Der Grenzenlose Pfad - F.L. Rosenthal - E-Book

Der Grenzenlose Pfad E-Book

F.L. Rosenthal

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Beschreibung

Nach lebensgefährlichen Abenteuern findet sich Miraciel im Kuariland wieder, einer Welt voller Mysterien und unbekannter Wesen. Je mehr Geheimnisse sich ihm in dieser wilden Welt erschließen, desto tiefer verstrickt er sich in ein Netz aus Freund- und Feindschaften. Eula muss einen Weg finden, zwischen drei verfeindeten Welten zu navigieren und gleichzeitig an Joshwas Seite zu verbleiben. Merafine ist auf sich allein gestellt, wandelnd auf einem schmalen Grat zwischen Selbstbestimmung und erneuter Sklaverei. Ohne ihre Freunde muss sie unbekannte Fähigkeiten in sich entdecken und gleichzeitig in den Machtbereich der Gualferen vordringen. Ist deren Königin Genefe nur eine skrupellose Machthaberin, die die Welt mit Krieg überzieht? Oder ist sie selbst eine Getriebene, gefangen in den Erwartungen und Ambitionen ihrer Mitmenschen?

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2024

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F.L. Rosenthal

Der Grenzenlose Pfad

Fantastisches Abenteuer, in dem ein Naturvolk sich den Übergriffen eines Kaiserreichs erwehren muss. Mittendrin eine handvoll Protagonisten, deren Schicksal voneinander abhängt, aber die Welt um sie herum beeinflusst.

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Autor: F. L. Rosenthal

Coverart & Karte: F. L. Rosenthal

1. Auflage, © November 2024, Hamburg

Dieses Buch ist auch als Printbook erhältlich

Impressum: F.L. Rosenthal 

Dockenhudener Str. 10

22587 Hamburg

www.florianrosenthal.de

DER MONDFINDER II

Der Grenzenlose

Pfad

F. L. Rosenthal

2024

Personenglossar

Amraa/Merran

Merafine, 22j - Eine entlaufene Sklavin, Freundin von Eula, Miraciel und Joshwa

Gontas, 55j - Waffenhändler

Hansen, 29j - Kardis´ Gehilfe

Kardis, 48j - Händlerin

Rodegar, 44j - Sklavenhändler

Kuariland

Djaura Kun ́gwa, 24j - Tonkgwa, Mitglied der Awash

Eula, ca 75j - Mitglied des Ítschurgen Ordens

Guja Kaneca, 37j - Joneida, Anführer der Ongra

Joshwa (Do ́reon) 7j - Mütterlicherseits Prinz von Tauern, nach seiner Heimkehr ins Kuariland bei den Ítschurgen

Miraciel von Widdun, 18j - Schildknappe aus der Baronie Alzt. Nun im Kuariland

Api ́tchuna Pantaleira, 15j - Ítschurgen

Ashra Kute 19j - Tonkgwakrieger, befreundet mit Miraciel

Gila Pantaleira, ca 55j - Ítschurgen

Guesha Aura 28j - Tonkgwa, ehemaliges Mitglied der Uturn, Mutter von Pa´nipa

Gu´aye Mara ca. 100j - Ítschurgen

Iokiti Kha 18j - Kua´lara

Kusha Mara 26j - Oletan, Mitglied der Awash

Mhondra Gauri 58j - Kriegsanführer der Ítschurgen

Onue Kha 17j - Kua´lara

Pa´nipa Aura 12j - Tonkgwa, Tochter von Guesha und Taneca

Taneca Aura 27j - Tonkgwa und Awash, Vater von Pa´nipa

Tuandra Magwa, 35j - Krieger der Ítschurgen, Vater von Joshwa

Hauptstadt Yatt aff Galpa

Genefe, 29j - Königin der Gualferen, Regentin des Kaiserreichs & Anwärterin auf die Kaiserkrone

Ansgald Nerolder, 42j - Verwaltung Fürstentum Galtsch,

Mitglied der Reichskammer

Armier von Tolossa, 49j - Schatzmeister von Genefe und Mitglied der Reichskammer

Borskaer vom Tarak, 52j - Hauptmann von Genefes Hauswache

Ela, Melendis & Sarape - Königin Genefes Kammermädchen

Großmeister Horon, 62j - Oberster Priester des Hauptgottes Maan, Mitglied der Reichskammer

Joaxen Hragren, 57j - früherer Botschafter von Tausaan,

später Stadtvogt von Yatt und Mitglied der Reichskammer. Vater des Kallguusen Maxus (verstorben). Einige Kallguusen in seinen Diensten: Kaixos, Arxan, Durxa, Volxan

Jowen Wintra, 21j - Mönch des Wissensgottes Arxtes, arbeitet

in der kleinen Bibliothek des Kaiserpalastes

Meruda, ca 55j - Diplomat aus Tuuf

Mukos, ca 35j - Sklave und Informant Ockos

Ocko vom Tall, 60j - Erster Minister und engster Berater von

Königin Genefe, Vorsteher der Reichskammer

Rauric Torstuda 39j - Ritter aus Gualferen, Heeresmarschall

unter Genefe

Metropole Tuufra Galpa

Ikeke, 44j - Königin von Tuuf

Prinz Akondis, 24j - Sohn und Thronfolger von Ikeke

Mantusa 33j - Akondis rechte Hand

Prinz Ogakis, 28j - Neffe von Königin Ikeke und ihr Heerführer

Naola, 24j & Youno, 5j - Eine Frau aus Tuufra und ihr Sohn

Geiton, 35j - Offizier in der Armee von Tuuf, Vater von Youno

Rückblick

Das erste Buch Kuariland beginnt damit, dass die alte Frau Eula mit dem sechsjährigen Do´reon alleine im Wald auf der Flucht sind. Ihre Verfolger, um den Baron von Alzt, handeln im Auftrag der Gualferen, einem mächtigen Land dessen Herrrscherin die Regentin des gesamten Kaiserreichs ist. Eula und Do´reon entwischen ihren Verfolgern nur um Haaresbreite in einem Felslabyrinth. Eula nimmt dabei den Schildknappen Miraciel von Widdun gefangen, der ihnen zur Seite steht, nachdem Eula ihm die vermeintliche Wahrheit über den Jungen erzählt: Do´reon ist der Sohn der Prinzessin Nivene. Sein Vater ist der vor sieben Jahren in der Schlacht am Goldenen Feld gefallene Kaiser Thoral von den Yarimanen. Do´reon ist als Rivale der Königin der Gualferen in Gefahr. Genefe strebt seit ihrem Sieg über die Yarimanen den Kaisertitel an.

Gemeinsam reisen Eula, Do´reon und Miraciel nach Eggenraa. Dort verbringen sie in vermeintlicher Sicherheit den Winter, denn Rugar, Fürst von Eggenraa ist der Cousin von Do´reons Mutter und ein Feind der Gualferen. Im Frühjahr jedoch spannt Ivra, die ältere Schwester des Fürsten, Eula und Miraciel für einen Komplott ein. Sie zwingt die beiden, das Kaiserkind Do´reon weit nach Süden, in dass Königreich Tuuf zu bringen, um Eggenraa aus dem Fokus der Gualferen zu bringen. Miraciel verspricht sie, nach Vollendung des Auftrages den Ritterschlag.

Um Verfolger abzuschütteln, reisen Eula, Do´reon und Miraciel mit einer bewaffneten Eskorte tief in das verlassene Land Amraa. Eines Morgens werden sie in einer verlassenen Burg von den Kallguusen, einer Söldnertruppe der Gualferen, aufgespürt. Die Eskorte wird niedergemacht. Eula, Miraciel, Do´reon und die junge Sklavin Merafine entkommen durch einen geheimen Gang in eine Schlucht.

Eula verhält sich zunehmend seltsam. Sie offenbart Miraciel, dass sie nicht mehr vorhat, Do´reon nach Tuuf zu bringen, sondern stattdessen ins Kuariland, eines von Dämonen beherrschten Landes, jenseits eines Gebirges zu bringen. Ein seltsamer schwarzer Ritter, der sie aus der Ferne beobachtet, sorgt zusätzlich für Besorgnis.

Nach mehreren Tagen treffen sie auf drei Krieger des Naturvolks der Muún. Eula spricht seltsamerweise deren Sprache. In einem weiteren Konflikt, um das Ziel ihrer Reise offenbart Eula Miraciel, das Do´reon zwar der Sohn von Prinzessin Nivene, nicht aber der Sohn des Kaisers ist. Der Sohn des Kaisers starb kurz nach der Geburt. Do´reon, der eigentlich Joshwa heißt, ist dessen um ein Jahr jüngere Halbbruder. Sein Vater, ein Krieger der Muún.

Dieses Volk lebt jenseits des Ahrmandrac im Kuariland. Der Grund weswegen Eula Do´reon/Joshwa dorthin bringen will. Ein Schwur, den sie der toten Mutter gab, Joshwa als Do´reon großzuziehen, hatte sie bislang daran gehindert.

Als sie erneut von den Kallguusen attackiert werden, bleiben die Muún zurück, um sie zu verteidigen. Miraciel findet dabei heraus, dass die Muúnkrieger die gefürchteten Kuari Dämonen sind. Die Krieger tragen im Kampf geheimnisvolle Baumrüstungen und sehen so wie Dämonen aus. Nun erfährt er auch, dass Eula ebenfalls eine Muún ist. Die charakteristischen Locken hatte sie stets mit einem Turban verhüllt.

Bei weiteren Angriffen wird Miraciel von Eula, Merafine und Joshwa getrennt. Er trifft auf den Schwarzen Prinzen, den Reiter, der sie beobachtete, dieser ist der vor sieben Jahren, nach der Schlacht, geflüchtete Marschall der Yarimanen: Odrem Tannenwalder. Gemeinsam töten der Marschall und Miraciel vier der Verfolger.

