Löwenfisch - Rudolf Trink - E-Book

Löwenfisch E-Book

Rudolf Trink

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Beschreibung

Anton Zargl, ein selbst ernannter Enthüllungsjournalist, stürzt auf einer Bergtour tödlich ab. Knapp vor seinem Tod hat er die IT-Spezialistin Sonja um Hilfe gebeten. Zargl hat über beschlagnahmte Drogen recherchiert, die illegal wieder in Verkehr gesetzt werden. Nachdem dabei angeblich höchste Beamtenkreise die Finger im Spiel haben, sind offizielle Untersuchungen kaum möglich. Als sich der pensionierte Kriminalist Johann Rumpler an einen ehemaligen Kollegen um Hilfe wendet, stellt ihm dieser einen von Todessehnsucht erfüllten Polizisten, den so genannten Vorsterber zur Seite. Bei einem Treffen im Waldviertel verschwimmen für Rumpler plötzlich die Grenzen zwischen Freund und Feind und er muss befürchten, in eine teuflische Falle geraten zu sein.

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Seitenzahl: 314

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Löwenfisch

Ein Rumpler Rosamunde-Krimi

Rudolf Trink

o

Impressum:

Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

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© 2020 – Herzsprung-Verlag

Mühlstraße 10, 88085 Langenargen

Alle Rechte vorbehalten.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.

Lektorat + Herstellung: CAT creativ - cat-creativ.at

Bildnachweis Cover: © JeanLuc Ichard - Adobe Stock lizenziert

Katze: Rudolf Trink

ISBN: 978-3-96074-377-4 – Taschenbuch

ISBN: 978-3-96074-378-1 – E-Book

*

Inhalt

PROLOG

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

16.

17.

18.

19.

20.

21.

22.

23.

24.

25.

26.

27.

28.

29.

30.

31.

32.

33.

34.

35.

36.

37.

38.

39.

Epilog

Der Autor

Buchtipp

Impressum

*

FÜR ANNA B.

IN RESPEKT UND DANKBARKEIT.

Absolute Sicherheit ist eine Illusion.

Wer sie erzwingen will, scheitert.

Und zwar mit Sicherheit.

*

PROLOG

Das Mobiltelefon zeigte eine unterdrückte Nummer. Es läutete zunächst drei Mal, dann vier Mal. Das vereinbarte Zeichen. Beim nächsten Läuten hob er sofort ab.

„Ja?“

„Ich soll anrufen, wenn sich was tut. Sie sind wieder da. In der Imbissstube.“

„Irgendwas anders als sonst?“

„Ja. Diesmal ist ein Dritter dazugekommen.“

„Hast du ihn schon einmal gesehen?“

„Nein, noch nie. Aber ich hab sein Autokennzeichen. Er ist so ein Nervöser, Schusseliger. Er war schon im Lokal, hat aber noch was im Auto vergessen, das ganz in der Nähe abgestellt war. Ich bin ihm rasch nachgegangen. Er muss ein Journalist sein. Im Auto war eine Pressekarte.“

„Autokennzeichen?“

Er notierte die Buchstaben-Ziffernkombination.

„Du hast was gut bei mir.“

Er legte auf. Ein Journalist also. Der Ernstfall war eingetreten, auf den er sich so sorgfältig vorbereitet hatte. Er griff wieder zum Telefon und legte es erst weg, als das Räderwerk in Gang gesetzt war. Unwiderruflich.

*

1.

Herbert Eisenreh war nervös. Die letzten Wochen hatten an seinen Nerven gezehrt. Er brauchte seinen Job. Immer hatte er gedacht, er wäre für den Chef unentbehrlich. Plötzlich war dann der Neue aufgetaucht, vom Chef persönlich in die Firma geholt. Trotz seines Ärgers hätte er dem Chef nicht drohen sollen, aber das war nicht mehr zu ändern. Und jetzt noch dieser verfluchte Auftrag. Eine Zustellung bei Nacht und starkem Regen, in einer gottverlassenen Gegend. Eisenreh fuhr vorsichtig. Zu langsam durfte er aber auch nicht sein, weil er für die Übergabe eine genaue Zeitangabe bekommen hatte. Eine Ungenauigkeit konnte er sich bei seinen Kunden nicht leisten. Nur noch acht Kilometer. Der Asphalt glänzte tückisch, manchmal kam der Wagen leicht ins Rutschen. Gegenverkehr gab es zum Glück keinen.

Plötzlich hatte er vor seinem inneren Auge das Bild eines Autounfalls, ein völlig zertrümmertes Wrack. Eisenreh riss sich zusammen. Er wusste, dass er in Gefahr war, aber er durfte sich nicht gehen lassen. Er hatte noch etwas zu erledigen. Ein Gedanke beruhigte ihn. Falls ihm wirklich etwas zustoßen sollte, war da immer noch sein Freund, der Fuchsl, dem er das Dokument mit seiner Geschichte gezeigt hatte. Der Fuchsl hatte diesen Journalisten mitgebracht und der würde dafür sorgen …

Verdammt! Wieder eine enge Kurve. Dann plötzlich, aus dem Nichts, diese entsetzlich starken Scheinwerfer, direkt vor ihm. Unwillkürlich schloss er wegen der unerträglichen Helligkeit die Augen und verriss den Wagen so stark nach rechts, dass er gegen die Leitschiene knallte, sie halb durchbrach und an der Kante zwischen Böschung und Steilhang hängen blieb. Noch bevor Eisenreh überhaupt realisiert hatte, was geschehen war, spürte er, wie sein Wagen sich wieder in Bewegung setzte, mit unwiderstehlicher Gewalt über die Kante geschoben wurde und den dahinter liegenden Steilhang hinabstürzte. Ein Gedanke an seine Schwester zuckte durch sein Hirn, dann war alles dunkel.

Der schwere Geländewagen oben auf der Straße wendete, der Fahrer leuchtete mit einem starken Suchscheinwerfer in die Tiefe und sah schließlich das auf dem Dach liegende völlig zertrümmerte Wrack. Erledigt. Er entfernte die an der mächtigen Stoßstange seines Wagens festgezurrten dicken Gummimatten, verstaute sie im Kofferraum und verließ den Unfallort.

