Kulturelle und sprachliche Heterogenität im Englischunterricht - Carina Leonhardt - E-Book

Kulturelle und sprachliche Heterogenität im Englischunterricht E-Book

Carina Leonhardt

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Beschreibung

Der Umgang mit kultureller und sprachlicher Heterogenität stellt eines der zentralen Themen im Handlungsfeld Schule und Unterricht dar, bei welchem gerade berufsroutinierte Englischlehrer:innen in ihrem unterrichtlichen Handeln an Grenzen stoßen. Um diese Grenzen zu überwinden, sind Englischlehrer:innen gefordert, sich und ihr fachunterrichtliches Handeln kontinuierlich zu reflektieren und weiterzuentwickeln. Diese qualitativ-rekonstruktive Studie zeigt auf, wie Englischlehrer:innen mit kultureller und sprachlicher Heterogenität im Unterricht umgehen und welche Prozesse von Professionalisierung bzw. Deprofessionalisierung im Kontext einer Fortbildung wirksam werden. Die Publikation richtet sich an Fremdsprachendidaktiker:innen, Fremdsprachenlehrkräfte, Studierende und Personen, die sich für die Themen kulturelle und sprachliche Heterogenität sowie Professionalisierung interessieren.

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Seitenzahl: 703

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Carina Leonhardt

Kulturelle und sprachliche Heterogenität im Englischunterricht

Die Rekonstruktion von Professionalisierungsprozessen berufsroutinierter Englischlehrkräfte

D.30

 

DOI: https://doi.org/10.24053/9783381136728

 

© 2025 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KGDischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

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Internet: www.narr.deeMail: [email protected]

 

ISSN 0175-7776

ISBN 978-3-381-13671-1 (Print)

ISBN 978-3-381-13673-5 (ePub)

Contents

Für meine Eltern, Petra ...Danksagung1 Einleitung1.1 Erkenntnisinteresse und Relevanz der Studie1.2 Aufbau der Arbeit2 Professionalität und Professionalisierung von (Englisch‑)Lehrkräften2.1 Profession, Professionalität und Professionalisierung2.2 Das professionelle Wissen von Lehrkräften2.3 Bestimmungsansätze zur Professionalität und Professionalisierung von Lehrkräften2.3.1 Der kompetenztheoretische Ansatz2.3.2 Der strukturtheoretische Ansatz2.3.3 Der berufsbiographische Ansatz2.4 Forschung zur Professionalität und Professionalisierung von Fremdsprachenlehrkräften2.4.1 Die Bedeutung expliziter Wissensbestände für das (professionelle) Handeln und die Professionalisierung von Fremdsprachenlehrkräften2.4.2 Die Bedeutung von subjektiven Wissensbeständen für das (professionelle) Handeln und die Professionalisierung von Fremdsprachenlehrkräften2.4.3 Die Bedeutung impliziter Wissensbestände für das (professionelle) Handeln und die Professionalisierung von Fremdsprachenlehrkräften2.5 Synthese: Konkretisierung der professionstheoretischen Perspektive in Bezug auf die Professionalisierung von Englischlehrkräften3 Sprachliche und kulturelle Heterogenität3.1 Der Heterogenitätsbegriff und seine Dimensionen: Eine begriffliche Annäherung3.2 Sprachliche und kulturelle Heterogenität als Handlungsfelder im Englischunterricht3.2.1 Sprachliche Heterogenität3.2.2 Ansätze zum Umgang mit sprachlicher Heterogenität im Fremdsprachenunterricht3.2.3 Kulturelle Heterogenität3.2.4 Ansätze zum Umgang mit kultureller Heterogenität im Fremdsprachenunterricht3.3 Anforderungen an Fremdsprachenlehrkräfte und ihr unterrichtliches Handeln3.4 Umgang mit kultureller und sprachlicher Heterogenität im Englischunterricht: Ein Forschungsüberblick3.4.1 Einstellungen, Haltungen, Überzeugungen sowie das Wissen von Fremdsprachenlehrkräften zum Thema kulturelle und sprachliche Heterogenität3.4.2 Das unterrichtliche Handeln von Fremdsprachenlehrkräften im Umgang mit kultureller und sprachlicher Heterogenität3.4.3 Gelingensbedingungen bzw. Hinderungsgründe für den Einbezug kultureller und sprachlicher Ressourcen der Schüler*innen4 Die Professionalisierung von Englischlehrkräften im Umgang mit kultureller und sprachlicher Heterogenität in der dritten Phase der Lehrer*innenbildung4.1 Forschungsgegenstand und Erkenntnisinteresse4.2 Forschungsfragen4.3 Projekthintergrund4.3.1 Ziele und Konzeption der Onlinefortbildung Mehrsprachigkeit und kulturelle Vielfalt im (Fremd-)Sprachenunterricht4.3.2 Inhaltlicher Aufbau und Modulstruktur der Fortbildung5 Methodologie und Methodik der empirischen Studie5.1 Methodologischer Zugang5.1.1 Gegenstandstheoretische Vorüberlegungen5.1.2 Grundannahmen der qualitativ-rekonstruktiven Sozialforschung5.1.3 Methodologische Grundannahmen und Grundlagen der Dokumentarischen Methode5.1.4 Das Spannungsverhältnis zwischen Norm und Habitus im Umgang mit kultureller und sprachlicher Heterogenität im Englischunterricht5.2 Methodische Durchführung: Anlage der empirischen Studie5.2.1 Forschungsinstrumente5.2.2 Datenerhebung5.2.3 Forschungsethische Maßnahmen und Selbstverortung als Forschende5.3 Zusammenschau des Untersuchungsverlaufs6 Datenauswertung mit der Dokumentarischen Methode6.1 Aufbereitung und Transkription der Daten6.2 Datenauswertung mit der Dokumentarischen Methode6.2.1 Formulierende Interpretation6.2.2 Reflektierende Interpretation6.2.3 Fallbeschreibung6.2.4 Typenbildung6.2.5 Die Analyse von Professionalisierungsprozessen im Längsschnitt6.3 Zusammenschau der Datenauswertung7 Typenbildungen und Ergebnisdarstellung7.1 Mehrdimensionale sinngenetische Typenbildung7.2 Typologie zur Gestaltung des Englischunterrichts im Umgang mit Lernenden7.2.1 Typik: Ausgangspunkt des Englischunterrichts7.2.2 Typik: Fachlicher Fokus7.2.3 Typik: Lehrer*innenrolle und Selbstbild7.2.4 Typik: Schüler*innenrolle7.2.5 Typik: Spracherwerb und Sprachenlernen7.2.6 Zwischenfazit7.3 Typologie zum Umgang mit kultureller und sprachlicher Heterogenität7.3.1 Typik: Einbezug kultureller und sprachlicher Heterogenität7.3.2 Typik: Sprache(n) im Englischunterricht7.3.3 Typik: Konzeptualisierung von kultureller und sprachlicher Heterogenität7.3.4 Typik: Rahmung von kultureller und sprachlicher Heterogenität7.3.5 Zwischenfazit7.4 Ergebnisse der relationalen Typenbildung7.5 Längsschnittlicher Vergleich der Interviewzeitpunkte (t1 und t2)7.6 Güte und Reichweite der Ergebnisse8 Zusammenfassung und Diskussion der Ergebnisse8.1 Kulturelle und sprachliche Heterogenität8.2 Englischunterricht und Normorientierung8.3 Professionalisierung8.4 Implikationen für die (fremdsprachendidaktische) Lehrer*innenbildung9 Fazit und Ausblick10 Literatur11 AnhangAnhang 1: Einwilligung zur Forschungsteilnahme und DatenschutzerklärungAnhang 2: InterviewleitfädenAnhang 3: Interviewprotokoll (Postskript)Anhang 4: Fallbeispielanalysedokument (adaptiert nach Gerlach 2020a)

Für meine Eltern, Petra und Michael

Danksagung

Der Weg zu dieser Dissertation war nicht immer geradlinig, sondern vielmehr ein Abenteuer, das von vielen Herausforderungen und Momenten der Unsicherheit geprägt war. Doch in all diesen Phasen gab es immer Menschen, die mich unterstützten, an mich geglaubt haben, mich ermutigten und mir halfen, weiterzumachen. Ohne sie wäre diese Arbeit nicht möglich gewesen.

Zunächst bedanke ich mich bei den Betreuenden meiner Arbeit, Prof. Dr. Britta Viebrock und Prof. Dr. David Gerlach. Ihr wart während des gesamten Projekts nicht nur eine wissenschaftliche, sondern auch eine persönliche Stütze und habt mir dabei geholfen, meine Gedanken zu sortieren, an meinen Ideen festzuhalten und sie weiterzuentwickeln. Hierfür danke ich Euch sehr.

Ein besonderer Dank gebührt den Lehrkräften, die sich nicht nur dazu bereiterklärt haben, an meiner Studie teilzunehmen, sondern sich auch unter besonders herausfordernden Bedingungen dazu entschieden, sich zu professionalisieren. Während einer Zeit, die von pandemiebedingten Unsicherheiten, Schulschließungen, Corona-Erkrankungen und täglich neuen Maßnahmen geprägt war, haben sie zum Gelingen dieser Arbeit beigetragen und ihre wertvollen Erfahrungen und Perspektiven geteilt. Ihr Durchhaltevermögen, Engagement und ihre Bereitschaft, sich trotz der schwierigen Umstände für die vorliegende Studie einzusetzen, verdienen meinen größten Dank und meine Anerkennung.

Ebenso danke ich den Kolleg:innen der Abteilung Englischdidaktik des Institute of English and American Studies an der Goethe-Universität Frankfurt, die mich durch ihre kritischen und gezielten Fragen, wertvollen Rückmeldungen und Hinweise immer wieder dazu angeregt haben, neue Perspektiven einzunehmen und meine Argumentation weiterzuentwickeln. Ebenso danke ich den Mitgliedern der Promotionskomission für das Interesse an meiner Arbeit und dafür, die letzten Schritte meiner Dissertation begleitet zu haben. Danke auch an die studentischen Hilfskräfte am Institut, die mich in der Phase der Datenaufbereitung unterstützt haben.

Herzlichen Dank auch an Daniela, dass Du mir meinen Kopf aufgeräumt und mir vor Augen geführt hast, dass das Ziel ganz nah ist.

Ein besonders großer Dank geht an meine Geschwister, an meine Schwiegereltern, meine Bonusfamilie aus Lippstadt und an die besten Freunde, die man sich wünschen kann: Anja, Simone und Simon. Ohne Eure Unterstützung, Euer Verständnis, Eure Nachsicht und offenen Ohren für meine Gedanken und Sorgen hätte ich dieses umfangreiche Projekt niemals in diesem Maße durchführen können. Dafür danke ich Euch von Herzen.

Mein Mann, Jan-Erik, verdient einen ganz besonderen Platz in dieser Danksagung. Durch diese Studie durfte ich Dich nicht nur kennenlernen, sondern auch heiraten, wofür ich sehr dankbar bin. Gemeinsam haben wir uns dem Abenteuer Promotion gestellt und dabei nicht nur Wissen und Erfahrungen, sondern auch Zweifel und Erfolge geteilt. Jan-Erik, Du hast mich auch in den stressigsten Phasen mit Deiner Geduld, Deinen Ideen, Deinem Humor und Deiner Liebe unterstützt. Dafür bin ich Dir von Herzen dankbar. Ich bin stolz, dass wir diesen Weg gemeinsam gegangen und dadurch noch enger zusammengewachsen sind.

