Kugelwechsel - Rudolf Trink - E-Book

Kugelwechsel E-Book

Rudolf Trink

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Beschreibung

Der rätselhafte Selbstmord seines Neffen Karl, eine Firmenleitung, die alles vertuschen will, um ihre Kunden nicht zu irritieren und ein eiskalter Stratege als Gegner - damit muss sich der pensionierte Kriminalist Johann Rumpler, Katzenfreund und ambitionierter Hobbykoch, auseinandersetzen. Als er Schritt für Schritt in die Abgründe einer menschlichen Seele eintaucht, gerät er selbst ins Visier des Mörders.

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Seitenzahl: 233

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Kugelwechsel

Ein Rumpler Rosamunde-Krimi

Rudolf Trink

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Impressum:

Alle handelnden Personen, Orte sowie die Handlung selbst sind frei erfunden. Mögliche Ähnlichkeiten mit Personen, Orten oder Situationen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.herzsprung-verlag.de

© 2018 – Herzsprung-Verlag GbR

Mühlstraße 10, D- 88085 Langenargen

Telefon: 08382/9090344

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten. Erstauflage 2018

Lektorat: Melanie Wittmann

Herstellung und Covergestaltung: Papierfresserchens MTM-Verlag www.papierfresserchen.de

Bildnachweis Cover: Katze: Rudolf Trink; Billard: © KABUGUI – Adobe Stock lizenziert

ISBN: 978-3-96074-024-7 - Taschenbuch

ISBN: 978-3-96074-172-5 - E-Book (2020)

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Widmung

FÜR EVA. MEHR DENN JE.

Sehr kleine und sehr große Verbrechen werden häufig vertuscht.

Kleine, weil sie so klein, und große, weil sie so groß sind.

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Inhalt

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

16.

17.

18.

19.

20.

21.

22.

23.

24.

25.

26.

27.

28.

29.

30.

31.

Epilog

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1.

Es war an einem zwölften Januar um acht Uhr fünfundvierzig, als Johann Rumpler an seinen Neffen Karl dachte. Rumpler hatte ihn seit Monaten nicht mehr gesehen, vier oder fünf waren es bestimmt, vielleicht sogar mehr.

Seine Erinnerung führte ihn aber noch viel weiter zurück, etwa fünfundzwanzig Jahre, und sie war seltsamerweise deutlicher als jene an ihr letztes Treffen. Als Kind war Karl einige Monate bei Rumpler und seiner Frau gewesen, damals als Rumplers Bruder zwar nicht überraschend, aber doch wesentlich schneller als erwartet an Lungenkrebs gestorben und dessen Frau so verzweifelt gewesen war, dass sie einen Nervenzusammenbruch erlitten hatte. Rumplers Frau Elsa hatte damals noch gelebt und sie hatte es mit ihrer schlichten Herzenswärme geschafft, dem siebenjährigen Karl über die ersten Monate nach dem Tod des Vaters hinwegzuhelfen. Die Rumplers waren kinderlos. Elsa hatte nach einer komplizierten Schwangerschaft und einer Fehlgeburt die Diagnose erhalten, dass sie keine Kinder bekommen konnten, und sie war glücklich gewesen, Karl bei sich aufzunehmen.

Karl war ein ungewöhnliches Kind gewesen, sehr ruhig und reflektiert, absolut verlässlich, und er hatte Rumpler bis hin zu kleinen, charakteristischen Gesten stark an seinen verstorbenen Bruder erinnert. Hinter einer beinahe kühlen, fast nüchtern wirkenden Oberfläche wohnte in dem kleinen Karl ein inneres Lächeln, das er nur selten zeigte, als ob es gefährdet wäre, verloren zu gehen. Dieses Lächeln hatte Rumpler immer sehr berührt, weil es, wie er sich selbst kaum zugestand, etwas Paradiesisches an sich hatte.

An dieses Lächeln dachte Rumpler jetzt, als er an seinem schönen, aber auch schon etwas schäbigen Schreibtisch saß, seine alte Katze Rosamunde hinter den Ohren kraulte und die Nachricht zu verstehen versuchte, dass Karl tot sei. Rumpler wusste aus Erfahrung, dass ihn die Trauer noch nicht richtig erreicht hatte, sie würde ihn erst später einholen, in Wellen, ihn dann wahrscheinlich für längere Zeit begleiten und vielleicht erst nach Jahren wieder freigeben.

