Kuariland - F.L. Rosenthal - E-Book

Kuariland E-Book

F.L. Rosenthal

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Beschreibung

Das Schicksal macht aus vier Fremden eine ungewöhnliche Gemeinschaft. Verfolgt von Feinden macht diese sich auf eine ungewisse Reise durch das von Menschen verwaiste Land Amraa. Je weiter die Gruppe in scheinbar verlassenes Gebiet vordringt, desto mehr Geheimnisse offenbaren sich ihr und desto unklarer wird das Verhältnis der Vier untereinander. Gleichzeitig wird die Gruppe von ihrem Ziel im Süden immer weiter Richtung Osten abgedrängt. Von dort, jenseits eines Gebirgszuges, kamen vor 70 Jahren gehörnte Dämonen, Kuari genannt und zerstörten das Land Amraa… Während ihre Verfolger immer näher kommen, beginnen sie seltsame Träume heimzusuchen. Die Geschichte lässt den Leser in eine Welt voll fremdartiger Wesen und seltsamer Träume eintauchen, die bis zum Schluss mit überraschenden Wendungen aufwartet.

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F.L. Rosenthal

Kuariland

Ein erdiger Mysteryroman in einer wilden, fremdartigen Welt. Atmosphäre, Mystery, Flucht & Zerreißproben zwischen Freunden stehen im Vordergrund

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Autor: F. L. Rosenthal

Foto Rüstung: Ugo Serrano

Korrektorat: Julia Grebenstein

Foto Autoreninfo: Martin Soltys

Coverart & Karte: F. L. Rosenthal

1. Auflage, © März 2023, Hamburg

Impressum: F.L. Rosenthal 

c/o Büro Florian Sack-Hauchwitz

Sternmoosweg 33, 22589 Hamburg

Weitere Informationen unter:

www.florianrosenthal.de

Ein Mystery Abenteuerroman

Meiner Famile gewidmet

MONDFINDER I

KUARILAND

F. L. Rosenthal

2023

Personenglossar

Do´reon von Tauern, 6j - Junger Prinz am Hofe von Tauern

Prinzessin Nivene von Tauern, 29j - Mutter von Do’reon

Prinzessin Ifrena von Tauern, 32j - Schwester von Nivene

Jula - Kammerzofe von Prinzessin Nivene

Odrem Tannenwalder, 45j - Marschall d. Yarimanen (auf der Flucht)

Eula, ca 75j - Eine alte Frau, Vertraute von Do´reon

Elard von Alzt, Mitte 40 - Baron von Alzt, ehemaliger Verbündeter der Yarimanen, jetziger Verbündeter der Gualferen

Miraciel von Widdun, 17j - Einer der Schildknappen des Barons

Fürstin/Königin Genefe, ca. 30j - Nach dem Tod ihres Mannes und dessen Brüdern Oberhaupt der Gualferen, Feindin der Yarimanen

Die Ritter des Barons von Alzt - Drean von Tannen, Eugen von Tannen, Kauskar vom Alb, Gelas von Raaben, Gonthmar der Tarnier

Deren Knappen - Olme von Raaben, Milas Holzbrunk, Flejedias von Abendrot, Miraciel von Widdun

Kaiser Thoral der Yarimanen (verstorben) - Letzter Kaiser des Andratischen Kaiserreichs aus dem Haus der Yarimanen

Fürst Rugar von Eggenraa, 36j - Herr des Fürstentums Eggenraa, Verbündeter der Yarimanen, Vetter von Ifrena und Nivene

Thorn von Eggenraa, 26j - Bruder von Rugar

Mhor von Eggenraa, 33j - Bruder von Rugar, Stadtvogt von Albia

Ivra von Eggenraa, 39j - Schwester von Rugar, Ehefrau von Ritter Bolken Harms aus Runa

Aleides - Priesterin des Wissensgottes Arxtes, Do´reons Lehrerin

Kasimer vom Bass - Ritter und Ausbilder von Miraciel in Albia

Elkis & Tonskar - Zwei Schildknappen aus Albia/Eggenraa

Merafine, 22j - Eine Sklavin im Dienste von Ivra von Eggenraa

Ikeke - Königin des Königreiches Tuuf

Irmeta & Skudda - Zwei Frauen der Flussmenschen

Heddlun Borswic - Ein Ritter aus Albia/Eggenraa

Rodonn von Geisenraa - Der alte Graf von Geisenraa

Uthea - Priesterin der Kriegsgöttin Irité am Hof von Geisenraa

Teil I.

Die Flucht

7 Jahre zuvor

Im Morgengrauen begannen zuerst die Gänse aufgeregt zu schnattern, dann dröhnten dumpfe Schläge durch die Flure des kleinen Schlosses in Yarell. Prinzessin Nivene schreckte in ihrem Bett hoch. Panik ergriff sie. Sie ahnte, was der Lärm bedeutete.

Helle Schreie erklangen. Türen wurden aufgebrochen. Nivene hörte Stimmen und laute Schritte draußen auf dem Gang. Das war ihre Hauswache. Sie sprang aus dem Bett und kleidete sich in Windeseile an, um ihren beginnenden Babybauch zu verbergen. Dann riss sie die Tür ihres Zimmers auf. Die beiden Wachen, hatten die Tür zum Gang verrammelt und standen davor, mit blitzenden Schwertern. Nur eine Öllampe brannte. Ansonsten war es dunkel. Doch draußen begann die Nacht zu weichen.

Fäuste schlugen gegen die Tür. Eine barsche Stimme rief: »Kommt heraus oder wir schlagen die Tür ein!«

»Orm! Starn!«, rief Nivene. »Senkt die Schwerter. Es hat keinen Sinn, sie aufzuhalten. Uns wird nichts geschehen.«

Die beiden Wachen wussten, dass die Prinzessin recht damit hatte. Zumindest damit, dass Widerstand zwecklos war. Zögerlich steckten sie die Schwerter ein.

»Wir öffnen die Tür«, rief Orm. Er hob mit Starn den Balken hoch, der die Eichentür blockierte und warf ihn zu Boden. Die Tür wurde aufgeschlagen und mehrere bewaffnete Männer traten in den Gang. Sie entspannten sich, als sie bemerkten, dass kein Widerstand zu erwarten war. Ein Hauptmann durchschritt die Schwelle, blickte ernst und etwas geringschätzig auf Nivenes Wache. »Eure Waffen«, forderte er und wandte sich an die Prinzessin, während seine Männer die Schwerter einsammelten. »Prinzessin Nivene?« Sie nickte kaum merklich. »Auf Befehl von Genefe, Königin der Gualferen steht ihr unter Arrest. Ihr werdet das Schloss nicht verlassen.« Nivene nickte erneut und verschränkte die Arme vor ihrem Bauch.

»Königin nennt sie sich bereits?« Der Hauptmann ignorierte ihren Spott und fuhr fort: »Nach Odrem Tannenwalder, dem Marschall der Yarimanen wird gefahndet, ebenso nach einigen seiner Ritter. Bolken Harms, Adlun von Bracken, Kasimer vom Bass?« Er schaute sie prüfend an, doch die Prinzessin ignorierte seinen Blick. »Sollte einer von denen sich hier aufhalten, finden wir ihn.« Nivene zuckte mit den Schultern und antwortete leise: »Ich kenne diese Herren nicht.«

Der Hauptmann wandte sich ab, um zu gehen. Da fragte Nivene ihn: »Wisst ihr von meinem Mann?« Der Soldat überlegte kurz. Dann dreht er sich noch einmal um. »Seinen Leichnam hat man einbalsamiert und gut behandelt. Ihr werdet ihn bald bestatten dürfen.« Dann entschwand, er gefolgt von seinen Männern durch die Tür.

Nivene bemerkte, dass auf einmal ihre Kammerzofe Jula neben ihr stand, lautlos wie immer. Die junge Frau ergriff ihre Hand. Ihr Blick war ernst. »Heute Nacht«, sagte sie. Die Prinzessin schüttelte den Kopf. Tränen begannen zu fließen. »Ich muss meinen Mann bestatten.« Jula packte ihre Hand so fest, dass es wehtat. »Heute Nacht!«, insistierte sie scharf. »Sie sind müde von der Reise und kennen sich in der Gegend nicht aus.« Nivene nickte ergeben.

Wenige Wochen zuvor

Missmutig zog Do’reon die Schuhe mit den verzierten Goldfäden und merkwürdig zulaufenden Spitzen an, die wie Schnäbel aussahen. Die Gouvernante war hinausgegangen und weil er diese Schuhe nicht leiden konnte, überlegte er, ob er sie weglegen und einfach verschwinden sollte. Draußen im Innenhof gab es eine Ameisenstraße. Heute Morgen hatte er die kleinen Krabbeltiere mit Krümeln angefüttert und zugesehen, wie sie die Brocken zu zweit und zu dritt forttrugen, bis zwei Kammermädchen ihn mit aufgeregtem, freundlichem Geschnatter weggezogen hatten.

Weglaufen, das hatte er schon oft getan und da die Gouvernante dies wusste, musste sie einen wichtigen Grund gehabt haben, weshalb sie ihn alleine ließ. Vermutlich musste sie zum Abtritt. Sie musste ziemlich oft dorthin. Do’reon mied den Abtritt und pinkelte bei jeder Gelegenheit in den Schlossgarten, auch wenn man ihm das verboten hatte. Die Abtritte waren auch etwas, das er nicht leiden konnte. Die nach Fäkalien stinkenden Löcher standen im merkwürdigen Gegensatz zur edlen Gesellschaft des Hofes im Fürstentum Tauern.

