Schutzpatrone - Rudolf Trink - E-Book

Schutzpatrone E-Book

Rudolf Trink

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Beschreibung

Nach einer Serie von Morden an Obdachlosen wird der pensionierte Wiener Kriminalist Johann Rumpler, Katzenfreund und ambitionierter Hobbykoch, von seinen Kollegen um Unterstützung gebeten. Der einzige Zeuge ist verwirrt und lebt in seiner eigenen kindlichen Welt aus Kasperlfiguren. Ganz langsam gelingt es Rumpler, sein Vertrauen zu gewinnen. Er bekommt einen mysteriösen Hinweis, in dem ein Kuhmann, der Teufel und eine Kiste eine wichtige Rolle spielen. Rumplers Recherchen führen ihn ins Waldviertel, wo er aus der Rolle des Jägers plötzlich in die des Gejagten und damit in eine Falle gerät, aus der kein Entkommen möglich scheint.

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Schutzpatrone

Ein Rumpler Rosamunde-Krimi

Rudolf Trink

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Impressum:

Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

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© 2020 – Papierfresserchens MTM-Verlag + Herzsprung-Verlag

Mühlstraße 10, 88085 Langenargen

Alle Rechte vorbehalten.

Erstauflage 2019

Bildnachweis Cover:

Katze: Rudolf Trink

Kasperl: Theresa Holzschuh

Lektorat: Redaktions- und Literaturbüro MTM

ISBN: 978-3-96074-047-6 - Taschenbuch

ISBN: 978-3-96074-302-6 - E-Book

*

Inhalt

1.

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36.

37.

38.

39.

Epilog

Autor

Unser Buchtipp

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FÜR HILDE.

EINE TAPFERE FRAU UND TREUE

PROBELESERIN. BIS ZULETZT.

Wenn das äußerlich Sichtbare die wahre Natur der Dinge verschleiert, beginnt die Stunde des Jägers.

*

1.

Die Krähe legte ihren Kopf schief und sondierte die Lage. Der kleine Hund lag auf dem sonnendurchwärmten Boden, halb auf der Seite, und rührte sich nicht. Die Krähe hüpfte näher, ganz auf die paar Stücke Trockenfutter konzentriert, die auf der blau-weiß gemusterten Decke des Hundes lagen. Sein walzenförmiger Körper blieb völlig unbeweglich, kein Zucken der Ohren verriet, ob er überhaupt noch lebte. Erst in dem Moment, als die Krähe ihren starken Schnabel nach vorne stieß, um das nächstgelegene Futterstück zu ergattern, schnellte der kleine Hund plötzlich hoch und zeigte knurrend sein erstaunlich starkes Gebiss. Die Krähe flüchtete verärgert und Johann Rumpler atmete auf. Rumpler kannte diesen Hund schon lange, noch aus der Zeit, als er stellvertretender Leiter der Mordkommission gewesen war, und genauso lange kannte er Ferdinand „Ferdl“ Weitel, den obdachlosen Besitzer des Hundes. Der Hund war alt, aber seine Reflexe funktionierten zu Rumplers Erleichterung immer noch, er war schlau und erfahren, gewitzt vom Leben auf der Straße.

„Wir sind uns ähnlich“, dachte Rumpler, an dem seine fünfundsechzig Jahre zwar nicht spurlos vorübergegangen waren, der sich aber immer noch auf seine Reflexe und sein Gedächtnis und, mit nur geringen Einschränkungen, auf seinen kräftig gebauten und für sein Alter ziemlich beweglichen Körper verlassen konnte.

„Servus Ferdl. Deine Leni ist aber noch ordentlich auf Zack!“

„Servus Hans. Ja, die Leni is super gescheit.“

Rumpler drückte Ferdl die obligatorische Zwei-Euro-Münze in die Hand und nahm dafür den Augustin, das Überlebensblatt der Obdachlosen, entgegen. Wie gewohnt sagte Ferdl nichts, sein Dank bestand darin, dass er Rumplers Hand kurz drückte. Dieser spezielle, über beinahe zehn Jahre vertraute Händedruck mit Ferdls breitem Daumen genau in der Mitte von Rumplers Handfläche war ein völlig vertrautes Ritual zwischen den beiden und damit ein wichtiger Bestandteil des Rumplerschen Lebens. Er mochte und er respektierte Ferdl, der es trotz seiner Obdachlosigkeit immer geschafft hatte, sich seine Würde zu bewahren. Ebenso schätzte Ferdl Rumpler, der ihn mehr als einmal aus kleineren Schwierigkeiten, manchmal auch mit der Polizei, herausgeholt hatte.