Karls Frau Sabine hatte ihn vor einer Stunde angerufen, in Tränen aufgelöst, und ihn informiert, dass Karl gestern Selbstmord begangen habe. Reflexartig waren in Rumpler die alten Routinen erwacht, obwohl er doch bereits seit mehr als zwei Jahren außer Dienst war, und erst nachdem er die Fragen nach Zeit, Ort und Umständen des Todes von Karl gestellt hatte, hatte er bemerkt, wie völlig unangemessen sein Verhalten war. Er hatte Sabine dann ein Treffen vorgeschlagen, um elf Uhr im Café Sperl, das mit seinen hohen Räumen, den schönen holzverkleideten Rundbogen und den leicht abgeschabten Samtpolsterungen mit der Zeit so etwas wie Rumplers zweites Wohnzimmer geworden war und von dem er sich ein wenig Sicherheit bei dem schwierigen Gespräch erhoffte, das vor ihm lag.

Rumpler war vor der Zeit im Café, um sicherzugehen, dass Sabine nicht auf ihn warten musste. Sie kam pünktlich wie die Uhr, sehr groß, sehr schlank, sie wirkte beinahe zerbrechlich, mit rotgeweinten Augen und jenem Ausdruck von Unverständnis, der ihm aus seiner jahrzehntelangen Tätigkeit als stellvertretender Leiter der Mordkommission so vertraut war. Er stand auf, umarmte sie und ihr schmaler Körper wurde von einem stummen Weinen geschüttelt. Rumpler schob sie behutsam zu ihrem Platz, bestellte in der von ihm über Jahrzehnte entwickelten, mit der Zeit immer sparsameren Sprache aus Worten und Zeichen einen Tee für seinen Gast und für sich eine Melange. Dann legte er ihr kurz die Hand auf den Unterarm, wie um für sie und wohl auch sich selbst die Zeit kurz anzuhalten. „Erzähl.“

Sie begann mit klangloser Stimme zu berichten. „Karl hat mich gestern Nachmittag von der Arbeit aus angerufen und gesagt, dass er sich zum Essen ein bissl verspätet, weil er in der Firma noch was klären muss. Er würd aber verlässlich um spätestens acht Uhr zu Hause sein.“

„Hat er für dich irgendwie anders als sonst geklungen?“

„Nein, überhaupt nicht. Er hat sich angehört wie immer; er war nur leicht gestresst wie jedes Mal, wenn er nicht pünktlich zu Hause sein konnte.“

„Und wie hast du von seinem Tod erfahren?“

„Als er um neun noch immer nicht zu Hause war, hab ich mir Sorgen gemacht. Du weißt ja, wie wichtig ihm Pünktlichkeit war. Ich hab dann in der Firma, GVD, angerufen, weil der Sicherheitsdienst dort Tag und Nacht anwesend ist. Zuerst haben sie mir nur gesagt, dass er gemäß ihrem elektronischen Zeiterfassungssystem noch im Haus sein müsste. Sie würden in seinem Zimmer nachschauen und mich dann zurückrufen. Nach gut einer halben Stunde, die mir wie eine Ewigkeit vorgekommen ist, ist dann der Rückruf gekommen und sie haben mir gesagt, dass er vom Dach gestürzt ist. Auf seinem Laptop stand angeblich eine kurze Mitteilung, dass er schwer krank wäre und nicht mehr weiterwisse.“

„War Karl krank?“

„Ja, immer wieder. Er hat sich öfter mal einen Infekt eingefangen und er war auch besorgt um seine Gesundheit, aber die verschiedenen Untersuchungen haben eigentlich nie was Ernsthaftes ergeben.“ Sabine legte ihre Hände vor sich flach auf den Tisch, in einer langsamen, sehr bewussten Bewegung, sah Rumpler an und doch durch ihn hindurch und sagte: „Das war nicht er.“

„Wie meinst du das?“

„Er hätt mir das nie angetan, ohne mir etwas zu sagen oder zu schreiben. Nie.“

Dieses „Nie“ kam mit einer derart unerschütterlichen Sicherheit, dass es Rumpler beeindruckte. „Das war nicht er“ war ja trotz aller vordergründigen Klarheit ein unsicherer, fast schillernder Satz, auf den Rumpler jetzt nicht eingehen wollte und den er in einer der zahlreichen Furchen seines Gedächtnisses, das er sich gerne wie einen großen Acker vorstellte, deponierte, um ihn später wieder einmal auszugraben. Es bedurfte für ihn immer einer gewissen Zeit des Abliegens seiner Gedanken, um sie vor sich hin reifen oder auch modern zu lassen und sie später wieder hervorzuholen wie ein Kind, das einen Stein aus seiner Schatzkiste holte, ihn drehte und wendete, um dadurch herauszufinden, was er wohl darstellen könnte. Die Wirksamkeit dieser doch sehr unpräzisen, nicht kontrollierbaren Methode hatte Rumpler während seiner langjährigen Berufstätigkeit immer wieder verblüfft.

