um, ob sie auch nichts vergessen hatte. Dann ging sie mit klopfendem Herzen zur Tür.

Dort wartete Decker bereits auf sie. Er hatte sich ebenfalls in Schale geworfen und seine Lederhose gegen einen piekfeinen Anzug getauscht. Auch wenn Etina absolut kein Interesse an Männern hatte, musste sie doch zugeben, dass ihr Bodyguard herausgeputzt durchaus etwas hermachte.

Decker musterte sie. Für eine Sekunde glomm in seinen Augen so etwas wie Begehren auf, und Etina versteifte sich augenblicklich. Wie sehr sie doch Männer verabscheute. Alle sahen in ihr nur ein Objekt der Begierde. Aber sie musste dem Vampir zugutehalten, dass er sich schnell wieder fing. Seine Miene wurde ausdruckslos, undurchdringlich.

„Mi“, krächzte er mit belegter Stimme. „Du siehst großartig aus. Dein Homen wird sich glücklich schätzen, dich heute Abend an seiner Seite zu haben.“

Etina wollte das nicht hören. „Führe mich in die Halle, bitte.“ Sie wollte es hinter sich bringen. Je schneller sie dort wäre, umso eher konnte sie sich wieder verabschieden.

Decker folgte dicht hinter ihr. Als sie den Weg vom Vortag einschlug, hielt Decker sie auf, indem er ihren Arm packte. Sie spürte seine Finger auf ihrer nackten Haut. Entsetzt starrte sie auf seine Hand und zog scharf die Luft ein.

Decker ließ sie los, versperrte ihr nun aber mit seinem Körper den Weg. „Wir müssen den anderen Eingang nehmen“, erklärte er. „Im Vorraum warten bereits die Soyas mit ihren Familien.“

Etina hatte sich soweit wieder gefasst. Sie nickte und ließ Decker vorgehen. Zügig führte er sie durch den Wirrwarr aus Treppen und engen Gängen. Schließlich öffnete er eine unscheinbare Tür. Vor ihnen lag die Halle. Mit großen Augen betrat Etina den Raum und blickte sich erstaunt um. Seit gestern hatte sich hier einiges verändert. Die schwarzen Vorhänge waren ein für alle Mal verschwunden, der staubige Steinboden war nicht nur gekehrt, sondern auch geschrubbt worden. Die Säulen waren mit rotem Tüll verhängt, was dem Raum eine ungewöhnliche Eleganz verlieh. Staunend sah Etina hinauf zu den Kronleuchtern, die nicht nur blank poliert waren, sondern an denen auch jede einzelne Kerze brannte und die Halle in ein warmes, heimeliges Licht tauchte. Ihr Blick fiel auf einige Vampirinnen, die zusammenstanden und sich aufgeregt unterhielten. Erst auf den zweiten Blick registrierte Etina um sie herum und zwischen ihnen die Krieger. Nachdenklich runzelte sie die Stirn. Auch wenn sie mit niemandem befreundet war, erkannte sie doch Gaetane Renoir, die Gefährtin des Soyas Dioméde, sowie ihre Tochter Delphine. Auch Adéle Klein, die mit dem Soya Fredolin liiert war, befand sich unter den weiblichen Gästen.

Sebum erhob sich grinsend von seinem Thron und kam auf sie zu. „Wie es sich für eine Königin gehört“, stellte er zufrieden fest und streckte die Hand nach ihr aus.

Etina rang sich ein Lächeln ab und ließ sich von ihrem Homen zu seinem steinernen Thron führen.

Ein Blick in die gesenkten und betretenen Gesichter der Vampirinnen verriet ihr, dass sie nicht so freiwillig hier waren, wie man glauben sollte. Nun, von Freiwilligkeit konnte auch bei Etina keine Rede sein.

„Diese Nacht wird großartig werden“, schwärmte ihr Homen, während er sie mit einem Fingerzeig anwies, auf der rechten Seite neben dem Thron stehen zu bleiben.

„Sie wird in die Geschichte eingehen“, bestätigte Etina ihrem Homen. Sie senkte den Blick, ertrug es nicht länger, ihn anzusehen. Wenn heute Nacht alle Soyas ihm den Blutschwur ablegten, war seine Herrschaft besiegelt. Keiner würde sich mehr gegen ihn stellen können, keiner würde sie vor ihm beschützen. Solange sie ihm egal gewesen war, war sie in Sicherheit gewesen. Doch nun hatte er sich darauf besonnen, dass sie seine Samera war.

„Dies hier“, er wies mit einer ausladenden Handbewegung in den Raum, „wird unser neues Zuhause werden. Natürlich werden wir ein paar Renovierungen und Neuanschaffungen machen müssen, aber ich habe mich entschlossen, unseren Hauptwohnsitz auf das Château zu verlegen.“

Etina nickte unbeteiligt. Sie konnte keine Freude vortäuschen. Dafür fühlte sie sich viel zu elend. Sie hasste diese Mauern. Es waren zu viele Menschen hier, und vor allem war Sebum hier. Warum hatte er sie nicht einfach in Reims vergessen können?

Ein Vampir trat zu ihnen. Er nickte Etina kurz zu, dann wandte er sich an Sebum. Seine Renovation mochte Anfang zwanzig geschehen sein, denn er wirkte deutlich jünger als die Vampire, die Etina so kannte. In ihrer Welt ließ das Aussehen jedoch nicht auf das Alter schließen, und ein hübsches Äußeres spiegelte selten den Charakter wieder. Als hübsch konnte man den Vampir allerdings auch nicht bezeichnen. Seine Augen waren unterschiedlich hoch, was seinem Gesicht ein seltsames Aussehen verlieh.