Als der Unfallwagen am nächsten Tag entdeckt und die Leiche des Lenkers ärztlich untersucht wurde, war der entsprechende Drogentest positiv. Hinweise auf Fremdverschulden gab es keine. Somit wurde Herbert Eisenreh als einer der zahlreichen Verkehrstoten des laufenden Jahres zunächst zu den Akten und schließlich zu Grabe gelegt.

Reinhard Pritzler war glücklich, zum ersten Mal seit langer Zeit. Er fühlte sich stark genug, von dem Zeug wegzukommen, und er würde mit dem Berti nach Afrika reisen. Endlich hatten sie Geld, von dem Journalisten, der dem Berti seine Geschichte abgekauft hatte, und sie würden noch mehr Geld bekommen, wenn sie veröffentlicht war. Genug für eine richtige Safari, mit den big five – Löwen, Leoparden, Büffeln … Schon vor Jahren hatten sie sich in einem Geschäft, das auf Abenteuerreisen spezialisiert war, einzelne Ausrüstungsgegenstände gekauft: Tropenhelme, Moskitonetze, ein Fahrtenmesser, einen Kompass. Er holte die Sachen aus seinem Kasten, legte sie neben sich aufs Bett und befühlte sie mit seiner Rechten. Sie waren ihm völlig vertraut, die Farben und Formen, jede kleine Unebenheit, die Beschaffenheit der Oberflächen. Unzählige Male hatte er dieses Ritual schon durchlaufen. Gleichzeitig fiel sein Blick wie zufällig auf den kleinen Beistelltisch, auf den er die Spritze gelegt hatte. Eigentlich hätte er sie gleich wegwerfen sollen, aber so war es ja noch besser. Endlich konnte er sich selbst wirklich beweisen, dass er es ernst meinte. Sein Verkäufer hatte ihm heute das Zeug angeboten wie jedes Mal, und als er ihm erklärt hatte, er habe nicht genug Geld, hatte er ihm eine Spritze geschenkt. Er hatte das nicht erwartet. Eigentlich nett von ihm. Aber nicht notwendig. Obwohl … nach den Aufregungen der letzten Zeit hatte er sich eine kleine Entspannung verdient und es gab einen Grund zum Feiern. Dieses eine Mal würde ihn schon nicht umbringen. Er griff nach der Spritze, setzte sich die Nadel an den Arm, zögerte noch kurz und fühlte dann, wie sie eindrang. Ein vertrautes, wohliges Gefühl breitete sich in ihm aus. Herrlich würden sie sein, die Abende in Afrika, gemeinsam mit dem Berti, mit unglaublichen Sonnenuntergängen, die die Savanne in allen Farben aufleuchten ließen. Plötzlich fühlte er eine heftige Übelkeit. Die Sonne leuchtete immer stärker, erst orange, dann blutrot, sie begann zu kreisen, schneller und schneller und wurde schließlich grellweiß. Pritzlers Traum riss ab.

Der nächtliche Besucher öffnete ohne Beschädigung und beinahe lautlos das technisch schwache Schloss der Wohnungstür. Er sah sich kurz um, nahm Pritzlers schlaff herabhängende Linke in die latexbehandschuhte Hand und fühlte seinen Puls. Es hatte geklappt. Kein weiterer Handlungsbedarf, nur noch eine Erfolgsmeldung an den Chef.

Anton Zargl atmete auf. Geschafft. Er war schon länger nicht auf der Rax gewesen und der Aufstieg war doch anstrengender gewesen, als erwartet. Endlich hatte er die unangenehme Stelle mit dem seltsamen Namen Teufels Badstuben und mit ihr auch seine Sorgen hinter sich gelassen. Während des Aufstiegs hatten sie ihn noch gequält, er hatte an seinem Erfolg gezweifelt, obwohl oder sogar weil die Geschichte, an der er dran war, einfach großartig war, für einen Journalisten eine Gelegenheit, wie man sie wohl nur einmal im Leben bekam. Vielleicht zu groß für ihn, wie der riesige Marlin, der für den alten Fischer in Hemingways Der alte Mann und das Meer eine zu große Beute gewesen war. Jetzt war plötzlich alles anders, die Zweifel waren verflogen. Ihm war klar, er würde es schaffen. In seinem Kopf war der Artikel schon fertig und Zargl malte sich aus, wie er, der so oft von den Kollegen mitleidig belächelt worden war, sie alle überflügeln würde. Die Kurzatmigkeit, die ihm zuvor noch zu schaffen gemacht hatte, war wie weggeblasen. Oben am Grat angekommen, genoss er den freien Blick. Er fühlte sich unbesiegbar. Allen würde er es zeigen, allen. Er musste diesen wunderbaren Moment mit einem Foto festhalten.

Zargl hörte noch das schwache Geräusch hinter sich, konnte es aber nicht zuordnen. Als er sich umdrehen wollte, war es schon zu spät. Der wuchtige Stoß traf ihn genau zwischen den Schulterblättern und ließ ihn ins Bodenlose stürzen.

Der Angreifer zog einen Feldstecher aus dem Rucksack. Zargls zerschmetterter Kopf stand in einem völlig unnatürlichen Winkel zu seinen Schultern. Es hatte bestens geklappt. Jetzt war auch der Dritte tot und damit die Gefahr gebannt. Obwohl – da waren noch die Frauen. Die Schwester vom Eisenreh konnte was wissen und vielleicht auch die andere. Er würde sich darum kümmern.

*

2.

Es dauerte bereits über eine Stunde. Für einen kleinen Eingriff eigentlich viel zu lange. Vielleicht hatte es Komplikationen bei der Narkose gegeben. Johann Rumpler, während seiner Dienstzeit als stellvertretender Leiter der Mordkommission berühmt für seine eisernen Nerven, spürte, wie sich Angst in ihm breitmachte. Er hatte sich lange gegen die Operation gesträubt und war erst nach längerem Zureden von ihrer Sinnhaftigkeit überzeugt worden. Endlich. Die Tür, die von der Ordination ins Wartezimmer führte, ging auf und die Blicke sämtlicher Wartenden richteten sich auf die junge Tierärztin.