Kaum hatte er Sabines „Das war nicht er“ wie ein Samenkorn in seinem Kopfacker versenkt, als sie die Frage stellte, mit der er gerechnet und die er auch ein wenig gefürchtet hatte. „Kannst du nicht herausfinden, was wirklich passiert ist?“

Rumpler hielt sich erst gar nicht mit der Ausrede auf, die rasch wie ein Eichhörnchen durch sein Hirn huschte. „Ich werd mit meinen Exkollegen reden. Moser ist zum Glück noch aktiv.“

„Und er ist mir noch was schuldig“, fügte Rumpler in Gedanken hinzu.

Wieder legte er seine Hand auf ihren Arm. „Sabine, ich muss dich warnen. Es gibt einen gar nicht geringen Anteil an Suizidfällen ...“, setzte Rumpler an und dachte im selben Moment: „Fälle hätte ich nicht sagen dürfen. Karl ist kein Fall.“

Nach einem kurzen Zögern sprach er weiter: „... die ohne Vorankündigung und für die Angehörigen völlig überraschend erfolgen und sich auch nicht plausibel erklären lassen. Ich werd mich aber informieren und halt dich auf dem Laufenden. Das versprech ich dir.“

„Danke.“

Rumpler beglich die Rechnung. „Kann ich dich mit dem Auto nach Hause bringen?“, fragte er sie.

„Nein, lieber nicht, ich möcht allein sein und geh zu Fuß nach Haus. Ich muss mich bewegen.“

Er half ihr mit einer fast altväterischen Behutsamkeit in den Mantel, als könnte er ihr dadurch einen Schutz mitgeben. „Du kannst mich immer anrufen. Tag und Nacht.“

„Danke.“

Rumpler umarmte sie und stellte erleichtert fest, dass die zitternde Erstarrung, mit der sie erschienen war, sich etwas gelöst hatte.

„Ich meld mich bei dir. Pass auf dich auf.“

Sie sagte nichts, sondern hob nur kurz die Hand – ob zum Abschied oder zur Abwehr von Tränen vermochte Rumpler nicht zu sagen.

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2.

Als er zu Hause ankam, empfing ihn Rosamunde mit Vorhaltungen. Er sei lange fort gewesen, er habe ihr nichts mitgebracht – normalerweise kaufte er für sie beim nahe gelegenen Fleischhauer eine Kleinigkeit – und überhaupt sei er mit seinen Gedanken nicht wirklich da. Es hatte keinen Sinn, ihr auch nur im Geringsten zu widersprechen. Rumpler gab ihr in allem recht. Als teilweise Wiedergutmachung ließ er ihr zunächst behutsam die Kopfmassage zukommen, die sie so liebte, samt einem ganz zarten Zwirbeln ihrer Ohrspitzen, was sie in Gnaden entgegennahm, und versorgte sie anschließend mit Futter. Erst jetzt, nachdem er seine Pflichten Rosamunde gegenüber hinreichend erfüllt hatte, ging er zu dem gegenüber von seinem Schreibtisch aufgestellten Kasten, einem mittelbraunen Jugendstilschrank mit schlichten, aber sehr schönen Messingbeschlägen. Er hatte ihn von seiner Großmutter geerbt und das Möbelstück war, wie er wusste, ein Teil ihrer Aussteuer gewesen.

Diesen Schrank hatte Rumpler schon vor längerer Zeit mit einigen zusätzlichen Regalbrettern ausstatten lassen und konnte daher darin die vormals übereinandergetürmten Kartons mit seiner abgelegten beruflichen Vergangenheit, von denen er jetzt einige hervorzog, besser geordnet verwahren. Fotos von internationalen Polizeikongressen tauchten auf, Urkunden über Ehrungen und Auszeichnungen, Berichte über seine wichtigsten Fälle, Zeitungsausschnitte und schließlich eine ziemlich umfangreiche Sammlung von Moleskinenotizbüchern, alle liniert, alle schwarz eingebunden und mit fortlaufenden roten Nummern versehen.