„Wir wären soweit.“

„Danke, Hip“, erwiderte Sebum, zupfte an seinem Hemdkragen und lehnte sich huldvoll in seinem Steinthron zurück. „Lasst uns beginnen!“, verkündete er laut.

Hip trat eilig zurück und verschwand zwischen den Säulen.

Etinas Herz schlug schneller. Waren alle Soyas gekommen, um ihrem zukünftigen Vetusta den Blutschwur abzulegen? Würde einer der Soyas ihn herausfordern und um den Thron kämpfen? Oder würde ein Soya den Blutschwur verweigern? Hatte sogar einer von ihnen bereits die Flucht ergriffen?

Die großen Flügeltüren öffneten sich, und die mächtigen Soyas, die Stützen des Clans, traten ein, gefolgt von etlichen Moris. Es waren keine Vampirinnen und Blutkinder bei ihnen, nur die Familienoberhäupter. Die Soyas waren vollzählig erschienen.

Sebum wartete, bis alle Platz gefunden hatten, dann stand er auf, streckte seine Hand aus. Jemand kam herbeigeeilt und reichte ihm einen mit kostbaren Edelsteinen verzierten Dolch.

„Dioméde Renoir“, rief Sebum den ersten Vampir auf.

Der Angesprochene trat einen Schritt vor, warf einen prüfenden Blick zu seiner Familie, bevor er nach dem Dolch griff, den Sebum ihm reichte.

Der Vampir kniete nieder. Etina hielt den Atem an, als er den Dolch über seinen Unterarm zog. Es war nur ein leichter Schnitt, der in wenigen Minuten heilen würde, dennoch reichte es, dass ein paar Tropfen zu Boden fielen.

„El me lu sangius al to, Dioméde Renoir, misu ab“, erklärte der Soya langsam und besonnen in der alten Vampirsprache.

„No Mimare“, verkündete Sebum und trat auf den am Boden Knieenden zu. Dieser hatte den Blick gesenkt, sah nun aber Sebum direkt an.

Etina wusste, dass das, was nun auf geistiger Ebene geschah, nicht umzukehren war. Sebum bekam Einlass in den Kopf des Vampirs, verankerte dort eine Verbindung, die nur er wieder aufheben konnte. Der Vampir würde ihm auf ewig die Treue halten müssen.

„Riu ab summo di Soya“, erklärte Dioméde etwas außer Atem.

Sebum lächelte gönnerhaft auf ihn hinab. „No Mimare.“

„Lita.“

Damit war der Soya entlassen. Er erhob sich und ging hinüber zu seiner Familie. Gaetane umarmte ihn, als hätte sie sich um ihn gesorgt. Etina beschlich der Verdacht, dass ihr Homen sich die Bereitschaft der Soyas damit gesichert hatte, dass er sie von den Frauen getrennt hatte. Der nächste, Jourdain Chevalier, trat vor. Danach folgten fünf weitere Soyas. Als Letzter legte Aneng Eldseaux den Blutschwur ab und durfte anschließend zu seiner Familie gehen.

Etina wurde unruhig. Die Zeremonie dauerte schon über eine Stunde, und in den hohen Schuhen taten ihr vom reglosen Herumstehen die Füße weh. Auch der Hunger machte sich zunehmend bemerkbar. Sie musste sich in absehbarer Zeit nach einem Blutwirt umsehen. Vielleicht konnte sie in einer ruhigen Minute Decker fragen. An Sebum wollte sie sich mit diesem Problem nicht wenden.

Zu ihrer und zur Überraschung der versammelten Menge trat Hip vor und kniete sich vor Sebum nieder. Hatte der untergebene Vampir bisher keinen Blutschwur abgeleistet?

„Riu ab summo di Soya“, bat Hip.

Getuschel wurde laut. Die Vampire wunderten sich über das ungewöhnliche Verhalten. In den Rang eines Soyas aufzusteigen, war eine unvergleichliche Ehre und wurde in der Regel nur den Nachfolgern eines verstorbenen Soyas zuteil. Etina konnte sich nicht erinnern, dass jemals ein weiterer Vampir als Soya berufen worden war.

„No Mimare“, verkündete Sebum in diesem Moment.

„Lita“, bedankte sich Hip und erhob sich.

Das Gemurmel unter den Vampiren wurde lauter. Angespannt wartete sie auf eine Erklärung. Doch der neue Vetusta machte keine Anstalten. Den Akt mit dem Dolch ließ der Blutfürst aus, da Hip dem Vetusta früher bereits einen Blutschwur geleistet hatte.

Sebum breitete die Arme aus und rief: „Lasst uns feiern. Ich lade euch alle ein, meine Gäste zu sein. Und sollte es einer wagen, diese Einladung auszuschlagen, sehe ich dies als persönlichen Affront an.“

Die Türen der Halle öffneten sich, und etliche Menschen wurden hereingeführt. Sie waren sauber und trugen zwar wenig, aber intakte Kleidung. Die meisten von ihnen waren Frauen, aber auch der eine oder andere Mann, der die Frauen etwas überragte, war zu sehen.

„Mein Geschenk an euch.“ Der offizielle Teil war vorbei. Sebum drehte sich mit einem zufriedenen Lächeln zu Etina um. „Meine Samera.“ Er kam zu ihr und packte sie im Nacken, um sie an sich zu ziehen. Wie eine Puppe ließ Etina die Behandlung über sich ergehen. „Ich habe noch ein paar wichtige Sachen zu erledigen, aber ich lasse dich später holen.“

Seine Zunge strich über ihren entblößten Nacken und hinterließ eine feuchte Spur. Seine Fänge drängten hervor und kratzten über ihre Haut. Es fühlte sich an wie Stunden, ehe Sebum von ihr abließ. Seine Augen glühten, erloschen aber kurz darauf, als ihr Homen sich wieder unter Kontrolle hatte. „Bis später“, krächzte er, zog ihre Hand an seine Lippen und hauchte ihr einen Kuss darauf.