„Scheißliche Sache“, sagte Ferdl schließlich, was grammatikalisch nicht stimmen mochte, inhaltlich aber schon. „Jetzt hams den Dritten von uns hamdraht.“

„Ganz grauslich“, bestätigte Rumpler. „Hört ma bei euch was?“

„Gredt wird viel, aber das heißt gar nix. Eigentlich sollt der Schätter Rudi was wissen, aber den verstehst ja kaum. An festen Huscher hat er schon, aber er is nicht blöd. Nur komisch, ein bissl kindisch.“

„Machst dir Sorgen?“

„Na, überhaupt net. Zu was?“

„Hast a wieder recht.“

Rumpler war von Ferdls Gleichmut beeindruckt. Er hockte sich auf den Boden neben Leni, wie jedes Mal, wenn er Ferdl und sie traf, und ließ sie an seinen großen Händen schnuppern. Leni liebte dieses Ritual, zum einen, weil Rumpler sich ihr im Gegensatz zu den meisten sonstigen Besuchern immer nur sehr behutsam und höflich näherte, zum anderen, weil seine Hände so aufregend nach Katze rochen, nach seiner Rosamunde. Nach ausreichender Würdigung dieses Duftes legte sie sich wieder auf die Seite nieder, seufzte kurz und genussvoll auf und lag wie zuvor unbeweglich in der Mittagssonne. Rumpler verabschiedete sich und machte sich vom Naschmarkt, wo Ferdl seinen Standplatz hatte, auf den Heimweg zu seiner Altbauwohnung in der Josefstadt, während er über die Mordserie an Obdachlosen nachdachte, die derzeit Wien erschütterte, wie die Zeitungen schrieben, obwohl das eigentlich nicht das richtige Wort war. In Wahrheit ging es dem Publikum eher um eine Art wohligen Gruselns, verbunden mit der Erleichterung, dass diese Morde ausschließlich an Obdachlosen begangen wurden, mit denen man glücklicherweise nichts zu tun hatte. Rumpler war es aus seiner früheren beruflichen Praxis gewohnt, den von ihm verfolgten Mördern möglichst neutral gegenüberzustehen, aber bei den aktuellen Morden gelang ihm das nicht. Es machte ihn wütend, dass sich jemand anmaßte, den Schwächsten in der Gesellschaft auch noch das Letzte zu nehmen.

Jenen Rudi Schätter, den Ferdl erwähnt hatte‚ kannte Rumpler nur vom Sehen her. Heinz Schummer, das erste Mordopfer, hatte sich um Rudi gekümmert und ihm damit wohl auch die sonst kaum vermeidbare Einweisung in die Psychiatrie erspart. Ihn hatte Rumpler etwas näher gekannt. Während seiner Aktivzeit hatte er sich überhaupt immer um Kontakte mit der Obdachlosenszene bemüht, er kannte viele der großen, aber auch manche der kleinen Sorgen der Wohnungslosen. Außerdem galt er in der Szene als Geheimtipp für die Vermittlung von kostenlosen Zahnbehandlungen, weil ein Schulfreund Rumplers, ein mittlerweile auch schon pensionierter Zahnarzt, der eigentlich seine wunderbar abgesicherte Pension hätte genießen können, nicht Nein sagen konnte, wenn seine Hilfe von den Obdachlosen gebraucht wurde.

„Ich könnt Moser anrufen und fragen, wie es in der Sache steht“, dachte Rumpler. Mittlerweile hatte er bereits die Fleischhauerei Korbes erreicht, die nur mehr ein paar hundert Meter von seiner Wohnung entfernt war und in der er als eher ambitionierter Koch ein ausgesprochen gern gesehener Kunde war. Diesmal kaufte er einige Stücke Hühnerleber, die er für sich mit Äpfeln und Jungzwiebeln, grob gemahlenem Pfeffer und mit einem Schuss Portwein zubereiten würde und die zart angebraten, aber natürlich ungewürzt, sicher auch von Rosamunde sehr geschätzt werden würde.