Obwohl die Nummern alle zu ihm sprachen, die meisten noch sehr deutlich, einzelne hingegen nur mehr ziemlich vage, widerstand Rumpler der Versuchung, das eine oder andere dieser Bücher zu öffnen und sich in die Vergangenheit hineinsaugen zu lassen. Er suchte die drei oder vier Bücher, die noch neu und unbeschrieben waren und daher auch keine Nummer trugen, und nahm eines davon heraus. In dem Moment, als er das tat, war ihm klar, dass er die Untersuchung von Karls Selbstmord mit diesem Akt zu seinem Fall gemacht hatte, obwohl doch keinerlei Anhaltspunkte für einen „Fall“, wie er ihn verstand, vorlagen, außer vielleicht Sabines „Das war nicht er“. Rumpler hatte diese Momente des Büchereröffnens immer ebenso geliebt wie gefürchtet, wahrscheinlich weil sich dabei für ihn die Neugierde und der Respekt vor dem Weg, den er zu gehen hatte und von dem nicht klar war, wohin er führen würde, mischten. Obwohl seine vierundsechzig Jahre nicht spurlos an ihm vorübergegangen waren, fühlte er sich in diesem Augenblick doch wie ein Jagdhund, den die Ahnung einer Witterung mit gespannten Muskeln die Luft prüfen ließ. Rumpler schüttelte sich kurz, um nicht endgültig in diesem ungefähren Zustand zu versinken, und wählte Mosers Nummer.

Sein Anruf wurde prompt beantwortet. „Moser.“

„Hallo Stinker.“

Kurzes Schweigen.

„Ich pack’s nicht. Rumpler. Servus, Hans. Wie geht’s dir?“

„Ich muss dich sprechen. Halb offiziell. Hast Zeit für mich?“

„Für dich doch immer. Morgen früh im Café Rathaus?“

„Gern. Passt neun Uhr für dich?“

„Ja. Ich freu mich.“

Das Café Rathaus hatte Rumpler und seinem Team in seiner aktiven Berufszeit häufig als eine Art zweites Büro gedient. Immer wenn sie das Gefühl hatten, in einem Fall stecken geblieben zu sein, oder auch wenn es zu größeren Meinungsverschiedenheiten zwischen ihnen gekommen war, lieferte das Café Rathaus, das noch über ein eigenes, von grünen Filzbespannungen dominiertes Spielzimmer verfügte, mit dem beruhigenden Gemurmel der zahlreich vertretenen Pensionisten alle Voraussetzungen, um sich auf einen Fall wieder neu einzustellen.

Moser kam mit ein paar Minuten Verspätung. Sein ehemals extrem starker Rauchkonsum hatte ihm den Beinamen Stinker eingetragen, den er nicht ohne Stolz fast wie eine Auszeichnung, die ihm in einer längst vergangenen Ära verliehen worden war, noch immer trug, obwohl er aus gesundheitlichen Gründen bereits seit Jahren nicht mehr rauchte. Ohne auch nur im Mindesten zu zögern, steuerte er den in einer der Fensternischen gelegenen Tisch an, den sie früher immer beansprucht hatten und den Rumpler heute zur Sicherheit hatte reservieren lassen.

Ihre Begrüßung verlief stumm nach dem vertrauten Ritual. Moser hatte sich nicht verändert – auf einem stämmigen Körper saß ohne viel Hals dazwischen ein eher kantiger Schädel mit einer kräftigen, ganz leicht schiefen Nase und auffallend wachen, eher hellen Augen von einer schwer bestimmbaren Farbe. Seinen respektablen Bauchansatz, der ihn im Bedarfsfall aber keineswegs daran hinderte, sich mit ganz erstaunlicher Schnelligkeit zu bewegen, hatte Moser immer noch. Auch an seiner Gewohnheit, sein Sakko trotz erheblicher Spannung geschlossen zu tragen, hatte sich nichts geändert. Seinerzeit hatten die jüngeren Kollegen boshaft über ihn gesagt, er brauche keine Schusswaffe, weil er jederzeit imstande sei, einen Verbrecher mit seinen abspringenden Knöpfen zu erschießen.

Nach einem kritischen Blick auf Rumpler eröffnete Moser das Gespräch mit der Feststellung: „Du machst dir Sorgen.“

„Mein Neffe Karl ist tot.“

„Das tut mir leid. Der war doch als Bub für längere Zeit bei dir, als dein Bruder gestorben ist.“ Das war eine Feststellung, keine Frage, aber Rumpler hatte schon vor Jahren aufgehört, sich über das phänomenale Gedächtnis Mosers zu wundern.

„Ja, das war Karl. Er soll Selbstmord begangen haben. Vom Dach der Firma gesprungen, bei der er gearbeitet hat.“

Noch während er das sagte, wunderte sich Rumpler ein wenig über seine eigene Formulierung, die Karls Rolle in der Sache völlig offenließ.