„Alles in Ordnung, Herr Rumpler. Der Zahn war nur ein bissl schwierig zu entfernen, weil er zerbrochen ist, aber letztlich hat alles gut geklappt. Sie ist jetzt noch in Narkose und wird in einer halben Stunde aufwachen.“

Rumpler strahlte die Tierärztin aufgrund der guten Nachricht an wie eine Lichtgestalt. „Danke. Vielen Dank. Ich bin so froh, dass alles gut gegangen ist.“

Die Besucher des Wartezimmers zeigten das übliche tiefe Verständnis einer kleinen, schicksalhaft zusammengeführten Gemeinschaft, hatten doch so gut wie alle von ihnen schon ähnliche Sorgen durchgestanden, um einen Hasso etwa oder eine Senta, vielleicht den Hamster Ramses oder die Schildkröte Thusnelda oder eben, wie im gegenständlichen Fall, um eine ältere Katze namens Rosamunde.

Während der Heimfahrt lag sie noch ganz benommen in ihrem von Rumpler sorgfältig mit weichen Tüchern ausgepolsterten Transportbehälter und nahm kaum wahr, was er ihr zu sagen hatte.

„Bist eine tüchtige Maus. Gut gemacht. Hast es wieder geschafft, Alte. Später gibt’s dann ein Futter.“

Als er mit ihr leicht schnaufend in seiner im zweiten Stock – ohne Lift – gelegenen Altbauwohnung in der Josefstadt angekommen war, legte er zunächst sein Wohnzimmer mit Decken und Polstern aus, damit sie sich noch unter Einwirkung der Narkose nicht etwa an seinen Möbeln stieß. Ihre ersten Schritte waren tapsig und taumelig wie die eines späten Heurigen-Heimkehrers. Nach ungefähr einer Stunde, während der sie auch immer wieder Ruhepausen eingelegt hatte, ging sie bereits ziemlich sicher und nach drei Stunden erklomm sie mithilfe des stabilen Kartons, den ihr Rumpler als Aufstiegshilfe zu seinem Schreibtisch gestellt hatte, dieses Möbel und forderte von dem erhöhten Platz aus lautstark eine Mahlzeit.

Rumpler strahlte. Zur Feier des Tages richtete er ihr eine kleine Portion fein aufgeschnittenen Schinken. Sie fraß ihn zu seiner großen Freude nicht nur mit gutem Appetit, sondern auch ohne sichtbare Vorsichtsmaßnahmen. In den letzten Wochen hatte sie beim Fressen den Kopf etwas schief gehalten, das Kauen wegen des schmerzenden Zahns immer wieder unterbrochen und manchmal ihr Futter sogar einfach stehen lassen, ein für Rosamunde unerhörter Vorgang. Rumpler kannte sie nämlich eigentlich nur heißhungrig noch aus der Zeit, als er sie als verwahrloste Streunerin in Kärnten gefunden hatte oder genau genommen sie ihn, um bei der Wahrheit zu bleiben. Damals hatte Rumplers Frau Elsa noch gelebt und sie war dabei gewesen, als Rosamunde auf einer längeren Wanderung in den einsamen Wäldern der Wimitz, die von manchen der Einheimischen auch das Tal der Gesetzlosen genannt wird, weit entfernt von jeder menschlichen Behausung, plötzlich zerzaust und miauend vor ihnen gestanden war. Elsa hatte sofort mit der völlig verwahrlosten Katze gesprochen und sich um sie gekümmert, während Rumpler sich zunächst sehr zurückgehalten hatte. Wie sich aber schnell herausstellte, hatte Rosamunde, die damals für ihn noch eine namenlose Katze gewesen war, ihn höchstpersönlich zu ihrem Lebensmenschen erwählt und ihm das nach kurzer Zeit auch unmissverständlich klargemacht.

Während diese Erinnerungen durch Rumplers Kopf zogen, inspizierte er seinen Kühlschrank auf der Suche nach einer Kleinigkeit für sich selbst. Die bevorstehende Operation hatte sich ihm auf den Magen geschlagen und er hatte, abgesehen von einem Kaffee zur Frühstückszeit, untertags überhaupt nichts zu sich genommen. Umso größer war jetzt am frühen Abend sein Appetit. Er fand einige mit Schafskäse gefüllte Oliven, drei Blatt Prosciutto und ein kleines Stück Parmesan. Dazu öffnete er eine Flasche eines schweren Deutschkreuzer Rotweins, den ihm ein befreundeter Münzhändler unlängst anlässlich eines Besuchs mitgebracht hatte, schenkte aber noch nicht ein, um ihn etwas zu belüften. Während Rumpler seine kleine Mahlzeit in der Küche genoss, hatte sich Rosamunde bereits ins Wohnzimmer begeben, auf den ihr vorbehaltenen Liegeplatz zwischen seinen prachtvollen Orchideen. Nach dem Essen übersiedelte er mit dem Wein zu ihr, füllte sein Glas, hielt es gegen das Licht und beschaute und beroch seinen Wein mit größter Sorgfalt. Schließlich hob er das Glas und trank auf Alma, die vor etwa drei Jahren aufregend und beruhigend zugleich in sein Leben getreten war, und natürlich auf seine Rosamunde.

„Schön, dass es dir wieder gut geht, Maus.“

Rosamunde fand das auch.

*

3.

Am nächsten Morgen machte Rumpler wie gewohnt einen ausgiebigen Spaziergang im Volksgarten. Es war ein klarer Frühsommertag und die unzähligen Rosenstöcke mit ihren vielversprechenden Knospen erzählten ihm ihre Geschichten, durch die liebevoll und sorgfältig gestalteten Widmungstafeln, die an ihren Stützen angebracht waren. Auch der Tempel des Theseus, jenes griechischen Helden, der den stierköpfigen Minotaurus in seinem Labyrinth aufgespürt und getötet hatte, sprach zu ihm. Vordergründig betrachtet war die Sage denkbar einfach – ein Held begegnete einem Ungeheuer und tötete es. In seinem Inneren fühlte Rumpler aber, dass das nicht die eigentliche Geschichte war, sondern dass darunter noch etwas anderes war, in viel tieferen Schichten, etwas ebenso Faszinierendes wie Bedrohliches. Der Minotaurus, halb Tier, halb Mensch, stand für das Animalische und war wohl genau deshalb eingesperrt worden. Wer sich also auf den Weg ins Labyrinth machte, um den Minotaurus zu treffen, der musste damit rechnen, einem weggesperrten Stück von sich selbst zu begegnen. Aber auch weggesperrt stimmte nicht ganz. Das Labyrinth war ja kein Gefängnis, sondern ein kunstvoll angelegter Irrgarten. Er war offen und trotzdem konnte man ihm nicht entrinnen. Zumindest nicht aus eigener Kraft – es bedurfte dazu der Hilfe einer Frau – Ariadne, die den richtigen Weg wies. Oftmals, wenn Rumpler es mit einem neuen Fall zu tun bekommen hatte, hatte er wohl unbewusst den Theseustempel aufgesucht, vielleicht um sich klar darüber zu werden, dass von jedem einzelnen der Mörder, die er auf verschlungenen Wegen verfolgte, immer auch in ihm selbst etwas enthalten war, das ihn gleichermaßen erschreckte und faszinierte.