Als er die Wohnungstür öffnete, kam sie ihm bereits entgegen, strich ihm um die Beine und beroch ihn sorgfältig. So genau Rumpler sie auch kannte – und er war ein ausgezeichneter und langjähriger Beobachter Rosamundes – er hätte nicht sagen können, ob sie Lenis Geruch, den er von seinem kurzen Ausflug mitgebracht hatte, eher als angenehm empfand oder sogar als abscheulich, wenn auch in gewisser Weise vielleicht wieder faszinierend. Wie so oft ließ sie sich in keiner Weise in die Karten schauen. Als er sich schließlich ans Kochen machte, setzte sie sich zu ihm in die Küche. Er hatte ihr dort als permanenten Beobachtungsposten einen alten Küchensessel mit Polsterauflage zur Verfügung gestellt. In jüngeren Jahren, als sie ihm bei ihren Sprüngen noch federleicht, nahezu gewichtslos erschienen war, quasi ein Pegasus in Katzengestalt, war das Erreichen der Sitzfläche eines Sessels für sie natürlich nie ein Thema gewesen, aber in den letzten Jahren schon. Vor etwa einem Jahr hatte Rumpler daher für sie eine alte hölzerne Weinkiste als Aufstiegshilfe unter den Sessel geschoben, die nicht nur ihr, sondern auch ihm in seiner Erinnerung Freude machte, weil sie den herrlichen Bordeaux beherbergt hatte, den er zu seinem fünfzigsten Geburtstag geschenkt bekommen hatte. Damals hatte seine Frau Elsa noch gelebt, die vor etwa fünf Jahren an Krebs gestorben war. Dann waren die Jahre der Einsamkeit gefolgt, bis er Alma, eine Ärztin, kennengelernt hatte, ein höchstpersönliches und ebenso unerwartetes wie wunderbares Geschenk des Schicksals an ihn, wie er dachte.

Während er die kurz mit den Jungzwiebeln gebratene Hühnerleber aus der Pfanne hob und im Rohr warm stellte, schälte er einen Apfel. Zum Glück gab es in den letzten Jahren wieder eine Vielfalt an Apfelsorten, denn zuvor hatte er manchmal das Gefühl gehabt, das Angebot der Geschäfte wäre fast nur auf Granny Smith und Gold Delicious beschränkt. Rumplers Lieblingssorten waren Cox Orange, Gravensteiner und Kronprinz Rudolf. Diese Äpfel erinnerten ihn an das großväterliche Haus in Friesach, wo er gemeinsam mit seinem Bruder die Ferien verbracht hatte und häufig ein leichter Duft dieser traditionellen Apfelsorten in der altertümlichen Küche in der Luft gelegen war.

Nachdem Rumpler überprüft hatte, dass Rosamundes Hühnerleber-Portion nicht zu heiß für sie war, stellte er ihr den Napf auf den Boden. Bis er für sich auch nur einen Teller und das Besteck gerichtet hatte, war sie bereits mit ihrer Mahlzeit fertig. Das hastige Fressen lag ihr im Blut, noch aus der gut zehn Jahre zurückliegenden Zeit, als sie in Kärnten als Streunerin um ihr Überleben hatte kämpfen müssen. Im Gegensatz zu ihr ließ sich Rumpler beim Essen besonders viel Zeit. Oft genug hatte er in seiner Aktivzeit nur sehr hastig oder bei schwierigen Einsätzen für längere Zeit manchmal auch gar nicht essen können und er hatte sich damals geschworen, das in seiner Pension gründlich zu ändern, was ihm auch gelungen war. Rumpler würzte die Hühnerleber mit einem speziellen Pfeffer aus Madagaskar, den ihm Sabine, die junge Witwe seines Neffen Karl, von einer Weltreise mitgebracht hatte und den er besonders schätzte, weil er sich nicht nur durch eine respektable Schärfe, sondern vor allem auch durch sein fruchtiges Aroma auszeichnete. In Verbindung mit dem wunderbaren Spiel von Süße und Säure, das der Cox Orange Apfel beitrug, den er mit Jungzwiebeln kurz angebraten und dann mit einem Schuss Portwein abgelöscht hatte, war seine kleine Mahlzeit einfach perfekt. Rumpler sah sich zufrieden in seiner ziemlich geräumigen und technisch sehr gut ausgestatteten Küche um, die er der Großzügigkeit eines schon vor Jahren verstorbenen entfernten Verwandten verdankte. Wenn er allein war, benutzte er praktisch immer den Essplatz in der Küche, der für zwei Personen gut und für vier Personen knapp ausreichend war. Erst wenn der Kaffee an der Reihe war, wechselte er normalerweise aus der Küche auf einen seiner abgeschabten, mit dunkelbraunem starkem Leder bespannten Fauteuils ins Wohnzimmer. Eben als er überlegte, welche seiner zahlreichen italienischen Kaffeeschalen er für seinen Espresso wählen sollte und er sich über den Duft des frisch gemahlenen Kaffees freute, läutete sein Telefon. Es war sein ehemaliger Kollege und noch immer aktueller Freund Alois Moser.