Moser hakte sofort ein. „Wieso soll? Hat es irgendwas Auffälliges dabei gegeben?“

„Eigentlich nicht, außer dass es so gar nicht zu Karl passt.“

„Und jetzt hast du Zweifel, ob alles mit rechten Dingen zugegangen ist, und willst nähere Informationen.“

„Ja. Es wär mir persönlich wichtig, dass ich versteh, was passiert ist, und es ist auch für Karls Frau Sabine wichtig.“

„Du weißt aber schon, dass du als Angehöriger in höchstem Maß befangen und daher alles andere als objektiv bist?“

„Das ist mir klar. Trotzdem will ich Näheres wissen.“

„Dann ist daran wohl nicht mehr zu rütteln. Du warst ja immer schon wie der Hund mit dem Knochen – wenn du ihn einmal hast, gibst du ihn nicht mehr her.“

„Kannst du mir helfen?“

„Ich denk schon. Ich werd mich morgen informieren, wer die Untersuchung gemacht hat, und du kriegst natürlich auch das Protokoll von mir – aber nur in Papierform, weil ich’s dir offiziell nicht weiterleiten darf. Unsere E-Mails werden in letzter Zeit immer wieder kontrolliert, weil zu viel an die Zeitungen durchgesickert ist. Es ist ziemlich unpraktisch, aber man gewöhnt sich dran.“

„Wann sehen wir uns?“

„In zwei Tagen, also am Samstag. Das gibt mir noch ein bissl Zeit, dass ich mich auch sonst umhör.“

„Danke, Stinker.“

„Passt schon. Bis bald.“

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3.

Rumpler ging vom Café nicht gleich nach Hause, sondern nutzte den kalten, klaren Wintertag für eine Runde im Volksgarten, der ihn mit seinem Rosengarten faszinierte, aber nicht, wie zu vermuten wäre, im Frühsommer, wenn sich die Blüten in voller Pracht zeigten, sondern vor allem jetzt im Winter. Die vielen Hundert Rosenstöcke waren alle mit Kaffeesäcken aus Jute verhüllt, was ihnen das Aussehen eines abstrakten Kunstwerks gab. Die Säcke waren den Rosen übergestülpt worden und ihre Beschriftung stand daher auf dem Kopf. Gerade dieses Verhüllte und auf den Kopf Gestellte war Rumpler wichtig und verschaffte ihm eine ihm selbst kaum verständliche Befriedigung. Durch jahrelange Übung war er ohne Weiteres in der Lage, die Aufschriften der Kaffeesäcke auch verkehrt herum zu lesen, und in Ermangelung eines Hafens, in dem er von ferne kommende Schiffe hätte beobachten können, ließ er seine Gedanken von den Jutesäcken mit auf die Reise nehmen.

Zum Abschluss seines Volksgartenbesuchs stattete er noch dem Denkmal der Kaiserin Elisabeth einen Besuch ab, wobei seine Aufmerksamkeit diesmal nicht so sehr der Kaiserin selbst galt, sondern den zu ihren beiden Seiten angeordneten Kinderskulpturen, die Krüge trugen, aus denen im Sommer Wasser sprudelte. Sie hielten diese Krüge mit größter Sorgfalt und einem sehr verhaltenen, fast entrückten Lächeln, und wieder fiel Rumpler das seltene Lächeln des kleinen Karl ein, das ebenfalls diese schwer fassliche Qualität gehabt hatte.

Rumpler verließ den Volksgarten in Richtung Heldenplatz, und kaum hatte er die große helle Fläche betreten, als er sich zwar nicht abgestoßen, aber doch ernüchtert fühlte, ganz so als hätte er eine unbestimmte Sehnsucht im Volksgarten zurücklassen müssen. Immer wenn er diesen Weg ging – und er ging ihn ziemlich oft –, hatte er das Gefühl, von der Unausweichlichkeit des Untergangs aus Joseph Roths „Radetzkymarsch“ angeweht zu werden, ja, sogar selbst an diesem Untergang der Monarchie gewissermaßen teilzuhaben, als sei er aus der Zeit gefallen.

Ohne nachdenken zu müssen, stieg er in eine Straßenbahn, verließ sie nach einigen Stationen wieder und ging die paar Hundert Meter zu seiner Wohnung, nicht ohne vorher für Rosamunde und auch sich selbst etwas Schinken gekauft zu haben, um nicht wieder mit leeren Händen zu kommen. Rumplers Wohnung lag in einem Altbau in der Josefstadt, ohne Lift, und wie so oft fragte er sich beim Emporsteigen in den dritten Stock, ob ihn das gesund erhalte oder ob er etwa bei Knie- oder Hüftproblemen nicht in der Wohnung werde bleiben können. Bislang war er von solchen Sorgen weitgehend verschont worden, aber in den letzten zwei oder drei Jahren hatten sich immer wieder einmal da oder dort Schmerzen gemeldet, nicht lange anhaltend, eher nur wie ein Wetterleuchten, Schmerzen, die ihn kaum beschäftigten, aber doch unmerklich an seinen Wurzeln nagten.