Etinas Herz schlug unregelmäßig, als sie allein zurückblieb. Ihr graute vor dem Abend und dem, was noch kommen würde.

„Mi.“ Decker tauchte so plötzlich neben ihr auf, dass Etina erschrocken zusammenzuckte. „Ich habe einen der Nebenräume für dich reservieren lassen, falls du ungestört trinken möchtest.“

Überrascht ob seiner Fürsorge ließ Etina es sogar zu, dass er sie aus der Halle führte.

* * *

Hunger. Unerträglicher Hunger. Wenn es etwas genutzt hätte, hätte er sich selbst ins Handgelenk gebissen und sein eigenes Blut getrunken. Sogar vor Ungeziefer hätte er in diesem Zustand keinen Halt gemacht. Aber selbst die Ratten hatten Reißaus genommen, als er hier eingezogen war.

Stöhnend drehte sich Rastus auf die andere Seite. Er fühlte sich zu erschöpft, um die Augen zu öffnen. Aber außer Dunkelheit und kahlen Steinwänden gab es ohnehin nichts zu sehen.

Seine Zunge klebte unangenehm am Gaumen und wenn er schluckte, fühlte es sich an, als hätte er Sandpapier im Hals.

Stimmen waren zu hören. Schon die ganze Zeit. Es hörte sich an, als ob Massen sich auf dem Château einfanden. Er versuchte zu lauschen, doch sie waren zu weit weg, und es strengte ihn furchtbar an, so dass er es sein ließ.

Die Tür zum Kerker wurde aufgeschlossen, kratzte über den steinernen Fußboden. Lachen war zu hören. Er zwang sich, die Lider zu öffnen und blickte an die Decke seiner Zelle. Fußgetrampel näherte sich. Das waren mehr als zwei Männer. Er konnte nicht genau bestimmen, wie viele es waren, dazu war er zu unkonzentriert. Der Preis des Nahrungsentzugs.

Rastus hob den Kopf, was ihn so unsagbar anstrengte, dass er ihn wieder zurücksinken ließ. Er war sicher, dass sie ohnehin nicht zu ihm wollten.

Das Gepolter wurde lauter. Sie waren nun direkt vor seiner Tür.

„Wo ist er?“, krächzte eine heisere Stimme, die Rastus vage bekannt vorkam.

Sämtliche Vampire redeten gleichzeitig durcheinander. Sie überschlugen sich mit Antworten, doch in dem Stimmengewirr verstand er kein Wort.

„Er ist hier!“, übertönte nun einer der Männer alle anderen und schlug gegen Rastus’ Tür.

Mühsam drehte Rastus den Kopf. Vor seinem Gefängnis waren die Stimmen verstummt. Ächzend setzte er sich auf. Er wollte ihnen nicht zeigen, wie geschwächt er war. Kamen sie, um ihn zu befreien?

Geräuschvoll öffnete sich die Holztür zu seinem Gefängnis. Ein schwacher Lichtschein von den Fackeln an den Wänden drang herein. Dann wurde die Tür ganz aufgestoßen. Ein Vampir stand im Türrahmen. Von der ungewohnten Helligkeit geblendet, legte Rastus schützend einen Arm über die Augen.

„Nicht totzukriegen, wie ich sehe“, stellte der Fremde fest und verschränkte die Arme vor der Brust.

Rastus’ Augen gewöhnten sich langsam an die Lichtverhältnisse. Der Mann vor ihm hatte kaum Haare. Er maß um die zwei Meter und blickte mit grünen Augen triumphierend auf ihn herab. Rastus kannte die Augen, hatten den Vampir schon einmal gesehen. Und dann wusste er, wen er vor sich hatte. Sebum Potestas, der Sohn des Blutfürsten, der alles daran gesetzt hatte, um ihre Flucht in die Staaten zu vereiteln. Der Vampir, dessen Männer ihn besiegt, gefangengenommen und schließlich hergebracht hatten.

„Holt ihn heraus!“

Zwei Vampire traten vor und packten ihn jeweils an den Armen. Rastus fühlte sich nicht dazu in der Lage, aufzubegehren. An Flucht war in seinem entkräfteten Zustand nicht zu denken. Hatten sie ihn absichtlich so lange hungern lassen?

„Als Blutfürst der Franken sehe ich es als meine Aufgabe herauszufinden, wer euch zur Flucht verholfen hat. Es wird Zeit, das Leck zu stopfen.“

Hätte sich Rastus besser gefühlt, wäre er sicher besorgt gewesen. So rang er sich lediglich ein müdes Lächeln ab. Sebum als neuer Blutfürst, das hätte er sich denken können. Das erklärte den ungewohnten Geruch, der bei den anderen Vampiren noch nicht gefestigt war. Lange konnte er diese Position noch nicht innehaben. Der neue Vetusta musste es ziemlich eilig gehabt haben, ihn aufzusuchen. Rastus war zäh. Er würde nicht reden. Sollte Sebum ihn doch verhören und ihn aushungern lassen. Er würde Ducin nicht verraten. Ungeahnte Kräfte in ihm mobilisierten sich. Entschlossen hob er den Kopf und sah den Vetusta an.

„Versuch es doch!“, zischte er. Hätte er noch genug Speichel im Mund gehabt, hätte er den Blutfürsten angespuckt. So musste der Widerstand, der in seinem Blick zu lesen war, reichen.