Eula, Merafine und Joshwa werden ihrerseits von drei Kallguusen verfolgt und entkommen nur knapp, verletzt und voneinander getrennt. Miraciel, auf der Suche nach Eulas Gruppe, trifft zwei der drei Muúnkrieger. Guja Kaneca und Djaura Kun´gwa. Der dritte Krieger ist gegen die Kallguusen gefallen. Gemeinsam finden sie den flüchtenden Joshwa. Allerdings spürt auch der Marschall diesen auf. Es kommt zum Konflikt, da Odrem Tannenwalder Joshwa/Do´reon in seiner ursprünglichen Rolle, als Sohn des Kaisers gegen Königin Genefe in Position bringen will.

Guja Kaneca duelliert sich mit Odrem Tannenwalder. Beide werden verletzt. Der Marschall zieht sich zurück. Doch in der Zwischenzeit ist Joshwa unbemerkt auf Gujas Pferd geflohen.

Miraciel und die beiden Muúnkrieger folgen Joshwa durch einen unterirdischen Pass, der unter den Ahrmandrac ins Kuariland führt. Dort finden sie Joshwa, werden allerdings wenig später von den Ítschurgen, einem befeindeten Stamm von Muún gefangen genommen.

Eula, verletzt und nunmehr alleine, folgt ihren Spuren durch den Höhlenpass, wird dabei aber von dem letzten verbleibenden Kallguusen beobachtet.

Merafine hat eines der Pferde der Kalluusen entwendet und ist nun auf sich allein gestellt.

Teil I.

Die Neue Welt

1. Genefe

Yatt aff Galpa

Inmitten von unerforschten Meeren, Wüsten, Bergen und Sümpfen, in denen wilde Stämme hausten, gab es ein Reich voll sanft geschwungener Hügel, grüner Weiden und duftender Tannenwälder. Das Kaiserreich von Andra.

Auf den Hügelkuppen thronten Burgen mit wild flatternden Wimpeln, jeder in seinen eigenen Farben. In den Tälern standen Dörfer, in denen die Menschen Schafe, Schweine und Rinder züchteten und Flachs, Hafer und Gerste anbauten. All den Überfluss trugen die Bauern in ihren Karren zum Markt, selten mehr als eine Tagesreise entfernt. Durch den regen Handel gediehen diese Marktflecken und einige wuchsen zu prächtigen Städten heran. Die vergoldeten Dächer ihrer Tempel kündeten funkelnd von Wohlstand.

Das Land war groß und Barone, Fürsten und Könige teilten es unter sich auf. Verantwortlich für Frieden und Recht war der Kaiser und die Pflanze des Wohlstandes wuchs beständig.

»Vergoldete Dächer«, Königin Genefe verzog spöttisch die Mundwinkel. Sie kannte einzig das vergoldete Dach des großen Maan-Tempels hier in Yatt, sowie die sechs Türme des Kaiserpalastes. Anderswo in Tall, Hammerrest und auch Alferen, der Hauptstadt ihres Königreiches, gab es keine Dächer aus Gold. Vermutlich auch sonst nirgends, wobei sie die zweitgrößte Stadt des Kaiserreichs, Tuufra Galpa noch nie gesehen hatte. Doch der Text war schön geschrieben, und so blätterte sie neugierig die dicke, braune Seite um und las weiter.

Doch am Rande des Kaiserreichs gab es noch eine andere Welt. Im östlichen Grenzgebiet durchzogen zwei mächtige Ströme das Land. Das Wasser dieser beiden Flüsse wurde gespeist durch den Schnee des Wintergebirges, welches so weit reichte, dass kein Mensch es je durchquert hatte. Der eine hieß Galpa. Er floss ruhig und tief im dunklen Blau durchs Land. Der andere war die Gurra. Sie peitschte in wilder Wut zu Tal. Je nach Laune der Natur brodelte sie bei Sonnenschein im dunklen Grün oder färbte sich nach einem Sturm in schlammiges Braun. Im Frühjahr nach der Schneeschmelze schwoll die Gurra so gewaltig an, dass schon sich ihrem Ufer zu nähern eine tödliche Gefahr barg. Aber auch in trockenen Sommern riss sie Tag für Tag Felsen, Bäume und Erdreich mit sich und manches Lebewesen, welches sich an den Fluss heranwagte, um seinen Durst zu stillen.

Für die meisten Menschen war der großen Galpa die Lebensader des Reiches und sein Ufer zugleich das Ende, der bekannten Welt, denn zwischen Galpa und Gurra stand ein großer Wald. Räuberbanden und wilde Tiere durchstreiften das Land. Die wenigen Bauern lebten isoliert in kleinen Weilern, umgeben von finsteren Tannen.

Doch dieser Wald war auf dem Grab eines weiteren Königreiches gewachsen. Es wurde Amraa genannt und gehörte einst zum Kaiserreich der Andraten. Amraa war eines der mächtigsten Länder im Kaiserreich. Seine Burgen, aber auch seine Schwerter, Rüstungen und Eisenerzeugnisse waren von bester Qualität, die im Reich ihresgleichen suchten.

»Nun wird es interessant«, dachte Genefe. Sie tippte nachdenklich auf die Stelle im Buch. »Eisenerzeugnisse, die ihresgleichen suchten.« War das eine der üblichen Übertreibungen von Geschichtsschreibern, oder war etwas Wahres daran? Sie unterdrückte ein Gähnen. Das schummerige Licht ließ sie ermüden. Sie blätterte die nächste Seite um und schaute mit großen Augen auf die Schrift. Der Lufthauch ließ die dicke Kerze vor ihr auf dem Tisch aufgeregt flackern.

Doch am Horizont dräute Unheil. Denn obwohl die Pflanze des Wohlstandes beständig wuchs, dort, wo Reichtum herrschte, entstand auch Missgunst, denn Zufriedenheit war nicht die Sache aller Menschen. Und so war diese Pflanze anfällig. Von oben zupften mächtige, tatendurstige Menschen an den Blättern, denn sie wollten noch zu Lebzeiten Großes vollbringen. Erbauen, erobern und sich einen Platz in den Geschichten ihrer Nachkommen sichern. Jeder Anführer hielt sich und sein Geschlecht für fähiger als andere. Aber auch von unten nagten Menschen an den Wurzeln der Pflanze. Unzufrieden mit ihrer Bedeutungslosigkeit und die Gier nach Wohlstand ließen sie aufbegehren, sobald sich die Möglichkeit dazu bot. Und so brachen Kriege aus und es kamen Zeiten, in denen Anstand und Gesetz wenig galten. Stattdessen regierten Schwert und Feuer. Eine Zeit, in der Räuberbanden fette Beute machten, während das einfache Volk sich hinter dicken Eichentüren verkroch und des Nachts schaudernd in seinen Betten lag. Dolch und Beil fest umschlossen, die Augen weit und wach.

Genefe fühlte sich durch diese recht unverhohlen vorgebrachte Kritik an den Mächtigen ertappt, auch wenn der Text vor der Zeit ihrer Herrschaft entstanden war. »Mächtige Menschen zupften an den Blättern des Wohlstandes, denn sie wollten noch zu Lebzeiten Großes vollbringen.« Sie wusste, dass es stimmte. Sie schaute nachdenklich in das Kerzenlicht. Aber verlangte es nicht jedem danach, etwas zu erreichen? Ohne Ehrgeiz des Einzelnen gab es keinen Fortschritt. Sobald sie die Kaiserkrone erhielt, würde sie das Reich vereinen und eine neue Kaiserdynastie gründen. Ihre Kinder, Enkel und Urenkel würden ihr Vermächtnis fortführen.

Genefe starrte in die Kerze. Nur einen neuen Mann brauchte sie hierfür. Bis zum Ableben ihres Ehemannes war sie kinderlos geblieben. Es war der größte Makel in ihrem Leben. Abgesehen natürlich von dem Makel, dass sie damals in der Abwesenheit ihres Mannes, unbeabsichtigt den Krieg ausgelöst hatte.

Sie biss sich auf die Lippe und spielte gedankenverloren mit ihrem linken Zopfende. Der Tod ihres Mannes hatte in ihr den zunächst erschreckenden, dann bald unstillbaren Rausch entfacht, selbst zu herrschen. Sie war dem Untergang mehrfach näher gewesen als dem Erfolg und doch hatte sie letztendlich obsiegt.

Doch ihr Kampf war nicht vorüber. Ihre Herrschaft zu legitimieren hatte sich als ein langwieriges Unterfangen herausgestellt. Sieben Jahre, nachdem sie den eigentlichen Krieg für sich entschieden hatte, rang sie immer noch mit den großen Häusern des Reiches um die Macht. Sie hatte eigenmächtig das Fürstentum der Gualferen zum Königreich erhoben. Im Angesicht ihres totalen Sieges über den Kaiser der Yarimanen, hatte ihr niemand widersprochen. Doch es reichte nicht. Sie kämpfte weiter um Anerkennung und Legitimation.

Nach jahrelangen Spannungen, die sich in Scharmützeln, Drohungen und diplomatischen Differenzen entluden, schien ein Ende des Ringens in Aussicht. In einem Monat würden Vertreter aller Königreiche, Fürstentümer, Grafschaften und Baronien sich in Yatt einfinden und an der Kaiserwahl teilnehmen.

Sie war die einzige Kandidatin die zur Wahl stand und dennoch war die institutionalisierte Kaiserwahl eine tragende Säule des Reiches. Eine, die nicht umgangen werden konnte. Doch dieser Umstand war ihr nur Recht, denn schon in der Vergangenheit waren die Oberhäupter von Dynastien über mehrere Generationen hin als Kaiser von Andra bestätigt worden, ohne dass es einen Gegenkandidaten gegeben hätte. Einmal zur Kaiserin ernannt, würden ihre Nachkommen nichts weiter tun müssen, als das Reich zu regieren und dabei die Fürsten nicht gegen sich aufzubringen. Die Dynastie könnte, wie zuvor bei den Yarimanen über Generationen bestand haben.