Rosamunde empfing ihn gnädig, schnurrte und purrte, wohl wissend, dass er ihr diesmal etwas mitgebracht hatte, sie ließ sich den Schinken aufschneiden und servieren und verspeiste ihn trotz ihrer stattlichen Figur mit einer Gier, die Rumpler an die Zeit zurückdenken ließ, als er sie ausgemergelt und verlaust im Urlaub in Kärnten aufgelesen hatte – oder hatte sie ihn damals aufgelesen? Er wusste es einfach nicht mehr und letztlich war es auch egal. Sie hatten einander gefunden, wie auch immer.

Rumpler griff nach seinem neuen Notizbuch, das er auf dem Tisch hatte liegen lassen, und machte einige Eintragungen, nachdem er in Großbuchstaben wie ein Leitmotiv den seltsamen Satz „Das war nicht er“, der neuerlich vor ihm aufgetaucht war, auf die erste Seite geschrieben hatte. Dann klappte er das Buch zu und schloss kurz die Augen. Als er sie wieder öffnete, sah er, dass Rosamunde sich auf dem Buch niedergelassen hatte, mit nach innen eingerollten Vorderpfoten und wie ein schnurrender Buddha.

„Gute Katze“, sagte Rumpler, der seit Längerem dem Glauben anhing, dass sich nur die Fälle, die von Rosamunde ausgebrütet wurden, auch erfolgreich lösen ließen.

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4.

Zwei Tage später, am fünfzehnten Jänner, meldete sich Moser. „Hallo Hans. Heute Abend um sieben im Café Rathaus?“

„Hallo Stinker. Das passt. Bis bald.“

Dieses Mal war Moser als Erster im Café. Als Rumpler eintraf, sah er, dass Moser ein wenig im „Falter“ blätterte – wohl weniger aus Begeisterung, als vielmehr in dem unbewussten Wunsch, sich von der Boulevardblätter lesenden Mehrheit der Kaffeehausbesucher etwas abzuheben.

„Servus, Hans.“

„Servus, Stinker. Was hast du herausgefunden?“

„Die Fakten sind ziemlich klar. GVD ist eine Firma, die für ihre Kunden, so richtig G’stopfte, extrem hohe Werte in Form von Edelmetallen, vor allem Gold, verwahrt. Das Gebäude ist daher aus Sicherheitsgründen mit Kameras gespickt und über die Kontrolle der Videoaufnahmen hat sich der Zeitpunkt des Sprungs auf ein Zeitfenster von nur zwei Minuten einengen lassen. Karl muss am elften Jänner zwischen zwanzig Uhr siebzehn und zwanzig Uhr neunzehn gesprungen sein. Es gibt zwei Arten von Videokameras im Gebäude – solche im Hochsicherheitsbereich, die ununterbrochen überwacht werden, und andere, die in regelmäßigen Abständen dem Sicherheitsdienst Bilder zuspielen. Karls Zimmer, das ihm als Büro zur Verfügung stand, wenn er nicht grad im Tresor beschäftigt war, liegt im dritten Stock. Eine Kamera in der Nähe des Aufzugs hat ihn um zwanzig Uhr elf erfasst. Ich kann dir später die Bilder zeigen. Er muss dann in den sechsten Stock, also das oberste Geschoss gefahren sein, von dem aus man durch eine versperrte Tür auf eine kleine Terrasse gelangt, die wegen des sonst im ganzen Haus gültigen Rauchverbots gerne von den Rauchern benutzt wird. Um zwanzig Uhr dreizehn hat Karl diese Tür mit seinem Ausweis samt Zugangscode geöffnet und dann muss er gesprungen sein. Die Außenhaut des Gebäudes wird mit Videoanlagen permanent überwacht und wir haben damit den Zeitpunkt seines Aufpralls auf die Minute genau festlegen können.“

„Ist es ausgeschlossen, dass jemand bei ihm war?“

„Ja. Die Kollegen sind ganz sicher, dass er allein war. Abgesehen vom dauernd anwesenden Sicherheitsdienst, der seinen auf die Minute genau festgelegten Kontrollroutinen folgt, waren außer Karl insgesamt nur sechs Mitarbeiter im Haus. Vier davon waren gemeinsam in einer Sitzung und haben das bei der Befragung auch zweifelsfrei bestätigt. Dann waren noch der Leiter der IT, ein gewisser Edwards, Alexander Edwards, der auch für die Sicherheit zuständig ist, und Robert Schnirch, ein Kollege von Karl, der ebenfalls im Tresor arbeitet, also ein sogenannter Sperrführer, im Haus.“