Nicht zuletzt möchte ich meinen Kolleg:innen aus den Interpretationsgruppen danken. Eure kritischen, aber stets unterstützenden Rückmeldungen, die gemeinsamen Diskussionen und die unzähligen Stunden des intensiven Austauschs haben mir nicht nur geholfen, die Arbeit auf fachlicher und methodischer Ebene voranzubringen, sondern auch immer wieder gezeigt, wie wertvoll Zusammenarbeit und kollegialer Austausch sind. Besonders danke ich Melanie und Laura.

Diese Dissertation ist das Resultat vieler Menschen, die mich unterstützt haben, doch der größte Dank gilt meinen verstorbenen Eltern, Petra und Michael. Sie haben immer an mich und meine Ideen geglaubt und mich darin bestärkt, an meinen Träumen festzuhalten und meine Ziele zu verwirklichen. Durch ihre Zuversicht und ihr Vertrauen haben sie dazu beigetragen, dass ich zu dem Menschen werden konnte, der ich heute bin. Ihnen widme ich diese Arbeit.

1Einleitung

Die vorliegende Studie widmet sich den Fragen, welche Erfahrungen berufsroutinierte Englischlehrkräfte im Umgang mit kultureller und sprachlicher Heterogenität machen und wie sie sich im Umgang mit diesen Heterogenitätsdimensionen im Kontext einer Lehrkräftefortbildung professionalisieren. Als berufsroutiniert werden in dieser Arbeit jene Lehrkräfte bezeichnet, welche die Phase des Berufseinstiegs1 abgeschlossen haben. Die hier genannten Forschungsfragen (die sich auch im Titel der Arbeit spiegeln) enthalten mehrere, im Kontext der Fremdsprachendidaktik voraussetzungsreiche Begriffe und lösen weiterführende Fragen aus: Was sind kulturelle und sprachliche Heterogenität und was ist deren Bedeutung für den Englischunterricht? Was bedeutet Professionalisierung von Englischlehrkräften? Neben einer Begriffsbestimmung ist von Bedeutung, warum sich eine Auseinandersetzung mit den genannten Forschungsfragen im Feld der Fremdsprachendidaktik lohnt. Zuletzt stellt sich die Frage, wie die Erfahrungen von Englischlehrkräften hinsichtlich der genannten Themenfelder sowie ihrer diesbezüglichen Professionalisierungsprozesse empirisch sichtbar gemacht werden können. In dieser Einleitung erfolgt eine erste Annäherung an die genannten Fragen. Weiterhin wird ein Überblick über die Schritte der vorliegenden Arbeit gegeben, die zur Beantwortung der Fragen unternommen werden.

1.1Erkenntnisinteresse und Relevanz der Studie

Zunächst gilt es, sprachliche und kulturelle Heterogenität zu definieren und deren Bedeutung für den Fremdsprachenunterricht hervorzuheben. Unter sprachlicher Heterogenität wird in Rückgriff auf die Definition des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen2 (2001) (GeR) „die Gesamtheit der von einer Person erworbenen Sprachen [verstanden], die in deren mentalen System interagieren und miteinander vernetzt sind“ (Leonhardt, Kreft & Viebrock 2021: 2f.; C.L.). Hierzu zählen sowohl in institutionellen Kontexten erlernte3 als auch familiär oder lebensweltlich erworbene Sprachen, die sich wiederum hinsichtlich des Verwendungskontextes, der Anwendungshäufigkeit sowie der Kompetenzniveaus in den Fertigkeitsbereichen Sprechen, Schreiben, Lesen und Hören unterscheiden können (vgl. ebd.; vgl. auch Elsner et al. 2020). Im Verständnis dieser Arbeit von sprachlicher Heterogenität sind die Begriffe der lebensweltlichen sowie der institutionellen Mehrsprachigkeit miteingeschlossen (vgl. Kapitel 3.2.1). Als mehrsprachig werden Individuen verstanden, die in mehr als einer Sprache mündlich oder schriftlich kommunizieren können (vgl. Bredthauer et al. 2021; vgl. auch Kapitel 3.2.1).

Das Verständnis von kultureller Heterogenität geht in der vorliegenden Arbeit mit einem dynamischen, fluiden und nicht-essenzialistischen Kulturbegriff einher, demzufolge Kultur nicht an Kategorien wie Herkunft, Nationen oder Religion gebunden ist. Vielmehr wird Kultur als soziale sowie gesellschaftliche Praxis verstanden, die ein vorläufiges Ergebnis von sprachlichen Aushandlungsprozessen darstellt und von Individuen stets auf Neue konstruiert wird (vgl. König, Schädlich & Surkamp 2022). So werden

‘Kulturen‘ [als] hybride und nach außen durch offene Netzwerkverbindungen charakterisierte Kollektive [aufgefasst], die als Orientierungssystem[e] die Wahrnehmung, Werte, das Denken und Handeln sowie die Identitätsbildung und -konstruktion von Menschen beeinflussen, die sich diesen Kollektiven zugehörig fühlen. (Leonhardt et al. 2021: 3; C.L.)

Schüler*innen4 wachsen aufgrund von Globalisierung, Digitalisierung, Migrations- und Fluchtbewegungen in einer zunehmend diversifizierten und sich dynamisch verändernden Gesellschaft auf. Für den Fremdsprachenunterricht bedeutet dies, dass Fremdsprachenlehrkräfte Schüler*innen unterrichten, die aufgrund der in ihren Lebenswelten gesammelten vielfältigen kulturellen und sprachlichen Erfahrungen entsprechend heterogene Lernvoraussetzungen und -bedürfnisse in den Unterricht einbringen, die es als Ressource für fremdsprachliche Lernprozesse zu nutzen gilt (vgl. Europarat 2001; KMK 2015, 2019a; Kropp 2017; Elsner et al. 2020; Leonhardt et al. 2021).

Zahlreiche Studien weisen auf die Potenziale des Einbezugs der kulturellen und sprachlichen Erfahrungen der Lernenden in den Fremdsprachenunterricht hin. So werden Schüler*innen mit einem mehrsprachigen Hintergrund im oben genannten Sinne häufig hohe (meta‑)linguistische sowie (meta-)kognitive Fähigkeiten attestiert, die das weitere Sprachenlernen erleichtern können (vgl. z. B. Swain et al. 1990; Hufeisen & Marx 2007; De Angelis 2011; Bredthauer 2016). Insbesondere lebensweltlich mehrsprachigen Schüler*innen werden Vorteile gegenüber primär einsprachig aufgewachsenen Lernenden zugeschrieben. Zu diesen Vorteilen zählen die Steigerung der Sprachbewusstheit, der Sprachlernkompetenz sowie der Sprachlernmotivation (vgl. Bialystock 2005; Bär 2010; Marx 2010; Bredthauer 2016; Morkötter 2016; Porch & Bialystock 2017). Auch belegen Studien einen positiven Einfluss von Mehrsprachigkeit auf die kognitive Entwicklung von Kindern und Jugendlichen und heben hervor, dass ein systematischer didaktischer Einbezug der L15 der Lernenden positive Auswirkungen auf deren Schulerfolg haben kann (vgl. Fürstenau, Gogolin & Yağmur 2003: 161; Dirim et al. 2001). Studien zeigen jedoch auch, dass sich diese Potenziale und Vorteile nur unter bestimmten Voraussetzungen entfalten können (Elsner 2007; Engel, Groot-Wilken & Thürmann 2009; Schwippert, Wendt & Tarelli 2012). Neben dem Spracherwerbsalter sowie der Einstellung zur eigenen Mehrsprachigkeit zählen hierzu insbesondere die Fragen danach, „wie gut die Lerner ihre bereits vorhandenen Sprachen beherrschen und wie sehr diese durch ihr häusliches und schulisches Umfeld gefördert werden“ (Elsner 2010b: 112f.). Demnach kommt den Lehrkräften eine bedeutsame Rolle zu.

Der Einbezug der kulturellen Heterogenität der Lernenden sowie die Thematisierung von Sprache und Kultur können im Fremdsprachenunterricht dazu beitragen, dass der Hybridisierung und Globalisierung von Kulturen stärker Rechnung getragen wird und vereinfachende, stereotype Zuschreibungen sowie Dichotomisierungen vermieden werden (vgl. König et al. 2022b). Lernende können für ihre Eingebundenheit in kulturelle Diskurse6 sensibilisiert „sowie zur Teilhabe an fremdsprachigen kulturellen Diskursen [befähigt werden], die als Phänomene jenseits nationaler Grenzen ‚der Zielsprache‘ und ‚der Zielkultur‘ zum Lerngegenstand gemacht werden“ (ebd.: 15; C.L.). Durch den Einbezug von Kultur in den Fremdsprachenunterricht kann den Lernenden ein Bewusstsein dafür vermittelt werden, dass sich Kultur nicht durch Landesgrenzen ausdrücken lässt, sondern sprachlich und performativ von Menschen bedeutsam gemacht wird. Ein zentraler Aspekt im Fremdsprachenunterricht ist dabei die Bewusstmachung und Reflexion ungleicher Partizipationsmöglichkeiten an kulturellen Diskursen. Insbesondere die Frage danach, wie durch Sprache Kultur gestaltet und Macht verteilt sowie aufrecht erhalten wird, ist hierbei von Bedeutung (García García & Schädlich 2022; König et al. 2022b). Gerade in Zeiten von weiter aufstrebendem Populismus und gesellschaftlichen Spaltungen ist eine Förderung dieser Ziele bei Lernenden, die zu einer aktiven sozialen, politischen und wirtschaftlichen Teilhabe am Leben ausgebildet werden sollen, essenziell (vgl. auch Gerlach 2020b; Kreft 2020).

Es zeigt sich folglich, dass sprachliche und kulturelle Heterogenität nicht nur Ausgangspunkte des Fremdsprachenunterrichts sind, auf deren Basis Englischlehrkräfte differenzierten und auf die Voraussetzungen der Lernenden ausgerichteten Unterricht anbieten müssen. Vielmehr sind Sprache und Kultur auch zentrale Gegenstände des Englischunterrichts, an welchen sich fremdsprachliche Lernprozesse der Schüler*innen entfalten. Damit wird der Einbezug der kulturellen und sprachlichen Heterogenität der Lernenden sowie von Kultur und Sprache als Gegenstände des Englischunterrichts zu einer unterrichtlichen Anforderung, aber auch zu einer Herausforderung für Lehrkräfte (vgl. Leonhardt et al. 2021).