Nachdem Do’reon kurz überlegte, ob er den Tag anders gestalten sollte, als für ihn geplant, beschloss er widerwillig, die Schnabelschuhe doch anzuziehen. Manchmal überzeugte ihn die Mischung aus freundlicher Motivation, stirnrunzelnder Drohung und dem Versprechen, dass heute etwas Besonderes passieren würde. Er war einfach zu klein, als das er begreifen könnte, dass diese Spannung niemals an das heranreichen würde, was er in seinem vorigen Leben erlebt hatte, denn Do’reon war erst sechs Jahre alt.

In seinem Inneren pochte weiterhin das Herz des wilden Kindes. Er träumte oft von dem Wald. Es waren nicht bloß Tagträume, auch nachts kehrte der Wald in seine Gedanken zurück. Nicht irgendein Wald, sondern der Wald, in dem er - wie er es selbst formulierte - aufgewachsen war. Da musste selbst die ansonsten um Strenge bemühte Gouvernante lächeln.

Trotz seines jungen Alters und obwohl er bereits seit einem Jahr am Fürstenhof war, konnte er sich an dieses frühere Leben gut erinnern. An einzelne Begebenheiten sogar sehr klar, zum Beispiel an den Tag, an dem er mit seinem Bruder auf einer Waldlichtung einen Wiesentbullen geärgert hatte. Als dieser wutschnaubend und mit gesenktem Kopf auf sie losstürmte, waren sie im Zickzack durchs Gebüsch gelaufen und auf einen Baum geklettert. Oben, unter dem Wipfel hockend, hatten sie gekichert und gelacht, als der Baum unter den wuchtigen Stößen des Bullen hin- und her schwang. Damals hatten er und sein Bruder Ärger bekommen. Aber der unheimliche Mhondra Gauri hatte ihn später am Arm gepackt und für seinen Mut und sein Geschick gelobt.

Im Wald war Do’reon im Sommer immer barfuß gelaufen und im Winter in am Spann zusammengebundenen Streifen aus Hirschleder mit der weichen Fellseite nach innen gekehrt. Jetzt mühte er sich mit diesen Entenschnabel Schuhen ab. Mit ihren harten Sohlen konnte man weder schnell laufen noch klettern und es klackerte laut und unangenehm, wenn man damit auf den Steinböden des Palastes ging.

Als er beide Schuhe angezogen hatte, lief er aus dem Zimmer den Gang entlang. Als er den Hof erreichte, holte ihn mit wehendem Rock eine Sklavin ein, um ihn zu kämmen.

Do’reon setzte sich auf eine der Bänke und ließ es über sich ergehen. Er wusste, dass, wenn er Widerstand leistete, entweder seine Gouvernante, der Kastellan, die Prinzessin oder ihre Kammerzofe etwas über seine Erscheinung sagen würden. Den Kastellan konnte er nicht ausstehen. Seine Tante Prinzessin Ifrena hingegen liebte er sehr. Aber auch von ihr wollte er ungern getadelt werden.

Noch mehr allerdings liebte er Eula. Sie war so etwas wie eine Großmutter für ihn, auch wenn er verstand, dass sie nicht seine richtige Großmutter war. Do’reon sah sie nicht oft. Er durfte es nicht, was ihn ärgerte. Er gab der Gouvernante die Schuld daran. Gestern hatte er jedoch Eula in den Pferdestall schleichen sehen. Sie hatte sich so leise und so leicht fortbewegt wie die Herbstblätter, die ringsrum langsam aus den Bäumen fielen.

Die Sklavin zupfte bedächtig an seinen Haaren. Es war nicht leicht zu bändigen, denn es kringelte und wellte sich zu runden Formen, widerspenstig wie er selbst. Die junge Frau ging emsig zugange, wissend, dass er in diesen Dingen nicht sehr geduldig war. Als sie fertig war, lächelte sie, knickste und bedeutete ihm hierzubleiben. Do’reon verzog widerwillig den Mund und rollte mit den Augen als Zeichen seines Einverständnisses.

Früher waren seine Haare voller Zweige und Laub gewesen. Nun saß er wohlgekämmt auf einer weißen Marmorbank und schaute den Knechten zu, wie sie Pferde kämmten und ihnen Zöpfe flochten.

Er sah keinen Sinn darin, dass die alte Fürstin die Dienstmägde anwies, alle paar Tage Blumen aus dem Garten die Hälse abzuschneiden, in tönerne Gefäße zu stellen, um sich daran zu ergötzen, wie sie langsam verendeten. »Das sei nicht viel anders, als sich ein paar Tage lang ein totes Tier ins Zimmer zu legen, so lange, bis es anfing zu stinken«, bemerkte Do’reon eines Tages beim Essen. Prinzessin Ifrena verzog ihren süßen Mund zu einem tadelnden Flunsch, während ihre Mutter, die Fürstin, jammernd seine mangelnde Erziehung beklagte.

Selbst das Überangebot an Essen war Do’reon zuwider. Er mochte das Salz, das vieles so aufregend schmecken ließ. Aber die bunte Vielfalt immer neuer Speisen und Variationen enttäuschte ihn, weil er sich nie, wenn ihn etwas glücklich machte, damit satt essen durfte. Stattdessen musste sich sein Gaumen mit jedem Abendmahl an immer neue Geschmäcker gewöhnen, die in kleinen Portionen mit jedem Gang aufgetragen wurden. Früher war er stundenlang durch die Wälder gelaufen auf der Suche nach Blaubeeren oder einem Maralbaum, dessen Früchte er essen konnte, bis er kurz vorm platzen war. Heute standen stattdessen Köche stundenlang in der Hofküche, um Pasteten zu verzieren.

Während er früher in knappen Zeiten nach jedem Bissen so dankbar war, dass er vor Glück schreien konnte, war heute der fade Beigeschmack des Unverdienten nach jedem Mahl sein Begleiter. Die herzklopfende Spannung, wenn er hinter den Jägern in einem Strauch hockte und dem Moment entgegenfieberte, in dem der Pfeil abgeschossen wurde. Das Wissen, dass nur ein perfekter Schuss das Wild zur Strecke bringen würde, war der Langeweile gewichen, an einem Tisch zu sitzen und auf Bedienstete zu warten, die das Essen hereintrugen.

So vergingen seine Tage bis zu dem einen Tag, an dem das alles vorbei war. All der Prunk und Überfluss des Fürstenhofes von Tauern verglühten in rauchenden Trümmern.

1. Eula

Eula drückte das Kind fest an sich. Als sie beide zurückblickten, sahen sie den rotgelben Feuerschein zwischen Tannenwald und Nachthimmel. Darüber noch dunkler als die mondhelle Nacht wölbte sich die Rauchwolke und schlich langsam über den Himmel.

Eine merkwürdige Gemengelage an Gefühlen wallte in ihr hoch. Eula hatte Angst vor dem, was hinter ihr und noch mehr vor dem, was vor ihr lag. Sie spürte ihr Alter. Sie war älter als die meisten Menschen, die sie umgaben und sie war ohne Hilfe. Und dennoch, wider ihres eigenen Erwartens lastete die Verantwortung nicht schwer auf ihren Schultern, im Gegenteil. Dass sie nun die ungeteilte Verantwortung über das Leben dieses kleinen Menschen trug, ließ sie ihre alte Kraft wieder spüren. Sie hatte keine Wahl, das gab ihr Zuversicht. Sie hatte es in ihren Händen, alles zum Guten zu wenden. Aber die Aussichten über das, was vor Ihnen lag, waren düster, geradezu furchterregend.

Auch wenn sie schon in einiger Entfernung waren, konnte man das Feuer immer noch riechen. Der Junge starrte hinüber. »Ifrena kommt nicht mit uns«, stellte er fest. Oder war das eine Frage? Eula musste tief einatmen und dabei einen lauten Seufzer unterdrücken. »Mein Kind, ich weiß nicht, wo Ifrena und die anderen sind. Aber ich muss dich hier wegbringen. Es ist Krieg im Land.« Sie zögerte, »Eines Tages sehen wir Prinzessin Ifrena vielleicht wieder.« Langsam wendete sie das Pferd. »Du hast Verwandte in Eggenraa, das ist weit weg, aber wir schaffen es dorthin.« »Solange du bei mir bleibst«, antwortete der Junge leise. Seine nussbraunen Augen blickten in die Nacht hinaus, die vor ihnen lag. Eula küsste den Kopf des Kindes mit den wilden Locken und lächelte. »Ich bleibe immer bei dir, mein Kind!« Dann musste sie doch laut seufzen. Do’reon schaute zu ihr hoch. »Bist du bereit?«, flüsterte sie. »Wir haben einige Tage im Wald vor uns. Du weißt noch, wie man im Wald lebt, nicht wahr?« Der Junge lächelte und nickte. »Ich bin froh, wieder im Wald zu sein. Ich hoffe Ifrena kommt, um nach uns zu suchen.« Eula lächelte warmherzig, »Das wird sie sicherlich tun«, sagte sie, während sie das Pferd mit dem Strick wendete und sachte mit den Schenkeln antrieb. »Wenn sie noch lebt«, war der düstere Gedanke, der ihr darauf folgte. Aber sie behielt ihn für sich.

Eula fühlte, dass weder die Prinzessin Ifrena oder sonst irgendwer aus Tauern entkommen war. Der Palast brannte. Die Stadt war in der Hand des Feindes der Gualferen. Das Weiße Schwert auf rotem Grund, leuchtete durch den Rauch, der vom Palast zur Stadt herüberwehte, auf Schilden und Bannern. Der alte Fürst, Großvater des Jungen und alle Menschen aus seinem Haushalt waren vermutlich tot oder gefangen.