Einen potenziellen Herausforderer hatte es jedoch gegeben. Einen, von dem die meisten dankenswerterweise nichts genaues wussten. Do´reon, Sohn des letzten Kaisers Thoral, aus dem Hause der Yarimanen hatte erst nach dessen Ableben das Licht der Welt erblickt. Dann war der Siebenjährige, mithilfe seiner Verbündeten aus Tauern und Eggenraa untergetaucht.

Die Wahl zur Kaiserin würde Genefes Anspruch unanfechtbar legitimieren. Stimmen gegen Sie würde es geben, doch nur von denen, die es sich leisten konnten, den fortdauernden Krieg und Unfrieden hinzunehmen. Es wurden von Jahr zu Jahr weniger.

Genefe war nicht untätig geblieben in den vergangenen acht Jahren. Die Stadt und Region von Yatt Aff Galpa waren reich und mächtig, wie nie zuvor. Räuberbanden, die der Krieg ins Umland geschwemmt hatte, waren als erstes vernichtet worden. Sie hatte zwei Holzbrücken über die kleinen Flüsse Tau und Nola durch steinerne ersetzen lassen. Der Ausbau des Nordhafens war abgeschlossen. Yatt konnte nun mehr Schiffe aufnehmen als jemals zuvor. In der Stadt hatte Genefe tausende Pfähle entlang der Straßen errichten lassen, damit ihre Bürger nachts sicher im Schein der Öllaternen, die darauf thronten, nach Hause gehen konnten. Doch der Rest des Kaiserreiches dämmerte noch in einem abwartenden Zustand dahin. Ständige Scharmützel und Truppenbewegungen verlängerten vielerorts den Kriegszustand. Genefe war selbst nicht unschuldig daran. Letztes Jahr hatte sie Tauern angreifen lassen.

All das würde ein Ende haben, nächsten Monat nach der Kaiserwahl. Danach würde Frieden herrschen und sie, Genefe, erste Kaiserin aus dem Hause der Gualferen, würde nicht nur für Yatt Fortschritt bringen, sondern für das ganze Reich. Seufzend schaute sie wieder auf den Text.

Dadurch kam es, dass das Königreich Amraa dem Untergang geweiht war. Dort, wo zuvor Vieh weidete, Wein und Hafer gedieh, war nun Wildnis. Nur alte Geschichten und überwachsene Ruinen zeugten davon, dass Amraa früher einmal so reich und mächtig gewesen war wie die Länder diesseits des Galpa.

Der Tod für Amraa war aus dem Osten gekommen. Hinter der Gurra ragte hoch und steil das Ahrmandracgebirge auf und dahinter begann das Wilde Land. Eine Welt, in der Nebelschwaden wie grinsende Fratzen durch die Bäume huschen und schrille Schreie absonderlicher Geschöpfe die Stille zerrissen. Von keinem Menschen war es je betreten worden, denn dort gab es vielerlei Ungeheuer. Sprechende Fische in tiefschwarzen Tümpeln, Antilopen, so federleicht, dass sie auf Wolken sprangen und riesige Eulen, die ganze Pferde in ihren Klauen davontragen konnten. Raubkatzen schwarz wie die Nacht und ein Wolf mit eisernen Zähnen und blauen Augen, der in die Seelen der Menschen blickte. Doch Zeugnisse von den Bewohnern dieser Welt legten nur sonderbar geformte Knochen ab, welche die Gurra an ihr Westufer spie.

Genefe stutzte. Woher konnte der Autor von Rieseneulen und sprechenden Fischen wissen, wenn keiner dieses Land je betreten hatte? Vermutlich waren alles Übertreibungen und Märchen.

Aus dieser Welt kamen Geisterwesen und drangen in die Welt der Menschen ein: die Kuari. Tagsüber verwandelten sie sich in Bäume, aber des Nachts nahmen sie die Gestalt von gehörnten Dämonen an. Mit glühenden Augen stiegen sie aus dem Ahrmandrac herab, plünderten Obsthaine, Weinstöcke und Hühnerställe und führten Krieg gegen das Königreich, bis Amraa schließlich unterging.

Sie hatte als Kind immer Geistergeschichten gefürchtet und zugleich geliebt. Ein wohliger Schauer lief der Königin über den Rücken. Der Untergang Amraas war lange her, doch lebten noch einige wenige Menschen, die dieses Schicksal mit eigenen Augen erlebt hatten. Es erschien ihr unbegreiflich, wie ein mächtiges Königreich einfach so verschwinden konnte.

Genefe las die letzten Seiten ein zweites Mal. Die Absätze, die sie stutzig gemacht hatten, las sie laut, wie um sich zu vergewissern, dass sie die Bedeutung richtig verstand. »Dort, wo in Amraa Reichtum herrschte, entstand auch Missgunst … und so brachen Kriege aus und es kamen Zeiten, in denen Anstand und Gesetz wenig galten. Stattdessen regierten Schwert und Feuer.« Das klang für sie so, als wenn die Geisterwesen Amraa erst erobert hatten, nachdem es sich selbst in Machtfehden zerfleischt hatte. Dass die Dämonen Obsthaine und Hühnerställe plünderten, erweckte den Eindruck, dass sie Nahrung suchten. Fressen Dämonen Obst und Hühner?

Sie lehnte sich zurück gegen die Stuhllehne aus dunklem Holz. Ihr Blick glitt über die Regale voller Bücher und Schriftrollen. Würde das bedeuten, dass auch das Kaiserreich, schwach und uneins, vor den Kuari in Gefahr war? Und würde es sich nicht umgekehrt lohnen, dass ein starkes Kaiserreich Amraa zurückeroberte? Offenbar war das Land auch an seiner eigenen Uneinigkeit zugrunde gegangen.

Hochwertiges Eisen interessierte sie vor allem aus politischen Gründen. Ihr Blick wanderte über die Karte, die der junge Priester des Arxtes ihr auf dem Tisch ausgebreitet hatte. Ihr Finger fuhr darüber, »Ahrmandracgebirge«, flüsterte sie. War dort das Erz, das sie so dringend brauchte? Der letzte wirtschaftliche Bericht, von dem sie zwei im Jahr bekam, hatte erneut den akuten Eisenmangel im Kaiserreich zutage gebracht. Das Kaiserreich Kasar, eigentlich ein ferner Verbündeter, hatte statt Eisen zu liefern, lieber die Städte der Meeresengen bedrängt, die infolgedessen ebenfalls kein Eisen mehr in ihr Reich lieferten. Die in dem Buch so poetisch beschriebenen sanft geschwungenen Hügel Andras, brachten seit Jahrzehnten nur minderwertiges Erz zutage.

Doch Genefe brauchte Eisen. Eisen, um ihre Armeen auszustatten, Eisen, um sich als Kaiserin zu behaupten. Sie schaute erneut auf den Text und fragte sich unwillkürlich, was diese Dämonen für Waffen benutzten, wenn sie das Land mit den besten Schwertern besiegten? Wie verwandelten sie sich tagsüber in Bäume? War das alles Zauberei, oder war das alles in der Wirklichkeit begründet?

Draußen wurde es dunkel. Zu dunkel, um trotz Kerzenscheins weiterzulesen, ohne müde zu werden. Zudem schmerzte ihr Rücken von der harten Lehne des Stuhles. Sie klappte vorsichtig das Buch zu und sah sich um. Der junge, hochgewachsene Priester des Arxtes kam lautlos näher und verbeugte sich.

»Gibt es noch weitere Karten, welche detaillierter sind als diese?« Der Priester beugte sich zur Karte herab. Genefe zeigte mit dem Finger auf Amraa und das Ahrmandracgebirge, hinter dem der Kartenmacher, offenbar aus Mangel an Information was dahinter lag, einfach nur immer weiter Berge gezeichnet hatte, bis zum Rand der Karte. Der Priester neigte den Kopf zur Seite. »Ich werde mich auf die Suche machen, eure Hoheit.«

»Sucht mir alles heraus, was ihr über das Land jenseits der Berge finden könnt.« Sie lächelte und erhob sich. »Ihr seid recht jung. Seid ihr erst kürzlich in die Dienste unseres Gottes des Arxtes eingetreten?«

»Ich habe bereits in Tuufra Galpa meinem Gott Arxtes gedient. Mein Orden hat mich hierher geschickt, um diese Bibliothek zu erforschen und verloren geglaubtes Wissen wiederzufinden.«

»Tuufra«, sie nickte. »Beizeiten müsst ihr mir davon erzählen.« Der Priester verbeugte sich. »Sehr gerne, eure Hoheit.« Genefe ging zur Tür und öffnete sie. Bevor sie hindurchging, wandte sie sich noch einmal um. »Wie ist eurer Name?«

»Jowen Wintra, eure Hoheit.«

Die Königin nickte freundlich und wandte sich zum Gehen. Die einzige Tür der Bibliothek führte in einen großen Raum. Einen Raum voller Erinnerungsstücke alter Kaiser. Insbesondere Kaiser Mangrir, der Vater Thorals und Großvater dieses Jungen Do`reon hatte hier Jagdtrophäen und wertvolle Schmuckwaffen in Ehren gehalten und weitere angehäuft. Den wahren Schatz, den seine Vorgänger ihm hinterließen, hatte Mangrir weitestgehend missachtet. Die kleine Bibliothek, voller alter Bücher mit verlorenem Wissen. Die Priester des Wissensgottes Arxtes hatten sofort Interesse bekundet und Genefe hatte ihnen gestattet, die Bücher zu katalogisieren. Die ausgestopften Tiere hatte sie bereits entfernen und viele der Waffen in Schränken verstauen lassen.

2. Miraciel

Grenze zwischen Onga & Draun´ga Tal

Der Mann, den Guja als Mhondra Gauri begrüßt, und der sein Helm abgenommen hatte, hielt diesen an einem der beiden Antilopenhörner fest, während sein rechtes Auge die Gruppe betrachtete. Das linke Auge hatte er vermutlich im Kampf verloren. Es ware nicht seine einzige Narbe, wenn auch seine prägnanteste.