Die Anforderungen an Englischlehrkräfte, die mit dem Umgang mit kultureller und sprachlicher Heterogenität im Fremdsprachenunterricht verbunden sind, lassen sich exemplarisch aus den Bildungsstandards der Lehrer*innenbildung (KMK 2019a) entnehmen. Daneben machen bildungspolitische Papiere wie der GeR (Europarat 2001) und sein Begleitband (Companion Volume 2020) oder aber die länderspezifischen Curricula die Anforderungen an das Handeln der Lehrkräfte im genannten Themenfeld explizit. Die Bildungsstandards der Lehrer*innenbildung (KMK 2019a) heben zunächst die fächerübergreifenden Anforderungen hervor, eine wertschätzende, offene und anerkennende Haltung den individuellen Hintergründen und Lernvoraussetzungen der Schüler*innen gegenüber zu entwickeln und diese Haltung an die Lernenden zu vermitteln (ebd.: 9-10). Darüber hinaus gilt es, über Wissen bzgl. der jeweiligen Hintergründe und Lebensbedingungen der Schüler*innen zu verfügen und die Lernenden in ihrer individuellen Entwicklung zu unterstützen. Die Ländergemeinsamen inhaltlichen Anforderungen für die Fachwissenschaften und Fachdidaktiken in der Lehrerbildung (KMK 2019b) definieren darüber hinaus, dass Fremdsprachenlehrkräfte eine fundierte Wissensbasis „im Hinblick auf fremdsprachliche Lehr- und Lernprozesse unter dem Gesichtspunkt von Mehrsprachigkeit, Heterogenität und inklusiven Unterricht“ erwerben sollen (ebd.: 44). Auch wird die Kenntnis von an die Lernvoraussetzungen der Schüler*innen angepasste Lehr- und Lernarrangements betont, welche der Förderung der fremdsprachlichen Kompetenzen7 dienen, wie sie in den länderspezifischen Curricula festgehalten sind. Diese Anforderungen zielen in erster Linie auf explizite Wissensbestände und lassen die handlungspraktische Ebene weitestgehend unbeachtet. Somit obliegt es der Verantwortung der Lehrkräfte, Handlungsstrategien zu entwickeln und die kulturellen und sprachlichen Hintergründe der Lernenden zielführend für den Fremdsprachenerwerb einzusetzen. Was diese Anforderungen für den Englischunterricht jedoch tatsächlich bedeuten und wie sie aus der Perspektive der Lehrkräfte wahrgenommen, bearbeitet und umgesetzt werden, wurde bislang wenig beleuchtet (vgl. Königs 2014; Wilken 2021).

Arbeiten, die sich mit der Lehrer*innenperspektive hinsichtlich des Umgangs mit kultureller und sprachlicher Heterogenität beschäftigen, beleuchten hier vorwiegend die Einstellungen und Haltungen der Lehrkräfte. Hierbei wird deutlich, dass sich Fremdsprachenlehrkräfte über die Bedeutung der kulturellen und sprachlichen Hintergründe ihrer Schüler*innen für fremdsprachliche Lernprozesse bewusst sind. Auch verfügen sie über grundsätzlich positive Einstellungen und Haltungen hinsichtlich des Einbezugs dieser Hintergründe in den Fremdsprachenunterricht (vgl. De Angelis 2011; Heyder & Schädlich 2014; Jakisch 2014; Méron-Minuth 2018; Sambanis & Ludwig 2021). Studien zeigen jedoch auch, dass insbesondere in Bezug auf den Einbezug migrationsbedingter Sprachen ambivalente Einstellungen und Haltungen aufseiten der Lehrkräfte existieren und diese Sprachen oftmals als Hindernis für sprachliche Lernprozesse wahrgenommen werden (vgl. Leichsering 2003; Göbel, Vieluf & Hesse 2010; Wojnesitz 2010). Häufig fehlt es den Lehrkräften an Handlungsstrategien sowie an methodischem und didaktischem Wissen, um die kulturelle und sprachliche Heterogenität der Lernenden gewinnbringend in den Fremdsprachenunterricht einzubeziehen (vgl. Elsner & Wildemann 2012; Reich & Krumm 2013; Bredthauer & Engfer 2016, 2018; Viebrock 2018b; Kreft & Viebrock 2020). Dies führt dazu, dass die kulturellen und sprachlichen Hintergründe der Schüler*innen häufig ignoriert werden und Potenziale für sprachliches und kulturelles Lernen ungenutzt bleiben (vgl. Kropp 2017; Leonhardt et al. 2021).

Diese Forschungsergebnisse lassen die Frage danach aufscheinen, welchen Beitrag die Lehrer*innenbildung leisten kann und muss, um Fremdsprachenlehrkräfte auf einen systematischen Umgang mit kultureller und sprachlicher Heterogenität im Fremdsprachenunterricht vorzubereiten. Studien weisen nämlich darauf hin, dass sich Lehrkräfte im Umgang mit kulturell und sprachlich heterogenen Schüler*innen „nicht gut gerüstet“ (Gogolin 2013: 183) und häufig unsicher sowie überfordert fühlen (vgl. Siems & Granados 2014; Kropp 2017; Bredthauer 2018). Auch fehlt es in der Fremdsprachenlehrer*innenbildung an einer Qualifizierung der Lehrkräfte für den Umgang mit sprachlich und kulturell heterogenen Klassen (vgl. Gogolin 2013). Um die Potenziale sprachlich und kulturell heterogener Schüler*innen für das Fremdsprachenlernen nutzen zu können, bedarf es folglich einer zielgerichteten Professionalisierung der Lehrkräfte.

Wie sich Fremdsprachenlehrkräfte – insbesondere im Rahmen der dritten Phase der Lehrer*innenbildung8 – professionalisieren und welche Professionalisierungsprozesse hierbei von Bedeutung sind, ist bislang kaum erforscht (vgl. Legutke & Schart 2016a; Biederbeck & Rothland 2017). Auch fehlt es

[…] generell an längsschnittlichen Erhebungen, die Entwicklungen des Denkens und Handelns von Fremdsprachenlehrpersonen über die Zeit rekonstruieren bzw. über verschiedene Etappen der Ausbildung und des Berufslebens in den Blick nehmen und die dabei institutionelle Strukturen in Beziehung zu den Akteursvorstellungen und ‑praktiken setzen. (Roters & Trautmann 2014: 57)

An dieser Stelle setzt die vorliegende Arbeit an und nimmt die Professionalisierungsprozesse von berufserfahrenen Englischlehrkräften im Umgang mit kultureller und sprachlicher Heterogenität im Verlauf einer siebenmonatigen Lehrkräftefortbildung9 in den Blick. In Anlehnung an Bonnet und Hericks (2014b: 88) wird Professionalisierung als ein lebenslanger berufsbiographischer Prozess der Wahrnehmung, Deutung und Bearbeitung von allgemeinen, unterrichts- sowie fachbezogenen Handlungsanforderungen verstanden, „in deren Zuge sich vorhandene Kompetenzen und Orientierungen weiterentwickeln, ausdifferenzieren und transformieren“ (vgl. Kapitel 2.5). Der Fokus dieser Arbeit liegt auf der Handlungspraxis von Englischlehrkräften im Umgang mit kultureller und sprachlicher Heterogenität und damit auf den Orientierungen, die diese Praxis strukturieren. Weiterhin wird auf potenzielle Veränderungs- und Stabilisierungsprozesse bezüglich der Wahrnehmung und Bearbeitung der Handlungsanforderungen von Englischlehrkräften im Umgang mit kultureller und sprachlicher Heterogenität geblickt, wie sie sich im Verlauf einer Lehrkräftefortbildung ereignen können.

Wie in Kapitel 5 ausführlich dargelegt wird, befinden sich diese Prozesse auf der Ebene des impliziten Wissens, zu deren Sichtbarmachung es eines rekonstruktiven Verfahrens bedarf. Hierfür wurde die Dokumentarische Methode gewählt (vgl. Bohnsack et al. 2013). Die Datenbasis der vorliegenden Arbeit bilden 24 Interviews, die mit 12 berufsroutinierten Englischlehrkräften zu zwei Zeitpunkten geführt wurden. Durch die dokumentarische Auswertung der Daten wird ein systematischer Zugang zu den Wissensbeständen und Relevantsetzungen möglich, welche die Handlungspraxis der Lehrkräfte strukturieren. Die Besonderheit der Datenauswertung liegt in der Rekonstruktion von Professionalisierungsprozessen im Längsschnitt anhand von ausführlichen Einzelfallanalysen. So können tentative Aussagen darüber getroffen werden, wie sich berufsroutinierte Englischlehrkräfte im Verlauf einer Fortbildung professionalisieren können. Auch wird offen gelegt, welche Anforderungen sie hierbei hinsichtlich des Umgangs mit kultureller und sprachlicher Heterogenität wahrnehmen und wie sie diese bearbeiten. Die Ergebnisse dieser Studie geben damit einen Einblick in die Sinnstrukturierung des Handelns berufsroutinierter Englischlehrkräfte und ermöglichen eine Annäherung an die Frage, weshalb ein systematischer Einbezug von kultureller und sprachlicher Heterogenität in den Englischunterricht trotz positiver Einstellungen bislang nicht stattfindet.

1.2Aufbau der Arbeit

Zu Beginn dieser Arbeit werden die theoretischen und konzeptionellen Überlegungen zu den für diese Arbeit zentralen Themenfeldern Professionalisierung sowie kulturelle und sprachliche Heterogenität dargelegt. Beginnend mit dem Themenfeld Professionalisierung wird in Kapitel 2 der professionstheoretische Rahmen dieser Arbeit entfaltet. Hierfür werden Ansätze zur Bestimmung und Beschreibung der Professionalität und Professionalisierung von Lehrkräften aus einer schulpädagogischen Perspektive skizziert. Hieran anschließend wird eine fachspezifische Perspektive eingenommen und ein Forschungsüberblick über die fremdsprachendidaktische Lehrer*innenforschung gegeben. Diese beiden Perspektiven werden abschließend zusammengeführt und das dieser Arbeit zugrundeliegende Verständnis von sowie der gewählte Zugang zur Professionalität und Professionalisierung von Englischlehrkräften abgeleitet. In Kapitel 3 erfolgt eine begriffliche Annäherung an den Heterogenitätsbegriff sowie die Heterogenitätsdimensionen Kultur und Sprache, um anschließend deren Bedeutung für den Fremdsprachenunterricht sowie das Handeln von Fremdsprachenlehrkräften herauszustellen. Hierbei wird zum einen eine bildungspolitische Perspektive eingenommen und Anforderungen an das unterrichtliche Handeln von Fremdsprachenlehrkräften zum Umgang mit kultureller und sprachlicher Heterogenität aus ausgewählten Curricula sowie bildungspolitischen Rahmenpapieren herausgearbeitet. Zum anderen wird aus empirischer Perspektive ein Überblick über den aktuellen Forschungsstand der Fremdsprachendidaktik zum Thema kulturelle und sprachliche Heterogenität gegeben. Der Fokus liegt hierbei auf der Lehrer*innenperspektive und ihrer unterrichtlichen Handlungspraxis im Umgang mit dem genannten Themenfeld.

In Kapitel 4 werden die beiden gegenstandstheoretischen Schwerpunkte zusammengeführt und die Forschungslücke präzisiert, zu deren Schließung die vorliegende Arbeit beiträgt. In diesem Zuge werden die Forschungsfragen präsentiert sowie der Projektkontext erläutert, in welchem die vorliegende Arbeit durchgeführt wurde. Auch wird die Konzeption der Lehrkräftefortbildung beschrieben sowie deren inhaltliche Schwerpunkte skizziert.