„Wir werden sehen.“ Ein fieses Grinsen lag auf dem Gesicht des Anführers, als er seine Männer anwies, Rastus hinauszubringen.

Die Männer, die ihn an den Armen gepackt hatten, gingen so abrupt los, dass Rastus schwindelte. Alles um ihn herum drehte sich, und er sank zwischen den beiden Vampiren zu Boden, die ihn, ohne auf seinen Zusammenbruch zu reagieren, hinausschleiften. Seine nackten Füße schrammten über den Untergrund. Der Weg war nicht weit und führte vorbei an ein paar Dutzend Vampiren in eine Zelle nebenan. Diese hatte jedoch keine Tür, sondern nur ein Eisengitter, das die Zelle von dem restlichen Gewölbe abschottete. Ein seltsames hölzernes Ungetüm befand sich darin. Die eine Seite war am Boden verankert, die andere Seite an der Wand. Rastus blinzelte, aber das Ungetüm vor seinen Augen verschwand nicht. Noch nie hatte er vor so einem Ding gestanden, hatte nur davon gehört. Seit er lebte, praktizierte man damit schon nicht mehr. Doch der neue Blutfürst schien ein Fan der alten Zeiten zu sein. Rastus wurde mit dem Rücken an das Holz gedrückt, bis er sich in einer halb liegenden Position befand. Die Arme wurden nach oben gerissen und an das Holzgestänge gebunden. Dann waren seine Beine an der Reihe. Eisenbeschlagene Schellen wurden um seine Fußknöchel gelegt. Da hing er nun, halb liegend, unfähig, sich zu bewegen.

„Bevor wir anfangen, möchte ich dir die Chance geben, deine Verbündeten zu verraten. Ich biete dir einen schnellen Tod an.“

Rastus wandte den Kopf ab. Zu mehr war er nicht mehr in der Lage. Sollten sie ihn doch köpfen, er würde kein Wort verraten. Ducin war nicht nur für sie wichtig gewesen. Er bildete für viele Vampire den einzigen Fluchtweg in die neue Welt. Er würde den Teufel tun und ihn verraten.

„Sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt“, donnerte der Vetusta.

Einer der Vampire betätigte die Seilwinde. Rastus’ Arme wurden langsam nach oben gezogen. Da seine Füße gefesselt waren, konnte sein Körper der Bewegung nicht folgen und wurde gestreckt. Rastus stöhnte, als die Kräfte, die auf seine Schultern einwirkten, unerträglich wurden. Er presste die Lippen fest zusammen, wollte seinen Peinigern die Genugtuung, dass er schrie, nicht gönnen. Sterne tanzten vor seinen Augen. Er spürte genau, wie seine Sinne schwanden. Mit aller Kraft kämpfte er dagegen an. Er durfte die Besinnung nicht verlieren. In seiner rechten Schulter knackte es, und ein unerträglicher Schmerz schoss durch seinen Körper.

Rastus schrie. So sehr er es auch zu unterdrücken versuchte, brauchte sein Körper ein Ventil, um diese Hölle zu ertragen.

„Nenn mir ein paar Namen, und ich lasse dich in Ruhe.“ Der Vetusta war näher an ihn herangetreten.

Rastus wandte den Kopf und sah ihm direkt in die Augen. Diesem Monster würde er nichts verraten.

Der Vetusta hob die Hand, und der Druck auf seinen Körper nahm ab. Erschöpft sackte sein Kopf auf die Brust.

„Ich bin ein gnädiger Mann und gebe dir noch einmal eine letzte Chance.“

Rastus hatte die Augen geschlossen, konzentrierte sich auf seine Atmung. Er würde nicht aufgeben, würde den Namen nicht preisgeben. Sollten sie ihn doch weiter foltern, sollten sie ihn doch umbringen. Es war ihm egal.

„Macht weiter“, gab der Blutfürst erneut Befehl.

Rastus spürte, wie seine Arme ruckartig nach oben gerissen wurden. Seine linke Schulter knackte, er spürte, wie das Gelenk ausgekugelt wurde. Wie flüssiges Feuer brandete der Schmerz durch seine Venen, schien alles zu verzehren. Die hellen Lichtblitze, die vor seinen Augen tanzten, nahmen zu. Der Zug auf seinen Schulterbereich wurde stärker. Vor Schmerz vollkommen benebelt, nahm er kaum noch wahr, wie die Knochen seiner linken Schulter brachen. Rettende Bewusstlosigkeit hüllte ihn ein.

* * * 

Lächelnd stand Hip hinter Sebum und verfolgte zufrieden, wie Murai die Seilwinde ankurbelte. Er sonnte sich in seiner Position. Sebum dazu zu bringen, ihm den Rang eines Soyas zuzusprechen, war eine großartige Idee gewesen. Um das zu erreichen, hatte er seine Spione ausgeschickt und sich selbst diskret umgehört. So konnte er dem zukünftigen Blutfürsten die Nachricht bringen, dass sowohl der Soya Dioméde als auch der Soya Fredolin darüber nachdachten, ihm die Gefolgschaft zu verweigern. Er war es gewesen, der vorgeschlagen hatte, die weiblichen Vampire der Familie vorläufig auf dem Château de Potestas unterzubringen, um sicherzustellen, dass die Soyas den Treueschwur leisteten.

Der Gefangene schrie auf, als die Knochen in seiner Schulter brachen. Reglos betrachtete Hip das Geschehen. Der Krieger war ihm egal, wenn es nach ihm ginge, konnte er auch sterben. Aber er wusste, wie wichtig er dem Blutfürsten war. Mit ihm wollte der neue Vetusta sich vor seinem Clan und den anderen Blutfürsten profilieren. Wenn es ihm gelänge, die Abwanderer aufzuhalten, den Verräter, der immer wieder Vampire außer Landes brachte, zu stoppen, würde er an Ansehen gewinnen und ernstgenommen werden.