Eula hatte die Flucht in Gedanken schon durchgespielt, lange bevor die Katastrophe eingetreten war oder es überhaupt Anzeichen dafür gegeben hatte. Sie hatte sich nur unauffällig um das Kind bemüht, um keinen Unmut im Hofstaat der Fürsten zu wecken. Dennoch war sie nie weit weg von dem Jungen gewesen.

Eula hatte stets eine Gabe dafür gehabt, Situationen vorauszuahnen und das Unheil war gekommen, genau so, wie sie es geahnt hatte. Nachdem die Gualferen ihre großen Rivalen, die Yarimanen besiegt hatten, brachen sie nun jedes Anzeichen von Widerstand oder Verrat.

Nun war sie allein mit diesem Jungen, der eigentlich Do’reon hieß, den sie aber, wenn kein anderer Mensch dabei war, stets bei seinem Kosenamen Jooshi rief. Dem Jungen, von dem manche glaubten, dass ihm eine große Zukunft beschieden sei. Doch diese große Zukunft barg unter den derzeitigen Umständen mehr tödliche Gefahren, als man einem Kind wünschen mochte.

Eula sah zwei Möglichkeiten, das Kind in Sicherheit zu bringen. Entweder sie wandte sich nach Süden, um das verbündete Fürstentum Aubra zu erreichen. Doch sie kannte weder Herrscherhaus, noch den Weg dorthin und dazwischen lag das rivalisierende Königreich Hammertall. Der andere Weg führte nach Osten, zum Verbündeten Eggenraa, eines der mächtigsten Fürstentümer im Kaiserreich. Sie hatte von Politik wenig Ahnung. Doch wichtiger als Bündnisse erschienen ihr die bestehenden Blutsbande. Do’reons Mutter Nivene und Tante Ifrena war die Cousinen des Fürsten Rugar. Eula entschied sich für Eggenraa.

Doch auch dieser Weg war weit. Sie würde die Berge entlang nach Nordosten bis zur Grenze reiten. Dahinter lagen die Länder Bor und Alzt. Eines dieser beiden Länder würden sie durchqueren müssen. Eula wählte das kleinere Alzt. Sicher, das fühlte Eula, waren sie dort nicht. Es war wohl nur eine Frage der Zeit, bis sich das kleine Land den feindlichen Gualferen zuwandte, nachdem es zuvor auf Seiten der Yarimanen gestanden hatte. Doch die Yarimanen waren Geschichte. Eula musste vorsichtig sein und Burgen und Siedlungen meiden, bis sie sicher in Eggenraa ankamen.

2. Miraciel

Am späten Nachmittag kam eine Gesandtschaft auf die Burg nach Alzt, um mit dem Baron zu sprechen. Miraciel beobachtete sie vom Turmfenster aus, als sie im Hof stand. Der augenscheinliche Anführer trug ein kurzes Schwert und einen Brustpanzer. Dieser schien jedoch mehr Zierde zu sein, denn ansonsten trug er keinerlei Rüstung und auch keinen Helm, sondern einen weiß befiederten breitkrempigen Hut. Die anderen drei waren etwas schäbig gekleidete Waffenknechte, die den Dienern gerade einbläuten, wie sie die Pferde zu versorgen hatten.

Der Gesandte sah sich derweil missbilligend im Burghof um. Schließlich schweifte sein Blick hinauf zum Turm. Miraciel überlegte kurz im Schatten des Fensters zu verschwinden, damit ihn der Mann im Hut nicht sah. Aber er war zu spät. Miraciel nickte dem Fremden zu. Doch der starrte ihn nur für einen Augenblick unverwandt an und sah dann gelangweilt weg. Vermutlich hielt er ihn für einen Diener, der unbeobachtet faulenzte.

So ganz falsch war das nicht. Miraciel war kein Diener, aber dennoch bloß ein Schildknappe. Und Knappe sein hieß, zu dienen. Sein Herr war der Baron von Alzt selbst. Eine zweifelhafte Ehre. Der Knappe des Barons und nicht eines beliebigen Ritters zu sein, sollte ihm Achtung einbringen. Dadurch, dass er den Willen des Barons vollstreckte, hatte er gewisse Befugnisse, die andere nicht hatten. Allerdings war der Baron kein besonders guter Herr. Ein einfacher Ritter mühte sich mehr um die Ausbildung seines Knappen.

Miraciel wandte sich ab, um zu gehen. Sein Herr war nicht da, er trieb Steuergelder aus dem Umland ein. Miraciel war froh drum, dass er nicht hatte mitreiten müssen. Da der Baron über drei Knappen verfügte, war es der kleine Flejedias von Abendrot, der ihrem Herren auf diesem Ritt zu Diensten war. Miraciel und die anderen Knappen nannten ihn scherzhaft Flejedias das Abendbrot.

Genau in diesem Moment schritten zwei weitere Männer unter dem Vordach des Stalles in sein Blickfeld. Miraciel verharrte. Beide trugen schwere Eisenrüstungen aus übereinanderliegenden Schuppen, ähnlich wie sein Herr und viele Ritter. Der Stahl war allerdings von dunklem Grau und statt auf Hochglanz poliert zu sein, matt und dumpf. Sie sahen wenig erhaben, dafür düster und bedrohlich aus. Unterhalb des Gürtels weiteten ihre Rüstungen sich zu einem Rock, der bis zu den Knien reichte. Darunter trugen sie an der Außenseite blutrote Hosen und Stiefel aus verstärktem Leder, die über das Knie hinausragten.

Die beiden Fremden trugen Helm, Stoßlanze und Schild, ähnlich wie die der Ritter des Kaiserreiches und doch waren dies keine Ritter. Die Schilde waren oval und ohne Wappen. Die Helme liefen am Hinterkopf spitz zu und endeten in einer Quaste aus rotgefärbtem Pferdehaar, das bei jeder Bewegung hin und her wippte. Vorne am Helm ragte ein kleiner Metallschirm hervor, der vor Sonnenlicht und herab geführten Schwertstreichen schützte. Unterhalb der Augen waren die Helme geschlossen. Sie schützten Kinn und Wangen. In der Mitte hatten sie eine Aussparung, um das Atmen zu erleichtern.

Miraciel hatte diese Reiter bereits einmal gesehen. Das war vor sieben Jahren, als sie in der Schlacht am Goldenen Feld die Reiterei des letzten Yarimanen Kaisers zerschmettert hatten. Er war noch ein Junge gewesen. Aber diesen Tag würde er nie in seinem Leben vergessen. Die beiden Männer waren Kallguusen. Lanzenreiter aus Tausaan. Die Gualferen, nun die größte Macht im Kaiserreich, hatten Söldner angeheuert, um die Yarimanen zu bezwingen. Unter diesen Söldnern waren die Kallguusenreiter die Elite. Sie waren die entscheidende militärische Reserve gewesen um den Gualferen zum Sieg zu verhelfen. Ihr Ruf war berüchtigt. Sie galten als effektiv und gnadenlos. Miraciel wusste, dass es stimmte.

Elard von Alzt traf am frühen Abend auf seiner Burg ein und empfing den Gesandten in seiner düsteren Halle. Miraciel diente als Mundschenk und nutzte so seine Postion, um im Hintergrund herumzuwuseln und dabei verstohlen zuzuhören. Er trat vor, um dem Baron Wein einzuschenken. Der Gesandte verzichtete. Er verlangte stattdessen nach Wasser. Neben dem Gesandten waren auch die beiden Kallguusen anwesend. Sie standen im Hintergrund und trugen noch immer ihre Rüstungen. Sie hatten gebeten, ihre Pferde nur zu tränken aber nicht abzusatteln. Viel hätte nicht gefehlt und sie hätten die Pferde mit in die Halle geführt. Ihre Gesichter verschwanden im Schatten ihrer Helme.

Der Gesandte kam wenig überraschend im Auftrag der Gualferen. Deren Oberhaupt war Genefe, Frau des verstorbenen Fürsten Belkas. Sie war nicht nur das Oberhaupt ihres Landes, sondern auch die mächtigste Fürstin des Kaiserreichs. Der Gesandte sprach von ihr als Königin Genefe. Auch dieser Titel war umstritten, denn Gualferen war reich und mächtig, doch nominell nur ein Fürstentum. Das eine Frau das Oberhaupt eines Landes wurde, aus der sie nicht einmal von Geburt her stammte, war höchst befremdlich aus Sicht der anderen Regenten. Zudem strebte sie wohl nach noch höheren Weihen: Dem vakanten Kaisertitel. Doch der Baron, der oft verächtlich über Genefes Ambitionen gesprochen hatte, verzog keine Miene, als der Gesandte sie als Königin und Regentin des Kaiserreichs titulierte, bevor er ihre Nachricht überbrachte: »Wie ihr sicherlich bereits wisst, hat sich euer Nachbar Tauern verschwörerische Aktivitäten gegen die Autorität des Kaiserreichs zu Schulden kommen lassen.«

Reichlich merkwürdig umschrieben, dachte Miraciel, der hinter dem Baron im Schatten verschwand, so dass dieser ihn nicht bemerkte und davonschicken konnte. Tauern war vor wenigen Tagen von den Gualferen überfallen worden. Die unerwartete Nachricht eines wieder aufflammenden Konflikts im Kaiserreich hatte sofort für Unruhe bei den Nachbarn gesorgt und auch den Baron alarmiert. Elard hatte vorsorglich Vorräte und bewaffnete Männer in Alzt zusammenziehen lassen und selbst schnell noch Steuergelder eingetrieben.