In Kapitel 5 werden die methodologischen und methodischen Grundlagen der Datenerhebung und -auswertung erläutert. Hierfür werden in einem ersten Schritt gegenstandstheoretische Vorüberlegungen angestellt und die methodologischen Prämissen zur Bearbeitung der Forschungsfragen abgeleitet. In einem zweiten Schritt erfolgt die Verortung dieser Arbeit in der qualitativ-rekonstruktiven Sozialforschung sowie der praxeologischen Wissenssoziologie, die in ihren jeweiligen Grundzügen skizziert werden. In diesem Zuge wird die Dokumentarische Methode mit ihren Grundannahmen und Grundbegriffen dargestellt, die anschließend auf den Forschungsgegenstand dieser Arbeit angewendet werden. Auf den methodologischen Überlegungen aufbauend wird die methodische Durchführung der vorliegenden Studie skizziert. Hierfür werden die Grundzüge des narrativ-episodischen Interviews beschrieben sowie dessen Eignung für das Forschungsvorhaben begründet. Weiterhin wird das Vorgehen bei der Datenerhebung beschrieben und hierbei auf den Zugang zum Feld, das Sampling, die Durchführung der Interviews sowie auf forschungsethische und datenschutzbezogene Überlegungen eingegangen. In Kapitel 6 werden die Analyseschritte der Dokumentarischen Methode angewendet auf den Forschungsgegenstand dieser Arbeit beschrieben.

In Kapitel 7 werden die Typenbildungen und damit die zentralen Ergebnisse der vorliegenden Arbeit dargestellt. In einem ersten Schritt werden grundlegende Überlegungen zum Verfahren der mehrdimensionalen sinngenetischen Typenbildung angestellt sowie die Entscheidung für dieses Verfahren begründet. In einem zweiten Schritt werden die Ergebnisse der mehrdimensionalen sinngenetischen Typenbildung entlang der rekonstruierten Typen präsentiert und anhand von ausgewählten Datenbeispielen transparent gemacht. Im Anschluss hieran werden in der relationalen Typenbildung Zusammenhänge zwischen den in der mehrdimensionalen Typenbildung rekonstruierten Orientierungsrahmen herausgearbeitet und zu drei übergreifenden Typen abstrahiert. Im abschließenden Teil des Kapitels wird eine längsschnittliche Perspektive auf die Daten eingenommen. Ausgehend von den relationalen Typen werden auf der Ebene des Einzelfalls Potenziale für Professionalisierung im Sinne von Veränderungs- und Stabilisierungsprozessen der handlungsleitenden Orientierungen hinsichtlich des Umgangs mit kultureller und sprachlicher Heterogenität herausgearbeitet.

In Kapitel 8 werden die Ergebnisse zusammengefasst und an den theoretischen Hintergrund dieser Arbeit zurückgebunden. Es werden drei dieser Arbeit zugrundeliegende Bezugspunkte ausgewählt, anhand derer die Ergebnisse entlang der Forschungsfragen diskutiert werden: Kulturelle und sprachliche Heterogenität, Englischunterricht und Professionalisierung. Hieran anschließend werden aus den Ergebnissen dieser Arbeit Implikationen für die (fremdsprachendidaktische) Lehrer*innenbildung gegeben. In Kapitel 9 wird auf Basis der gewonnenen Erkenntnisse ein Fazit gezogen sowie Anknüpfungspunkte für künftige fremdsprachendidaktische Forschung aufgezeigt.

2Professionalität und Professionalisierung von (Englisch‑)Lehrkräften

Die Professionalität und Professionalisierung von Lehrkräften sind in den letzten Jahren vor allem in bildungswissenschaftlicher und schulpädagogischer Forschung zu einem vieldiskutierten Thema avanciert. Auch in der Fremdsprachendidaktik lässt sich eine Hinwendung zu den Lehrkräften und ihrem unterrichtsbezogenen Handeln ausmachen. Dies gründet zum einen auf dem nachgewiesenen Zusammenhang zwischen Lehrer*innenhandeln und Unterrichtsqualität (z. B. Helmke 2015). Zum anderen machen es gesellschaftliche und (bildungs‑)politische Entwicklungen, wie Migrations- und Fluchtbewegungen, Globalisierung und Digitalisierung erforderlich, sich intensiver mit der (fach-)unterrichtlichen Anforderungspraxis sowie der Perspektive der Fremdsprachenlehrkräfte zu beschäftigen (vgl. Gerlach, Roters & Steininger 2020). Der fremdsprachendidaktische Professionalisierungsdiskurs beschäftigt sich hierbei mit den folgenden Fragen (vgl. Legutke & Schart 2016a; Burwitz-Melzer, Riemer & Schmelter 2018; Gerlach, Roters & Steininger 2020):

Wodurch zeichnen sich eine professionelle Fremdsprachenlehrkraft und ihr Handeln aus?

Welche (fachspezifischen) Wissensbestände und Kompetenzen sind für die professionelle Bewältigung von berufs- bzw. unterrichtsbezogenen Handlungsanforderungen nötig?

Wie können Professionalität und Professionalisierung im Rahmen der dreiphasigen Lehrer*innenbildung10 angebahnt, gefördert und verbessert werden?

Diese Fragen werden im vorliegenden Kapitel näher beleuchtet. Hierzu bedarf es zunächst jedoch der Klärung der für diese Arbeit zentralen Begriffe Profession11, Professionalität und Professionalisierung (vgl. Kapitel 2.1) sowie des Lehrer*innenwissens (vgl. Kapitel 2.2). Hieran anschließend wird der professionstheoretische Rahmen dieser Arbeit dargestellt und diejenigen Ansätze skizziert, die sich zur Bestimmung und Beschreibung der Professionalität und Professionalisierung von (Fremdsprachen-)Lehrkräften im deutschsprachigen Raum etabliert haben (vgl. Kapitel 2.3). Es folgt die Betrachtung von Professionalität und Professionalisierung aus einer fachspezifischen Perspektive (vgl. Kapitel 2.4). In diesem Zuge wird ein Überblick über den Forschungsstand der fremdsprachendidaktischen Professionsforschung gegeben und aktuelle Tendenzen herausgearbeitet, die sich im Kontext der Untersuchung der Professionalität und Professionalisierung von Fremdsprachenlehrkräften herauskristallisiert haben. Hierbei wird vor allem auf die Bedeutung des expliziten Wissens (vgl. Kapitel 2.4.1), des subjektiven Wissens (vgl. Kapitel 2.4.2) sowie des impliziten Wissens (vgl. Kapitel 2.4.3) für das Handeln von Lehrkräften geschaut. Das Kapitel schließt mit der Konkretisierung des gewählten Zugangs zur Untersuchung der Professionalität und Professionalisierung von Englischlehrkräften (vgl. Kapitel 2.5).

2.1Profession, Professionalität und Professionalisierung

In einem berufssoziologischen Verständnis wird der Begriff der Profession in Abgrenzung zum Begriff des Berufs verwendet, um die Spezifität bestimmter beruflicher Tätigkeiten hervorzuheben und Berufe anhand von bestimmten Kriterien voneinander zu unterscheiden (vgl. Horn 2016). Berufe werden als diejenigen Tätigkeiten verstanden, die in kontinuierlicher Form an Erwerbsarbeit sowie ein Mindestmaß an Qualifikation und Schulung gebunden sind (vgl. Helsper 2021: 52; vgl. auch Kurtz 2001: 189). Professionen sind „the knowledge-based category of occupations which usually follow a period of tertiary education and vocational training and experience“ (Evetts 2003: 397). Damit können alle Professionen als berufliche Tätigkeiten, jedoch nicht alle Berufe auch als Professionen aufgefasst werden (vgl. Helsper 2016). In einem ‚klassischen‘ Verständnis, welches lange Zeit zur Beschreibung der ‚freien Berufe’, wie z. B. Ärzt*innen und Jurist*innen, herangezogen wurde, lassen sich Professionen über folgende Merkmale charakterisieren (vgl. u. a. Lundgreen 2011: 9; vgl. auch Helsper 2021):

eine lang andauernde, theoretisch fundierte akademische Ausbildung,

spezifische berufsständische Normen12 (code of ethics),

wissenschaftlich fundiertes Sonderwissen und Fachterminologie,

das Verfügen über Autonomie in der Berufsausübung,

sowie eine Orientierung am Gemeinwohl.

Diese Charakteristika werden im wissenschaftlichen Diskurs jedoch zunehmend kritisiert und gerade in Bezug auf den Lehrer*innenberuf in Frage gestellt (vgl. Helsper 2021). So ist die Autonomie von Lehrkräften beispielsweise aufgrund ihrer „starken Einbindung in den hierarchisch-bürokratisch geregelten Apparat der Staatsschule“ (Terhart: 2011: 204) eingeschränkt. Auch aufgrund der sich stetig wandelnden gesellschaftlichen Anforderungen lässt sich die berufliche Tätigkeit von Lehrkräften nicht mit einem starren merkmals- und klassifikationsorientierten Zugang fassen. Stattdessen wird ein pragmatisches Verständnis von Professionen zugrunde gelegt:

A different way of categorizing […] is to see professions as the structural, occupational and institutional arrangements for dealing with work associated with the uncertainties of modern lives in risk societies. Professionals are extensively engaged in dealing with risk, with risk assessment and, through the use of expert knowledge, enabling customers and clients to deal with uncertainty. (Evetts 2003: 397)

Da es professionell Handelnde zunehmend mit den Ungewissheiten und Risiken der modernen Gesellschaften zu tun haben, wird der Fokus auf die Einbettung der professionell Tätigen in gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge gerichtet und die Strukturlogik der professionellen und von Unsicherheiten geprägten Handlungspraxis in den Blick genommen. Mit Helsper (2021: 55) lassen sich Professionen vor diesem Hintergrund als

jene Formen des beruflichen Handelns […] bestimmen, die mit der stellvertretenden Krisenlösung für Personen betraut sind, wobei sich diese Krise auf zentrale Werte bezieht: etwa auf Gesundheit, psychische Integrität, auf Gerechtigkeit, soziale Teilhabe bzw. Inklusion und Bildung.

Für den Lehrberuf bedeutet dies, dass nicht mehr die Frage im Mittelpunkt steht, ob und inwiefern dieser eine Profession sei13 (vgl. Hericks 2019: 114). Vielmehr wird versucht, die Professionalität der Lehrkräfte kontextgebunden über die „Rekonstruktion der Handlungs- und Anforderungsstruktur“ (Helsper & Tippelt 2011: 272) zu fassen. Diesem Verständnis nach „werden Profession und ‚Professionalität‘ entkoppelt: Professionalität kann sich ohne Profession und Profession ohne Professionalität ereignen“ (ebd).