„Hallo Hans, wie geht’s dir?“

„Hallo Stinker. Mir geht’s in der Pension ausgezeichnet. Besser als euch jedenfalls.“

Der so despektierlich Angesprochene nahm diese Anrede mit völliger Gleichmut zur Kenntnis. Sie stammte aus der Zeit, als er noch ein starker Raucher gewesen war. Das Rauchen hatte er sich aufgrund eines sehr ernst gemeinten ärztlichen Rates schon vor vielen Jahren abgewöhnt, der Name war geblieben.

„Ich muss mit dir reden, Hans. Wegen der Obdachlosen.“

„Hab ich mir eh gedacht. Café Rathaus?“

„Gern. Wenn’s für dich passt, morgen um neun.“

„Ja, bestens. Bis morgen, Stinker.“

„Bis morgen. Servus Hans.“

*

2.

Das Café Rathaus war Rumpler aus seiner Aktivzeit sehr vertraut. Oft genug hatte er sich dort mit Moser oder auch mit anderen Kollegen zusammengesetzt, wenn sich manche ihrer Fälle so zähflüssig entwickelt hatten, dass sie ihre Büros nicht mehr ertrugen, weil ihnen dort die Decke auf den Kopf fiel. Rumpler war von der wundertätigen Wirkung der Wiener Kaffeehäuser im Allgemeinen und der des Café Rathaus im Speziellen zutiefst überzeugt. Für dienstliche Fragen war für ihn das Café Rathaus das richtige, als Privatmann bevorzugte er hingegen das Café Sperl.

Als Rumpler im Café Rathaus eintraf, war Moser hinter einer Zeitung versteckt, die er aber sofort senkte, als Rumpler näher kam. Moser hatte ihn wohl an seinem Schritt erkannt und ließ seine erstaunlich beweglichen hellen Augen blitzartig über Rumplers Erscheinung laufen. Seit Moser ihn zuletzt gesehen hatte, hatte Rumpler sich kaum verändert, außer vielleicht, dass er eine frischere Hautfarbe aufwies, die seinen umfangreichen Spaziergängen, die häufig im Volksgarten stattfanden, zu verdanken war. Moser ließ, erleichtert über das, was er sah, ein kleines zufriedenes Grunzen hören.

„Gut schaust aus, Hans.“

„Du aber auch, Stinker.“

Moser lachte und klopfte sich mit der Hand auf seinen stattlichen Bauch, über dem sich trotz der sommerlichen Temperaturen ein stramm zugeknöpftes Sakko spannte.

„Danke, dass du gekommen bist, Hans. Wir stecken bei den Obdachlosen irgendwie fest.“

„Lass hören. Ich hab mein Wissen ja nur aus den Zeitungen.“

„Wir haben mittlerweile drei Morde in weniger als drei Wochen. Alle Opfer waren Obdachlose, die in der Nähe ihrer Schlafplätze ermordet worden sind. Der Tathergang war immer der gleiche. Zunächst hat sie der Täter mit einem Elektroschocker außer Gefecht gesetzt und dann mit einer Stange, vermutlich aus Holz, erschlagen. Die Spurensicherung hat nichts Wesentliches ergeben und die Tatwaffe haben wir auch nicht. Wir haben uns natürlich auch in der Szene umgehört, aber nichts Brauchbares erfahren. Zeugen gibt es nicht oder sie sagen uns nichts. Der Einzige, der vielleicht was gesehen haben könnt, ist der Rudi Schätter, ein Freund des ersten Mordopfers, der aber seit dem Mord noch viel mehr durcheinander ist als vorher. Er lebt nur in seiner eigenen Welt und redet dauernd vom Kasperltheater. Als Zeugen kannst den vergessen. Wir haben ihn jetzt in der Psychiatrie am Steinhof untergebracht, weil er ohne Hilfe nicht weiter kann, aber es hat sich bisher bei ihm nichts geändert.“

„Hast die Protokolle für mich?“

„Ja, klar. Pass gut drauf auf, sonst krieg ich Schwierigkeiten.“

„Mach ich. Und was soll ich deiner Ansicht nach jetzt tun?“

„Du hast doch früher immer gute Kontakte zur Szene gehabt. Mit uns reden die kaum, aber bei dir ist das möglicherweise anders. Du könntest dich ein bissl umhören und vielleicht erfährst du ja was.“

Rumpler nahm einen Schluck von seiner Melange. „Obs was bringt weiß ich nicht, aber ich werds versuchen.“

„Danke Hans.“

„Passt schon, Stinker.“

„Was gibt’s bei dir sonst Neues?“

„Du wirst es nicht glauben, aber die Sabine ist schwanger.“

Moser hatte Sabine vor etwa einem halben Jahr kennengelernt. „Das ist ja großartig. Sie ist wirklich eine Nette. Wer ist denn der Glückliche?“