Mhondras Gesicht und sein Kopf, dort, wo das Haar an den Seiten abrasiert war, waren mit weißen und schwarzen Streifen bemalt, fragmentarisch und doch wie ein Muster, allerdings eines, welches die Natur selbst geschaffen zu haben schien. Nahtlos gingen diese Farbstrukturen in das graue Haar des betagten Kriegers über, welches sich nur als ein schmaler Streifen Locken über seinen Scheitel erstreckte. Darunter befand sich das weißliche, von dunklen Bereichen durchsetzte Holz seiner Rüstung. Unbewegt verschwammen die Ítschurgen in ihren Rüstungen im Lichtspiel der Sonne, geradezu mit dem Hintergrund des Waldes.

Das Holz der Rüstung und des Helmes erinnerte Miraciel an Birkenrinde. Doch nur auf den ersten Blick, denn dieses Holz war etwas anderes. Eines der vielen, wie magisch wirkenden Hölzer des Kuarilandes, aus dem das Volk der Muún nicht nur Rüstungen herstellte, sondern auch ihre scheinbar unbezwingbaren Himmelsschwerter. Holz, welches nur die Kraft eines Blitzes schaffen konnte und welches im Land der Ritter und Kaiser vollkommen unbekannt war.

Der Blick von Mhondras Auge verharrte auf Joshwa, der von Djaura Kun’gwa an der Schulter festgehalten wurde. Dann begann er zu lächeln. Er sagte etwas in der Sprache der Muún und winkte das Kind heran. Joshwa löste sich von Djaura und ging ohne zu zögern zu dem Einäugigen hin. Das Kind schien keinerlei Angst vor dem Fremden zu haben. Joshwa antwortete ihm. Der Anführer der Ítschurgen nickte, dann wandte er sich an seine Begleiter und rief mit seiner tiefen, kehligen Stimme einen Befehl. Mehrere seiner Krieger sprangen von ihren Pferden und liefen auf die Gruppe zu. Djaura zog sein Himmelsschwert und Miraciel folgte seinem Beispiel. Abwehrbereit standen sie den heranstürmenden Ítschurgen gegenüber. Ein Wald aus Speer-, Pfeil- und Schwertspitzen richtete sich auf sie. Guja Kaneca hob die unverletzte Hand in Richtung seiner Begleiter: »Legt die Waffen nieder. Sonst sie töten euch!«

Seine Stimme klang warnend, nicht befehlend. Djaura als auch Miraciel mussten ihre eigene Entscheidung treffen. Nach einem Blickwechsel senkten beide ihre Waffen. Die Krieger der Ítschurgen entrissen ihnen die Himmelsschwerter und zwangen sie zu Boden. Joshwa rief etwas in der Sprache der Muún. Seine helle Kinderstimme war fest und selbstsicher. Mhondra Gauri, der Anführer der Ítschurgen wiegte den Kopf. Er sagte nur ein Wort. Es klang fragend und Joshwa antwortete ihm nicht. Mhondras Auge blickte dabei direkt auf Miraciel. Dann rief er einen leisen Befehl, und einer seiner Begleiter griff nach Joshwas Arm und bedeutete ihm, sich auf Gujas Pony zu setzen. Joshwa warf Miraciel einen ängstlichen Blick zu, gehorchte jedoch und ließ sich auf das Pferd helfen. Währenddessen packten die anderen Ítschurgen Miraciel, Guja und Djaura und banden ihre Handgelenke auf dem Rücken zusammen.

Gujas Gesicht zuckte dabei vor Schmerz, doch er gab keinen Laut von sich. Ihre Augen wurden mit Tüchern verbunden und die Ítschurgenkrieger schoben sie vorwärts, einem unbekannten Ziel entgegen.

3. Merafine

Irgendwo in Amraa

Das Haus sah aus, als hätte es ein Riese aus den Tiefen der Erde aufgespießt. Die hölzernen Dachschindeln waren an drei Stellen des Daches geborsten, auseinandergesprengt oder verschwunden. Drei mehr oder weniger kreisrunde Löcher prangten im Dach. Aus ihnen ragten drei Ahorne, wie Jagdspieße aus einer toten Wildsau. Sie waren von innen, durch das Haus, bis durch das Dach gewachsen.

Auf dem Dach selbst wuchsen Birken. Ihre Wurzeln hatten sich in das Holz gekrallt, genährt durch die spärlichen Krümel Erde, welche über Jahre durch Wind in die Ritzen der Schindeln hineingeweht wurden. Der Balken des Dachgiebels begann sich, unter ihrer Last durchzubiegen.

Merafine ließ ihren Blick über das verlassene Dorf im Wald schweifen. Sie hatte keine Eile. Sie war lieber vorsichtig. Hinter dem ersten Haus befanden sich weitere Gebäude. Alle im fortgeschrittenen Zustand des Verfalls. Einige waren bereits in sich zusammengefallen, ihre Überreste versanken unter Nesseln und Farnkraut.

Den ersten Abend, an dem Merafine auf sich alleine gestellt war, hatte sie unter einem Baum gehockt, einer riesigen Eisfichte, und hatte in die Baumspitze gestarrt. Ihr Unterleib tat ihr weh. Sie vertrieb sich die Zeit damit, in die Wipfel und den Himmel zu starren, die Sterne zu beobachten und mit ihrer Hand in der schwarzen Erde herumzuwühlen, bis ihre Finger schwarz waren. Sie hatte zuvor auch im Wald geschlafen. Doch nun war sie alleine. Niemand war bei ihr. Kein Joshwa, Miraciel oder Eula, an die sie sich hätte schmiegen können. Nur der kalte Boden. Vielleicht wollte sie auch alleine sein.

Im Morgengrauen hatte sie in der Ferne Wölfe heulen gehört. Sie hatte sich auf ihr Pferd gesetzt und es einfach loslaufen lassen, bis sie abends müde war und sich wieder unter einen Baum legte. Diesmal war es eine Buche gewesen. Sie wusste auch nicht, warum sie sich dieses Detail merkte oder überhaupt beachtete.

Erst am folgenden Tag hatte sie damit begonnen, Nahrung zu suchen. Es war der Morgen, an dem es ihr ein wenig besser ging. Sie überlegte, woran es lag. Vielleicht nur daran, dass die Sonne schien. Doch auch ihre Schmerzen verblichen. Sie suchte Nahrung, Pilze, Pflanzen und deren Wurzeln. Jagen konnte sie nicht. Sie hatte keinen Bogen und ohnehin keine Erfahrung, wie man jagt. Hätte sie einen gehabt, hätte sie vermutlich innerhalb kürzester Zeit alle Pfeile auf Nimmerwiedersehen verschossen, ohne jemals zu treffen. Sie konnte auch kein Feuer machen, denn sie hatte keinen Funkenschläger und auch keinen Feuerstein. Doch es war Frühling und es gab genügend essbare Dinge. Wasser war in zahlreichen Bächen reichlich vorhanden. Eula hatte ihr einiges über Pflanzen beigebracht, die essbar waren, ohne dass man sie kochen musste. Ohnehin spürte sie wenig Hunger. Ihr Magen war vermutlich zusammengeschrumpft auf die Größe eines Apfels oder noch kleiner. Wie der eines Augapfels.

Am dritten Abend schlief sie unter einem kleinen Wacholderbaum. Er gefiel ihr. Krumm und runzelig, dennoch gleichmütig, allen Widrigkeiten trotzend.

Durch die Abwesenheit von Miraciel, Eula und Joshwa fühlte sie sich einsam wie noch nie. Aber auch so frei wie noch nie. Die drei Menschen hatten sie wie eine der ihren behandelt. Doch sie waren auch die letzten Menschen gewesen, die gewusst hatten, dass sie eine Sklavin war. Nun war sie wirklich frei. Zumindest so lange niemand ihre Sklaventätowierung entdeckte. Merafine versicherte sich, dass das blaue Seidentuch, welches um ihr Handgelenk gewickelt war, die Tätowierung weiterhin verbarg, auch wenn niemand hier war, den das interessierte.

Am vierten Abend schlief Merafine unter einer Kiefer, die auf einem Hügel stand. Routiniert hatte sie sich rechtzeitig einen Rastplatz gesucht, mit noch genügend Abendlicht, um auf Nahrungssuche zu gehen.

Guanka- und Löwenzahnwurzeln, sowie deren Blätter. Junge Buchenblätter und ein paar Ameisen. Auch das hatte ihr Eula beigebracht. Sie hatte gelernt, sich im Wald zurechtzufinden, zumindest jetzt im Frühling. Doch obwohl Menschen ihr mehr Angst einjagten als die Dunkelheit, der Hunger und wilde Tiere, spürte sie, dass sie sich nach Gesellschaft von Menschen sehnte.

Ohne dass es ihr bewusst gewesen war, hatte ihr Pferd sie immer weiter Richtung Westen gelenkt, dorthin, wo der große Galpa floss und wo die Zivilisation begann. Und nun war sie an diesem verlassenen Dorf angekommen, welches still und tot vor ihr lag. Sie lauschte aufmerksam dem Wind, der sachte durch das verlassene Dorf wehte und Blätter und kleine Äste sanft zum Schwingen brachte. Nichts war zu hören. Nichts rührte sich. Die junge Frau strich dem Tantchen über den Hals, während ihre Augen hierhin und dorthin über die überwucherten Holzhäuser des Dorfes glitten. Das Tantchen, so hatte sie ihr Pferd genannt, welches sie den Kallguusen gestohlen und auf dem sie ihren Peinigern davongeritten war. Erst am Abend, als sie sich unter die Eisfichte legte, bemerkte sie, wie das Tier, mit leicht gespreizten Beinen, das Becken nach vorne drückte und mit einem nicht zu übersehenden Gemächt munter plätschernd eine Ladung streng riechenden Urins ins Laub pinkelte. Ein Hengst also. Eigentlich ziemlich eindeutig, wenn man nur mal nachgeschaut hätte. Doch der Name Tantchen gefiel ihr, und Merafine entschied sich, ihn beizubehalten.