Miraciel beobachtete die beiden Kallguusen, die hinter dem Gesandten standen. Er wusste nichts über das Land Tausaan aus dem sie kamen, außer dass es an einem Meer im Osten lag. Statt der im Kaiserreich üblichen Schwerter mit gerader Klinge und dem Ringgriff für den Zeigefinger trugen sie lange gekrümmte Galmeta. Zu gerne hätte Miraciel eines dieser Schwerter einmal in Händen gehalten. Die Griffe waren kunstvoll verziert, glichen einander dennoch fast gänzlich. Lediglich die im Knauf eingearbeiteten blauen Steine variierten in Größe. Er hatte gehört, dass diese Steine aus den Meer kamen und Korallen hießen. Miraciel hatte das Meer noch nie gesehen, doch er war als Kind schon mal am Mittellauf des Galpa gewesen. Obwohl noch über tausend Meilen vom Meer entfernt, war der Fluss dort bereits so breit, dass man das andere Ufer bei schlechtem Wetter nicht mehr sehen konnte. Er fragte sich unwillkürlich, wie man diese Steine aus dem Meer bekam. Schwammen sie oder tauchte man nach ihnen?

Der Gesandte berichtete mit klarer, kalter Stimme, dass nach einer Gruppe Personen gefahndet wurde, die ein fürsorgebedürftiges Kind mit sich führten. Einem Jungen zwischen sechs und acht Jahren. Er war mithilfe einer Frau, eventuell seiner Amme und einer bewaffneten Eskorte aus dem benachbarten Fürstentum Tauern geflohen. »Die Vermutung liegt nahe, dass die Flüchtigen versuchen, sich ins Fürstentum Eggenraa abzusetzen«, sagte der Gesandte in seinem leicht herausfordernd wirkenden Tonfall.

Um Eggenraa zu erreichen, würden sie eventuell die Ländereien des Barons von Alzt durchqueren. »Deshalb bitten wir euch um Unterstützung, nach den Flüchtenden zu fahnden oder die Freiheit der Durchreise zu gewähren, damit die Männer der Königin«, er deutete mit einem Kopfnicken an, dass er die Kallguusen damit meinte, »diese Aufgabe wahrnehmen können.«

Der Baron nahm einen Schluck Wein und starrte den Gesandten an, während der redete. Miraciel war sich nicht sicher, ob sein Herr sich geehrt fühlte, dass man ihn um Hilfe bat. Er wusste, es würde dem Baron missfallen, dass Fremde ohne seine Befugnis seine Ländereien durchquerten. Aber ebenso wenig Interesse würde er daran haben, fremden Söldnern die Erlaubnis zu erteilen, in seinem kleinen Reich herumzuschnüffeln.

Eggenraa und Tauern, das waren nicht immer Feinde der Barone von Alzt gewesen. Genauso wenig, wie die mächtigen Gualferen im Süden, die sie nun um Hilfe baten, immer ihre Freunde gewesen waren. Aber seit dem Tod des Kaisers hatte sich das Blatt gewendet und als Baron einer kleinen und eher unbedeutenden Bergregion musste man sich neu orientieren. Der Anlass, dieser Flüchtigen habhaft zu werden, bot eine gute Gelegenheit, in die Gunst der übermächtigen Nachbarn aus dem Süden zu treten, ohne ihnen freiwillig zu viele Befugnisse in seinem eigenen Land einzuräumen.

Und so musste der Gesandte den Baron nicht lange mit Worten umschmeicheln, bis dieser zur Tat schritt. Schmeichelhafte Worte, schienen ohnehin nicht dessen Stärke zu sein. Das Hilfegesuch wurde als Bitte formuliert, jedoch nicht sehr bittend.

Elard ließ sich noch einmal Wein nachschenken und sicherte dann dem Gesandten seine Unterstützung zu. Er bot ihnen ein Nachtlager im Hauptturm. Der Gesandte nahm das Angebot für sich selbst in Anspruch, seine Waffenknechte würden im Stall schlafen. Die beiden Kallguusen jedoch ritten noch am Abend trotz einbrechender Dunkelheit davon.

Der Baron schien Feuer und Flamme für den Auftrag. Eilig stellte er drei Suchtrupps zusammen. Für mehr hatte er keine Reserven und mehr als vierzig Pferde waren auf seiner Burg nicht aufzutreiben. Noch am Abend ließ er ein dutzend Berittene aus einer benachbarten Burg herbeibeordern.

3. Miraciel

Früh am nächsten Morgen waren alle bereit. Einen Suchtrupp befehligte der Baron selbst. Er würde ihn nach Osten Richtung Eggenraa führen. Die anderen beiden Trupps schickte er nach Westen Richtung Tauern und nach Norden an die Grenze zum Fürstentum Bor. Sie würden an jedem Dorf, jedem Bauernhaus und jeder Holzfällerhütte klopfen und nachforschen, ob Reisende vorbeigekommen waren, vielleicht sogar Lebensmittel gefordert oder nach dem Weg gefragt hatten.

Die Sonne war noch nicht aufgegangen, der Hof begann sich bereits mit Kriegern zu füllen. Schweigend zurrten sie ihre Ausrüstung in den Packtaschen fest, überprüften Sattelzeug und ölten ihre Schwerter. Sie hatten sich mit Nahrungsmitteln eingedeckt. Wasser in den Alzter Bergen zu finden war kein Problem und so sparten sie sich zusätzliche Trinkschläuche, außer dem, den jeder Mann bei sich trug.

Die meisten der Ritter und Wehrknechte trugen neben ihren Schwert Kettenhemd und Helm. Einige Armbrüste wurden mitgeführt. Schilde und Lanzen ließ man zu Hause, da man von wenigen Gegnern ausging, aber viel zu reiten hatte.

Die Männer der ersten beiden Trupps trabten bereits in langer Kette durch das offene Tor. Miraciels Einheit wartete noch auf den Baron.

Langsam ging der junge Schildknappe über den Hof. Angebunden an einen Pflock stand vor ihm eine schöne Fuchsstute. Er kannte das Tier. Erst vor wenigen Wochen, hatte er sie das erste Mal gesehen. An diesem Tage trainierte er mit den anderen Knappen vor den Toren der Burg. Sie übten mit Holzschwertern Angriffe und Riposten. Miraciel machte gerade Pause und balancierte die Spitze seiner Übungswaffe auf dem Finger, als er einen Pferdeknecht bemerkte, der zwei große Fuchsstuten über die Pflasterstraße zum Tor führte.

Die beiden Pferde glichen sich bis auf die unterschiedlich breiten Blessen. Beide Pferde waren nervös, zogen an ihren Leinen und tänzelten. Als sie ein mit Fässern beladenes Fuhrwerk passierten, kippte der tölpelhafte Bauernjunge auf dem Wagen beim Entladen eines der Fässer um. Er fluchte laut unter seinem Schopf aus rostroten Haaren mit der krächzenden Stimme eines Heranwachsenden. Beide Pferde erschraken und begannen an ihren Führleinen zu zerren. Der Stallknecht rief dem Bauernjungen eine Warnung zu, doch es war zu spät. Das Fass rollte langsam über die Wagenkante und zerbarst auf dem Straßenpflaster. Der Wein darin ergoss sich wie ein Schwall roten Blutes über die Steine.

Der Stallknecht schaffte es, eine Stute unter Aufbietung all seiner Kraft festzuhalten. Er zerrte ihren Kopf am Halfter zum Wagen. So hatte sie vor sich nichts, wohin sie laufen konnte. Die andere Stute jedoch drängelte sich hinter dem ersten Pferd vorbei, riss sich los und galoppierte im atemberaubenden Tempo die Straße hinauf zur Alzter Burg. Die Führleine peitschte wie eine Schlange hin und her, als das Pferd in wenigen Augenblicken das Tor erreichte. Sie sprang über einen Wachsoldaten, der sich entsetzt niederkauerte und riss eine Frau mit einem Korb Äpfel um. Dann verschwand das Pferd in Begleitung lauter Schreie im Burghof. Miraciel und die anderen Knappen konnten sich bei dem Anblick vor Lachen kaum halten. Dass die Stute direkt in den Stall hineingerannt und an ihrem üblichen Anbindeplatz wie angewurzelt stehen blieb, gab später erneut Grund zu Gelächter.

Diese schreckhafte Stute war nun sein Pferd. Der Kastellan hatte ihm das Tier vor einer Woche zugewiesen. Seitdem hatte Miraciel keinen einzigen Ausritt mit ihr machen können. Wenn sie ihm im Wald abhaute, wäre kein Stall in der Nähe, zu dem sie zurücklaufen konnte. Sein Vater hatte ihm beigebracht, dass Pferde Gedanken der Menschen lesen können. Anfangs hatte Miraciel das nicht verstanden. Er war mit Hunden, Falken, Frettchen und Schafen aufgewachsen. Pferde hatte er stets nur gut abgerichtet kennengelernt. Doch später verstand er, was sein Vater meinte. Pferde spürten die Gefühle eines Menschen. Um ein Pferd zu kontrollieren, musste er seine eigenen Gedanken beherrschen.