„Sie hat zwar vor ein paar Monaten einen neuen Freund kennengelernt, mit dem es vielleicht was werden könnte, aber das Kind ist noch vom Karl.“

„Gratuliere!“, rief Moser so laut, dass sich die anderen in der Nähe sitzenden Gäste überrascht umdrehten, und schlug mit der flachen Hand klatschend auf den zum Glück sehr stabilen Tisch. „Dann bist du nicht mehr der letzte Rumpler.“

„Das ist wahr. Ich freu mich so, als ob ich selbst Großvater werden würd.“

„Du Glücklicher. Bei meiner Anna tut sich leider gar nichts. Sie und ihr Freund wollen sich zuerst etwas aufbauen und dann erst Kinder kriegen. Ich versteh sie ja irgendwie, aber es dauert mir halt einfach zu lang. Ich hoff, es kommt überhaupt dazu.“

„Ich halt dir die Daumen, Stinker.“

„Danke, Hans. Würd mich schon sehr freuen über so einen kleinen Stinker. Wennst was hörst bei den Obdachlosen, ruf mich an.“

„Mach ich.“ Rumpler winkte dem Kellner und übernahm die Rechnung. „Servus Stinker.“

„Servus Opa.“

Rumpler lachte.

Bevor er sich auf den Heimweg machte, nützte er den schönen Sommertag für eine Runde im Volksgarten. Beim Brunnen nahe dem Ausgang zum Heldenplatz blieb er kurz stehen. Während er die Skulptur einer Nymphe betrachtete, die von einem wasserspeienden Faun gepackt wurde, fragte er sich wie schon so oft, ob ihr nun Gewalt angetan wurde oder ob die deutlich sichtbare Anmut der Finger ihrer schräg nach unten gestreckten Hand nicht doch eine andere Geschichte erzählte. Vielleicht beides. Der Bildhauer hatte wohl ganz bewusst ein Werk geschaffen, das erst im Kopf des Betrachters zu Ende gedacht oder eigentlich gefühlt werden wollte.

Eine Entenmutter mit fünf überaus geschäftigen Jungen holte Rumpler aus seinen Gedanken. Unwillkürlich sah er sich sofort nach Krähen um, die gerne Gelegenheiten nutzten, sich ein Entenjunges zu holen, sah aber zu seiner Erleichterung keine in der Nähe. Obwohl – oder vielleicht gerade weil – er wie kaum ein zweiter über die vielfältigen Gefahren des Lebens Bescheid wusste, hob sich seine Stimmung durch diesen kleinen Glücksfall sofort, und weil er im Café Rathaus nur zwei Melangen getrunken, aber nichts gegessen hatte, spürte er plötzlich Hunger. Er beschloss, sich faschierte Laibchen zu machen, einige davon auf Reserve, mit schön gerösteten Zwiebelringen. Damit auch Rosamunde seiner Freude am Faschierten teilhaftig werden konnte, nahm er sich vor, mageres Rindfleisch und fetteres Schweinefleisch zu gleichen Teilen, aber getrennt, faschieren zu lassen. Rosamunde würde ihren Anteil vom mageren Rindfleisch bekommen, ihrer Figur wegen, und er würde dann für sich das Faschierte mischen, dessen Geschmack letztlich von einem ausreichenden Fettanteil entscheidend abhing. Zum Faschierten würde er einen grünen Salat machen, der durch Beigabe einer ausreichenden Portion Rucola eine leicht bittere Note bekommen würde.

Als Rumpler mit seinen Einkäufen nach Hause kam, kam ihm Rosamunde entgegen. Ähnlich wie die englische Königin, die durch die Position ihrer Handtasche ihrer Entourage jeweils signalisierte, ob sie amused oder not amused sei, verstand es Rosamunde, wenn es ihr denn beliebte, ihre Zufriedenheit oder Unzufriedenheit durch ihre Körpersprache auszudrücken. Faschiertes Rindfleisch hatte es lange nicht gegeben, Rosamunde war sichtbar amused. Um das Faschierte für sie noch besser verträglich zu machen, briet Rumpler ihre Portion in einer beschichteten Pfanne leicht an und stellte dann ihren Napf nach einer sorgfältigen Temperaturkontrolle auf den Boden. Bis er seine zwei Fleischsorten überhaupt nur vermengt hatte, war ihre Mahlzeit bereits beendet und sie putzte sich den Bart.