Mit einem leisen Schnalzen der Zunge trieb sie das Tantchen vorwärts. Vorsichtig bahnte sich das Pferd einen Pfad durch die überwucherten Wege. Merafine ritt das kleine Dorf zur Gänze ab, wendete das Tier und ließ noch einmal ihren Blick schweifen. Seit Jahren war niemand mehr hier gewesen. Vielleicht seit dem Zeitpunkt, an dem das Dorf aufgegeben worden war. Das muss Jahrzehnte her gewesen sein, als die Kuari Amraa erobert hatten. Die Kuari zumindest hatten ihren Schrecken für sie verloren.

Am hinteren Ende des Dorfes plätscherte ein Bach. Zwei Mühlen standen hier direkt hintereinander. Eine der beiden war einst zum Mahlen von Getreide benutzt worden. Das Mühlrad war verschwunden. Die ganze Rückwand des steinernen Gebäudes war in den Bach gestürzt und hatte diesen aufgestaut, seinen unermüdlichen Weg jedoch nicht aufhalten können. Die restlichen drei Wände standen wackelig da, einem Greis gleich, der sich mühevoll auf den Beinen hielt, der Gehstock das Einzige, das ihn aufrecht hielt.

Die zweite Mühle war eine Hammerschmiede gewesen. Sie war das größte und besterhaltene Gebäude im Dorf. Den Giebel zierten irgendwelche Tiere mit aufgerissenen Mäulern und heraushängenden Zungen. Dahinter die Schnitzerei eines Vogels. Ein Rabe vielleicht. Weiter hinten war eine schwarz verkohlte Steinwand, die zwei große Feuerstellen umrahmte. Rennöfen, um Metall aus Gestein zu schmelzen. Hier wurden früher Waffen und Werkzeuge hergestellt.

Merafine schwang sich langsam aus dem Sattel. Bedächtig band sie ihr Pferd an einen jungen Baum. »Bleib hier, Tantchen.« Der Hengst schaute sie mit großen Augen an, so als verwunderte ihn die Vorstellung, etwas anderes als eben das zu tun. Die junge Eiche, um die sie die Zügel knotete, war noch klein, aber stark. Das Bäumchen hatte sich erst mühevoll durch den gepflasterten Boden gezwängt, dann mit Gewalt die Steine auseinandergesprengt. Sie war darum etwas krumm geraten. Da nur der Boden um die Hammerschmiede gepflastert war, hätte der Baum nur wenige Schritte weiter leicht emporwachsen können, ohne sich durch ein Hindernis zu kämpfen. »Mit dem Kopf durch die Wand, wie?«, murmelte Merafine lächelnd. »Aber eine starke Seele entsteht aus Prüfungen.«

Die Tür zur Hammerschmiede war intakt. Überrascht stellte Merafine fest, dass sie geschlossen war. Sie rüttelte an dem verrosteten Ring, der als Türgriff diente. Nichts tat sich. Die Schmiede hatte keine Fenster. Oben jedoch war das Dach mit dem tief hängenden Giebel von der Wand abgesetzt. Ein breiter Spalt, zwischen Dach und Mauerwerk, sollte Licht hinein- und die Hitze hinauslassen. Merafine sah sich um. Ihr Blick fiel auf ein geteertes Fass. Es war leer und bereits brüchig. Doch es würde ihr Gewicht vermutlich halten. Die junge Frau warf es um und rollte es Richtung Hauswand, während Asseln und Spinnen, die darunter gehaust hatten, in alle Richtungen davoneilten. 

Vorsichtig stieg sie auf das Fass, nachdem sie es aufgerichtet hatte. Es knirschte, doch es hielt. Merafine streckte ihre Arme aus, bekam einen Pfosten gegriffen und zog sich hinauf. Ihre Beine baumelten in der Luft, suchten an der Mauer Halt und fanden ihn schließlich in den Fugen zwischen den Steinen. Sie zog sich hoch und spähte in das Dunkel der Schmiede hinein. Schemenhaft nahm sie Gegenstände wahr. Fässer, Bänke, Kisten, Werkzeuge, ein großer Tisch, verrottete Felle und Lederreste und groß und schwarz in der Mitte, der eherne Fallhammer. Früher war er, angetrieben durch das Mühlrad, auf- und niedergefahren und hatte weiches Metall auf dem großen Amboss, der darunter stand, geformt.

Merafine schwang das Bein über die Mauer und ließ sich langsam in den dunklen Raum hinabgleiten. Sie wollte sich nicht länger als nötig hier aufhalten. Geschäftsmäßig durchstöberte sie die Räumlichkeiten nach etwas Brauchbarem. Eine Decke hätte sie nötig gehabt, aber alles, was aus Stoff, Fell oder Leder beschaffen war, war verrottet. Auch Tiere waren schon hier gewesen, wie Kotspuren auf dem Tisch und anderen Möbeln verrieten. 

Bei den Werkzeugen kam sie ins Grübeln. Alles war alt, schwer und dunkel vor Rost, doch sie musste irgendetwas davon mitnehmen als Waffe, daran dachte sie in erster Linie. Vielleicht war davon etwas auch zu etwas anderem gut. Sie griff nach einer großen Säge. »Schwer, damit etwas zu jagen«, murmelte sie, während das biegsame Blatt einen sachten Klageton von sich gab. Sie wog ein viel zu schweres Beil in ihrer Hand. »Falls ich in den Bergen mal ein Floß oder ein Haus bauen muss.« Sie legte es wieder zurück. 

In zwei großen Fässern steckten jeweils Speere und Schwerter. Sie griff nach einem langen Speer. Als sie das Ungetüm aus dem Fass hervorzog, atmete sie ernüchtert aus und legte den Speer auf den Tisch. »Viel zu unhandlich.« Dann fiel ihr Blick auf die Schwerter. Einige waren wie alles andere verrostet, doch zwei Klingen steckten in dunklen Lederscheiden. Sie hab das eine hoch. Auch diese Waffe hatte ein beträchtliches Gewicht. Sie zog es aus der Scheide. Heller Stahl blitzte im Dunklen des Raumes auf. Dadurch, dass das Schwert eingefettet in seinem heimelig, eng anliegenden Zuhause verbracht hatte, war es in nahezu tadellosem Zustand. Nur ein paar Rostflecken waren hier und da zu sehen. Sie prüfte die Schärfe der Klinge. »Aua«, sagte sie leise, aber mit gewisser Freude, als sich ein Blutstropfen auf ihrer Fingerkuppe bildete. Sie legte das Schwert nachdenklich auf den Tisch und zog das zweite Schwert. Es war schmaler, leichter und kürzer. Vielleicht eine geeignetere Waffe für eine Frau? Auch diese Klinge war noch in tadellosem Zustand. Als sie es schwang, merkte sie, dass dem Gewicht des ersten Schwertes eine betörende Kraft innegewohnt hatte, die ihr mehr Zuversicht gegeben hatte als nun das kürzere Schwert. Sie nahm noch einmal die größere Klinge in die Hand und schwang sie. Das Schwert pfiff leise und vertrauenerweckend durch die dunkle, muffige Luft. Sie bemerkte, dass das gute Gefühl daher kam, dass sie es mit beiden Händen geführt hatte. Obwohl der Griff vermutlich für die Pranke eines großen Mannes gemacht worden war, konnte sie das Schwert mit ihren beiden schmalen Händen bequem greifen. Die kleinere Klinge hingegen hatte einen sehr kurzen Griff, den sie nicht mit beiden Händen fassen konnte, deshalb fühlte sie sich schwerer an.

Merafine schüttelte den Kopf. Ich bin nicht an einem Marktstand, dachte sie. »Ich kann einfach beide Schwerter mitnehmen«, sagte sie laut. Ihre Worte verhallten dumpf in der Dunkelheit. Ein Messer wäre noch praktisch gewesen, doch sie fand keines. Allerdings fand sie ein Feuereisen und einige Feuersteine, die sie mitnahm. Dann entschied sie sich, den Rückzug anzutreten. Gerade als sie den Tisch an eine der Wände schieben wollte, um wieder hinauszuklettern, bemerkte sie, dass in der Tür ein Schlüssel steckte. Sie griff danach. Mit etwas Kraft gelang es ihr, ihn zu drehen. Sie nahm die beiden Schwerter in die Linke und drehte den Türring. Als sie die Tür vorsichtig nach außen öffnete, stand direkt davor das Tantchen und glotzte sie fragend an. Der Hengst hatte sich losgerissen. Oder vielmehr hatte ihr Knoten nicht gehalten. Sie lächelte und rollte gleichzeitig mit den Augen. Sie sollte beim nächsten Mal aufmerksamer sein.

»So, mein Großer, nun sind wir bewaffnet.« Sie zeigte dem Hengst stolz ihre Beute. Er schnüffelte daran und bewegte die Lippen, um das unbekannte Objekt zu schmecken. »Nein. Das ist nicht zum Essen gedacht.« Merafine schob beide Schwerter in den Sattel, der mit mehreren Ösen ausgestattet war, die zu genau dem Zweck dort waren. Merafine führte Tantchen durch das Dorf. Sie durchsuchte noch alle weiteren Häuser, fand jedoch nichts mehr von Wert und ritt davon. Nächtigen wollte sie hier nicht, dazu empfand sie die knirschenden alten Häuser als zu unheimlich. Der Abend würde nicht mehr lange auf sich warten lassen. Sie würde sich wieder einen Baum suchen, unter dem sie sich zusammenrollen würde, aber vorher würde sie noch ein paar Pilze oder einen Salat aus essbaren Blättern suchen. Der Mangel an sättigendem Essen war ein Problem, doch immerhin war sie frei und sie war nun bewaffnet. Sie griff nach dem Knauf des Schwertes und fühlte sich auf beruhigende Art und Weise sicher.