»Dummes Tier«, murmelte er zur Begrüßung und streichelte gleichzeitig mit einem Lächeln den Hals der Stute. Ihr braunen Augen äugten ihn gutmütig an. Ihre Ohren waren gespitzt. Miraciel war froh, überhaupt so eine schnelles Pferd zu haben, das mit den exzellenten Pferden der Ritter mithalten konnte. Der Schildknappe schwang sich auf die Stute. Ihm war nicht ganz wohl dabei, mit diesem Pferd tagelang im Wald unterwegs zu sein. Sie war schön und schnell und ritt sich ausgezeichnet. Im Stall war sie sehr sanftmütig. Doch sie neigte zur Schreckhaftigkeit. Wenn Miraciel sie am Zügel über den Hof führte, stakste sie aufgeregt neben ihm her und beäugte misstrauisch ihre Umgebung. In Engpässen drängelte sie in ihn hinein, so das er sie mit einem Klaps aufs Brustbein sanktionieren musste, damit sie ihn nicht auf die Füße trat. In ihrem Pferdekopf schien der Gedanke an eine schnelle Flucht stets greifbar. Am folgsamsten war sie, wenn Miraciel im Sattel saß. Was ihn etwas beruhigte.

Eigentlich kein gutes Pferd, um damit in die Berge zu reiten. Der Stallmeister hatte ihn gemahnt, er müsse sie härter anfassen. Doch das fiel Miraciel schwer.

Er widerstand dem Drang, das Tier an der Burgmauer entlang zu lenken, weg von dem Lärm zweier schnatternder Mägde, mit Bastkörben voller Wäsche auf die Hüften gestemmt. Stattdessen lenkte er die Stute durch die schmalste Stelle zwischen zwei Karren direkt an den Weibern vorbei. Das Pferd zögerte. Aber nur für einen Augenblick, dann tat sie, was er von ihr wollte.

Endlich kam der Baron. Mit großen Schritten lief er über den Hof zu seinem Schimmelhengst. Er war gekleidet in einen Wappenrock. Darunter trug er ein Kettenhemd. Er übergab dem Stallknecht, der sein Pferd hielt, den Helm und schwang sich auf das Pferd. Dann sah er sich um, bis er Miraciel entdeckte. Miraciel nickte. Was bedeuten sollte, dass Felle, Wein und Vorräte wie besprochen aufgeladen waren.

Der Baron starrte ihn für einen Augenblick an. Miraciel überlegte, ob sein Herr wünschte, dass er zu ihm herüberkommen solle. Aber dann wandte der Baron sich wieder dem Knecht zu und verlangte nach seinem Helm. Die Jagd begann.

4. Eula

Eula hatte sich bereits tagelang mit Do’reon auf ihrem Pferd mitten durch den Wald geschlichen. Sie kamen stetig, dennoch langsam voran. Das Umgehen von jeglichen menschlichen Besiedlungen hatte viel Zeit gekostet und sie und das Kind mürbegemacht. Es war Herbst. Die Nächte waren kühl geworden. Das Wetter war wechselhaft und mangels Unterschlupf waren sie vom Regen zweimal durchnässt worden. Oft ließ sie den Jungen, eingehüllt in seinem Mantel auf dem Pferd sitzen und führte den kleinen Hengst am selbstgeflochtenen Halfter mitten durch den Wald hinter sich her.

Zu Essen gab es zwar genug, denn Eula war sehr findig im Ausschöpfen verschiedenster Nahrungsquellen, aber auch die Nahrungsbeschaffung kostete sie Zeit.

Eula hatte den Hengst ausgewählt, schon lange bevor die Flucht notwendig gewesen war. Im Zweifelsfall hätte sie irgendein Pferd aus dem Stall genommen oder wäre gar zu Fuß geflohen. Aber der Weg war beschwerlich genug und ohne Pferd wäre das Vorankommen noch mühseliger geworden.

Die Fellfarbe des Tieres hatte bei der Auswahl eine wichtige Rolle gespielt. Ein Brauner war inmitten von Wald und Weiden am wenigsten auszumachen. Sie hätte vielleicht eine umgänglichere Stute bevorzugt, aber der kleine Hengst hatte ihr Interesse geweckt, weil er folgsam erschien und ein ausgeglichenes Temperament hatte. Er war scheu, aber nicht ängstlich. Eula hatte ihn in der Vergangenheit immer wieder im Stall besucht, mit ihm gesprochen und ihn gekrault. Es dauerte nicht lange und er begann ihr zu vertrauen. Die geringe Größe war für Eula noch wichtiger als seine Farbe, denn sie selbst war zu klein, um von ebener Erde aus auf ein großes Pferd hinaufzukommen und zuerst musste sie den Jungen unter Aufbietung all ihrer Kraft auf das Pferd hieven. Der Hengst hatte eine dichte, zottelige Mähne, an dem sie ihren schmalen Körper ohne große Mühe hinaufziehen konnte, sobald das Kind oben saß.

Trotz des wechselhaften Wetters schöpfte sie langsam Hoffnung. Burg und Stadt von Alzt hatten sie passiert. Zwischen ihnen und Eggenraa lagen nur noch wenige Burgen und Dörfer. In zwei oder drei Tagen würden sie über die Grenze in relativer Sicherheit sein.

Eula hatte entschieden, die letzten Meilen nach Eggenraa auf der Straße zurückzulegen. Es gab eine nördliche und eine südliche Route. Die südliche Route war kurzer, die Straße breiter und weniger bergig. Eula wählte daher die nördliche Route, da diese weniger genutzt werden würde. Es gab nur weniger Dörfer und sie führte durch entlegenere Wald- und Berggebiete. Jetzt kamen sie schneller voran als im Wald. Wenn sie vorsichtig war, würde sie jeder Begegnung rechtzeitig entgehen können. Das erschien ihr als Kompromiss für die letzten Meilen annehmbar.

Doch sie hatte sich getäuscht. Am Mittag stand plötzlich ein alter Mann vor ihnen. Er hatte ganz still am Wegesrand ausgeharrt. Sie hatten ihn erst bemerkt, als das Pferd plötzlich stehen blieb und die Ohren spitzte. Der Mann hatte ein rußgeschwärztes Gesicht, vermutlich war er ein Köhler. Er stierte sie furchtsam an und schien froh, dass Eula weiterritt. Womöglich wäre er der Begegnung genauso aus dem Wege gegangen wie sie selbst, aber ihre Wege hatten sich nun gekreuzt und das würde Konsequenzen haben. Sobald sie außer Sichtweite war, ritt Eula eilig weiter.

Am Nachmittag hielt Eula Ausschau nach einem geeigneten Schlafplatz. Sie sammelte Pilze und der kleine Junge stand an einer riesigen Hecke und pflückte in einem rasenden Tempo die späten Brombeeren. Mit beiden Händen griff er zu. Links, rechts, links, rechts, wobei etwa die Hälfte der Beeren gleich in seinem Mund verschwand. Die anderen sammelte er in einem vor sich ausgebreiteten Tuch. Eula sah es und musste lächeln. Sie wagte es, ein kleines Feuer zu machen, denn die Herbstluft trieb dichten Nebel durch den Wald und würde den Rauch verschlucken. Sie fand einen flachen Stein mit einer leichten Aushöhlung und legte ihn in die Mitte des Feuers. Darin garte sie die Pilze mit ein paar Löwenzahnwurzeln. Immer wieder träufelte sie Wasser aus ihrem Trinkschlauch darauf.

Endlich hatte sie die Zeit gefunden, dem Jungen mit ihrem scharfen Messer die Haare abzuschneiden. Es tat ihr in der Seele weh, die braunen Locken mit den goldenen Spitzen wie dicke Schneeflocken zur Erde fallen zu sehen. Aber es musste sein. Er war mit diesen Haaren unverkennbar.

Jetzt sah er aus wie ein Bauernlümmel. »Wenn er das doch bloß wäre«, dachte sie. »Ein Bauernjunge mit Mutter, Vater, Geschwistern und einem Zuhause.«

Zwischen den Bäumen stand ihr braunes Pferd und äugte zu ihnen herüber. Er schnaubte und begann, das von Eula zuvor gesammelte Gras zu fressen. »Braver Junge«, murmelte sie mehr zu sich selbst als zu dem Tier.

Das Feuer brannte langsam herunter. Sie lagen inmitten von dicken Moospolstern, Do’reon hatte sich an sie gekuschelt. Die Augen waren ihm zugefallen. »Bald sind wir in Sicherheit, kleiner Krieger«, flüsterte die alte Frau. Wie zur Antwort brabbelte der Junge etwas im Schlaf. Aber sie konnte es nicht verstehen.

5. Miraciel

Die Jagd nach dem Kind und seinen Begleitern war zunächst ergebnislos verlaufen. Niemand hatte irgendwelche Fremden im Land gesehen. Weder einzelne Reiter noch eine Gruppe. Sie hatten alle bekannten Bauernhöfe und Dörfer aufgesucht. Sie waren vierzehn. Der Baron, fünf seiner Ritter und je vier Knappen und Waffenknechte. Zwei Knappen fehlten. Der eine war zu jung und der andere war vom Pferd gestürzt und mit einem gebrochenen Arm nicht zu gebrauchen.

Nachem sie den ganzen Tag im Sattel gesessen hatten, begann Miraciel langsam seinen Hintern zu spüren. Er war froh, als die Dämmerung sich ankündigte. Sie verbrachten die erste Nacht auf einem Bauernhof. Das winzige Haus war so schmutzig und verlaust, dass selbst der Baron es vorzog, im Freien zu schlafen. Elard von Alzt regte sich so über seine dreckigen Vasallen auf, dass er den Bauern ohrfeigte und die Familie samt ihrer Kinder für die Dauer ihres Aufenthaltes in den Wald jagte.