Rumpler genoss es, als Pensionist ausreichend Zeit für eine sorgfältige Zubereitung seines Essens zu haben. Erst als er in aller Ruhe gekocht und gegessen und einige überzählige faschierte Laibchen für die nächsten Tage als kalte Jause im Kühlschrank verstaut hatte, ging er mit einem kleinen Espresso als Stärkung ins Wohnzimmer, setzte sich in seinen Fauteuil und starrte ins Leere. Als er mit Genuss den ersten Schluck machte, sah er auf den von seiner Großmutter geerbten Jugendstilschrank, stellte die Tasse ab und öffnete die Schranktür. Sofort wurde er von seiner beruflichen Vergangenheit eingeholt. Eine ganze Reihe von Moleskine-Notizbüchern, fast alle mit fortlaufenden Nummern versehen, lagen vor ihm und jedes dieser Notizbücher erzählte seine eigene Geschichte, häufig von Dummheit, viel seltener von großer Intelligenz, öfters von seltsamen Zufällen und immer von Mord. Zwei oder drei leere Bücher waren auch noch da und eines davon nahm Rumpler zur Hand, schlug es auf und schrieb als eine Art Leitmotiv das Wort Augustin hinein. So genau Rumpler dieses Ritual des Büchereröffnens auch kannte, war er doch jedes Mal, wenn er ein neues Notizbuch aufschlug, in einer zwar nicht aufgeregten, aber doch sehr aufmerksamen, beinahe hellsichtigen Verfassung, wohl weil er wusste, dass er jetzt einen Schritt gesetzt hatte, dem ein ganzer Weg folgen musste, mit aller Konsequenz, bis zum Ende.

Während er so dasaß, die großen Hände mit den langen, kräftigen Fingern auf dem Buch, kam Rosamunde und strich ihm um die Beine. Er machte ihr zunächst eine kleine Kopfmassage und strich ihr dann sanft über den Rücken.

„Es geht wieder los, Alte.“

Sie sprang mit überraschender Gelenkigkeit auf einen Sessel und von dort auf ihren traditionellen Liegeplatz, den ihr Rumpler auf dem Fensterbrett zwischen seinen prächtigen Orchideen freigelassen hatte, und schenkte ihm einen undurchdringlichen Blick.

*

3.

Für den nächsten Tag, einen Samstag, erwartete Rumpler Besuch. Einer seiner Waldviertler Verwandten hatte sich angesagt, ein entfernter Großcousin. Er würde nach Wien kommen, um seinem etwa sechs oder sieben Jahre alten Buben Schönbrunn zu zeigen. Rumpler hatte vorgeschlagen, gemeinsam den Tiergarten zu besuchen, und er hatte die beiden anschließend zu einer Jause in seine Wohnung eingeladen.

Als sie einander wie vereinbart am Samstag um elf Uhr im Kassenbereich des Tiergartens trafen, bereute Rumpler seine Einladung sofort wieder, so unruhig und quengelig war der Bub, der auf den nicht sehr waldviertlerischen Namen Kevin getauft war. Im Tiergarten klopfte Kevin trotz der gut sichtbaren Verbotshinweise im Aquarien- und auch im Terrarienhaus heftig gegen die Scheiben, wobei er die halbherzig vorgebrachten Ermahnungen seines Vaters komplett ignorierte und wütend wurde, dass er die Affen wegen des allgemeinen Fütterungsverbots nicht füttern durfte. Vom Tiger war er enttäuscht, weil er nicht brüllte.

Rumplers ganze Hoffnung richtete sich darauf, dass der Tiergartenbesuch den Buben ermüden und damit erträglicher machen würde, was sich aber als Trugschluss erwies. Kaum waren sie in Rumplers Wohnung eingelangt, als der Bub auch schon von seinem Vater eine neue Beschäftigung verlangte.

Dieser blickte Rumpler etwas hilflos an und meinte: „Er is ja so gscheit, der Kevin.“

Rosamunde, die die Kunst des spurlosen Verschwindens beherrschte, hatte die Lage sofort richtig eingeschätzt und gab eine Probe ihres Könnens. Rumpler beneidete sie glühend. Schließlich brachte er ohne viel Hoffnung einen Zeichenblock und einen schwarzen Filzstift zum Vorschein, Buntstifte hatte er leider nicht vorrätig, und er schlug Kevin vor, eine Zeichnung zu machen, was dieser zu seinem Erstaunen anstandslos akzeptierte. Das gab Rumpler die Gelegenheit, sich in die Küche zurückzuziehen und die versprochene Jause zu richten.