„Wie sind deren Alibis überprüft worden?“

„Der IT- und Sicherheitschef Edwards hat zum Zeitpunkt von Karls Sturz nachweislich ein längeres Telefonat mit dem für den Goldtresor verantwortlichen Sperrführer Schnirch geführt.“

„Wie konnte das festgestellt werden?“

„Die Firma zeichnet die Gespräche selbst zwar nicht auf, aber sie registriert Beginn und Ende jedes Telefonats und hält auch die entsprechenden Nummern fest. Wir wissen deshalb genau, wer wann mit wem wie lange telefoniert hat.“

„Praktisch.“

„Sei nicht ungerecht, Hans. Der Sicherheitschef hat mit seinem Kollegen Schnirch routinemäßig relativ oft telefoniert, beinahe ebenso häufig wie mit Karl. Wir haben das für einige Wochen überprüft und dabei überhaupt nichts Auffälliges gefunden. Darüber hinaus haben Mitarbeiter des Wachdienstes bestätigt, dass sie während des kritischen Zeitraums sowohl Edwards als auch Schnirch in deren Büros beim Telefonieren gesehen haben.“

„Dann ist das so. Was hat die Befragung der anderen Kollegen und der Vorgesetzten ergeben?“

„Nicht viel, außer dass alle von Karls Vorgesetzten, aber auch einige seiner Kollegen erwähnt haben, dass sich Karl in letzter Zeit immer wieder wegen seiner Gesundheit besorgt geäußert hätte.“

„Das klingt fast so, als hätten sie ein Interesse an einer plausiblen Erklärung für Karls Selbstmord.“

„Vielleicht ist das ja auch so. Ein unerklärlicher Selbstmord in einer Firma, die sehr hohe Werte verwahrt, wäre kontraproduktiv, weil er zu Spekulationen Anlass geben und damit die Kunden leicht verunsichern könnte.“

„Seid ihr noch an der Sache dran oder ist der Fall für euch abgeschlossen?“, hakte Rumpler nach.

„Die Kollegen sind fertig und der Abschlussbericht steht. Falls du dich aber informell als Privatperson weiter erkundigen willst, kann ich dir einen Tipp geben. Die beste Freundin meiner Tochter, eine gewisse Sonja Förster, arbeitet seit etwa fünf Jahren im IT-Bereich von GVD und ich könnt dir einen Kontakt zu ihr herstellen. Das muss aber unbedingt unauffällig bleiben, sonst kriegt sie in ihrem Job massive Probleme – sie kann nämlich ganz schön vorlaut sein und ist darum bei ihren Vorgesetzten nicht sehr beliebt.“

„Ist klar. Ich würd gern mit ihr sprechen.“

„Ich seh sie heute Abend, wenn sie meine Tochter besucht. Sie wird dich anrufen.“

Der erwartete Anruf kam knapp nach einundzwanzig Uhr. Rumpler vereinbarte aus Sicherheitsgründen, die er ihr auch erklärte, mit Sonja Förster ein Treffen in seiner Wohnung für den nächsten Abend. Ihre volle, sehr klare Stimme hatte Rumpler gefallen und er fragte sich, wie sie wohl aussah, während er sich bewusst wurde, dass sie leicht seine Tochter sein könnte, und er sich einen alten Deppen schalt. Aber trotzdem.

Während er sich noch diesem Ganz-alt-ganz-jung-Gefühl hingab, begann er mit der wöchentlichen Routine der Pflege seiner Orchideen. Er hatte keine seltenen Sorten, sondern vorwiegend Phalaenopsis, die er wegen ihrer großen Verbreitung „Hausmeisterorchideen“ nannte, aber seine Pflanzen trugen wunderbare Blüten, die meist auf weißem Grund fantastische Einsprenkelungen von Rot- und Violetttönen zeigten. Einmal wöchentlich spülte er die Wurzelballen mit lauwarmem Wasser gründlich durch und bei dieser Gelegenheit sprach er auch mit seinen Orchideen – tröstende oder aufmunternde Worte, je nachdem. Das Zurückstellen der Pflanzen erforderte größte Sorgfalt. Mit der Zeit waren es nämlich so viele geworden, dass das Blumenfenster, wie Rumpler sein einziges ihm zur Verfügung stehendes breites Fenster nannte, kaum mehr Platz bot. Nichtsdestotrotz hatte sich Rosamunde über die Jahre das Recht ersessen – oder hatte sie es sich eigentlich erlegen? –, zwischen den Pflanzen einen, wenn auch nur kleinen, Ruheplatz zu haben. Die getigerte Katze, umgeben von den feuchten Orchideen, ließ ihn an Kiplings Dschungelbuch denken, das er als Kind mit Begeisterung gelesen hatte. Das hätte er auch jetzt gerne wieder einmal getan, aber letztlich entschied er sich doch immer wieder dagegen, um das Buch nicht durch seinen mittlerweile erwachsenen Blick zu entzaubern.