Neben dem Haus gab es ein überdachtes, zu drei Seiten offenes Heulager. Drean von Tannen, einer der Ritter wies die Knechte an, einen der beiden Heukegel umzustoßen und das getrocknete Gras als Unterlage auszubreiten. Das Vieh des Bauern ließen sie in Ruhe, aber nur weil sie frisch geschlachtete und gerupfte Hühner dabei hatten. Allerdings plünderten sie das unterm Dach gelagerte Gemüse. Sie befeuerten eine alte Feuerstelle und garten das Fleisch in einem kleinen mitgebrachten Kessel. Zur einen Seite war eine eingezäunte Weide, auf denen eine Handvoll Schafe standen, die beunruhigt herüberglotzten.

Nachdem ihn Miraciel aus seinem Kettenhemd herausgeholfen hatte, machte es sich Baron Elard von Alzt auf den Schafsfellen bequem. Auf allen vier Schafsfellen. Der Baron war Mitte vierzig, kein schlechter Kämpfer und niemand, der sich lumpen ließ, seinen Männern vorauszureiten. Dennoch hatte er einen leichten Hang zu gutem Essen und Wein, jedenfalls wurde er mit dem Alter langsam etwas runder. Die Felle waren schöne Felle von starken Widdern, grau-schwarz, dicht und weich. Einem normalen Mann hätte eines dieser Felle gereicht. Für Miraciel blieb damit nur Heu als Unterlage. Die Nacht würde kalt werden.

Der Baron musterte ihn, wie er zusammen mit den anderen Knappen das Abendmahl zubereitete und Feuerholz neben dem Feuer stapelte. Der Blick seines Herrn war hämisch und geringschätzig. Miraciel spürte, wie er ihn musterte. »Das Essen?«, fragte der Baron schließlich. »Es gibt gebratenen Schweineschiss«, antwortete Miraciel in Gedanken. Er lächelte ob seines Einfalls, während er aufstand um zu sehen, wie weit der Knappe Milas Holzbrunk mit der Essensverteilung war.

Der warzengesichtige Knappe war mit seinen knapp 20 Jahren schon fast zu alt, um ein Knappe zu sein, zudem war er riesig. Mit seinen dicken Händen wurschtelte er Hühnerfleisch und Brot in möglichst gleichgroße Portionen. Sein Herr Ritter Kauskar würde ihn bald zum Ritter schlagen, dann würde Milas diese Arbeit nicht mehr machen müssen. Miraciel nickte nur, verzog aber keine Miene, ob der ungelenken Art des älteren Knappen. Er achtete lediglich darauf, dass die Portion für seinen Herren größer ausfiel und frei von Knochen war. Milas, Flejedias und der tölpelhafte Olme halfen ihm. Die Portion, die durch Olmes Ungeschick auf dem Boden landete, wurde unter den tadelnden Blicken der Ritter sein eigenes, mit Stroh und Dreck gewürztes Abendmahl.

Am nächsten Morgen brachen sie in aller Früh auf. Als sie die Pferde auf dem schmalen Pfad Richtung Straße ritten, sah Miraciel den frierenden Bauern mit seiner Familie am Waldrand stehen, bereit, ihr Zuhause wieder in Besitz zu nehmen.

Noch im Morgengrauen begegneten sie einem alten, gebeugten Köhler. Seine Hütte stand etwas abseits der Straße. Sie hatte sich durch den Rauch offenbart, der aus der Dachluke quoll.

Der Mann befürchtete Unheil, als er die bewaffneten Herren an seiner Schwelle traf und beteuerte auf die bohrenden Fragen des Barons hastig, er habe zwei Reisende auf der nördlichen Straße Richtung Osten gesehen. Den Köhler anzutreffen war ein Glücksfall, denn die Straße teilte sich in zwei unterschiedliche Routen. Dass der Köhler behauptet hatte, lediglich ein Pferd mit Frau und Kind, aber keine Bewaffneten gesehen zu haben, machte den Baron nicht lange stutzig. Er würde auf jeden Fall auskundschaften, wer hier unerlaubt sein Land bereiste. Er instruierte seinen erfahrensten Ritter Gelas von Raaben, mit zwei Knechten die südliche Straße entlangzureiten. Den Rest würde er selbst entlang der nördlichen Straße führen.

6. Eula

Eula hatte sich die ganze Nacht an den Jungen geschmiegt, um ihn warmzuhalten. Es wurde jede Nacht kälter und im Schlaf fragte das Kind nach einer Decke, obwohl es bereits in den braunen Wollfilzmantel gehüllt war. Im Morgengrauen lag Raureif auf den Blättern und Gräsern. Der kleine Hengst stapfte ans Schlaflager heran und schnupperte an ihnen. Wolken stiegen aus seinen Nüstern auf und verdampften zwischen den Bäumen.

Wäre Eula alleine, wäre sie längst weitergeritten, aber dem Kind war kalt und so blieben sie bei ihm liegen, bis die ersten Sonnenstrahlen durch die Kiefern leuchteten. Dann setzte sie den Jungen aufs Pferd und schlang ihm den Mantel um. Der Junge legte sich nach vorne und kuschelte sich an das warme Tier, während es langsam auf und abschritt, um nach den spärlichen Halmen zu suchen, die zwischen den Bäumen wuchsen. Als die Sonne durch das grüne Tann funkelte, wurde es wärmer. Eula stieg hinter dem Kind auf und lenkte das Pferd zurück zur Straße, spähte eine Weile hinauf und hinab und ritt los.

Die Straße stieg nun deutlich an. Sie schlängelte sich im Zickzack um Felsnasen herum und war sehr schmal geworden, kaum noch ein Pfad. Der Weg wurde nicht oft benutzt und war von Fuhrwerken nicht mehr befahrbar. Doch die engen Kurven bedeuteten auch, dass man nicht weit vorausschauen konnte.

Und so geschah es. Hinter einer dieser Kurven trafen sie erneut auf einen Menschen. Es war ein pausbackiger junger Bauernbursche, der auf einem dicken grauen Pferd mit zotteligen Fesseln saß. Er saß einfach nur so da, mitten auf dem Weg, als hätte er auf sie gewartet. Eula murmelte einen Gruß und trieb das braune Pferd an seinem vorbei. Der Hengst legte die Ohren an und machte Anstalten, nach dem Grauen zu schnappen. Doch Eula zwang ihn energisch weiterzureiten.

Sie hatte die Befürchtung, der Bauer würde ihnen nachreiten, was dieser nicht tat, aber als sie nach einer Weile über die Schulter blickte, saß er noch auf seinem Pferd mitten auf der Straße und schauten ihnen nach. Kein gutes Zeichen, dachte Eula. Sobald sie hinter einer Kurve verschwunden waren, trieb sie den Hengst zur Eile an.

Als sie später am Tag auf einen Bach trafen, entschied Eula eine Pause einzulegen. Sorgsam sah sie sich um. Die Stelle, an der der Bach breit und klar über die Straße rann, war offen. Einige Bäume waren hier vor Jahren gefällt worden und die Sonne schien wärmend auf den Boden herab. Kleine schwarze Schmetterlinge flogen umher und längs des Wasserlaufs wuchs Gras. Trotz der offenen Fläche war dies ein guter Rastplatz, zumindest für eine kurze Zeit, denn der Weg hinter Ihnen fiel steil ab. Sie konnten weit zurückschauen. Niemand konnte sie hier plötzlich überraschen.

Eula ließ das Pferd fressen, füllte den Wasserschlauch und rupfte anschließend Gras, um dem Pferd in der Nacht etwas vorsetzen zu können. Der Junge hatte sich auf einen Stein gesetzt und hielt die Füße ins eisige Wasser.

Die alte Frau bemerkte, wie sich hinter ihnen dunkle Wolken auftürmten. Sie schloss die Augen. Der Wind war nicht stark, aber jetzt spürte Eula, woher er kam. Die Wolken zogen in ihre Richtung. Es waren Gewitterwolken. Dunkelblau schlichen sie dahin. Noch waren sie sehr fern, doch wenn der Wind nicht seine Richtung änderte, würden die Wolken sie bei Nacht eingeholt haben.

Die Vorstellung, mit dem Kind durchnässt irgendwo auf dem kalten Berg zu hocken, schreckte sie. Eulas Blick streifte weiter über die Landschaft. Vor ihnen war nur der bewaldete Berg zu sehen. Wie weit noch bis zur Grenze? Sie musste nahe sein. Höchstens einen halben Tagesritt.

Mit Unbehagen sah Eula, dass ihre Spuren auf der Straße in Höhe des Baches deutlich zu erkennen waren. Der ansonsten steinige Gebirgsboden war hier vom fließenden Wasser überall aufgeweicht. Es waren die einzigen Spuren weit und breit und so bedurfte es keines Spurenlesers, um ihre Anwesenheit festzustellen. Die alte Frau beugte sich herab, um zu trinken.

Plötzlich hob der Hengst den Kopf. Er prustete und schaute mit gespitzten Ohren aufmerksam talwärts. Eula war mit drei Sätzen bei ihm. »Schhhhh…! Ruhig, mein Großer!« Sie hielt seinen Kopf, lies ihn an ihrer Hand schnuppern, griff den Strick und zog ihn hinter sich her. Doch der Hengst blieb unvermittelt wieder stehen und horchte Richtung Tal, als wartete er auf etwas. Eula blieb still stehen. Sie lehnte sich an das Pferd, schloss die Augen, hielt den Atem an und horchte. Ihre Ohren war nicht so gut wie das eines Tieres. Doch dann hörte sie es auch. Von ganz fern war das feine Getrappel von Hufen zu hören. »Reiter!«

Der Hengst war selbstbewusst genug, nicht sofort laut wiehernd nach seinen Artgenossen zu rufen, doch er spürte, dass andere Pferde in der Nähe waren und das versetzte ihn in Erregung. Auch der Junge merkte, dass etwas nicht stimmte. »Wir müssen los«, sagte Eula eindringlich. Aber da kam er schon angelaufen. Sie hob ihn hoch, er hielt sich an der Mähne des Pferdes fest und schwang sich mit ihrer Hilfe auf den Hengst. Eula führte das Pferd eilig zu einigen Steinen, die der Bach mitgerissen hatte, wo sie erhöht stehen konnte und schwang sich hinter den Jungen auf das Tier. Sie ritten im Galopp die Straße hinauf Richtung Osten. Doch bei der erstmöglichen Gelegenheit lenkte Eula das Pferd nordwärts in den Wald hinein. Zwar konnte man auf den Moospolstern auch ihre Fährte lesen, aber man musste schon genauer hinschauen.