Die Augen des Neuweltlers leuchteten auf. Er zappelte, kämpfte gegen das Strecken seines Körpers an. Hip wusste, dass er schwach war. Schon länger hatte er keine Nahrung mehr bekommen. Vermutlich würde es nicht mehr lange dauern, bis er aufgab.

Mit seinen Gedanken schweifte Hip wieder ab. Er dachte an das Versprechen, das er Sebum abgenommen hatte. Bisher hatte er nur einen Titel erhalten, aber die Familien der nächsten zehn Familienoberhäupter, die verstarben, würden ihm zugesprochen werden. Natürlich würde das den betreffenden Soyas missfallen, aber keiner würde sich gegen die Anweisung ihres Vetusta stellen.

Der Gefangene brüllte abermals auf. Wenn sein Körper nicht vollkommen gestreckt gewesen wäre, hätte er sich sicher unter Schmerzen gekrümmt. Die glühenden Augen des Vampirs begannen zu flackern, dann klappten seine Augenlider zu, und sein Körper erschlaffte. Der verdammte Mistkerl hatte einfach das Bewusstsein verloren.

Der Vetusta fluchte, stieß Flavien an, der zwischen Hip und dem Blutfürsten stand und schnauzte ihn an: „Schau, dass du ihn wieder wach bekommst!“

Ein Hauch von Unsicherheit wehte ihm entgegen, als Flavien zu dem Bewusstlosen trat und versuchte, ihn durch Schütteln aufzuwecken.

Hip verdrehte genervt die Augen. So würde er ihn nie wecken. Kurz zögerte er und überlegte, welche Vorteile er daraus zöge, wenn er jetzt handelte. Er könnte sich wieder einmal in positives Licht rücken, sich seinem Herrn unentbehrlich machen, bis der Tag käme, an dem er ihn nicht mehr brauchte.

Hip drängte sich vor, schob Flavien zur Seite und schlug dem Gefangenen mit der Faust ins Gesicht. Der Kopf flog zur Seite, und er spürte, wie die Wangenknochen nachgaben. Dennoch blieben die Augen geschlossen.

„Der wird ohne Blut das Bewusstsein nicht mehr erlangen“, stellte er fest und drehte sich zu seinem Vetusta um.

„Vollia“, fluchte dieser.

Der Blutfürst kam zu ihm, sah auf den leblosen Körper des Gefangenen hinab. Die Lippen waren fest zusammengepresst, als müsse er sich beherrschen, nicht weitere wüste Beschimpfungen von sich zu geben.

„Wenn wir ihm zu trinken geben, heilen seine Wunden“, ärgerte sich der Vetusta.

„Es hat ja keiner gesagt, dass er einen ganzen Menschen bekommen soll“, konterte Hip. Manchmal war der Blutfürst nicht besonders schnell im Kopf. Der Vetusta schien konzentriert darüber nachzudenken, dann leuchteten seine Augen auf. „Ein wenig Blut, dass er zu Bewusstsein kommt, aber nicht so viel, dass seine Wunden heilen.“ Sebum grinste breit.

„Eine hervorragende Idee“, bestätigte Hip. Absichtlich wies er ihn nicht darauf hin, dass die Idee von ihm stammte.

„Wer holt mir einen Ambakt?“, fragte der Vetusta in die Runde.

Betreten sahen die Krieger zu Boden. Hip verdrehte die Augen. Was waren das für Weicheier? Einer stellte sich dümmer an als der andere. Es konnte doch nicht so schwer sein, nach oben zu gehen, wo sich etliche Ambakten aufhielten, und einen von ihnen in den Kerker zu bringen. Gerade wollte er sich für diese Aufgabe bereit erklären, als Soya Jourdain sich meldete.

„Ich gehe.“

Der Blutfürst nickte dem Soya anerkennend zu.

Ärgerlich sah Hip dem Vampir hinterher. Hätte er geahnt, dass sich ausgerechnet der Soya, der in der Gunst des Blutfürsten weit oben stand, zur Verfügung stellen würde, hätte er die Aufgabe sofort an sich gerissen. Nun blieb ihm nichts anderes übrig, als neben seinem Vetusta stehen zu bleiben und auf die Rückkehr des Soyas zu warten.

Er sah zu dem Gefangenen hinüber, der noch immer reglos auf der Streckbank hing. Würde er nicht vor Dreck kleben, wäre er wohl durchaus ein gut aussehender Vampir – zumindest attraktiver als Sebum Potestas. Er hatte in die smaragdgrünen Augen geblickt, den unbeugsamen Willen gesehen. Im Gegenzug zu dem Blutfürsten glaubte er nicht, dass der Gefangene so leicht die Hintermänner preisgeben würde. Er selbst stellte sich auf eine längere Prozedur ein. Zehn Jahre, zwanzig Jahre konnte es schon dauern, bis der Wille des Vampirs endlich gebrochen war. Ein grimmiges Lächeln umspielte seine Lippen. Er liebte diese Machtspiele und würde zusehen, dass er bei jeder Runde dabei sein konnte, um die Niederlage des mächtigen Vampirs mitzuerleben. Aus der Entfernung hatte er beobachtete, wie der unbeugsame Krieger es mit einem Dutzend Vampiren allein aufgenommen hatte. Dabei hatte er sich wirklich wacker geschlagen. Gegen die Übermacht war er natürlich nicht angekommen. Schon damals hatte er im Stillen den Vampir bewundert, der entwaffnet auf dem Boden gelegen hatte, ein Schwert, das jederzeit zum tödlichen Schlag ausholen konnte, über ihn erhoben. Er hatte nicht einmal mit der Wimper gezuckt, sondern entschlossen seinen Bezwinger angesehen. Sebum hatte Gnade walten lassen und ihn lebend zu seinem Vater gebracht. Hip hätte anders gehandelt. Er hätte ihn schon damals umgebracht. Der Vampir war zu gefährlich.