4. Miraciel

südliches Onga Tal

Abends hatte man ihm Wasser zu trinken gegeben und zwei Handvoll Trockenfleisch. So reichhaltig und fett wie es war, sättigte es ihn beinahe. Er war zwar gefangen und ohne seine Waffen, doch immerhin hatte er zu essen.

Miraciel verbrachte die Nacht mit zusammengebundenen Händen und der Augenbinde unter einem Baum. Er fand sogar etwas Schlaf. Die Augenbinde verrutschte während der Nacht, doch es war stockdunkel im Kuariwald, und so sah er nicht viel mehr als Schatten um sich, bis ihm einer dieser Schatten die Augenbinde erneut fest um den Kopf wickelte.

Am Morgen stieß man ihn an. Er hatte den Aufgang der Sonne wegen der Augenbinde verpasst. Von einer jungen Frau mit Ítschurgentypisch schwarzweiß bemaltem Gesicht, bekam er erneut Trockenfleisch und Wasser. Als er es langsam kaute vernahm er plötzlich eine vertraute Stimme. Es war die unverkennbare, leicht rauchige Kinderstimme Joshwas. Der Junge streichelte ihm liebevoll übers Haar, nahm Miraciels Gesicht in die Hand und presste seine warme Wange daran. Es tat gut, auch wenn Miraciel den Jungen wegen der Augenbinde nicht sehen konnte. »Ich passe auf dich auf, mein großer Bruder«, sagte Joshwa. Miraciel musste lächeln. »Geht es dir gut?« Eine Männerstimme rief nach Joshwa in der Sprache der Muún. Joshwa patschte ihm auf den Kopf. »Ja, mir geht’s gut. Ich darf reiten. Ich muss jetzt los.« Dann hörte Miraciel die leisen Fußsohlen des Kindes davon tappen. Wenig später wurde er auf die Füße gezerrt. Es ging weiter.

Stundenlang taumelte er, geführt von einer Hand an seinem Arm, blind durch den Wald. Lediglich ein hauchfeiner Lichtstrahl drang durch den unteren Rand des Tuches, das fest um seinen Kopf gebunden war. Hatte Miraciel die fremde Welt zuvor hauptsächlich mit seinen Augen wahrgenommen, verlagerte sich sein Sinneseindruck nun auf ihre Geräusche und ihren Geruch. Der Wald roch fremdartig nach unbekannten Blättern und Pflanzen. Bisweilen stieg ihm betörender Blütenduft in die Nase, gefolgt von scharfen, würzigen Gerüchen, als würde er durch die Speisekammer einer Hexe wandern. Er hörte Insekten sirren. In der Ferne erklangen einzelne Schreie unbekannter Tiere. Waren es Vögel oder Affen? Es hätten auch irgendwelche Geister, Dämonen, Waikras oder Dryaden sein können, die ihm durch das Unterholz zuriefen, verlorene Seelen, denen keiner eine Antwort gab. Die Krieger der Ítschurgen hingegen blieben stumm. Kein Wort wurde gesprochen. Das Tappen der zahlreichen Füße vor und hinter ihm war kaum wahrzunehmen. Lediglich die Schritte der kleinen Pferde konnte man dumpf auf dem Waldboden hören. Einige Male stolperte Miraciel. Stets griffen ihn starke Hände am Oberarm und hielten ihn aufrecht.

Irgendwann hielten sie an. Er hörte leise Stimmen. Dann wurde ihm ruckartig das Tuch vom Kopf gerissen. Miraciel blinzelte in das schlagartig gleißend helle Licht. Noch bevor er seine Umgebung richtig erfassen konnte, wurden auch seine Handfesseln entfernt. Starke Hände hielten ihn fest und die linke Hand wurde ihm am Rücken an seinem Gürtel festgebunden. Die Rechte wurde an einen Strick gefesselt, dessen anderes Ende ihm in einer Schlinge um den Hals hing. Der Strick hatte etwa die länge eines Unterarms. Er konnte so den Arm relativ frei bewegen. Zog er jedoch daran, würgte er sich selbst.

Bald erkannte Miraciel den Grund für diese Art zu fesseln. Es ging nun steil bergauf. Er musste sehen, wo er hintrat und konnte sich mit seiner rechten Hand abstützen oder sie zum Klettern benutzen. Dennoch konnte er mit einer gefesselten und einer halbfreien Hand, nicht ohne Weiteres fliehen oder gar kämpfen.

Links von ihnen ragte eine Klippe auf. Rechts von ihnen fiel ein Felsrand steil ab. Der Felsrand war einige Manneslängen tief. Alles war dicht bewachsen und es war nicht zu sehen, was sich darunter befand. Ein Gewässer vielleicht. Keine schwindelerregende Höhe, jedoch hoch genug, um sich das Bein zu brechen. Vor ihnen zweigte der Weg nach links ab. Er führte durch enge Felsnischen höher hinauf. Alles war mit seltsamen Farnen und Pflanzen bewachsen, die Miraciel nie zuvor gesehen hatte. Auch in den nackten Felsen krallten sich Büsche und kleine Bäume, zwischen denen die Felsen nur hervorlugten.

Als Miraciel sich umdrehen wollte, um zu ergründen, wo Djaura und Guja waren, blickte er in die Augen der jungen Ítschurgen. Die Frau starrte ihn an. Sobald sie verharrte, schien ihr weiß-schwarz bemaltes Gesicht im Flimmern des Sonnenlichtes, das gebrochen durch das Blätterdach schien, seine Konturen zu verlieren und mit dem Hintergrund des Waldes zu verschmelzen. Ihre Augen waren von einem seltsamen Grün, fast ohne Struktur. Ihr Blick war misstrauisch und irgendwie lauernd, vielleicht war darin sogar ein wenig Neugier. Als Miraciel seinen Hals reckte, um sich umzusehen, stieß sie ihn an. »Awa nishté!«, fauchte sie. Auf gehts! Soviel Muún verstand Miraciel. Er gehorchte. Langsam ging er weiter. Guja, Djaura oder Joshwa hatte er nicht gesehen. Die Anwesenheit seiner Freunde, oder zumindest das Wissen, dass sie irgendwo in der Nähe waren, war ihm ein gewisser Trost gewesen. Er konnte nur hoffen, dass sie nicht getrennt worden waren.

Der Weg wurde zunehmend steiler. Die Reiter der Ítschurgen waren abgesessen und zogen ihre trittsicheren Ponys den schmalen, steilen Weg hinauf. Immer wenn der steile Pfad es ihm erlaubte, sah er sich um, doch stets war die junge Ítschurgenfrau hinter ihm und verhinderte, dass er sich umdrehte, indem sie ihn anstieß und manchmal leise etwas sagte. Sie waren Gefangene, aber offenbar sollten sie am Leben bleiben, sonst würden die Ítschurgen sich nicht die Mühe machen, sie zu füttern und meilenweit durch das Kuariland zu führen. Um Joshwa machte er sich keine Sorgen. Die Ítschurgen würden ihm nichts antun. Im Gegenteil. Er war praktisch einer von ihnen. Es schien ihm, als kannten Joshwa und der unheimliche Anführer sich. Doch die Pläne von Mhondra Gauri lagen für ihn im Dunklen, ebenso wie ihr Ziel.

5. Merafine

Merran

Das Pferd spitzte plötzlich die Ohren. Bevor Merafine überlegen konnte, ob sie das Tantchen zügeln sollte, nahm es ihr die Entscheidung ab und ging einfach weiter. Es trat zwischen den Bäumen hervor und stand auf einmal auf einem gut zu erkennenden Weg, der in Nord-Südrichtung verlief. Wege waren das Erste, das von Zivilisationen wieder verschwand, das Erste, was die Natur sich zurückholte, lange bevor Häuser oder Burgen verschwanden. Doch dieser Weg wand sich klar erkennbar durch das Wald- und Buschland und schien von Menschen benutzt zu werden. Merafine spähte links und rechts. Was sollte sie tun, wenn sie Menschen traf? Es kam natürlich darauf an, was für Menschen das waren. Dem Tantchen war es offenbar egal. Der Hengst wandte sich nach Süden und begann, den Weg entlang zu stapfen. Merafine zog an den Zügeln, doch das Pferd merkte ihre zaghafte Unentschlossenheit, schüttelte einmal unwillig die Mähne und tappte weiter. »Na gut. Diesmal darfst du entscheiden«, murmelte sie.

Der Weg beschrieb wenig später einen Bogen nach Westen, und als sie um die Kurve bogen, sah Merafine vor sich Menschen. Erschrocken zog sie an den Zügeln. Tantchen wich zur Seite aus und begann, Gras am Wegesrand zu rupfen.

Es waren drei. Sie gingen langsam und entfernten sich von ihr. Sie waren vielleicht fünfzig Schritt voraus und hatten sie noch nicht entdeckt. Ein Mann in weiten Hosen und einem Filzhut führte ein schweres Pferd, beladen mit Kisten neben sich her. Das war es also, worauf ihr Hengst reagiert hatte, als es die Richtung wählte. Die zweite Person war eine untersetzte Frau in einer schmutzigweißen Bluse und einem weit geschnittenen blauen Rock, der faltig über ihr dickes, rhythmisch im Schritt wackelnde Gesäß fiel. Ein weiterer Mann, dürr und mit hängendem Kopf, wohl etwas älter, schlürfte hintendrein.