7. Miraciel, Eula

Sie waren fast die ganze erste Hälfte des Tages geritten, mit nur wenigen Verschnaufpausen für die Pferde. Die Grenze nach Eggenraa war nun nicht mehr fern. Da Miraciel nur seine relativ leichte Lederbrigantine trug und zudem noch nicht ganz ausgewachsen und entsprechend leicht war, hatte seine Fuchsstute keine Mühe mitzuhalten. Er musste sie zügeln, damit sie nicht versuchte, die beiden Ritter an der Spitze zu überholen. Es waren die Zwillingsbrüder Eugen und Drean von Tannen. Neben ihm ritt der ältere Ritter Gonthmar der Tarnier auf einem eleganten Schimmelrenner. Hinter ihm die beiden Waffenknechte und erst dahinter sein eigener Herr, der Baron von Alzt, neben dem schnauzbärtigen Ritter Kauskar vom Alb. Die Nachhut bildeten die anderen Knappen. Vor etwa einer Stunde hatten sie einen Bauern überholt. Der Bursche hatte ihnen die Angaben des Köhlers bestätigt. Er hatte wenige Stunden zuvor eine Frau samt Kind nach Osten reiten sehen. Der Baron trieb sie zur Eile an.

Plötzlich wurden die beiden von Tannen Brüder an der Spitze langsamer. Vor ihnen überspülte mit sanftem Gurgeln ein Bach die Straße. Die beiden hatten etwas entdeckt. Miraciel und die anderen schlossen zu ihnen auf und sahen den Grund. In dem aufgeweichten Boden des Bachbettes konnten sie die Hufspuren eines einzelnen Pferdes ausmachen.

Der kleine Hengst verzögerte seinen Schritt, um zum Sprung über eine Senke anzusetzen. Im morastig dichten Waldgelände fühlte er sich unsicher und nahm den Graben nicht im vollen Schwung. Er spürte den rutschigen Matsch unter seinen Hufen und äugte alarmiert hinter sich. Seine Reiterin beruhigte ihn und trieb ihn weiter zur Eile an. Eula hatte allerhand zu tun, denn vor ihr saß der kleine Do’reon und sie verfügte weder über Zaumzeug noch Sattel oder Steigbügel. Sie hatte lediglich einen Strick, den sie dem Pferd um den Hals geschlungen hatte und mit dem sie, abgesehen von ihrem Schenkeldruck, dem Pferd Führung gab.

Sie war eine sehr gute Reiterin, aber zu zweit über einen Graben zu springen, stellte sie trotzdem vor eine Herausforderung. Der Junge war selbstständig genug, sich an der schwarzen Mähne festzukrallen und im richtigen Moment vorzubeugen, um den Schwung mitzutragen. Die Pferde, die sie auf der Straße in der Ferne gehört hatten, waren in den Wald abgebogen und ihnen auf der Spur. Sie wussten, dass sie verfolgt wurden.

Noch waren die Verfolger nicht nahe genug heran, dass Eula sie hinter sich sehen konnte, aber ab und an hörte man einzelne Stimmen und das Klirren von Waffen durch den Wald hallen. Sie waren auf ihrer Spur und es würde nicht mehr lange dauern und sie würden sie entdecken. Eula hoffte inständig, dass die Grenze nahe war und dass es ihr irgendwie gelang, die Verfolger abzuschütteln. Doch für einen Augenblick zweifelte sie daran, ob sie es schaffen würde, das Kind in Sicherheit zu bringen. Aber dann sah sie auf den kleinen Kopf herab und sogleich packte sie wieder ihre alte Entschlossenheit. Dies war nicht der Moment, um Zweifel zu haben.

Der Baron, seine vier Ritter, drei Knappen und beiden Waffenknechte ritten nun in breiter Linie durch den Wald, damit ihnen nichts entging. Die Spur im Unterholz war schwer zu lesen. Deshalb spähten die Männer hinaus in den Wald. Es war der Eugen von Tannen, der als erstes das braune Pferd mit der kleinen Gestalt auf dem Rücken vor sich sah. Die Reiterin war noch ein ganzes Stück vor Ihnen und trabte bedächtig zwischen hohen Fichtenstämmen auf eine Anhöhe zu.

Ritter Eugen winkte den anderen Reitern rechts von sich, um sie lautlos auf ihre Jagdbeute aufmerksam zu machen, doch Ritter Kauskar vom Alb und auch sein Knappe Milas Holzbrunk gaben die Nachricht laut rufend weiter. Eugen fluchte und trieb sein Pferd an. Die anderen taten es ihm gleich und so wurde aus dem schleichenden Verfolgungsritt eine wilde Flucht, denn sofort beschleunigte auch die Reiterin ihr Pferd.

Auch Miraciel feuerte seine Fuchsstute zur Eile an. »Behaltet die Linie bei!«, hörte er den Baron rufen. Elard von Alzt wollte die Reiterin nach Möglichkeit an den Flanken einkreisen und verhindern, dass sie zur Seite ausbrach. Doch der Plan ging nicht auf, denn die kleine Gestalt lenkte ihr Pferd sofort Richtung Norden und damit bergan. Mitten im hügeligen Waldgelände kamen die Pferde der Verfolger unterschiedlich schnell voran, sodass das Aufrechterhalten einer horizontalen Linie nicht mehr möglich war. Durch die Unebenheiten im hügeligen Gelände verkürzte sich die horizontale Linie zunehmend zu einem Haufen und dann zu einer vertikalen Linie, als einzelne Reiter zurückfielen.

Die Hufe der Pferde donnerten dumpf auf dem Waldboden. Ab und an rief einer der Männer etwas. Ansonsten war es still. Sie ritten meist im Trab und zügelten öfters die Geschwindigkeit, um Hindernisse zu umgehen.

Miraciel, der jetzt hinter Ritter Eugen an zweiter Stelle ritt, sah, wie sich das braune Pferd vor ihnen mit weit ausgreifenden Beinen zwischen den Bäumen hindurch bewegte und mühelos über kleine Hindernisse sprang. Das Tier war nicht groß, aber zierlich und windschnell und die beiden Reiter, die es trug, waren klein und leicht.

Die Zeit verging. Je länger die Verfolgungsjagd dauerte, desto schweigsamer wurden die Männer. Doch immer lauter wurde nun das Keuchen der Pferde. Miraciel sah, wie sich unter der Haut seiner Stute ein Netz von kleinen Adern an Bein- und Brustmuskulatur spannte. Das Fell glänzte im Schweiß. Es war nun in der Hand der Reiter, ihre Pferde solange zu schinden, dass sie das Letzte aus sich herausholten. Doch nach und nach taten sich erste Lücken in den Reihen der Verfolger auf. Einer nach dem anderen fiel zurück. Zunächst die beiden Waffenknechte, welche die schlechtesten Pferde hatten. Das braune Pferd vor ihnen lief scheinbar unermüdlich weiter und bald waren nur noch Miraciel, Ritter Gonthmar und die von Tannen Brüder der kleinen Frau auf den Fersen.

Dann lichtete sich der Wald. Das Gelände senkte sich ab in ein kleines enges Tal, bevor es wieder bergan ging. Die kleine Reiterin ritt entschlossen in die Senke hinab. Ihr Pferd rutschte und wirbelte Erde auf. Hielt jedoch das Gleichgewicht. Miraciel und Gonthmar stoben ihr hinterher. Doch die Zwillinge Drean und Eugen zügelten ihre Pferde. Beide Ritter hatten Armbrüste geschultert, die sie seit der letzten Rast gespannt hielten. In Windeseile legten sie Bolzen unter die eiserne Feder der Bolzenhalterung. Sie visierten die Reiterin an, gerade als sie die Talsohle durchquert hatte und auf der anderen Seite des Hanges wieder hinauf ritt. Der kleine Hengst wurde, dort wo es steil bergan ging, langsamer. »Ziel auf das Pferd«, murmelte Eugen und verschoss seinen eigenen Bolzen um mehrere Handbreit. Dreans Bolzen traf nicht wie geplant die Flanke des Pferdes. Doch er bohrte sich tief in das Hinterteil des Tieres. Das Pferd schrie auf und trat mit der Hinterhand nach dem unsichtbaren Feind. Fast stürzten Reiterin und Kind vom Pferd, doch sie konnte beide festhalten und lenkte das panische Tier in den Schutz der Bäume.

Eula verlor fast alles in diesem Moment. Sie wusste im ersten Augenblick nicht, was sie getroffen hatte. Sie spürte einen dumpfen Aufschlag. Das Pferd erzitterte, bäumte sich auf und schlug nach hinten aus, so dass sie fast samt Kind in die Senke gestürzt wäre. Sie rutschte ab, doch Eula klammerte sich an Mähne und Strick und schaffte es, sich auf dem Pferderücken zu halten und das Tier zwischen die Bäume zu treiben. Vor ihr erhob sich über dem Wald eine eindrucksvolle Sandsteinformation. Der Hengst wurde langsamer, helles Blut sprudelte aus seiner Hinterhand. Sie lenkte ihn um eine Felsnase herum, außer Sichtweite der Verfolger. Sie löste den Strick, packte das Kind und glitt vom Pferd.