Wartend wippte er mit dem rechten Fuß. Eine dumme Angewohnheit. Als ihm dies bewusst wurde, hörte er damit auf. Wie lange konnte es dauern, einen Ambakten aufzutreiben und herzubringen? Er hätte doch selbst gehen sollen.

Gerade, als er den Mund aufmachte und dem Vetusta anbieten wollte, nach Soya Jourdain zu sehen, öffnete sich die Kerkertür, und der Soya kam mit einem Ambakten herein.

* * *

Decker führte Etina in einen der Nebenräume, die hinter der großen Halle lagen. Zu ihrer Überraschung war das Zimmer – im Gegensatz zu ihrem Domizil – wohnlich eingerichtet. Farbige Teppiche schmückten die steinernen Wände, und mehrere Sitzgelegenheiten luden zum Verweilen ein. Decker war an der Tür stehen geblieben, während Etina eintrat. Eine Bewegung in der Ecke ließ sie zusammenzucken. Sie wollte schon die Flucht antreten, als sie feststellte, dass es sich um einen Menschen handelte, der in der Ecke am Boden kauerte. Es handelte sich um einen Mann. Als er sie erblickte, breitete sich ein strahlendes Lächeln auf seinem Gesicht aus. Eilig erhob er sich. Er mochte vielleicht Anfang dreißig sein, war ziemlich abgemagert und trug zu einer wilden ungepflegten Mähne Vollbart. Trotz des Lächelns wirkten seine Augen im Kerzenschein gräulich und leblos.

Er stand auf, schwankte auf seinen dünnen Beinchen und machte einen Schritt auf sie zu. „Ich will dir zu Diensten sein.“

„Bleib stehen!“, wies sie ihn eilig an.

„Ist etwas nicht in Ordnung?“, erkundigte Decker sich, der noch immer in der Tür stand.

Angewidert sah Etina auf den nackten Mann. Nicht nur sein ungepflegtes Äußeres stieß sie ab, auch sein erigiertes Glied. Sie wollte keinen nackten Mann sehen, wollte ihm keine Lust bescheren, nur damit sie in Ruhe von ihm trinken konnte.

„Ich will ihn nicht“, stieß Etina keuchend hervor. Sie konnte nicht verhindern, dass sich ihre Eckzähne aus dem Kiefer schoben und ihre Worte Lügen straften. Auch wenn sein Äußeres nicht unbedingt vorzeigbar war, so war er doch sauber, und sein Blut roch köstlich. Sie hatte wahnsinnig Hunger und konnte das kaum noch verbergen. Schwer schluckte sie. Nein, sie würde definitiv nicht von diesem Kerl trinken, und sie würde auch nicht mit ihm allein in einem Raum bleiben. Auch diesem Ambakt würde sie nicht das Recht einräumen, sie anzufassen.

„Mi …“ Decker sah zwischen dem Mann und Etina hin und her. „Der Vetusta hat die Menschen für heute Abend extra willig machen lassen.“

Das Wort willig bescherte Etina einen eiskalten Schauer, der ihr die Wirbelsäule hinablief. Sie hasste es ohnehin, von einem Menschen trinken zu müssen. Ihre bevorzugte Beute waren Frauen. Bewusstlos. In Reims hatten ihr die untergebenen Vampire immer bewusstlose Frauen gebracht. Im stillen Kämmerchen hatte sie ihren Hunger gestillt. Sie nahm stets nur so viel Blut, wie sie benötigte. Sobald sie fertig getrunken hatte, wurde die Blutwirtin fortgebracht.

Der Gedanke, einem Ambakten in Austausch gegen Blut Sex zu geben, widerte sie einfach nur an. Der Beischlaf gehörte zu den abscheulichsten Momenten ihres Lebens, und sie würde sich hüten, sich freiwillig einem Ambakten hinzugeben.

Einen Moment lang überlegte Etina, Decker zu bitten hierzubleiben und den Mensch festzuhalten, während sie ihren Hunger stillte. Doch auch das ließ ihr die Nackenhaare aufstellen. Die Nahrungsaufnahme war eine sehr intime Angelegenheit. Es gehörte sich nicht für eine folgsame Mi, in Gesellschaft anderer zu speisen.

„Ich will niemanden, der willig ist.“

Unsicher blickte Decker wieder zu dem Ambakten, der immer noch auf derselben Stelle stand und auf weitere Befehle wartete.

„Die Menschen im Zwinger sind dreckig und stinken“, gab er zu bedenken.

Das musste Decker ihr nicht extra sagen, das wusste sie selbst.

„Ich bin dir gerne zu Diensten.“ Der Ambakt verzog sein Gesicht. Es sollte vermutlich ein Lächeln werden, doch es glich eher einer Fratze. „Du bist wunderschön. Es wäre mir eine Ehre …“

„Schweig!“ Etina konnte diesen Menschen keinen Augenblick länger ertragen.

Immerhin verstummte er sofort.

Jeder Muskel war angespannt. Ein bedrohliches Knurren entwich ihrer Kehle, was den Mann dazu veranlasste, entsetzt zurückzuweichen.