Professionalität lässt sich in zwei Bedeutungsvarianten ausdifferenzieren und bezieht sich im Allgemeinen auf das konkrete Handeln professioneller Akteur*innen. In einem weiteren Sinne wird Professionalität, ähnlich wie der englische Begriff professionalism, als ideologisch-normativer Begriff verwendet (vgl. Evans 2008) und in einen engen Zusammenhang mit der Profession an sich sowie den damit verbundenen Statūs14 und Privilegien der Professionsangehörigen (wie Gehalt, Macht und Ansehen) gebracht. Professionalität in diesem Sinne lässt sich als eine „Zuschreibung an die Gesamtheit der Angehörigen einer Profession“ (vgl. Horn 2016: 155) verstehen. Bezogen auf das oben beschriebene Verständnis von Professionen zeigt sich, dass Professionalität jedoch nicht notwendigerweise an Professionen gekoppelt sein muss, denn „nicht jedes berufliche Handeln von Professionellen wäre auch als professionell im Sinne von Professionalität zu kategorisieren“ (Helsper 2021: 56). Demnach fokussiert Professionalität im engeren Sinne, ähnlich wie der englische Begriff professionality, auf die qualitätsvolle Ausübung und Erfüllung beruflicher Anforderungen sowie Aufgaben der professionell Handelnden, was bestimmte Wissensbestände und Kompetenzen erfordert (vgl. Horn 2016). Mit Helsper (2021) ist dann von Professionalität zu sprechen, wenn die professionell Handelnden

[…] über die entsprechenden Voraussetzungen – also über verschiedene Wissensformen, insbesondere wissenschaftlich gesichertes und feldspezifisches Wissen, erfahrungsgesättigte Praxen und Handlungsmuster, (selbst)reflexive Fähigkeiten, soziale Kompetenzen und Routinen der Interaktion und Beziehungsgestaltung, verstehende Kompetenzen der Sinnerschließung des Anderen und des Fallverstehens […] verfügen, die sie in konkreten sozialen professionellen Situationen interaktiv zur Geltung bringen können. (ebd.: 56)

Bezogen auf das Handeln von Lehrkräften sind mit Professionalität „knowledge, skills and procedures that teachers use“ (Evans 2008: 8f.) gemeint, um die Anforderungen der Schul- und Unterrichtspraxis mit einer bestimmten Qualität bearbeiten zu können. So verstanden beschreibt der Begriff der Professionalität „einen Zustand von Beruflichkeit“ (Kemnitz & Nittel 2012: 34f.). Wie sich in den folgenden Kapiteln zeigen wird, kommt es bei professionellem Lehrer*innenhandeln zudem vor allem auf das Reflektieren der eigenen Handlungspraxis an. Dies spielt nicht nur bei gelingender Bearbeitung von berufs- und fachspezifischen Handlungsanforderungen eine Rolle. Der reflexiven und (selbst‑)kritischen Auseinandersetzung mit dem eigenen Handeln und dessen Fehleranfälligkeit kommt vor allem im Moment des Scheiterns eine zentrale Bedeutung zu (vgl. Helsper 2021: 56).

Auch der Begriff der Professionalisierung lässt sich in zweierlei Hinsicht fassen. Auf einer kollektiven bzw. gesellschaftlich-institutionellen Ebene ist mit dem Begriff die Entwicklung eines meist akademischen Berufes hin zu einer Profession mit den oben genannten Kriterien gemeint. Auch wird hierunter die Erzeugung sowie die soziale Institutionalisierung der Grundlagen für Professionalität verstanden, welches beispielsweise über das Errichten spezifischer Studiengänge, Praxisphasen oder Fort- und Weiterbildungsangebote erreicht wird (vgl. ebd.: 57). Darüber hinaus bezieht sich Professionalisierung in einem gesellschaftlich-institutionellen Sinne auf die Sicherung und Etablierung von gesetzlichen Rahmenbedingungen, welche die Herausbildung von Professionalität erst ermöglichen und damit eine institutionelle Handlungsbasis darstellen. Ein Beispiel hierfür ist die Etablierung einer Schweigepflicht oder eines organisatorischen Rahmens, welcher das professionelle Handeln nicht durch widersprüchliche Vorgaben behindert (vgl. ebd.). Auf individueller Ebene meint Professionalisierung einen (berufs‑)biographischen Prozess der Herausbildung von bestimmten Wissensbeständen, Kompetenzen, Motiven und Orientierungen als Voraussetzung, um die spezifischen Anforderungen eines beruflichen Handlungsfeldes bearbeiten und damit die Entwicklung von Professionalität ermöglichen zu können. Damit ist Professionalisierung in diesem Sinne ein individueller Bildungsprozess. Horn (2016) erweitert den Begriff der Professionalisierung auf der individuellen Ebene und schließt die Entwicklung, Ausbildung und Aufrechterhaltung einer professionellen Identität15, d. h. eines beruflichen Selbstverständnisses, mit ein.

Bezogen auf das Handlungsfeld von Lehrkräften bezieht sich Professionalisierung auf die kontinuierliche (berufs-)biographische (Weiter-)Entwicklung der beruflichen Fähigkeiten zur Bewältigung schulischer und (fach-)unterrichtsbezogener Handlungsanforderungen (vgl. Helsper 2007: 579). Diese Form von Professionalisierung findet meist in institutionellen Kontexten statt und vollzieht sich im deutschsprachigen Raum im Rahmen der dreiphasigen Lehrer*innenbildung16. Auch mit dem Begriff der Deprofessionalisierung werden Entwicklungsprozesse in den Blick genommen, allerdings mit einem gegenüber dem Verständnis von Professionalisierung negativen Vorzeichen (vgl. Helsper 2021: 58). Deprofessionalisierung bezieht sich auf die durch gesellschaftliche oder soziale Veränderungen hervorgerufene Einschränkung, Bedrohung oder Beeinträchtigung des professionellen Handelns. Dies ist zum Beispiel der Fall, wenn professionell Handelnde durch äußere Zwänge (z. B. durch eine zunehmende Bürokratisierung und Ökonomisierung) in ihrer Handlungsautonomie und -offenheit im Umgang mit ihren Klient*innen beschränkt werden. Bezogen auf das Handlungsfeld Schule und Unterricht könnte sich Deprofessionalisierung darin zeigen, dass sich Lehrkräfte gänzlich in Schule geltenden Normen unterordnen und von diesen in ihrem unterrichtlichen Handeln fremdbestimmt werden, ohne dies jedoch zu reflektieren.

Die bis hierhin entfalteten Begriffsverständnisse sind für diese Arbeit insofern relevant, als mit dem Fokus auf die Professionalisierung von Englischlehrkräften im Umgang mit kultureller und sprachlicher Heterogenität individuelle Entwicklungsprozesse in den Blick genommen werden, die sich im Rahmen einer Lehrkräftefortbildung zum genannten Themen- und Handlungsfeld identifizieren lassen. Diese Prozesse schließen den Erwerb sowie die (Weiter‑)Entwicklung spezifischer handlungsfeldbezogener Wissensbestände, Kompetenzen, Orientierungen und Haltungen mit ein, die zur Wahrnehmung und Bewältigung der Handlungsanforderungen im Umgang mit kultureller und sprachlicher Heterogenität im Englischunterricht von Bedeutung sind. Wie in Kapitel 2.5 weiter ausgeführt wird, geht es hierbei weniger darum, aus einer normativen Perspektive „die Qualität des beruflichen Könnens“ (Kemnitz & Nittel 2012: 34f.) der in dieser Arbeit befragten Englischlehrkräfte, d. h. deren Professionalität im Umgang mit kultureller und sprachlicher Heterogenität zu messen oder zu bewerten. Vielmehr wird auf die individuellen Prozesse geschaut, die sich auf dem Weg der Herausbildung von Professionalität ereignen. Miteingeschlossen sind dabei auch Prozesse von Deprofessionalisierung.

2.2Das professionelle Wissen von Lehrkräften

Zu den zentralen Fragen der Lehrer*innenbildung zählen, was Lehrkräfte wissen und können sollen, um professionell zu handeln, und welche Art von Wissen in welchem Maße dieses Handeln beeinflusst17. Hierbei wird die unmittelbare Verbindung zwischen Wissen, Können und Handeln zunehmend in Frage gestellt und unter dem Aspekt des ‚Theorie-Praxis-Problems‘ bzw. des ‚Wissen-Können-Problems‘ in der Lehrkräftebildung diskutiert (vgl. Caruso et al. 2021; Neuweg 2022). Wenn in der vorliegenden Arbeit über professionelles Wissen gesprochen wird, muss zwischen verschiedenen Wissensformen unterschieden werden, die sich auf unterschiedlichen Ebenen verorten lassen: Explizites Wissen, häufig auch als deklaratives Wissen bezeichnet, meint theoretische bzw. wissenschaftliche Wissensbestände, die zumeist im Rahmen der Ausbildung erworben werden und von den handelnden Lehrkräften explizit versprachlicht werden können. Daneben bezeichnet das implizite Wissen18 ein auf Erfahrung basierendes Wissen, welches den Lehrkräften meist nicht diskursiv verfügbar ist und somit nicht unmittelbar verbalisiert werden kann. Dieses Wissen lässt sich beispielsweise durch die Beobachtung von Handeln oder dessen symbolischen Repräsentationen19 von außen durch Forscher*innen rekonstruieren.

Bezogen auf diese Wissensebenen lassen sich weiterhin unterschiedliche Wissensformen unterscheiden. Die wohl bekannteste Differenzierung des Lehrer*innenwissens stammt von Shulman (1986, 1987) und wird auch in aktuellen Studien herangezogen (vgl. z. B. Roters et al. 2011; Jansing et al. 2013; Kirchhoff 2016; König et al. 2017). Shulman setzte sich mit der grundlegenden Frage auseinander, welches Wissen bzw. welche Wissensformen für das Unterrichten von Lehrkräften essenziell sind. Hierbei stellte er fest, dass sich Forschung und Praxis vornehmlich auf Aspekte des classroom management der Lehrkräfte fokussieren und hierdurch das Inhaltswissen (contentknowledge) in den Hintergrund gerät. Dieses rückte er mit seiner Taxonomie des Lehrer*innenwissens wieder in den Mittelpunkt und arbeitete daneben sechs weitere Kategorien des Lehrer*innenwissens heraus (vgl. Shulman 1987: 8):

allgemein-pädagogisches Wissen (general pedagogical knowledge)

curriculares Wissen (curriculum knowledge)

fachdidaktisches Wissen (pedagogical content knowledge)

Wissen über Lernende und ihre Eigenschaften (knowledge of learners and their characteristics)

Wissen über pädagogische Kontexte (knowledge of educational contexts)

Wissen über pädagogische Ziele und Werte (knowledge of educational ends, purposes, and values, and their philosophical and historical grounds)

Besondere Beachtung hat das fachdidaktische Wissen (pedagogical content knowledge) erfahren, da es das Wissen um curriculare Inhalte und fachwissenschaftliche Konzepte mit dem Wissen um unterrichtsmethodische Aspekte, d. h. um die Vermittlung und Zugänge dieser Fachinhalte und Konzepte, verbindet.