8. Miraciel

Miraciel zog leise sein Dalmarcon. Er war noch nicht voll ausgewachsen und hatte seine volle Manneskraft noch nicht erreicht, dennoch war ihm das kurze Schwert eines Knappen schon irgendwie zu klein und leicht, außer beim Reiten, wo es weniger störte als ein großes, aber bis zu seiner Schwertleite, nach der er berechtigt war, ein richtiges Schwert zu führen, war es noch einige Jahre hin.

Es machte keinen Sinn, hier blindlings durch die Felsen zu stürmen, daher schritt er langsam zwischen Pylonen aus hellem Sandstein hindurch und lauschte auf jedes Geräusch. Hinter einer Felsnase gähnte der Abgrund einer breiten Felsspalte. Nicht schwindelerregend tief, aber tief genug, um sich vielleicht die Glieder zu brechen, wenn man hinabfiel. Die tiefe Felsspalte trennte die Felsformation in zwei Teile. Er konnte sehen, wie der große Milas und sein Herr Ritter Kauskar mit gezogenen Schwertern auf der anderen Seite durch die Felsen stiegen. Dann verlor er sie wieder aus den Augen. Doch statt hinabzuklettern, wandte Miraciel sich weiter südlich zur Mitte der Felsenformation hin.

Die Frau und das Kind würden nicht weit kommen. Alle Männer ihres Trupps waren mittlerweile eingetroffen. Sie würden jeden Winkel dieser Felsen durchkämmen, bis sie sie fanden. Es war eindrucksvoll gewesen, wie diese kleine alte Frau ohne Sattel und Steigbügel mit dem Kind auf dem Arm vor ihnen davongeritten war. Doch nun lag ihr Pferd verletzt unterhalb der Felsen im Laub. Er konnte es hören, wie es immer wieder versuchte, sich aufzurichten und dabei schrill wieherte.

Miraciel und die anderen waren ursprünglich davon ausgegangen, auf Bewaffnete zu treffen. Stattdessen waren da nur diese kleine Frau und das Kind, die sie nun seit Tagen durch Wälder verfolgten. Hatte die bewaffnete Begleitung das Kind im Stich gelassen und sich aus dem Staub gemacht? Dann kam ihm der Gedanke, dass es die Bewaffneten vielleicht gar nicht gab. Vielleicht hatte der Gesandte in Alzt den Baron mit diesem erfundenen Detail ermuntern wollen, aktiv zu werden.

Es mutete ein wenig lächerlich an, dass Dutzende Ritter und Waffenknechte versuchten, eine alte Frau und ein Kind zu fangen. Das Kind, so viel war sicher, barg irgendein Geheimnis. Trotzdem empfand Miraciel diese Verfolgungsjagd als unritterlich. Eine alte Frau und ein Kind? Er steckte die Klinge ein.

Erneut wieherte das Pferd. »Kann nicht einer von euch nutzlosen Idioten dem Tier den Gnadenstoß geben?«, dachte er. Hätten die von Tannen Brüder das Pferd nicht mit der Armbrust erwischt, wäre die Frau mit dem Kind im Arm womöglich entkommen. Der beeindruckend wilde Ritt hatte die Ritter und ihre Knappen an ihre Grenzen gebracht. Diese Frau war eine ausgezeichnete Reiterin und musste über bemerkenswerte Willenskraft verfügen. Merkwürdig für eine Amme. Dennoch war sie nur eine kleine alte Frau und sie war allein mit einem Kind, welches sie zusätzlich behinderte.

Miraciel kletterte weiter aufwärts, bis er auf einem erhöhten runden Sandsteinbuckel stehen blieb. Von hier aus konnte er alles überblicken. Zu sehen war trotzdem nicht viel, außer dem Plateau und dem Wald ringsrum. Von diesen runden Buckeln gab es viele. Dazwischen lagen tiefe Spalten und Ritzen. Viele waren mit einem Sprung einfach zu überwinden, andere tückisch weit auseinander und einige der Steine wackelten kaum merklich, wenn man auf ihnen herumkletterte.

Miraciel lies seinen Blick entlang der Felsspalten gleiten, sprang zum nächsten Buckel und weiter zum nächsten und dann sah er es plötzlich eine Bewegung in einer Spalte. Er trat einen Schritt zurück, hockte sich hin und spähte hinab. Dort war das Kind. Er konnte nicht viel erkennen, es trug einen viel zu großen Mantel und eine Kapuze, unter der er zwei nussbraune Augen sah, die zu ihm auf schauten. Von der Frau war nichts zu sehen. Er richtete sich auf und sah sich um und sah Olme. Der fleischige Knappe von Ritter Gonthmar kletterte schnaufend hinter ihm durch die Pylonen. Wenn er jemals den Ritterschlag erhalten wollte, sollte er anfangen, sich in Form zu bringen, dachte Miraciel. Er schaute hinab zum Kind und es sah zu ihm hinauf. Er blickte wieder auf, um die anderen herbeizurufen. Dass er das Kind als Erster entdeckt hatte, würde ihm Anerkennung einbringen.

Doch er zögerte. Zu seiner Linken sah er zwei weitere Männer, die immer wieder zwischen den Felsen verschwanden. Die Ritter Gonthmar der Tarnier und Drean von Tannen. Zu seiner Rechten suchte dessen Zwillingsbruder Eugen die Felsen ab. Miraciel blickte noch einmal hinab zum Kind. Es drückte sich in den Schatten und war nun kaum noch zu sehen. Die braunen Augen verschwanden im Dunklen.

»Was wollten die Gualferen von diesem Kind?« Es war vermutlich der Sohn eines adligen Widersachers. Man würde ihn ermorden oder in einen Kerker sperren. Oder man würde Lösegeld pressen. Miraciel stand auf, immer noch unschlüssig, was er tun sollte und dennoch merkwürdig selbstsicher. Er drehte sich nach den anderen um und sah die Ritter Drean und Gonthmar langsam näher kommen. Sie blickten in jede Spalte, stocherten in jede Ritze. Es würde nicht lange dauern und sie würden das Kind entdecken.

Ohne wirklich bewusst den Entschluss dazu zu fassen, ging Miraciel weiter. Als Drean nach ihm rief, drehte er sich um, zuckte nur mit den Schultern, schüttelte den Kopf und sprang weiter zum nächsten Felsen. Er tat so, als schaue er sich geflissentlich um, spähte in Ritzen hinab, stocherte mit dem Kurzschwert herum. »Was machst du da?«, dachte er sich. »Du handelst wider den Befehl deines Herren. Kehr sofort um und schlage Alarm, dass du das Kind gefunden hast.« Doch er tat es nicht. Schließlich gestand er sich ein, dass es ihm zuwider war, Jagd auf eine alte Frau und das kleine braunäugige Kind zu machen.

Er ging weiter. Vor ihm neigte sich die Felsformation wieder Richtung Waldboden. Dahinter gab es außer Bäumen keine Versteckmöglichkeiten mehr. »Wo war die Frau?« Unwahrscheinlich, dass sie bei dem wilden Ritt Kopf und Kragen riskierte und ausgerechnet jetzt das Kind im Stich ließ. Sie würde irgendwo in der Nähe sein.

Miraciel fragte sich, was die Ritter aus Elards Gefolge dabei dachten, dass eine fremde Herrscherin sie zur Kinderjagd aufrief. Er ahnte die Antwort. Politische Interessen würden über jeglichen Skrupeln stehen. Der eigene Ruf würde eher Schaden nehmen, wenn sie sich nicht den Wünschen der Gualferen und ihrer Königin beugten, als wenn sie sich auf die Seite eines schutzlosen Kindes stellten. »Sollen sie das Kind selber finden«, dachte Miraciel und lief weiter über die Felsen, nun unbekümmert und mit wenig Reue.

Plötzlich hörte er Schreie. »Hier! Hier sind sie!« Miraciel drehte sich um »Wer war das?« Er lief zurück Richtung Norden, von wo die Schreie kamen. Miraciel sprang hastig über Sandsteinpylonen und wäre fast in eine Spalte gestürzt. Dann sah er die Schreier. Ritter Kauskar hatte mit seinem Knappen Milas die Schlucht durchquert und stand mit gezogenem Schwert vor einem Felsspalt. »Dort unten sind sie!« Schrie er eine Spur zu aufgeregt. Er schwitzte und sein schwarzgraues Haar hing ihm in feuchten Strähnen über die Stirn. Die Ritter Gonthmar und Drean eilten hinzu, hinten drein der dicke Knappe Olme. Alle spähten hinab in den Spalt. Dort unten bewegte sich etwas. Die Stelle war ein ganzes Stück entfernt von der Stelle, wo er das Kind gefunden hatte. Es musste also die Frau sein. Vielleicht ein Ablenkungsmanöver, um die Aufmerksamkeit weg vom Kind zu lenken?

Ritter Kauskar war wie aufgedreht. »Das Problem ist, wie kriegen wir die da raus? Das ist viel zu eng, um hinabzusteigen.«

Eugen von Tannen schürzte die Lippen. Sein edel geschnittenes Gesicht blickte prüfend in die Tiefe. »Vielleicht gibt es einen anderen Zugang. Wir müssen hier alles absuchen.«