„Bring ihn weg!“ Etina war es egal, dass ihre Stimme schrill klang. Sie wollte nur, dass Decker diesen Menschen aus ihren Augen schaffte. Sie wich ins hinterste Eck des Zimmers zurück, damit der Ambakt ja nicht in ihre Nähe kam.

Decker ging zu ihm, ergriff ihn am Arm und zog ihn unsanft mit sich. Im Türrahmen verharrte er, drehte sich noch einmal zu Etina um und fragte: „Soll ich dir jemand aus dem Zwinger bringen lassen?“

Entschieden schüttelte Etina den Kopf. Einen stinkenden Menschen wollte sie ebenso wenig.

„Vielleicht eine Frau?“

Wieder verneinte Etina wortlos. Eine Frau machte es auch nicht besser.

„Okay.“ Decker zögerte. So unsicher hatte sie den großen Vampir noch nie gesehen. Er schien sich ernsthafte Gedanken um sie zu machen.

Etina wusste, sie musste ihn beruhigen, sonst würde er sie bei Sebum anschwärzen, und das war das Letzte, was sie brauchen konnte.

„Brauchst du den Ambakt noch?“, fragte eine Männerstimme.

Panisch, es könnte ihr Homen sein, spähte sie an Deckers breitem Rücken vorbei. Erleichtert sah sie Soya Jourdain.

Decker warf Etina noch einen kurzen Blick zu. Nachdem sie jedoch keine Anstalten machte, Einspruch zu erheben, erklärte er dem Soya: „Nein, du kannst ihn haben.“

Der Ambakt wurde von Vampir zu Vampir gereicht. Jetzt hielt ihn der Soya am Oberarm fest, obwohl man ihn wohl nicht einmal festhalten musste. Mit der Aussicht auf Vampirsex würde er jedem wie ein Hündchen hinterherlaufen.

„Na, los!“ Der Soya stieß den Ambakt vor sich her. „Ich hoffe, du bist schmackhaft. Der Bewusstlose …“

Mehr konnte Etina nicht mehr hören, denn eine lachende Gruppe von Vampiren marschierte direkt an ihrem Zimmer vorbei und verschluckte den restlichen Satz des Soyas.

Etina hatte dennoch genug gehört. Ein Bewusstloser. Sie glaubte zu träumen. Das war ihre Rettung.

„Bring mir einen Menschen aus dem Zwinger!“, befahl sie Decker. Plötzlich hatte sie es sehr eilig.

„Besondere Vorlieben wegen der Haarfarbe?“, erkundigte sich der Vampir verwirrt.

„Einen Menschen!“ Die Ungeduld in ihrer Stimme war nun deutlich zu hören. „Los!“ Sie war lauter geworden als beabsichtigt. Aber zumindest drehte Decker sich augenblicklich um und verschwand.

Etina zwang sich noch einen Moment zu warten, dann eilte sie aus dem Zimmer, in die Richtung, in die der Soya verschwunden war. Wo konnte er nur hin sein? Sie konnte sich an den Duft des Soyas nicht mehr genau erinnern. Ihre Sinne waren wegen der vielen Blutschwüre, die geleistet worden waren und die den Geruch der Vampire veränderten, ziemlich überreizt.

Sie hastete den nun leeren Flur entlang. Schon von weitem hörte sie Geräusche hinter der nächsten Tür. Ungeduldig stieß sie diese auf, verharrte reglos auf der Schwelle. Ihre Augen weiteten sich entsetzt, und sie spürte die eisige Hand, die ihren Magen fest im Griff hatte. Etliche männliche Vampire befanden sich in dem Zimmer. Einer von ihnen saß in einem der Sessel, hatte sich seiner Hose entledigt und genoss die orale Behandlung durch eine Amica an seinem besten Stück, während er eine zweite Blutsklavin auf dem Schoß hielt und von ihr trank. Drei weitere männliche Vampire vergnügten sich ebenfalls mit einer oder mehreren Amicas. Glücklicherweise waren alle so beschäftigt, dass sie Etinas Eintreten nicht bemerkten. Eilig zog sie die Tür wieder zu und suchte weiter nach dem Soya und ihrem Ambakten, die sie zu einem Bewusstlosen führen würden.

An der Wand hing ein Spiegel, und im Vorbeigehen erhaschte sie einen kurzen Blick auf sich. Die grünen Augen leuchteten von innen, wie es ihrer Rasse eigen war, wenn tiefe Gefühle sie bewegten oder sie schlicht und ergreifend hungrig waren. Sie brauchte noch in dieser Nacht Nahrung, sonst lief sie Gefahr durchzudrehen.

Sie näherte sich einer weiteren Tür, hinter der Stimmen zu hören waren. Diesmal öffnete Etina die Tür vorsichtiger, spähte zuerst durch einen kleinen Schlitz hinein. Es waren ein paar Vampire, die zusammensaßen, sich unterhielten und die Gesellschaft von Ambakten und Amicas genossen. Konzentriert ließ sie ihren Blick über die anwesenden Vampire gleiten. Nachdem sie ausschließen konnte, dass Soya Jourdain unter ihnen war, schloss sie die Tür und setzte ihren Weg fort.

Immer weiter ging sie den Flur entlang. Schließlich kam sie zu einer Gabelung. Sie wusste nicht mehr weiter. Schon wollte sie frustriert aufgeben, als ihr ein vertrauter Geruch in die Nase stieg. Ihn würde sie immer und überall erkennen. Es war der unverwechselbare Geruch ihres Homen. Etina war nur unschlüssig, ob sie es gut finden sollte, Sebum in der Nähe zu wissen. Sie musste vorsichtig sein, damit er ihren Duft nicht bemerkte. Aber sie hatte erst kürzlich geduscht, und der Geruch der Vampirinnen verflog ohnehin viel schneller als der der männlichen Vertreter ihrer Rasse. Sie musste definitiv auf der Hut sein. Wenn aber Soya Jourdain den Ambakt zu Sebum brachte und bei ihm auch der Bewusstlose war, hätte sie zumindest eine Chance, ihre bevorzugte Nahrungsquelle auszumachen. Diese Gelegenheit durfte sie einfach nicht verpassen.