Bezogen auf das oben genannte ‚Theorie-Praxis‘ bzw. ‚Wissen-Können-Problem‘ in der Lehrer*innenbildung stellt sich die Frage, welche Wissensbestände tatsächlich für die Handlungspraxis der Lehrkräfte in welchem Maße wirksam werden. Gerade innerhalb der Wissenssoziologie wird davon ausgegangen, dass das implizite Wissen stärker handlungsleitend für die Praxis der Lehrkräfte ist (vgl. Mannheim 1964; Bohnsack 2017; vgl. auch Kapitel 5). Auch Helsper (2021) arbeitet die Bedeutung verschiedener Wissensformen und deren Verortung auf unterschiedlichen Wissensebenen heraus. So differenziert er zwischen 1) einem expliziten wissenschaftlichen (Begründungs-)Wissen, welches eine Grundlage für die Begründung der Angemessenheit des professionellen Handelns darstellt; 2) einem Handlungs- und Erfahrungswissen, welches sich überwiegend auf der Ebene des Impliziten befindet und in Situationen des Entscheidungsdrucks aufgrund erworbener Handlungsroutinen dafür sorgt, dass das Handeln der Lehrkräfte aufrechterhalten wird; 3) einem (rekonstruktiven) Fall- und Diagnosewissen20, mittels dessen die Angemessenheit des eigenen Handelns für einen konkreten Fall, d. h. für die individuellen Schüler*innen überprüft und eingeschätzt werden kann; sowie 4) einem (selbst)reflexiven und biographischen Wissen, das zur Reflexion des eigenen Handelns, dessen Rahmenbedingungen und Voraussetzungen sowie den eigenen biographischen Erfahrungen befähigt (vgl. ebd.: 136ff.). Dieses Wissen nimmt eine Zwischenposition zwischen theoretischem Wissen und Erfahrungswissen ein.

In ähnlicher Weise differenziert auch Neuweg (2022) das Wissen von Lehrkräften und hebt hierbei die Bedeutung sowie das Zusammenspiel von impliziten und expliziten Wissensbeständen hervor. Unter Wissen 1 fasst er explizierbares, kodifiziertes theoretisches Wissen, welches im Rahmen der Ausbildung erworben wird und sich von Können und Erfahrung abgrenzen lässt. Dieses Wissen lässt sich nicht unmittelbar in Handlungen übersetzen. Wissen 2 bezeichnet ein subjektives Wissen, welches zumeist implizit ist. Dieses bezieht sich vor allem auf mentale Strukturen, Schemata sowie prozedurales Wissen als Ergebnis des Lernens und basiert auf Wissen 1 sowie Erfahrung. Mit Wissen 3 wiederum ist ein implizites Wissen gemeint, das sich in der Handlungspraxis der Lehrkräfte manifestiert und „nur dadurch zugänglich [ist], dass das professionelle Handeln in der Praxis selbst beobachtet wird“ (ebd.: 137; C.L.). Wissen 3 ist durch Forscher*innen beobachtbar und für die vorliegende Arbeit besonders relevant.

Anhand der dargestellten Differenzierungen des Lehrer*innenwissens ist deutlich geworden, dass es sich hierbei um ein komplexes Konstrukt handelt, welches sich zwischen den beiden Polen des expliziten, theoretischen Wissens sowie des impliziten, erfahrungsbasierten Wissens bewegt. Auch schwingt die Diskussion um die Frage des Bewusstheitsgrades dieses Wissens sowie dessen Bedeutung für die tatsächliche professionelle Handlungspraxis der Lehrkräfte mit21. Für die vorliegende Arbeit kommt den genannten Wissensebenen eine bedeutende Rolle zu, da untersucht wird, welche expliziten Wissensbestände zum Umgang mit kultureller und sprachlicher Heterogenität bei den befragten Englischlehrkräften vorherrschen und in welchem Verhältnis22 diese zu ihren impliziten Wissensbeständen stehen. Dieses Verhältnis wird durch die Rekonstruktion der Spannungen zwischen Normen und Habitus sowie deren Bearbeitung durch die in dieser Arbeit befragten Englischlehrkräfte in den Blick genommen, um Prozesse von Professionalisierung herauszuarbeiten (vgl. Kapitel 5.1.4 und 6.2.5).

2.3Bestimmungsansätze zur Professionalität und Professionalisierung von Lehrkräften

Im Folgenden werden die zentralen Ansätze zur Beschreibung und Bestimmung der Professionalität und Professionalisierung von Lehrkräften dargestellt, die das professionelle Wissen und Können der Akteur*innen auf je unterschiedliche Art und Weise konzeptualisieren.

In der erziehungswissenschaftlichen und schulpädagogischen Professionsforschung haben sich im deutschsprachigen Raum drei zentrale Ansätze23 zur Bestimmung und Beschreibung von Professionalität und Professionalisierung von Lehrkräften herauskristallisiert. Diese sind inzwischen auch im fremdsprachendidaktischen Professionsdiskurs etabliert (vgl. z. B. Bonnet & Hericks 2014a; Viebrock 2014; Gerlach 2020a; Püster 2021). Mit Terhart (2011) lassen sich der kompetenztheoretische, der strukturtheoretische sowie der berufsbiographische Bestimmungsansatz unterscheiden. Diese Ansätze bilden den professionstheoretischen Rahmen der vorliegenden Arbeit und dienen als Grundlage für die fachspezifische und gegenstandsbezogene Betrachtung der Professionalität und Professionalisierung von Englischlehrkräften (Kapitel 2.4).

2.3.1Der kompetenztheoretische Ansatz

Der kompetenztheoretische Ansatz legt den Fokus auf die Bestimmung von Professionalität und geht hierbei von möglichst genauen Beschreibungen der Kompetenzen und Wissensbereiche aus, die Lehrkräfte für die professionelle Bewältigung ihrer berufsbezogenen Aufgaben benötigen. Im Mittelpunkt stehen hierbei die Operationalisierung, Messung und Modellierung professionellen Wissens sowie Kompetenzen, welche mit Weinert (2001) verstanden werden als die

[…] bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können. (ebd.: 27f.)

Der kompetenztheoretische Ansatz geht damit primär von expliziten Wissensbeständen aus und rahmt diese als grundsätzlich erlern- und vermittelbar. Auch ist diesem Ansatz die Idee der Steigerbarkeit inhärent, sodass sich Grade von Lehrer*innenprofessionalität unterscheiden lassen (vgl. Terhart 2011: 208). Professionalität bemisst sich einerseits am Erreichen bestimmter Kompetenzniveaus. Zum anderen ist der intendierte Effekt des Lehrer*innenhandelns, nämlich der Lern- und Erfahrungszuwachs der Schüler*innen, von Bedeutung. In diesem Zusammenhang beschäftigen sich kompetenztheoretische Ansätze insbesondere mit der „empirische[n] Erforschbarkeit des komplexen unterrichtlichen Geschehens“ (ebd.: 207; C.L.) sowie mit der Frage, welche Art von Wissen auf welche Weise in den einzelnen Phasen der Lehrer*innen(aus-)bildung vermittelt werden sollte, sodass Lehrkräfte qualitätsvollen Unterricht gestalten können. Damit verbunden ist eine empirische Forschung,

[…] die mit ihren Erkenntnissen über Prozesse des Wissenserwerbs während der Lehrerausbildung informiert sowie Möglichkeiten aufzeigen kann, wie solche Prozesse durch geeignete Rahmenbedingungen, curriculare Ausrichtungen, Ausbildungsstrukturen und andere Ausbildungsfaktoren gezielt unterstützt bzw. optimiert werden können. (König 2016: 138)

In einem engen Zusammenhang mit diesen Überlegungen stehen die Ansätze der Expertiseforschung, welche Professionalität als Eigenschaft von Personen (in diesem Fall von Lehrkräften) auffassen, die als Expert*innen betrachtet werden (vgl. Reinisch 2009: 37). Der Grundgedanke hierbei ist, „dass die (erfolgreiche) Tätigkeit von Lehrkräften auf Wissen und Können beruht, das in der Ausbildung in theoretischen und praktischen Phasen gewonnen und dann durch Berufserfahrung weiterentwickelt wurde“ (Bromme 2008: 159). Der Erwerb sowie die Genese dieses Wissens wird in Expertiseansätzen häufig in Form von gestuften Kompetenzmodellen dargestellt, welche zwischen dem Wissen und der Kompetenzen von Laien und Expert*innen unterscheiden24.

Eines der einflussreichsten und grundlegendsten Rahmenmodelle des kompetenztheoretischen Professionsansatzes ist das Modell der professionellen Handlungskompetenz nach Baumert und Kunter (2006), welches im Zuge der COACTIV Studie entwickelt wurde. Dieses Modell geht auf die Unterteilung des Lehrer*innenwissens nach Shulman (1986, 1987; vgl. Kapitel 2.2) zurück und modelliert professionelle Kompetenz von Lehrkräften als ein mehrdimensionales Konstrukt, bestehend aus Überzeugungen/Werthaltungen, selbstregulativen Fähigkeiten, motivationalen Orientierungen sowie dem Professionswissen. Letzteres untergliedert sich in verschiedene Wissensbereiche, die auf drei der von Shulman herausgearbeiteten Wissensdomänen basieren. Diese sind das pädagogische Wissen, das Fachwissen sowie das fachdidaktische Wissen. Ergänzt werden diese Domänen um das Organisations- und Beratungswissen (vgl. Baumert & Kunter 2006: 482).

Baumert und Kunters Modell fand zunächst im Rahmen großangelegter Studien zur Bestimmung der professionellen Kompetenzen von Mathematiklehrkräften in unterschiedlichen Phasen der Lehrer*innenbildung Anwendung (für Mathematiklehrkräfte vgl. COACTIV, Kunter et al. 2011; für angehende Mathematiklehrkräfte im internationalen Vergleich vgl. TEDS-M, Blömeke, Kaiser & Lehmann 2010; für Mathematiklehrkräfte in der Berufseingangsphase vgl. TEDS-FU, Blömeke et al. 2015). Später wurde die Kompetenzforschung auch auf Deutsch- und Englischlehrkräfte ausgeweitet (Blömeke et al. 2011; Blömeke et al. 2015). Mit den Ergebnissen dieser Studien geraten Lehrkräfte mit ihrem professionellen Wissen sowie entsprechender Kompetenzen gerade auch vor dem Hintergrund der Qualitätssicherung in der Lehrer*innenbildung und deren Gestaltung in den Fokus. Diskutiert werden hierbei insbesondere die Fragen danach, was (angehende) Lehrkräfte wissen müssen, wenn sie die ersten beiden Phasen der Lehrer*innenbildung abgeschlossen haben und wie eine qualitätsvolle sowie kompetenzfördernde Lehrer*innenbildung gestaltet und sichergestellt werden kann (vgl. Blömeke et al. 2010).