Gefährlich sahen sie nicht aus. Eher wie Bauern. Schließlich war sie diejenige, die zwei scharfe Schwerter und einen respektablen Renner samt Soldatensattel besaß. Sie gab ihrem Pferd durch leichten Druck mit den Hacken zu verstehen, dass es weitergehen sollte. Energisch verfiel das Tantchen in einen munteren Trab. »Nicht so schnell«, flüsterte Merafine, doch es war zu spät. Das Pferd trabte der Gruppe hinterher, schloss schnell zu ihnen auf und die Drei drehten sich erschrocken um. »Ich grüße euch!«, rief Merafine ihnen zu. Fest und zuversichtlich kamen die Worte aus ihrem Mund. Sie sang sie fast. Absolut übertrieben, dafür, dass ihr das Herz vor Angst und Unsicherheit gerade bis zum Hals schlug. »Guten Tag … Herrin«, stammelte die Frau. Der Mann mit dem Pferd nickte respektvoll, während der Alte sie bloß offen anstierte. Die Frau hatte sie Herrin genannt. Merafine wäre rot geworden, hätte sie die Zeit dafür gehabt und nicht alle Mühe, das Tantchen, halbwegs elegant vor den Dreien zum Stehen zu bringen. »Wohin des Weges?«, fragte sie die drei eine Spur zu fröhlich. »Was machst du da?«, fragte sie sich selbst. Die Frau und die zwei Männer schauten etwas überrumpelt zu ihr hoch, bevor erneut die Frau antwortete. »Wir sind auf dem Weg zum Markt in Merran.« Sie zögerte: »Seid ihr auch dorthin unterwegs?«

»Das bin ich!«, log Merafine voller zur Schau gestelltem Selbstbewusstsein. Sie hatte von Merran noch nie gehört, aber wenn es eine Stadt mit einem Markt war, dann war es wohl genau der richtige Ort, um vielleicht eine Decke und etwas zu Essen zu erwerben und zu ergründen, wohin sie ihre Reise führen könnte. »Wie weit ist es noch bis Merran?«

Merran lag direkt am Galpa. Eine kleine Stadt, deren einzige Daseinsberechtigung der große Markt in ihrer Mitte war. Dieser bestand aus einem großen Quadrat an einer Seite offen zu einem Bootsanleger, an dessen mit Algen bewachsenen Holzstämmen der große Galpa schwappte. Zu drei Seiten war der Platz von windigen, meist einstöckigen Holzhäusern umgeben, die sich mehrere Gassen tief um den Marktplatz staffelten.

Hinter den drei glitschigen Stegen, die sich rund dreißig Schritte auf den Fluss hinaus wagten, lag dichter Nebel. Das andere Ufer war nicht zu sehen. Der Fluss lag still da. Kaum Wellen kräuselten das Wasser. Die Luft, die von ihm herüberwehte, war kalt. Einige kleine Skiffs und Scheniggen dümpelten träge an tangbedeckten Tauen. Im Hintergrund überragte der große, schwarze Schatten einer Kraweel die restlichen Boote, schon halb verschluckt vom Nebel.

Der Markt selbst bestand aus, mit bunten Tüchern behängten Holzständen, die in einem unübersehbaren Wirrwarr weitere winzige Gassen inmitten des großen Platzes bildeten. Händler boten Töpfe, Waffen, Decken, Schmuck, Fleisch, Obst, Pfeifen, Schuhe, Kleider und vieles mehr an. Die Augen der Kunden flogen über die Waren, rückversicherten sich ihrer Geldbörsen, wurden von Künstlern mit Gedichten, zahmen Affen und Jonglierbällen abgelenkt oder von schnarrenden Bettlern, die ihnen krumme Finger entgegenstreckten. Struppige Katzen und Hunde huschten zwischen den Beinen umher. Das Geräusch von murmelnden Menschen, schreienden Eseln, Trommeln und Gesang, vermischte sich mit dem Geruch von Essen, Gewürzen, Tang und Urin. Rauch hing windstill in einer grauen Wolke über dem Markt.

Merafine hatte das Tantchen, welches den Markt nicht betreten durfte, neben dem des Bauern und anderen Tieren an einer langen Reihe von Holzpflöcken angebunden, die genau zu diesem Zweck am Rande des Marktes in den Boden gerammt worden waren. Ihre beiden Schwerter klemmte sie unter den Arm. Ihr war unwohl dabei, mit den beiden Waffen aufzufallen, doch schien ihr Anblick nicht so ungewöhnlich. Niemand beachtete sie. Die Klingen verliehen ihr zudem ein Selbstbewusstsein, das sie vorher nicht gekannt hatte. Sie fühlte sich wie eine respektable Person auch wenn sie etwas abgemagert aussah und ihre Kleidung nicht sehr frisch aussah.

Merafine schlenderte durch die Reihen der Marktstände und überlegte, was sie kaufen sollte und vor allem, womit. Sie besaß ein Pferd, dass sie nicht zu verkaufen gedachte. Sie besaß einen großen feuerroten Rubin, den sie im Turm der brennenden Burg gefunden hatte. Doch er war zu wertvoll, um ihn für irgendeinen Tand herzugeben. Dann besaß sie noch die beiden Schwerter. Von einem könnte sie sich trennen. Aber was war so ein Schwert eigentlich wert?

Vor allem hatte sie Hunger. Jetzt, wo es überall nach Gebratenem und Gegartem roch, lief ihr das Wasser im Mund zusammen. Sie seufzte. Dann erspähte sie einen Waffenhändler, schlenderte hinüber und besah sich die Dinge. Beile, Dolche & Messer lagen auf dem Tisch. Weiter hinten standen drei Bögen aus dunklem Holz, aber keine Schwerter.

Zwei Männer saßen auf umgedrehten Kisten und unterhielten sich. Als Merafine vor dem Stand stehenblieb, sah der eine auf und musterte sie. Er stand schwerfällig auf, seufzte, als wäre es eine Unannehmlichkeit, lächelte aber sogleich und fragte freundlich. »Na Mädchen, möchtest du dich von deinen Schwertern trennen?«

Merafine sah ihn an. »Was würdet ihr mir für eines geben?«

Der Mann streckte auffordernd die Hand aus. Zögernd gab Merafine ihm die beiden Schwerter.

Geschäftsmäßig zückte er erst das kleine, dann das große, während sein Mund unter dem buschigen Schnauzbart nachdenklich zuckte. Er runzelte die Stirn, als er die wenigen, kleinen Rostflecken sah und strich darüber.

»Das sind gute Schwerter, allerdings etwas heruntergekommen.« Ich gebe dir für beide zwölf Silbermark.« Er sah sie mit seinen blassen Augen geschäftsmäßig, doch nicht über die Maßen interessiert an.

Merafine überlegte. Zwölf Silbermark waren viel Geld. Sie hatte die Schwerter schließlich nur gefunden oder gestohlen, je nach Sichtweise. Sie hatte ohnehin das Gefühl, im Glück zu sein, dass sie einen Fund so einfach verkaufen konnte. »Also kauft ihr mir das Kleine für sechs Silbermark ab?«, fragte sie.

Der Mann schüttelte mit dem Kopf. »Mädchen, das Kleine kaufe ich für fünf.« Er blickte freundlich aber gleichgültig.

Merafine runzelte die Stirn und überlegte, nun leicht enttäuscht. Ihrer Meinung nach war der Griff des kürzeren Schwertes kunstvoller gearbeitet, als das des Großen. Es hatte auch weniger Rostflecken. Sollte sie doch lieber beide verkaufen? Oder sollte sie es nochmal woanders probieren? Offenbar nahm er sie nicht ganz ernst, so wie er sie »Mädchen« nannte.

»Was kostet so ein Dolch?« Merafine griff nach einem schönen, jedoch einfach gehaltenen großen Dolch und wendete ihn vorsichtig in der Hand. »Drei Silbermark.«

Sie legte den Dolch zurück. Drei also. Natürlich musste der Mann ein Geschäft machen und würde das Schwert für mehr als fünf Mark weiterverkaufen. Wenn sie beide verkaufte und den Dolch dafür nahm, hätte sie neun Silbermark übrig. Das war genug, um gut zu essen, eine Decke zu kaufen, eine Überfahrt ans andere Ufer und sie hätte noch etwas übrig.

»Ich würde das Schwert nicht unter 40 Silbermark hergeben.«

Merafine fuhr herum. Eine hagere, sehr große, nicht mehr ganz junge Frau mit kantigem Gesicht und spöttischem Blick stand hinter ihr und sah an ihr vorbei, zu den Waren auf den Tisch. Sie trug einen sauberen Wams mit Stehkragen, Hornknöpfen und eine weite Hose, die an ihren Waden in Stiefeln aus feinem Leder steckten. Sie sah aus, als hätte sie es im Leben gut getroffen. Ihr unscheinbares Haar war kurz, was ihren kantigen Ausdruck noch verstärkte. Ebenso ihre recht tiefe Stimme. Trotzdem war sie nicht unansehnlich. Im Gegenteil. Merafine fand das die Frau eine starke, einnehmende Ausstrahlung hatte.

Die braunen Augen der Frau musterten aufmerksam die Schwerter und sahen dann Merafine ins Gesicht. Ihr Blick war durchdringend. Merafine lächelte und senkte den Blick. Der Waffenhändler verzog ärgerlich die Miene »Was geht’s euch an, Kardis?«, raunzte er. »Lass das Mädchen ihre eigenen Geschäfte machen.«

Doch die große Frau, lachte nur. Und wandte sich an Merafine. »Du musst noch lernen, wie man verhandelt.« Sie zwinkerte ihr zu. »Das sind keine gewöhnlichen Schwerter.«

»Nicht?« Merafine hielt den Atem an. »Was sind es für Schwerter?«, stammelte sie.

Die Frau lachte erneut auf, mindestens zwei ihrer Zähne fehlten, ebenso bestanden mindestens zwei weitere aus Gold. »Nun, Zauberschwerter sind es auch nicht. Aber anständige Ritterschwerter, aus gutem Stahl. Keine mittelmäßige Ware für Kriegsknechte.« Kardis nickte in Richtung des Tisches, offenbar um die Ware des Händlers als entsprechend mittelmäßig einzuordnen. Der Mann schüttelte ärgerlich den Kopf und setzte sich wieder auf seine Kiste.

»Woher habt ihr sie?«

»Von … meinem … Onkel«, stammelte Merafine.