Dem Denkmal des von ihm hochgeschätzten Franz Grillparzer stattete er ebenfalls einen kurzen Besuch ab, quasi als Gegengewicht, verließ dann den Volksgarten und erreichte schließlich nach einem flotten Marsch über die sogenannte Zweierlinie die Mariahilfer Straße. Er ging die breit angelegten Stiegen der sehr kurzen Rahlgasse hinunter und dabei fielen ihm die in seiner Kinderzeit alljährlich wiederkehrenden Besuche der Wiener Verkehrsbetriebe ein, bei denen dort nach langem Warten und unter großem Gedränge und Geschrei die Schülerfreifahrt-Ausweise abzuholen gewesen waren. Als er schließlich das Café Sperl erreichte, war er von seinem Spaziergang bereits ziemlich hungrig. Die Kellnerin, Frau Maria, ließ ihm Zeit, sich in Ruhe einen Tisch auszusuchen und zu setzen.

„Melange und zwei Buttersemmeln wie immer, Herr Kommissar?“

„Ja, bitte, aber dazu noch eine Eierspeis von zwei Eiern. Ich hab heut einen ordentlichen Hunger.“

„Kommt sofort.“

Er blickte ihr nach, beeindruckt, wie sie es schaffte, sich so flink zu bewegen, ohne jemals hastig zu wirken. Rumpler atmete auf. Endlich angekommen. Das Café Sperl war für ihn ein großer Rückhalt, quasi sein zweites Wohnzimmer, seit über dreißig Jahren. Hier hatte er Pläne geschmiedet, Fälle analysiert, andere Gäste beobachtet, ihnen gelegentlich beim Billardspiel zugesehen und sehr oft, wie auch jetzt, einfach nur in die Luft geschaut, in das sogenannte, für ihn unentbehrliche Narrenkastl.

Während er auf sein Frühstück wartete, wurde ihm wieder einmal bewusst, dass er rundum zufrieden war, eigentlich mit allem. Dank seiner gesunden Konstitution und seines disziplinierten täglichen Trainings war er für einen Mittsechziger körperlich bemerkenswert gut in Schuss, etwas über mittelgroß, stark, aber nicht zu schwer gebaut, mit sehr kräftigem weiß-grau gesprenkeltem Haar, das sich ohne Hilfe eines Friseurs nur schwer bändigen ließ. Über die Wirkung seiner braunen Augen auf das weibliche Geschlecht staunte Rumpler immer noch, obwohl sie ihn bereits seit vielen Jahrzehnten begleitete. Auf Männer wirkte er meistens seriös, während Frauen häufig das Bedürfnis verspürten, ihm Dinge anzuvertrauen. Das hatte ihm während seiner beruflichen Laufbahn bei der Mordkommission immer wieder geholfen. Was Rumpler jedoch nicht wusste, ja nicht einmal ahnte, war die Tatsache, dass er einen noch größeren Teil seiner Attraktivität für andere Menschen seinen Händen verdankte, großen, kräftigen Händen mit langen Fingern. Wenn er sprach, unterstützte er seine Worte mit Gesten, die natürlich und ausdrucksstark waren, kräftig und sensibel zugleich. Dazu kamen seine zurückhaltende Art und seine Sorgfalt beim Zuhören, die dazu führten, dass er im Lauf der Zeit jede Menge Angebote bekommen hatte. Dass sie ihn nicht zu sehr in Unruhe versetzt hatten, war an den zwei wirklich wichtigen Frauen in seinem Leben gelegen, an der bereits verstorbenen Elsa und an Alma, seiner neuen Liebe. Alma war sensibel, stark und verletzlich zugleich, verbunden mit einer unglaublichen Präsenz. Obwohl sie von Beruf Ärztin war, sah er sie eigentlich immer nur als Tänzerin, weil sie sich so perfekt bewegte.

Um irgendeine Wolke auf Rumplers heiterem Himmel zu finden, hätte man vielleicht auf seine Kinderlosigkeit verweisen können, aber Sabine, die junge Witwe seines Neffen Karl, hatte vor knapp einem Jahr ein entzückendes Mädchen zur Welt gebracht, sodass er sich beinahe als Großvater fühlen konnte. Nein, ihm fehlte wirklich überhaupt nichts, auch finanziell war er dank einer größeren Erbschaft sehr gut abgesichert. Trotzdem war er während des Wartens im Sperl nicht glücklich, sondern irritiert darüber, dass er doch eigentlich glücklich sein müsste, bei all dem Schönen, das ihm widerfuhr. Immerhin war er aber alt und erfahren genug, sich nicht gegen diese aufkeimende Unzufriedenheit zur Wehr zu setzen. Kaum hatte er nämlich begonnen, sie mit Interesse zu betrachten, als ihm auch schon bewusst wurde, was ihm fehlte. Er war ein Jagdhund, ein ziemlich alter, keine Frage, aber eben doch ein Jagdhund, dem das Jagen im Lauf der Zeit abhandengekommen war. Seine Gedanken wanderten in sein Wohnzimmer, dorthin, wo der von seiner Großmutter geerbte Jugendstilschrank mit seinen filigranen Schnitzereien und den schönen Messingbeschlägen stand. In ihm ruhten zahlreiche Moleskine-Notizbücher mit den persönlichen Aufzeichnungen zu allen seinen Fällen und es war gut möglich, ja sogar höchst wahrscheinlich, dass kein Buch mit einem neuen Fall hinzukommen würde. Aus und vorbei.

Frau Maria, die ihm sein Frühstück brachte, sah ihn von der Seite her an. „Alles in Ordnung, Herr Kommissar?“

„Passt schon, Frau Maria.“

„Ja, das Älterwerden ist manchmal ein Hund. Auch wenn alles passt. Ich weiß, wovon ich red.“

Volltreffer.