Es zeigt sich also, dass der kompetenztheoretische Ansatz auf „die Sicherung einer qualitätsvollen Lehrerausbildung“ (Baumert & Kunter 2006: 469) zielt, was mit einer normativen und auf Standards ausgerichteten Betrachtung der Professionalität von Lehrkräften verbunden ist. Cramer (2012) kritisiert diese Sichtweise, indem er betont, dass „Professionalität im Lehrerberuf […] mehr [meint] als das Erreichen eines bestimmten Niveaus an professioneller Handlungskompetenz“ (ebd.: 520; C.L.). Hieran schließen sich auch Vertreter*innen der Strukturtheorie an, denn mit dem Fokus auf messbare, operationalisierbare sowie standardisierbare Kompetenzen und Wissensbestände bleibe „das ‚Soziale‘ des Unterrichts“ (Helsper 2007: 575), d. h. die Interaktion zwischen Lehrkräften und ihren Schüler*innen, weitestgehend unberücksichtigt. Diese Interaktion ist jedoch von Unsicherheit und Unplanbarkeit gekennzeichnet (vgl. Kapitel 2.3.2), was wiederum einer Standardisierung und Normierung von professionellem Lehrer*innenhandeln entgegensteht. Auch wird die Relationierung von impliziten und expliziten Wissensbeständen im kompetenztheoretischen Ansatz weitestgehend ausgeklammert. Stattdessen wird mit der Modellierung und Operationalisierung von genau bestimmbaren Kompetenzen eine „neue didaktische Illusion“ (ebd.) erzeugt, die suggeriert, dass sich explizite, theoretische und kognitiv vorhandene Wissensbestände unmittelbar in Handeln übersetzen lassen.

Wie sich anhand der Darstellung des Forschungsstandes zum Umgang mit kultureller und sprachlicher Heterogenität (vgl. Kapitel 3.4) sowie im empirischen Teil dieser Arbeit (vgl. Kapitel 7) zeigen wird, sind es vor allem die impliziten Wissensbestände, die das Handeln der befragten Englischlehrkräfte und damit deren Umgang mit kultureller und sprachlicher Heterogenität beeinflussen, weshalb der Fokus dieser Arbeit auf der Rekonstruktion von impliziten Wissensbeständen liegt. Nichtsdestotrotz spielen für die vorliegende Arbeit explizite Wissensbestände, die den befragten Lehrkräften zum Umgang mit kultureller und sprachlicher Heterogenität im Verlauf der begleiteten Fortbildung vermittelt wurden, eine Rolle. Sie dienen als (Wissens-)Basis für den Umgang mit kultureller und sprachlicher Heterogenität im Englischunterricht sowie für die Begründung und Reflexion von (bisheriger) Handlungspraxis. Auch kommt explizites Wissen in Form von institutions- und organisationsbezogenen Normen zum Tragen, die von den befragten Lehrkräften individuell gerahmt werden. Hierauf wird in Kapitel 2.4.3 näher eingegangen.

2.3.2 Der strukturtheoretische Ansatz

Der strukturtheoretische Ansatz fokussiert die Strukturlogik des professionellen Handelns und geht im Anschluss an Oevermann (1996) davon aus, dass es professionell Handelnde mit „typischerweise zu lösenden Handlungsproblemen“ (ebd.: 70) zu tun haben, die in sich widersprüchlich und spannungsreich sind. Bezogen auf das Handeln von Lehrkräften zeigen sich diese Handlungsprobleme in der Interaktion mit Schüler*innen, nämlich bei der Wissens- und Normenvermittlung. Dies lässt das Moment der Krise in den Mittelpunkt rücken, welches im strukturtheoretischen Ansatz als konstitutiver Bestandteil von pädagogischem Handeln aufgefasst wird (vgl. Oevermann 2002). Mit dem Krisenbegriff sind hierbei keine traumatischen oder therapeutischen Krisen gemeint, sondern jene Krisen im pädagogischen Handeln, die entstehen, wenn bereits etablierte Handlungsroutinen nicht mehr greifen (vgl. hierzu Heinemann 2018: 42ff.). Diese Krisen machen sich wie folgt bemerkbar:

Lehrkräfte gelten nach Oevermann (1996, 2002) als Krisenauslöser*innen. Da Unterricht darauf beruht, dass Schüler*innen bestimmte Fach- und Sachinhalte (noch) nicht wissen, kann die Handlungspraxis der Lernenden in eine Krise geraten. Die zentrale Aufgabe der Lehrkräfte besteht darin, die in die Krise geratene Praxis ihrer Schüler*innen wiederherzustellen und damit deren Autonomie zu sichern. Dies geschieht, indem sie den Lernenden Lösungsmöglichkeiten zur selbstständigen Bewältigung fachlicher und unterrichtspraktischer Probleme aufzeigen. Somit sind Lehrkräfte gleichzeitig auch Krisenlöser*innen.

Jedoch kann auch die Handlungspraxis der Lehrkräfte selbst in eine Krise geraten, etwa dann, wenn eigene Handlungsroutinen und Überzeugungen nicht mehr greifen bzw. infrage gestellt werden. Im Kontext dieser Arbeit wäre es zum Beispiel denkbar, dass die in der Fortbildung vermittelten Inhalte dazu führen, dass Lehrkräfte ihren bisherigen Umgang mit kulturell und sprachlich heterogenen Schüler*innen hinterfragen. Auch wäre es denkbar, dass sich die Handlungsroutinen der Lehrkräfte in Bezug auf die (Lern-)Bedürfnisse dieser Schüler*innen als nicht mehr passend erweisen. Professionelles Lehrer*innenhandeln würde sich im Sinne des strukturtheoretischen Ansatzes dann darin erweisen, dass Lehrkräfte die eigene Autonomie wiederherstellen sowie „den ihnen [den Lehrkräften] durch ihren Berufsstand zugebilligten Ermessensspielraum […] nutzen und einzelfallbezogene Entscheidungen […] treffen“ (Bonnet & Hericks 2020: 286; C.L.).

Um den Schüler*innen Lösungsmöglichkeiten für die Bewältigung ihrer Krisen zur „Aufrechterhaltung und Gewährleistung von leiblicher und psychosozialer Integrität“ (Oevermann 2002: 23) aufzeigen zu können, müssen Lehrkräfte diese Probleme zunächst analysieren und deuten, um hierauf aufbauend entsprechende handlungspraktische Entscheidungen zu treffen. Vor diesem Hintergrund unterliegen Lehrkräfte ihrer Klientel gegenüber einer gewissen Verantwortung und Begründungsverpflichtung. Dies ergibt sich daraus, dass Lehrkräfte mit ihrem Handeln aktiv in die Entwicklungs- und Bildungsprozesse ihrer Schüler*innen eingreifen und stellvertretend für diese Entscheidungen treffen müssen, was wiederum fundierten Begründungen bedarf. An dieser Stelle wird die Bedeutung von explizitem Wissen deutlich, denn um die Situation ihrer Schüler*innen einschätzen zu können, benötigen Lehrkräfte zunächst theoretisches und wissenschaftlich fundiertes Wissen (vgl. Helsper 2016). Da es sich bei Schüler*innen jedoch um Individuen handelt, deren individuellen Hintergründe sowie Krisen sich nicht einfach unter wissenschaftliche Modelle subsumieren lassen, sind Lehrkräfte gefordert, das eigene professionelle Handeln auf seine fallspezifische und situative Angemessenheit zu überprüfen. Folglich ist das rekonstruktive Fallverstehen ein weiterer Bestandteil des professionellen Handelns von Lehrkräften.

Die Basis für das professionelle Handeln der Lehrkräfte bildet ein Arbeitsbündnis, welches sowohl zwischen Lehrkraft und einzelnen Schüler*innen, aber auch mit der gesamten Klasse sowie den Eltern geschlossen wird (Oevermann 2008: 76). Dieses Bündnis ist jedoch nicht selbstverständlich gegeben. Vielmehr handelt es sich hierbei um einen offenen Prozess spezifischer Beziehungsgefüge, die stets ausgehandelt werden müssen und ebenfalls in eine Krise geraten können. Demnach sind gegenseitiges Vertrauen, die Verpflichtung zur aktiven Beteiligung sowie die Aushandlung von Erwartungen und Verantwortlichkeiten von zentraler Bedeutung.

Mit Oevermann (1996, 2002) ist die Krise als Normalfall für das professionelle Handeln von Lehrkräften zu betrachten und macht die Annahme von Kontingenz erforderlich. Letztere wird von Combe (2015: 117) als „die Notwendigkeit [bezeichnet; C.L.], sich mit Unsicherheiten, Unwägbarkeiten und Unbestimmtheit im Lehrerhandeln bewusst auseinanderzusetzen“. Die Notwendigkeit der Annahme von Unsicherheiten zeigt sich weiterhin in der Auseinandersetzung mit Antinomien, die neben potenziell krisenhaften Situationen als weiteres zentrales Strukturelement des Lehrer*innenhandelns gelten. Helsper (2016: 111) zufolge „ist eine Antinomie dadurch bestimmt, dass für das professionelle pädagogische Handeln widerstreitende Orientierungen vorliegen, die entweder beide Gültigkeit beanspruchen können oder die nicht prinzipiell aufzuheben sind“.

Für diese Arbeit bedeutende Beispiele für Antinomien sind die Differenzierungsantinomie, die Symmetrieantinomie, die Sachantinomie sowie die Autonomieantinomie25.

Die Differenzierungsantinomie bezieht sich auf die Verpflichtung der Lehrkräfte zur Gleichbehandlung und Chancengleichheit in Bezug auf die Initiierung von Bildungsprozessen bei gleichzeitiger Orientierung am Individuum. Aufgrund der Heterogenität der Schüler*innen sind Lehrkräfte gefordert, unterschiedliche Förder- und Unterstützungsmaßnahmen (Scaffolding) für die Schüler*innen anzubieten und ihr Handeln damit am Einzelfall auszurichten. Gleichzeitig müssen sie die gesamte Klasse im Blick haben. Dies erscheint vor dem Hintergrund der individuellen sprachlichen und kulturellen Hintergründe der Lernenden und deren hiermit verbundenen Lernbedürfnisse als besonders bedeutend für das Handeln der Lehrkräfte, denn „unterschiedliche biographische Ausgangslagen und Lebensumstände machen gerade differenzierendes professionelles Handeln erforderlich, um angesichts ungleicher Voraussetzungen und Ressourcen der AdressatInnen Bildungs- oder Teilhabemöglichkeiten zu sichern“ (Helsper 2021: 172). Die Symmetrieantinomie bezieht sich auf das Machtgefälle zwischen Lehrkräften und ihren Schüler*innen. Dieses ergibt sich dadurch, dass die Lehrkräfte über Wissensbestände, Ressourcen und Erfahrungen verfügen, über welche die Schüler*innen nicht verfügen. Auch ergeben sich hierdurch Abhängigkeitsverhältnisse, indem die Lehrkräfte die Schüler*innen und deren Leistungen bewerten (vgl. ebd.: 170). Die Sachantinomie bezieht sich auf die Ausbalancierung der Vermittlung eines unterrichtlichen Gegenstandes, d. h. (Fach‑)Inhalte, bestimmte Wissensbestände oder Fähig- und Fertigkeiten bei gleichzeitiger Orientierung an den Lernenden mit ihren je individuellen Erfahrungen und Lebensbedingungen (vgl. ebd.: 171). Die Autonomieantinomie umfasst zum einen die Ausbalancierung des Umgangs mit Schüler*innen als unterstützungsbedürftige, aber gleichzeitig auch selbstständige Lernende. Andererseits bezieht sich diese Antinomie auf die Lehrkräfte selbst, ihre eigene Autonomie und damit Handlungsfähigkeit im institutionellen Rahmen der Schule zu sichern sowie aufrecht zu erhalten (vgl. ebd.: 172).