»Aha«, sagte die Frau nur. Sie sah Merafine prüfend an, nickte freundlich und wandte sich ab, um weiterzugehen. Merafine griff hastig ihre beiden Klingen und folgte der Frau.

»Ich danke euch.«

Die Frau winkte ab und lächelte, ohne anzuhalten. »Wir Frauen müssen zusammenhalten. Die Markthändler, wie dieser Gontas, sind alles gerissene Hunde.«

»Trotzdem, habt Dank«, flüsterte Merafine. »Womit handelt ihr?«

»Mit Verschiedenem«, erwiderte die Frau nebulös. »Meine Waren sind jedoch ausschließlich von bester Qualität.« Die Frau blieb stehen. Ihre ausdrucksstarken Augen wanderten über Merafine. »Er scheint euch einiges von Wert vermacht zu haben, euer Onkel. Ist das echte Seide?« Sie deutete auf Merafine Handgelenk, um welches das blaue Seidentuch gewickelt war. Sie hatte drei aus der Kiste in der brennenden Burg von Amraa entwendet. Das eine hatte Eula als Verband gedient, das Dritte war bei dem Angriff der Kallguusen verloren gegangen. Dieses war das einzige, was ihr geblieben war. »Ja. Aber das Tuch ist nicht zu verkaufen. Es gehörte meiner Tante«, log sie.

Die Frau nickte, lächelte und wandte sich erneut der Gasse zu und ging weiter.

»Wollt ihr eines der Schwerter kaufen?«, beeilte sich Merafine, während sie versuchte, mit der Frau Schritt zu halten.

»Ich?« Die Frau schüttelte den Kopf, ohne anzuhalten. »Ich bin keine Waffenhändlerin. Und wer weiß, vielleicht sind sie sogar mehr wert als vierzig Silbermark.« Sie zuckte gleichzeitig mit Schultern und Mundwinkeln.

»Vierzig Silbermark sind ausreichend.«

»Sicherlich. Eben hattest du sie beide fast für zwölf verkauft.« Die Frau blieb erneut stehen und musterte sie. »Ich habe nicht viel Bargeld bei mir, aber vielleicht habe ich einige Waren, die euch interessieren könnten. Vielleicht können wir einen Tausch machen.« Die Frau nickte über ihre Schulter und stiefelte schon wieder los.

»Daran wäre ich sehr interessiert.« Merafine folgte der Frau, die beiden Klingen an sich gepresst.

6. Miraciel

südliches Onga Tal

Der Aufstieg durch die Felsen dauerte mehrere Stunden, ohne dass Miraciel aufgrund der dichten Vegetation viel von der Umgebung hätte sehen können. Gruppen seltsamer feingliedriger Affen kletterten hoch in den Baumkronen über sie hinweg. Sie verharrten nur ab und an, um mit großen schwarzen Kulleraugen auf sie hinabzuschauen. Ein seltsamer riesenhafter grünweißer Vogel mit breiten Schwingen flog in einiger Entfernung durch die Baumkronen und tauchte plötzlich in das Geäst hinab. Miraciel konnte die Entfernung nicht richtig einschätzen, aber das Tier musste gewaltig sein.

Sie erreichten schließlich eine Art Hochebene, welche locker mit Bäumen bewachsen war. Nach etwa einer Meile, die sie am Rande der Hochebene entlanggingen, schien sich die Gruppe zu sammeln, vermutlich um zu rasten, oder vielleicht sogar zu übernachten, denn die Abendstunde rückte näher.

Hohes Farnkraut wuchs zwischen den Bäumen. Ein Bach floss durch den Wald und stürzte sich an den Felsen zu Tal. Die Ítschurgenfrau, die Miraciel während des Marsches bewacht hatte, bedeutete ihm, sich an den Bach hinzusetzen, dann trottete sie davon. Sie deutete auf den Bach und sagte etwas. Miraciel vernahm das Wort »Oha« für Wasser. Er beugte sich herab und trank in langen Zügen. Es schmeckte herrlich. Weich und samtig. Ganz anders als das Wasser in Alzt oder den Flüssen Amraas. Dabei war es doch ebenfalls nur Wasser.

Miraciel richtete sich, durch die Fesseln behindert, mit einiger Mühe auf und sah er sich um. Er erspähte Guja und Djaura. Sie saßen ein Stück entfernt von ihm. Von Joshwa war nichts zu sehen. Auch Mhondra Gauri sah er nicht. Djaura sah ihn an. Sein Gesichtsausdruck zeigte Sorge. Dennoch nickte er Miraciel sachte zu. Miraciel erwiderte den Gruß. Es war nur eine kleine Geste der Verbundenheit. Ein Zeichen nicht aufzugeben.

Guja saß mit dem Rücken zu ihm. Miraciel erkannte aber, dass sein Gesicht zusammengekniffen war. Seine Handverletzung vom Kampf mit dem Schwarzen Prinzen, bei dem er drei Fingerkuppen verloren hatte, bereiteten ihm immer noch Schmerzen. Die junge Ítschurgen kam zurück. Sie bemerkte seine Blicke in Richtung der anderen Gefangenen. »Aké! awa nishte!«, zischte sie und bedeutete ihm sich umzudrehen. Dann griff sie ihn ihren Beutel und gab ihm etwas von dem Trockenfleisch.

Miraciel aß es langsam. Es war ein friedvoller Moment, trotz der Gefangenschaft. Die Íschturgen saßen in kleinen Gruppen umher und unterhielten sich. Miraciel versuchte zu zählen, wie viele es waren. Er konnte nicht alles sehen und daher nur schätzen. Es waren etwa 25 Männer und Frauen, etwa halb soviele Pferde und mindestens drei Hunde.

Er beobachtete einen der Hunde. Es war ein Weibchen. An den Zitzen konnte er sehen, dass sie offenbar schon Jungtiere gehabt hatte. Sie war bereits älter. Ihre Schnauze war voller Narben. Ein Ohr war bis zur Hälfte geschlitzt und das Lied des rechten Auges, hatte ebenfalls eine Verletzung davongetragen. Es gab ihr den Ausdruck eines gnadenlosen Kämpfers. Sie trottete ganz langsam in einem Bogen näher. Als sie vor ihm stand, schnüffelte sie die Luft, ohne ihn anzusehen.

Miraciel beugte sich vor und hielt ihr ein Stück Trockenfleisch hin. Ihre Augen wanderten zu seinen hoch. Erst jetzt sah Miraciel, dass das verletzte Auge blutunterlaufen war. Das andere bernsteinfarben. Die Hündin musterte ihn. Mirciel spürte, das dies ein intelligentes, verständiges Tier war. Er warf ihr den Fleischfetzen hin. Sie beugte sich ohne Eile herab. Schnüffelte und fraß das Fleisch. Miraciel warf ihr weitere Fetzen hin. Als er nichts mehr hatte, setzte sie sich neben ihn und schaute in die Ferne. »Na, du alte Halunkin! Hast wohl schon einiges hinter dir«, flüsterte Miraciel. Er streckte die rechte aus und beugte sich etwas vor, um sie zu kraulen. In diesem Moment, schoss sie vor, riss ihren Kiefer auf und bleckte weiße Fangzähne. Sie knurrte tief und kehlig. Die Zähne waren gefletscht. Miraciel hatte erschreckt seine Hand zurückgerissen. Eigentlich kannte er sich mit Hunden recht gut aus, aber diese plötzlich auftretende Aggression hatte er nicht kommen sehen.

Miraciel spürte die Ítchurgenfrau neben sich. Sie hockte sich hin und redete sanft mit der Hündin. Das Tier äugte von einem zum anderen. Durch die unterschiedlichen Augen, von denen das eine dunkelrot war, sah sie furchterregend aus. Sie knurrte noch einmal, schloss dann die Lefzen über das Maul und beruhigte sich. Die junge Frau streichelte den Hund eine Weile sanft. Dann stand seine Bewacherin wieder auf. Die Hündin richtete plötzlich die Ohren nach vorne und starrte in den Wald hinein.

Einer der anderen Hunde kam durch das Unterholz herangeprescht. Es war der Rüde. Er lief mit hoher Geschwindigkeit an der Gruppe vorbei und verschwand zwischen den Farnen im Wald. Dann sah Miraciel den dritten Hund. Ein jüngeres Weibchen. Es hüpfte mit hohen Sprüngen durch das Farnkraut. Sie witterte etwas und versuchte, durch die Sprünge Sicht aufzunehmen. Vielleicht ein Tier, das sich in dem hohen Farn verbarg? Aufgeregt stellte sich die Hündin plötzlich auf ihre Hinterbeine und starrte in den Wald hinaus. Einige der Ítschurgen beobachteten nun auch das Treiben der Hunde. Doch sie schienen nicht alarmiert. Das Weibchen, immer noch auf zwei Beinen stehend und bemüht, das Gleichgewicht zu halten, ließ ein tiefes Schnauben verlauten »Ufff!«, nur das Andeuten eines Bellens. Dann sank sie langsam zurück auf ihre vier Pfoten. Die alte Hündin, mit den Narben schlich langsam näher. Jetzt kam auch der Rüde aus dem Unterholz zurückgesprintet und gesellte sich zu seinen Artgenossinnen.

Sein Körper zitterte vor Aufregung und plötzlich zuckte es wie eine Welle durch die Gruppe der Kuari. Die Ítschurgen sanken allesamt gleichzeitig auf die Knie. Leise duckten sie sich tief ins Farnkraut. Diejenigen Ítschurgen, die Pferde hatten, sprangen auf und galoppierten durch den Wald davon. Miraciel wurde an der Schulter gepackt und sein Kopf hinabgedrückt. Er schaute zur Seite, so gut es ging. Es war die junge Kriegerin. Ihre grünen Augen blitzten auf. Es bedurfte keiner weiteren Anweisung. Miraciel hielt still und lugte über die Farnblätter in den Wald hinaus und in die alarmierten Gesichter der Krieger und Kriegerinnen ringsherum.