„Da haben S‘ Recht, Frau Maria.“

Eben, als Rumpler begann, sich seinem Frühstück zu widmen, läutete sein Mobiltelefon mit jenem nur ganz kurzen Signalton, der das Einlangen einer SMS anzeigte. Sonja, Almas Tochter, bat ihn um einen Rückruf. Das überraschte ihn ein wenig. Normalerweise war das nämlich immer umgekehrt gewesen. Rumpler hatte schon öfters ihre Hilfe in Anspruch genommen. Als IT-Spezialistin hatte sie für ihn bei Bedarf die Tür zu einer ihm sonst verschlossenen Welt öffnen können. Gemeinsam mit ihrem Mann Max betrieb sie eine kleine, aber sehr erfolgreiche Firma, die sich mit IT-Sicherheitsfragen befasste. Sofort stand Sonjas Bild vor ihm, ihre unglaubliche Ähnlichkeit mit ihrer Mutter Alma, das lange schwarze Haar, das aufgrund seiner gepflegten Wildheit so attraktiv war, die sportlich schlanke Figur, die ausdrucksstarken graublauen Augen und ihre überschäumende Vitalität. Sonja versprühte Lebensfreude und Rumpler freute sich auf das Gespräch mit ihr.

*

4.

Auf dem Heimweg vom Sperl schaute Rumpler bei seinem Fleischhauer vorbei und kaufte ein ordentliches Stück Putenbrust. Als er schließlich bei seiner Wohnungstür angelangt war, sah Frau Kratochvil, seine gegenüber wohnende Nachbarin, die schon über achtzig Jahre alt war, mit schief gelegtem Kopf wie eine freundliche Knusperhexe zur Tür hinaus. „Hams schon ghört, Herr Kommissar? Unser Haus is angeblich verkauft worden.“

Nicht gut.

„Ich hab schon so was läuten ghört, aber ich hab gedacht, das dauert noch.“

„Das hab ich auch ghofft, aber jetzt hab ich ghört, die fangen womöglich schon in ein paar Wochen mit dem Umbauen und Wohnungen Herrichten an. In den alten Liftschacht wollen S’ auch wieder an Lift einbauen.“

Das war mehr als nur unangenehm. Zwei Wohnungen auf Rumplers Stiege waren schon länger frei, von denen die eine unmittelbar unter seiner lag. Wenn es größere Sanierungsarbeiten gab, womit zu rechnen war, würde es nicht nur staubig, sondern für einige Wochen, wenn nicht sogar Monate, wohl auch unerträglich laut werden.

„Hoff ma’s Beste.“

„Schönen Tag noch.“

„Ihnen auch.“

Rosamunde musste sein Kommen bemerkt und hinter der Wohnungstüre gewartet haben. Nach einer kurzen Begrüßung, bei der sie ihm betulich um die Beine strich, eskortierte sie ihn in die Küche, damit er seinen kulinarischen Pflichten nachkommen konnte. Er schnitt etwas Putenfleisch klein auf, dünstete es gemeinsam mit einem Stück fein geriebener Karotte weich und stellte ihren Napf auf den Boden. Während sie fraß, ging Rumpler ins Wohnzimmer zu seinem Schreibtisch, den er trotz seiner schon sehr deutlichen Abnutzung keinesfalls ausbessern oder gar neu aufpolieren lassen wollte. Gerade die zahlreichen Gebrauchsspuren waren es, die diesen Tisch für ihn so einzigartig und damit unentbehrlich machten. Während er Sonjas Nummer wählte, hatte Rosamunde mithilfe des Kartons sowie eines Beistelltisches den Schreibtisch erstiegen und sich treffsicher auf den Schreibblock, den Rumpler in der Zwischenzeit für das Gespräch hergerichtet hatte, fallen gelassen. Er lächelte und holte eben aus seiner Schreibtischlade einen weiteren Block, als sich Sonja meldete.

„Hallo Hans, vielen Dank für deinen Rückruf.“

„Hallo Sonja. Schön, dich zu hören. Was kann ich für dich tun?“

Das Zögern vor ihrer Antwort war nur minimal, aber es bewirkte doch, dass Rumplers Aufmerksamkeit sofort anstieg, ein Ergebnis jahrzehntelangen Trainings, derartige vermeintliche oder tatsächliche Auffälligkeiten präzise zu registrieren.

„Es tut mir leid, dass ich dich wegen einer Kleinigkeit stör. Wahrscheinlich ist gar nichts dran, aber ich bin trotzdem ein bissel verunsichert.“

Jetzt war er wirklich hellwach. Sonja war eine hochintelligente junge Frau, die zudem noch über ein sehr gutes Gespür verfügte. Wenn sie beunruhigt war, dann gab es dafür aller Wahrscheinlichkeit nach einen guten Grund.

„Erzähl!“

„Ich würd eigentlich lieber bei dir vorbeikommen. Hättest du in gut einer Stunde Zeit für mich?“

„Ja, klar. Magst bei mir was essen?“

„Höchstens eine Kleinigkeit, vielleicht einen Salat?“

„Gerne. Ich denk mir was aus. Bis bald.“

„Danke, dass ich kommen kann. Bis bald.“

Rumpler inspizierte seinen Kühlschrank. Nachdem er eine kleine Dose mit Granatapfelkernen vorrätig hatte, beschloss er, sie mit Oliven und Jungzwiebeln vermischt zu einem Salat zusammenzuführen. Einige grob gehackte Walnusskerne und ein kräftiger Schuss Olivenöl sowie Meersalzflocken und etwas frisch gemahlener Pfeffer würden den Granatapfelsalat geschmacklich abrunden.

Eine gute Stunde später saß Sonja auf einem von Rumplers etwas schäbigen, aber sehr bequemen Lederfauteuils, vor sich den verführerisch duftenden Salat, und erzählte.