Kaum war Rumplers Pflanzendusche zu Ende, als Rosamunde, um ihr Liegerecht nicht abkommen zu lassen, auch schon ihren angestammten Platz bezog. Rumpler nahm sein nunmehr bereits eingeweihtes Notizbuch und machte Eintragungen. Zum Teil waren das sehr ausführliche, beinahe weitschweifige Sätze in ziemlich schöner Schrift, zum Teil kaum lesbare Andeutungen einzelner Worte, seltsame Fragmente von Rumplers Gedanken, manchmal auch nur Abkürzungen. Während seiner Nachdenkpausen versah Rumpler die Zwischenräume im Text manchmal mit abstrakten, winzig kleinen Bildern.

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5.

Das Treffen mit Sonja Förster verblüffte Rumpler. Er hatte, warum auch immer, mit einer kurz- und hellhaarigen Frau gerechnet – Sonja hatte langes schwarzes Haar. Außerdem hätte er den Klang ihrer vollen Stimme nie und nimmer in Verbindung mit einem so drahtigen Körper erwartet. Sie war extrem schlank, einfach, beinahe schlicht gekleidet und nicht geschminkt. In ihren blaugrauen Augen sah Rumpler eine Lebendigkeit, die ihn anzog und mit ihrer sprudelnden Vitalität beinahe ein wenig erschreckte. Die Festigkeit ihres Händedrucks überraschte ihn.

„Danke, dass Sie gekommen sind, Frau Förster“, begrüßte er sie.

„Gern. Sagen Sie Sonja zu mir. Anna hat mich gebeten, diesen Termin wahrzunehmen.“

„Ich bin der Onkel ihres unlängst verstorbenen Kollegen Karl Rumpler.“

„Ich weiß. Anna hat mich informiert.“ Sie nickte verstehend.

„Karls Tod ist für mich auf Basis des offiziellen Polizeiberichtes nicht plausibel nachvollziehbar.“

„Das versteh ich nicht.“

„Ich hab mich schlecht ausgedrückt. Der Bericht ist in sich schon stimmig und auch nachvollziehbar, er bestätigt Karls Selbstmord. Was aber überhaupt nicht dazu passt, ist Karls Persönlichkeit, wie ich sie gekannt hab.“

„Ich hab Karl zwar nur lose gekannt, aber ich glaub, ich versteh, was Sie meinen“, bestätigte Sonja Förster.

„Wenn Sie mir bei meinen Recherchen helfen, ist das für Sie nicht ohne Risiko.“

„Das ist mir recht. Risiko interessiert mich.“

„Sonja, ich möcht nur, dass Sie sich über meine und auch Ihre Position im Klaren sind. Ich bin ein seit zwei Jahren pensionierter Polizeibeamter und daher bei meinen Recherchen auf inoffizielle Hilfe angewiesen. Derartige Nachforschungen, wie wir sie jetzt vielleicht ins Auge fassen, sind in Firmen wie GVD alles andere als willkommen. Da tut sich selbst die Polizei schwer und trifft oft auf eine Mauer des Schweigens. Ihre Unterstützung meines Vorhabens kann sehr leicht als Vorwand dienen, Sie um Ihren Job zu bringen.“

„Ich bin ganz gut im Training.“

Rumpler schwieg kurz, entschloss sich aber dann, nicht weiter nachzufragen, was genau darunter zu verstehen sei. „Sonja, könnten Sie mir zunächst etwas über GVD erzählen? Außer den wenigen Informationen, die ich von Karl hatte, weiß ich kaum etwas.“

„Gern. GVD ist ein sehr junges Unternehmen – ich glaube, die Firma ist keine zehn Jahre alt. Sie befindet sich überwiegend in ausländischem Eigentum und ist in mehreren europäischen Hauptstädten, so auch in Wien, mit Niederlassungen vertreten. Die Firma hat vor Beginn ihrer Geschäftstätigkeit in Wien außerhalb des Gürtels, aber in noch immer ausreichend zentraler Lage, ein ziemlich großes Grundstück gekauft und darauf ein genau auf ihre Zwecke abgestimmtes Gebäude errichten lassen. Dazu gehören ein ausgetüfteltes Schleusensystem für die Wertetransportwagen, eine dreigeschossige Unterkellerung und ein großer Parkplatz für Kunden und Mitarbeiter der Firma. Die wichtigste Geschäftstätigkeit von GVD ist die sichere Aufbewahrung von sehr hohen Werten, und zwar von Edelmetallen, allen voran natürlich Gold.