Etina entschied sich für den Korridor zu ihrer Linken. Nach etwa zwanzig Metern bog sie scharf nach rechts ab und stand vor einer offenstehenden Holztür. Stufen führten hinab in die Tiefe. Fackeln beleuchteten zwar den Weg, aber die Treppe ging um die Kurve, und so konnte sie nicht sehr weit sehen.

Angestrengt lauschte Etina. Das Summen in ihren Ohren, ausgelöst durch den Blutmangel, war so laut, dass sie kaum etwas verstehen konnte. Es waren zu viele Männerstimmen, die durcheinander redeten. Der Hunger bewegte Etina dazu, sich einen Ruck zu geben, und so stieg sie die Stufen hinab.

Je weiter sie ging, umso mehr konnte sie die einzelnen Stimmen unterscheiden. Sebum gab ein paar abgehackte kurze Befehle. Ein anderer Vampir klang nahezu ängstlich.

Endlich erreichte Etina den Absatz der Treppe und konnte um die Ecke spähen. Was um Himmels Willen war denn das? Manche Räume in diesem Gebäude wirkten echt gruselig, aber das hier glich einen Kerker, wie sie es nur aus grauer Vorzeit und auch da nur vom Hörensagen kannte. Etliche Vampire, natürlich war Sebum einer von ihnen, standen um eine Streckbank. Auf ihr lag ein Mann, der sich nicht regte.

„Nun mach schon!“, drängelte Sebum ungeduldig.

Einer der Vampire trat vor, im Schlepptau den Ambakten. Etina war sich ganz sicher, dass es der Mann war, den der Soya mitgenommen hatte. Jetzt sah sie auch Soya Jourdain. Er stand etwas abseits, halb im Schatten, und beobachtete die Szene.

„Wann bekomme ich meine Belohnung?“, wollte der Mensch wissen, als er Richtung Streckbank geschubst wurde.

„Stopft ihm doch endlich das Maul“, schnauzte Sebum.

Eilig zog einer der Vampire ein Stofftaschentuch hervor und schob es dem Ambakten in den Mund. Ein zweiter Vampir, die blonden Haare einem Engel gleich, zog einen Dolch und ritzte dem Menschen das Handgelenk auf. Blut tropfte zu Boden.

Ein unglaublich herrlicher Duft wehte zu Etina herüber.

„Hebt ihn hoch!“, donnerte Sebum.

Etina versuchte, dagegen anzukämpfen, aber ihre Eckzähne drängten in die Freiheit. Ihr lief das Wasser im Mund zusammen. Mit aller Macht zwang sie sich dazu, auf ihrem Beobachtungsposten zu bleiben und sich nicht auf den wehrlosen Ambakten zu stürzen. Dieser wurde nun von drei Vampiren gepackt. Sie hoben ihn hoch und positionierten ihn über dem Gefangenen auf der Streckbank, dass der tropfende Arm direkt über dessen Mund hing.

Noch immer erfüllte der wunderbare, metallische Geruch von frischem Blut die unterirdischen Gemäuer. Doch Etina hatte sich glücklicherweise im Griff. Mit ihren über zweihundert Jahren war sie kein instinktgetriebener Ephebe mehr. Ohne ihre eiserne Selbstbeherrschung hätte sie die letzten hundertzwanzig Jahre nicht an der Seite eines so brutalen Vampirs wie Sebum überlebt.

Enttäuschung ergriff Etina. Der Gefangene, auch wenn er bewusstlos war, war wohl kaum ein Mensch, wenn sie ihm Blut einflößten. Eigentlich hätte sie nun den Rückweg antreten können. Ihre Chance auf eine bewusstlose Mahlzeit hatte sich in Luft aufgelöst. Doch der Fremde auf der Streckbank zog sie in ihren Bann. Was hatte er verbrochen, dass er so eine Folter ertragen musste? Welches Verbrechen hatte er begangen, um Sebums Ärger zu schüren?

Die Lippen des Gefangenen zuckten. Einmal. Zweimal. Dreimal. Dann öffnete er den Mund, und das Blut floss ungehindert hinein.

„Passt auf, dass er nicht zu viel bekommt“, ermahnte Hip die Vampire, die den Menschen hielten.

Etina traute Hip nicht. Ihr Homen hatte ihn zwar vor wenigen Stunden zum Soya ernannt, aber er hatte etwas Verschlagenes an sich und wirkte auf sie unecht. Sebum schien jedoch große Stücke auf ihn zu halten. Jedes Mal, wenn sie Sebum sah, war dieser Kerl nicht weit.

Etina sah zu, wie die Zähne des Vampirs ausfuhren. Er öffnete die Augen und begann, sich gegen seine Fesseln zu wehren. Dabei schaffte er es immerhin, den Kopf zu heben und seine Zähne in den Arm des Ambakts zu versenken.

Der Mensch wehrte sich, zappelte und schlug um sich. Die Vampire hielten ihn zwar fest, dennoch hatten sie Mühe, ihn nicht fallen zu lassen.

„Weg mit dem Menschen!“, rief Hip und trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. Zwischen den größeren vor ihm stehenden Vampiren konnte der etwas kleinere Soya wohl nicht so gut das Geschehen verfolgen.

„Ihr nichtsnutzigen, kopflosen Vampire!“, schimpfte Sebum.