„Vor drei Wochen hat mich ein ehemaliger Schulkollege angerufen, ein gewisser Anton Zargl. Ich hab schon länger nichts von ihm gehört und ihn nur gelegentlich bei einem Maturatreffen gesehen. Er ist Journalist, nach seiner eigenen Einschätzung ein Aufdeckungsjournalist. Ich hab aber das Gefühl, dass er nicht wirklich erfolgreich ist. Er hat ja schon in der Schule immer ein bissel angegeben mit seinen Entdeckungen, zum Beispiel, dass der Schulwart eine Freundin gehabt hat, obwohl er verheiratet war, und solche Sachen halt. Er hat damals alle etwas genervt, aber eigentlich war er ziemlich harmlos. Ein komischer Vogel.“

„Und was wollt er von dir?“

„Wie er mich angerufen hat, hat er ganz geheimnisvoll getan. Er hat gesagt, dass er an einer ganz großen Sache dran ist, etwas mit Drogen, und dass er seinen Computer schützen muss, damit ihn niemand ausspionieren kann.“

„Und hast du den Auftrag angenommen?“

„Ja, letztlich schon. Eigentlich hab ich nicht wollen, weil bei dem Anton war das meiste nur heiße Luft, aber er hat mir auch ein bissel leidgetan und mich so lang bekniet, bis ich nachgeben hab. Wir haben uns dann bei ihm getroffen und ich hab mir seinen PC flüchtig angeschaut. Das Sicherheitsniveau insgesamt war katastrophal, aber er hat gemeint, dass er bei seiner aktuellen Recherche durch eine geniale Verschlüsselung seines wichtigsten Dokuments trotzdem geschützt ist. Ich hab nachgefragt, ob die Verschlüsselung wirklich so gut ist, weil einfache Schlüssel halt sehr leicht geknackt werden. Er hat gelacht und hat gesagt, er hätte eine perfekte Verschlüsselung gefunden. Ich hab diesbezüglich natürlich große Zweifel gehabt, weil technisch war er ja nicht so ganz auf der Höhe. Das hat er mir wohl auch angesehen. Er hat mir dann das Ganze erklärt. Der verschlüsselte Text hat nur zur Ablenkung von eventuellen Hackern gedient. Er war angeblich reiner Nonsens, eine willkürliche Aneinanderreihung von Zeichen, ohne jede Bedeutung.“

„Aber warum wollte er dann überhaupt einen Schutz für seinen PC, wenn dieses vermeintliche Dokument ohnehin nicht zu entschlüsseln ist?“

„Da ist es ihm eher um seinen elektronischen Kalender gegangen, damit niemand sieht, wann er sich wo und mit wem trifft, und natürlich auch um seine E-Mails. Die wirklich brisante Information in seiner derzeitigen Recherche hätte er gar nicht verschlüsselt, sondern außerhalb seiner Wohnung versteckt, in einem Zwischenlager, wie er gesagt hat. Da stehen Namen drin, im Klartext, hat er gesagt. Das ist eine Bombe. Das Versteck hat angeblich mit seinem Sternzeichen was zu tun. Mehr wollt er mir aber nicht dazu sagen. Es wär besser für mich, wenn ich nichts darüber wüsste. Er hätte vor, das Dokument mit der Information möglichst bald aus dem Versteck zu holen und bis zum Abschluss seiner Recherchen bei einem Anwalt zu hinterlegen, damit es veröffentlicht wird, für den Fall, dass ihm etwas zustoßen sollte. Während meiner Arbeit hat er erwähnt, dass die Sache, an der er dran ist, vor allem deshalb so heikel ist, weil dabei auch jemand von der Polizei die Finger im Spiel hat. Der Anton hat behauptet, er hätte über einen Informanten, einen gewissen Reinhard Pritzler, herausgefunden, dass Drogen, die von der Polizei beschlagnahmt wurden und später vernichtet werden sollten, wieder in Umlauf gebracht werden.“

„Hm. Hat er außer Pritzler sonst noch Namen genannt?“

„Nein.“

„Und du hast dann auf eigene Faust noch ein bissel recherchiert?“

Sie blickte kurz auf und lachte entwaffnet. „Ja, hab ich. Kennst mich eh.“

„Warst vorsichtig? Das kann heikel sein.“

„Ja, klar. Ich bin ganz sicher, dass ich keine Spuren hinterlassen hab.“

„Und hast du irgendwas Interessantes gefunden?“

„Auf seinem PC nicht. Ich hab aber auf seinem Schreibtisch einen handgeschriebenen Zettel gesehen, auf dem ganz oben Info Pritzler gestanden ist. Darauf war ein Dreieck gezeichnet, mit X, Y und Z als Eckpunkten. Bei jedem der drei Buchstaben war ein kurzer Text und in der Mitte eine komische Zeichnung, die ich nicht verstanden hab.“

„Gut, dass es von diesem Zettel eine Kopie gibt.“

Sie drohte ihm lachend mit dem Finger. „Du kennst mich wirklich in- und auswendig. Du hast natürlich recht. Der Zettel ist mir im Zusammenhang mit seiner Geschichte interessant vorgekommen. Ich hab den Anton also um einen Espresso gebeten, er ist in die Küche gegangen und ich hab inzwischen ein Foto von der Zeichnung gemacht.“

„Könntest du mir einen Ausdruck davon machen?“

„Ja, klar.“ Sie verband ihr Mobiltelefon mit seinem Laptop. Nach wenigen Augenblicken lag das Blatt vor ihm, das er später noch gründlich unter die Lupe nehmen würde.

„Vielen Dank. Hast du vielleicht etwas im Zusammenhang mit seinem Sternzeichen gefunden?“

„Ja, schon. Er hat sich ungefähr zwei Monate vor unserem Treffen ein Horoskop machen lassen, richtig aufwendig, mit allem Drum und Dran. Sein Sternzeichen sind die Fische. Er hat das auch bei unserem Gespräch erwähnt, er sei im Zeichen der Fische geboren. Oder eigentlich im Zeichen der Raubfische, wie er gesagt hat. Auf meine Frage, wie er das meint, hat er nur gelacht. Wahrscheinlich hat er sich als Journalist wie ein Hecht im Karpfenteich gefühlt oder so was Ähnliches. Von dem Horoskop hat er auch noch erzählt, dass ihm schon bald ein ganz großer Schritt vorwärts bevorsteht, was sicher mit der von ihm geplanten großen Enthüllung zusammenhängt.“

„Das klingt eigentlich alles ziemlich harmlos.“

Sonja nickte bestätigend.