Als er schließlich einige Brötchen und einen Marmorgugelhupf ins Wohnzimmer brachte, war es mit Kevins Ruhe plötzlich vorbei. Der Bub schrie auf wie am Spieß: „Jetzt is die Zeichnung hin. Hin, hin, hin. Dein blödes Handy is schuld.“

Tatsächlich hatte sein Vater sein Mobiltelefon neben ihm abgelegt, es hatte plötzlich geläutet, Kevin war deshalb zusammengezuckt und hatte die Zeichnung ruiniert. Sein Vater bemühte sich, ihn vom Gegenteil zu überzeugen, was aber nichts half, sondern Kevins Wut nur noch steigerte.

„Der blöde Stift is mir ausgrutscht wegen dem Handy. Der Strich da vorm Haus gehört weg.“

Rumpler warf einen vorsichtigen Blick auf das Blatt und sah ein typisches Kinderzeichnungs-Haus mit einem Tor in der Mitte, zwei Fenstern links und rechts davon und einem steilen Giebeldach, aus dessen Rauchfang korkenzieherartig gewundener Rauch aufstieg. Direkt vor dem Haus war ein kräftiger, annähernd senkrechter Strich, der dort ganz offensichtlich nicht hingehörte.

„Das ham wir gleich“, sagte der Vater plötzlich mit unerwarteter Zuversicht, „wir machen einfach einen Zaun draus.“

Während ihn Kevin ungläubig anstarrte, hatte der Vater neben den missratenen Strich eine ganze Reihe paralleler Striche gesetzt, die mit etwas Fantasie tatsächlich als Zaunlatten durchgehen konnten. Während Rumpler noch mit einem neuerlichen Wutausbruch Kevins rechnete, sagte er anerkennend: „Das mit dem Zaun habts ihr aber ganz toll hingekriegt.“

Kevin legte seinen Kopf schief, sah Rumpler für kurze Zeit prüfend an und sagte dann für diesen völlig überraschend: „Ich schenk dir die Zeichnung.“

Rumpler atmete auf, bedankte sich höflich und holte rasch, um das Geschenk entsprechend zu würdigen, einen alten leeren Fotorahmen aus seinem Schreibtisch und platzierte das Bild im Rahmen. Die nunmehr gerahmte Zeichnung stellte er auf seinen Schreibtisch.

„Jetzt kannst sie immer anschauen“, meinte Kevin zufrieden und wandte sich sofort einem neuen Thema zu, indem er seinem Vater klarmachte, dass es hoch an der Zeit wäre, den McDonalds, ganz so, als ob es nur einen einzigen gäbe, zu besuchen. Rumpler war weit davon entfernt, die Missachtung seiner liebevoll gerichteten Jause zu bedauern, und riet Kevin, einen extra großen Burger zu bestellen, was dieser auch gerne versprach. Vater und Sohn hatten es plötzlich mit ihrem Aufbruch sehr eilig und schon nach wenigen Minuten herrschte in Rumplers Wohnung wieder eine selige Ruhe.

Er atmete durch. Nachdem seine verstorbene Frau Elsa und er kinderlos geblieben waren, hatte er oft eine unbestimmte Sehnsucht nach Kindern, aber jetzt fragte er sich doch, ob ihm diese Kinderlosigkeit nicht vielleicht auch viel erspart hatte. Während er kurz überlegte, Kevins Zeichnung wieder von seinem Schreibtisch zu verbannen, erschien plötzlich, wie bei einem Zaubertrick, Rosamunde quasi aus der dünnen Luft, forderte vehement ihr Futter – und so blieb die Zeichnung, wo sie war.

*

4.

Am darauf folgenden Montagnachmittag saß Rumpler mit Ferdl und Leni in der Schwarzen Krot, einem Beisel, das diese Bezeichnung tatsächlich noch verdiente und auch Obdachlose als Gäste anstandslos akzeptierte, sofern sie auf ihre Sauberkeit achteten und nicht alkoholisiert waren. Auf Rumplers Einladung hin hatte Ferdl nur gemeint: „Bist halt wieder im Dienst, weils ned weiterkommen, deine Kollegen“, und hatte mit diesem Kommentar ziemlich ins Schwarze getroffen.

Ferdl hatte eine Blunzen mit Kraut und Erdäpfeln bestellt und Rumpler, der die einfache, aber grundsolide Küche der Schwarzen Krot kannte und schätzte, schloss sich an. Nachdem Alkohol für Ferdl ein absolutes Tabu war, verzichtete Rumpler mit leisem Bedauern auf den reschen Grünen Veltliner, der in der Krot als Hauswein ausgeschenkt wurde, und ließ sich einen großen Apfelsaft, gespritzt mit Leitungswasser, bringen. Für Leni hatte Rumpler bei der Köchin unter Einsatz seines ganzen Charmes und seiner braunen Augen einen ordentlichen Kalbsknochen herausverhandelt, den sie unter dem Tisch mit großem Behagen und dank ihres kräftigen Gebisses auch mühelos bearbeitete. Ferdl sah zufrieden auf seine Leni, während sie nur ganz kurz aufblickte, um dann umso kräftiger mit ihrem Werk fortzufahren. Als die Herren ihre respektablen Portionen schließlich fertig gegessen hatten, bestellte Rumpler noch Kaffee. Ferdl nahm ein großes Häferl mit Filterkaffee, Rumpler einen Espresso, wobei er wohl nicht zu Unrecht in der winzigen Schale das gleiche Gebräu vermutete, das Ferdl trank.

Dieser stellte sein Häferl ab. Jetzt war es Zeit zum Reden. „Was willst wissen, Hans?“

„Hast vielleicht von den drei, die umbracht worden sind, wen näher gekannt?“

„Am öftesten hab ich noch den Heinzi Schummer gesehen, immer gemeinsam mit dem Rudi Schätter. Den zweiten, er hat, glaub ich, Mirko geheißen, hab ich gar nicht gekannt, aber den dritten ham wir alle gekannt, du sicher auch, den Totenvogel.“ Ferdl sprach dieses Wort auf eine ganz spezielle, sehr weiche Art aus, sodass es wie Doudenvougl klang. „Ich weiß gar net, wie er richtig geheißen hat, aber wir ham alle Totenvogel zu ihm gsagt.“

Rumpler erinnerte sich sehr gut an den Totenvogel, einen etwa sechzig Jahre alten, großen, mageren, vornübergebeugten Mann mit einem kleinen, vollkommen kahlen Kopf, der auf einem seltsam nach vorne verschobenen Hals saß. Auf Wunsch seines jeweiligen Publikums hatte der Totenvogel, meist im Austausch gegen eine Zigarette, weit ausladende, langsame Flügelschläge gezeigt, indem er seine überlangen dürren Arme auf und ab bewegte, dazu auch öfters einmal ein paar Schritte oder eigentlich Hüpfer, wie man sie von Geiern her kennt, die sich mit besonderer Vorsicht einem Stück Aas nähern. Im Gegensatz zu seinem gruseligen Aussehen war der Totenvogel ein ausgesprochen friedlicher, netter Mann gewesen, mit einem sehr sanften Lächeln und einer unendlichen Langmut.

„Den Totenvogel hättens nicht derschlagen dürfen“, sagte Ferdl und fügte leise, fast flüsternd hinzu „Den Tod kannst doch ned umbringen.“

Rumpler nickte zustimmend. Er glaubte zu verstehen, was Ferdl meinte. Der Totenvogel war eine Institution gewesen, kraft seines Amtes als eine Art Bote des Todes ebenso unsterblich wie dieser – und in diese unverbrüchliche Ordnung hatte ein Mörder eingegriffen.

„Alsdann, was willst wissen, Hans?“

„Hast vielleicht was gehört, ob einer von euch was gsehen hat, aber mit der Polizei net redt?“

„Das hab ich dir eh schon gsagt, am ehesten der Rudi Schätter. Er is ja immer mit dem Schummer Heinzi mitgangen, und der wollt ihn dann nicht fortschicken, auch wenn ihm der Rudi mit seinen Kasperlgeschichten ganz ordentlich auf die Nerven gangen is. Der Rudi is immer auf ihm draufpickt. Es würd mich sehr wundern, wenn der Rudi nicht in der Näh gwesen wär, wie’s den Heinzi umbracht ham. Aber er is halt komisch, der Rudi, seit dem Mord angeblich noch mehr wie vorher. Da kannst nicht wissen, ob er was erzählt, was er gsehn hat, oder ob er was erfindet. Er bringt einfach keinen graden Satz heraus.“

„Ich hab ghört, er is jetzt am Steinhof in der Psychiatrie.“

„Ja, da geht er wenigstens nicht ganz vor die Hund, weil ohne den Heinzi wärs aus mit ihm. Ich glaub, er würd sich über deinen Besuch freuen.“

„Ich probiers. Mehr als schiefgehn kanns nicht.“

Unter dem Tisch ertönten mittlerweile leicht sägende Schnarchgeräusche.

„Jetzt schlafts, die Leni“, sagte Ferdl zufrieden.

„Ein guter Hund“ bestätigte Rumpler und fügte, etwas besorgt: „Pass gut auf dich auf, Ferdl“, hinzu.

„Eh klar. Mir passiert schon nix. Außerdem hab ich die Leni.“