„Wie ist er so seinem Wesen nach?“

„Sehr zerfahren und sprunghaft. Er kommt oft vom Hundertsten ins Tausendste. Eine einzige Sache gibt es, bei der er immer schon ziemlich gut und kompetent war, auch in der Schule, und zwar Schachspielen. Auch beim normalen Reden hat er schon früher immer wieder Schachausdrücke verwendet. Bei unserem Gespräch hat er zum Beispiel gesagt, dass beim Endspiel die Türme wichtig werden. Zweimal hat er mir das gesagt, ohne jeden Zusammenhang, aber er war merkwürdig eindrücklich dabei.“

„Und obwohl das alles etwas seltsam, aber eigentlich harmlos ist, bist du trotzdem beunruhigt.“

„Irgendwie schon. Das ist nur so ein Gefühl. Da sind zwei Sachen, die mich irritieren. Das eine ist nur eine Kleinigkeit – er hat alle seine Termine, also auch den mit mir, in Klartext in seinem Kalender eingetragen. Wenn ihn also tatsächlich jemand bereits ausspioniert haben sollte, dann weiß der, dass ich involviert bin. Das muss nichts bedeuten, aber es ist doch irgendwie unangenehm. Und das zweite ist wirklich seltsam. Der Anton Zargl ist verschwunden.“

„Wie meinst du das – verschwunden?“

„Ich hab vor zwei Tagen das letzte Mal Kontakt mit ihm gehabt und wollt ihn gestern anrufen. Er hat nicht abgehoben. Per E-Mail hab ich ihn auch nicht erreicht.“

Für sich genommen war das nicht ungewöhnlich, aber in Verbindung mit Sonjas Gefühl doch. Sie hatte ein unglaublich feines Sensorium, das ihr offensichtlich eine Warnung zugeschickt hatte, und das nahm Rumpler ernst. „Hat er irgendwas erwähnt, was er für die nächste Zeit vorhat?“

„Ja, er hat gesagt, dass er dringend einen Ausgleich für seine Arbeit braucht und endlich wieder einmal hinaus ins Freie muss, wandern gehen. In einer Mail hat er mir dann noch geschrieben, dass er auf die Rax geht, den Weg über Teufels Badstuben.“

Die Rax ist ein besonders bei den Wienern beliebtes Ausflugsziel, mit nicht zu langer Anfahrt und spektakulären, schroffen Felsformationen. Es gibt dort einige schöne Wanderwege und leichte Klettersteige, die aber nicht ganz ungefährlich sind. Rumpler kannte den Weg über Teufels Badstuben noch aus seiner Jugendzeit, als er selbst viele Wanderungen und Touren unternommen hatte.

„Kennst du wen, der mit ihm näheren Kontakt hat?“

„Nein, nicht wirklich. Ich glaub, er hat allein gelebt.“

Sonja sprach plötzlich nicht weiter und zuckte unwillkürlich mit den Schultern, als wollte sie etwas abschütteln.

„Ich hab das grad so formuliert, als wär ihm etwas zugestoßen und dabei hab ich überhaupt keinen Anhaltspunkt dafür.“ Wesentlich leiser fuhr sie fort: „Ich weiß, das muss jetzt verrückt für dich klingen, aber ich fürcht, er ist tot.“

„Das sollt sich rasch klären lassen. Es kommt nicht so oft vor, dass jemand spurlos verschwindet.“

„Wahrscheinlich ist ja auch gar nichts dahinter und ich bild mir nur was ein.“

„Schau ma mal.“

Rumpler ließ sich von ihr auf seinem Laptop einige Fotos des Verschwundenen ausdrucken. Sie zeigten einen Mann von etwa vierzig Jahren mit dunklem, wirrem Haar. Das Gesicht wirkte zerfahren, von einer inneren Unruhe durchdrungen.

„Ich werd den Alois Moser fragen, ob er dazu was weiß. Ich meld mich bei dir, sobald ich etwas herausgefunden hab.“

„Super. Danke für den herrlichen Salat. Das ist eine tolle Mischung, die Oliven mit den Granatapfelkernen. Muss ich mir merken.“

„Ich mag ihn auch sehr gern. Pass gut auf dich auf, Sonja.“

„Ich bin eh vorsichtig. Und danke für deine Hilfe. Übrigens – was ist das für ein komischer Anschlag bei euch unten am Schwarzen Brett? Wird euer Haus renoviert?“

„Ich fürchte, ja. Die bisherigen Eigentümer waren so angenehme Hausherren, schon ältere Herrschaften, und ich hab geglaubt, die hätten eigentlich nie einen Hausverkauf vorgehabt. Vielleicht ist ihnen die Arbeit mit dem Haus einfach zu viel geworden. Jetzt ist da leider nichts mehr zu machen und es soll alles renoviert werden. Unser alter Aufzug ist ja schon seit Jahren stillgelegt und jetzt soll in den Schacht auch noch ein neuer Aufzug eingebaut werden.“

„Aber das wird ja schrecklich für dich, mit dem Krach und dem Schmutz!“

„Das ist leider wahr. Ich schau mich eh schon nach einer Überbrückungsmöglichkeit um.“

„Ich halt dir die Daumen, dass du was Passendes findest.“ Nach der Verabschiedung drehte sie sich noch einmal kurz um. „Noch was hätt ich fast vergessen. Sag bitte Alma möglichst nichts von der ganzen Geschichte mit dem Anton Zargl, sonst macht sie sich nur unnötig Sorgen.“

Rumpler seufzte. „Das wird nicht einfach, aber ich versuchs.“

*

5.

Als Sonja gegangen war, dachte er kurz über ihren Wunsch nach, ihre Mutter Alma nicht zu informieren. Schwierig. Alma hatte ein mindestens ebenso feines Sensorium wie Sonja und es erschien Rumpler schier unmöglich, auf längere Sicht etwas Relevantes vor ihr geheim zu halten. Egal. Er hatte es Sonja versprochen und er würde es wenigstens versuchen. Einem plötzlichen Impuls folgend, trat er rasch ans Fenster und beobachtete, wie sie über die Straße zu ihrem winzigen Auto ging. Er entdeckte aber weder irgendwelche Verfolger noch sonst etwas Auffälliges. Während er mit der Linken Rosamunde sanft hinter den Ohren kraulte, rief er seinen Ex-Kollegen und Freund Alois Moser an, einen sehr erfahrenen Kriminalisten, der wenige Jahre vor seiner Pension stand.

Sein Anruf wurde in der Sekunde beantwortet. „Moser.“

„Hallo Stinker.“

Moser war weit davon entfernt, sich über die respektlose Anrede zu empören. Als ehemaliger Kettenraucher hatte er diesen Spitznamen von seinen Kollegen bekommen und sich mit der Zeit, auch in den späteren Jahren als strikter Nichtraucher, so an ihn gewöhnt, dass es ihm völlig normal erschien, so angesprochen zu werden.

„Hallo Hans. Wie geht’s dir?“

„Danke, ausgezeichnet. Und dir?“

„Na ja. Die Gitti hat sich vor zwei Monaten von mir getrennt. Es war ihr halt doch zu viel.“

Rumpler wusste ziemlich genau, welches zu viel Moser meinte, jene für die Angehörigen von Kriminalisten so schwierige Gemengelage aus völlig unregelmäßigen Dienstzeiten, zum Teil schwerstem Stress und oft gar nicht Aussprechbarem.

„Tut mir leid.“

„Geht schon wieder. Hat ja auch sein Gutes, das Alleinsein.“

Rumpler, der noch immer sein unerwartetes Glück mit Alma in vollen Zügen genoss, wollte das nicht näher kommentieren. „Ich hätt eine Frage, Stinker. Habts ihr vielleicht einen Verunglückten im Raxgebiet?“

Mosers Reaktion fiel heftig aus. „Woher weißt jetzt das schon wieder?“, stieß er hervor.

„Ich weiß gar nichts. Ich hab nur ein paar lose Anhaltspunkte.“

„Hm. Du und deine Anhaltspunkte. Also gut. Ja, gestern Abend ist dort ein Toter gefunden worden. Er dürft ein Stück oberhalb von einer Stelle, die Teufels Badstuben heißt, abgestürzt sein. Anzeichen für Fremdverschulden gibt es keine, wir haben die Meldung nur routinemäßig von den Kollegen gekriegt. Papiere hat er keine dabei ghabt, das Handy ist beschädigt und wird derzeit noch bearbeitet. Drum ist er noch nicht identifiziert, aber das kann nicht mehr lang dauern. Gemeldet hat sich bisher niemand, dem er abgeht.“

„Stinker, du hast sicher WhatsApp auf deinem Handy.“

„Hab ich.“

„Ich schick dir jetzt ein paar Bilder und du kannst schauen, ob das euer Mann ist.“

„Ok. Ich ruf dich gleich zurück.“

Rumpler schickte ihm zwei der Fotos, die ihm Sonja von Anton Zargl zur Verfügung gestellt hatte.

Zwei Minuten später rief ihn Moser an. Fassungslos. „Was ist das schon wieder für eine verfluchte Geschichte, Hans? Das ist unser Mann.“

„Ich mag nicht am Telefon drüber reden. Hast Zeit fürs Café Rathaus?“

„Ja, klar. Kannst in einer guten Stunde da sein? Ich muss vorher noch ein bissel was erledigen.“

„Kein Problem. Bis bald, Stinker.“

Rumpler räumte rasch das schmutzige Geschirr in den Geschirrspüler, versorgte Rosamunde mit einer kleinen Portion Trockenfutter, um ihr die Wartezeit zu verkürzen, und packte alle Unterlagen, die ihm Sonja zu Anton Zargl übergeben hatte, in eine Tasche. In seiner Aktivzeit war das Café Rathaus für Rumpler so etwas wie ein zweites Büro gewesen, das er besonders in schwierigen Situationen gerne und oft aufgesucht hatte, vor allem, wenn er das Gefühl gehabt hatte, in einem Fall stecken zu bleiben. „Schwimmen in Honig“, hatte Moser diesen Zustand früher genannt und Rumpler hatte wie schon so oft über die Treffsicherheit der Moserschen Formulierungen gestaunt, zumal dieser durchaus kein besonders belesener Mensch und auch kein Intellektueller war. Oder zumindest auf gar keinen Fall einer sein wollte.

Als er im Café Rathaus eintraf, war Moser bereits da. Der Stammplatz, den sie früher meistens benutzt hatten, war zu Rumplers Bedauern leider besetzt, aber immerhin hatten sie einen Tisch in einer der stark nachgefragten Fensternischen gefunden. Das Begrüßungsritual war ihm noch immer völlig vertraut, obwohl er Moser über ein halbes Jahr lang nicht getroffen hatte.

„Servus Stinker.“

„Servus Hans. Bevor du mir was erzählst, müssen wir bestellen. Auf nüchternen Magen halt ich das sonst nicht aus.“

Rumpler stimmte ihm zu. Während er eine Melange und ein Paar Sacherwürstel bestellte, nahm Moser neben einem doppelten Espresso noch eine Eierspeise von drei Eiern samt einer doppelten Portion Schinken. Zumindest hatte sich die Trennung von seiner Lebensgefährtin ihm nicht auf den Magen geschlagen. Ganz im Gegenteil, dachte Rumpler, während er kurz auf Mosers eindrucksvollen Bauch blickte, der das wie gewohnt zugeknöpfte Sakko straff gespannt hielt.

Moser hatte Rumplers Blick und Gedanken sofort verstanden. Er klopfte mit seiner Hand auf den Bauch. „Jetzt brauch ich wenigstens nimmer Diät halten. Ich hab den Grüntee und das Saftzeugs eh kaum mehr ausghalten. Hat alles auch sein Gutes.“

Für Rumpler war hinter Mosers Fröhlichkeit der Schmerz über die Trennung noch deutlich zu spüren.

Als der Kellner den Herren das Gewünschte gebracht hatte, widmeten sie sich ihrer Mahlzeit. Moser aß hastig. Die Ungeduld war ihm deutlich anzumerken.

Nachdem er in Windeseile seine Eierspeise samt Schinken gegessen hatte, kam er gleich zur Sache, während Rumpler noch mit seinem ersten Würstel beschäftigt war. „So. Und jetzt erzähl mir bitte, wie du in Dreiteufels Namen auf den Anton Zargl gestoßen bist.“

„Das hab ich von der Sonja.“

Moser blickte überrascht auf. Er kannte Sonja, die mit seiner Tochter Anna befreundet war, schon seit ihren Kindertagen. „Von der Sonja? Und wo hats die her?“