Professionelles Lehrer*innenhandeln zeigt sich strukturtheoretischen Auffassungen zufolge also darin, „die vielfachen Spannungen und genannten Antinomien sachgerecht handhaben zu können“ (Terhart 2011: 206). Dies bedeutet vor allem, dass sich Lehrkräfte reflexiv mit den Antinomien ihres Handelns auseinandersetzen, diese situativ neu aushandeln und so entsprechende Handlungsroutinen im Umgang mit diesen ausbilden (vgl. Helsper 2016: 111). Wissenschaftliches, explizites Wissen ist somit zwar bedeutsam für die Begründung und Reflexion der eigenen Handlungspraxis. Aufgrund der hier beschriebenen Unsicherheiten des Lehrer*innenhandelns lässt es sich jedoch nicht automatisch in Handeln übersetzen. Es bedarf daher vor allem impliziten Wissensbeständen in Form von Handlungsroutinen und Erfahrungswissen, die den Lehrkräften ein Handeln in von Ungewissheit geprägten Handlungssituationen ermöglichen. Vor diesem Hintergrund wird in dieser Arbeit vornehmlich auf implizite Wissensbestände geblickt, die (berufs-)biographisch erworben werden. Hierauf wird im nächsten Abschnitt eingegangen.

2.3.3 Der berufsbiographische Ansatz

Der berufsbiographische Ansatz nimmt eine stärker auf das Individuum ausgerichtete Sichtweise in Bezug auf die Professionalität und Professionalisierung von Lehrkräften ein. Im Fokus stehen die

[…] Prozesse des allmählichen Kompetenzaufbaus und der Kompetenzentwicklung, die Übernahme eines beruflichen Habitus durch Berufsneulinge, die Kontinuität und Brüchigkeit der beruflichen Entwicklung über die gesamte Spanne der beruflichen Lebenszeit, […] [sowie] die Verknüpfung von privatem Lebenslauf und beruflicher Karriere. (Terhart 2011: 208; C.L.)

Professionalität entwickelt sich demzufolge über alle Berufsphasen hinweg und steht in Wechselwirkung mit dem gesamten Lebenslauf. Vor diesem Hintergrund sind Lehrkräfte als professionelle Akteur*innen stets als ganze Person in ihr berufliches Handeln eingebunden, was eine „stärker individualisierte, breiter kontextuierte und zugleich lebensgeschichtlich-dynamische Sichtweise“ (ebd.) auf Professionalität und Professionalisierung erforderlich macht.

Der berufsbiographische Ansatz versteht Professionalität in erster Linie als ein „berufsbiographisches Entwicklungsproblem“ (Terhart 2011: 208) sowie als eine dauerhaft gestellte Entwicklungsherausforderung. Diese ergibt sich daraus, dass Lehrkräfte aufgrund der sich stetig wandelnden gesellschaftlichen und (bildungs-)politischen Entwicklungen stets mit neuen Herausforderungen sowie Erwartungen an ihr Handeln konfrontiert werden. Gerade im Umgang mit kultureller und sprachlicher Heterogenität erfordert dies eine kontinuierliche Weiterentwicklung und Reflexion der eigenen Ressourcen sowie des fachunterrichtlichen Handelns (vgl. Kreft & Viebrock 2020; Leonhardt, Kreft & Viebrock 2021). Professionalität wird damit als ein nie abzuschließendes ‚Projekt‘ gerahmt (vgl. Berkemeyer & Mende 2018: 136).

Bei der Untersuchung von Entwicklungsverläufen von Lehrkräften zeigt sich in der berufsbiographischen Forschung, dass es nicht die stabilen oder geradlinigen Phasen der beruflichen Entwicklung sind, die prägend für Lehrkräfte und deren professionelles Handeln sind. Vielmehr stehen jene Situationen und Phasen im Fokus, in welchen Lehrkräfte vor gewissen Brüchen und Übergängen stehen und berufliche Herausforderungen bewältigen müssen (vgl. Hericks 2006; Keller-Schneider 2010; Košinár 2014; Herzog 2014; Keller-Schneider & Hericks 2017). Damit rücken insbesondere Fragen danach in den Mittelpunkt, wie professionelle berufliche Entwicklung stattfindet, welche Faktoren dazu beitragen, dass sie gefördert oder auch behindert wird, und wie es zu erklären ist, dass Lehrkräfte unterschiedliche, auch unerwartete Entwicklungswege einschlagen (vgl. Terhart 2010a, 2014). Im Gegensatz zum kompetenztheoretischen Ansatz werden hierbei weniger die zu erwerbenden bzw. bereits erworbenen Kompetenzen fokussiert. Auch geht es im berufsbiographischen Ansatz nicht primär um die strukturellen Bedingungen professionellen Handelns. Vielmehr werden die „Entwicklungsdynamik professioneller Kompetenzentfaltung“ (Terhart 2010b: 101) und damit individuelle und institutionell gerahmte Entwicklungsverläufe sowie -prozesse fokussiert.

In diesem Zusammenhang sind auch die (berufsbezogenen) Habitūs der Lehrkräfte, d. h. deren gesellschaftlich und (berufs-)biographisch vorgeformte Handlungsdispositionen (vgl. Hericks & Stelmaszyk 2010: 234), in den Blick zu nehmen. Helsper (2018) arbeitet das Konzept des Habitus begrifflich aus und legt die Entwicklung und Herausbildung eines feldspezifischen Lehrer*innenhabitus in Bezug auf weitere Habitusformen, wie dem familiär erworbenen, primären Herkunftshabitus, dem im Rahmen der eigenen Schulzeit erworbenen Schülerhabitus sowie dem in der Gesamtbiographie erworbenen individuellen Habitus dar. Diese Habitusanteile werden als miteinander verwoben betrachtet, wobei sie auch in Spannung zueinander stehen können. Für die Betrachtung des (professionellen) Lehrer*innenhandelns relevant ist, dass jeder Lehrer*innenhabitus bereits „grundlegende schul- und bildungsbezogene Orientierungen [beinhalte], die als mehr oder weniger latente Erfahrungen, Wissensbestände und Praxen“ (ebd.: 124; C.L.) aus dem in der eigenen Schulzeit erworbenen Schüler*innenhabitus hervorgegangen sind. Gleichzeitig ist in jedem Schüler*innenhabitus auch ein Lehrer*innenhabitus angelegt, da Lernende aufgrund von schul- und unterrichtsbezogenen Erfahrungen bestimmte Orientierungen und Lehrer*innenbilder sowie Umgangsweisen mit diesen entwickelt haben. Letztlich wirken auch die in der Familie erworbenen Orientierungen und Erfahrungen auf das Lehrer*innenhandeln ein. In der vorliegenden Arbeit wird der Habitusbegriff im Anschluss an Helsper (ebd.) und Bourdieu (1987: 98) verstanden und bezieht sich auf implizite Wahrnehmungs‑, Denk- und Handlungsschemata, die Individuen im Verlauf ihrer (Berufs‑)Biographie erwerben und welche als „Erzeugungs- und Ordnungsgrundlagen für Praktiken und Vorstellungen“ dienen26. Damit ist die Ausbildung eines Lehrer*innenhabitus und das hiermit verbundene berufsbezogene Handeln als Produkt individueller (berufs-)biographischer Entwicklungsprozesse zu verstehen (vgl. Helsper 2018: 124).

Der Erforschung individueller Entwicklungsverläufe und (berufs-)biographischer Entwicklungsprozesse im Zusammenwirken mit institutionellen Anforderungen nimmt sich die Bildungsgangforschung an. Diese arbeitet unter Rückgriff auf Havighurst (1972) Entwicklungsaufgaben von Lehrkräften heraus, die sich zu unterschiedlichen Zeitpunkten in deren (Berufs‑)Biographien niederschlagen (vgl. Hericks 2006). Entwicklungsaufgaben werden hierbei verstanden als

[…] gesellschaftliche Anforderungen an Menschen in je spezifischen Lebenssituationen, die individuell als Aufgabe eigener Entwicklung gedeutet werden können. Entwicklungsaufgaben sind unhintergehbar, d. h. sie müssen wahrgenommen und bearbeitet werden, wenn es zu einer Progression von Kompetenz und zur Stabilisierung von Identität kommen soll. (ebd.: 60)

Hericks (2006) arbeitete in seiner Habilitationsstudie vier für den Berufseinstieg zentrale Entwicklungsaufgaben heraus und entwickelte sie gemeinsam mit Keller-Schneider weiter (vgl. Hericks & Keller-Schneider 2013). Diese sind: Rollenfindung im Sinne der Entwicklung einer professionellen Identität als Lehrkraft, Vermittlung von Sachinhalten unter Herstellung eines Passungsverhältnisses zwischen fachlichen Anforderungen und Aneignungsprozessen der Lernenden, Anerkennung der Lernenden als „entwicklungsbedürftige und entwicklungsfähige Andere“ (Bonnet & Hericks 2019: 609) sowie Kooperation mit Kolleg*innen. Die zentrale Annahme hinter dem Konzept der Entwicklungsaufgaben ist, dass sich das Individuum in der aktiven Auseinandersetzung mit seiner Umwelt und den durch diese gestellten, teilweise widersprüchlichen und sich stets verändernden Anforderungen weiterentwickelt. Damit es zu Professionalisierung kommen kann, müssen diese Anforderungen vor dem Hintergrund individueller Zielsetzungen, Interessen, Erfahrungen und Ressourcen als berufliche Herausforderungen wahrgenommen und von den Lehrkräften auch als für ihr berufliches Handeln relevant angenommen werden (vgl. Keller-Schneider & Hericks 2014: 392; Keller-Schneider 2018: 237-240). Die Wahrnehmung und Bearbeitung von Entwicklungsaufgaben wird dabei von den (berufsbezogenen) Habitūs der Lehrkräfte bestimmt. Gleichzeitig können durch die Bearbeitung und Bewältigung dieser Anforderungen auch neue Ressourcen generiert und damit Habitūs verändert werden (vgl. Keller-Schneider & Hericks 2014).

Bonnet und Hericks (2019) weiten das für den Berufseinstieg adaptierte und empirisch mehrfach bestätigte Konzept der Entwicklungsaufgaben (vgl. u. a. Hericks 2006; Keller-Schneider 2010; Košinár 2014; Heinemann 2018)27 bezogen auf die sich anschließenden Phasen des Lehrer*innenberufs zu vier Entwicklungsfeldern aus: Person, Sache, Schülerinnen/Schüler und Institution. Diese Entwicklungsfelder kennzeichnen sich dadurch, dass sie über die gesamte Berufsbiographie bestehen bleiben und für Lehrkräfte

[…] zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedliche Herausforderungen darstellen, veränderten strukturellen Anforderungen Rechnung zu tragen, neue Kompetenzen herauszubilden, m.a.W. die eigene Professionalität weiter zu entwickeln. (Bonnet & Hericks 2019a: 609)

Einem berufsbiographischen Verständnis von Professionalität und Professionalisierung zufolge sind Entwicklungsfelder und die sich hierin stellenden Entwicklungsaufgaben eine Schnittstelle zwischen gesellschaftlichen Handlungsanforderungen und deren individuellen Wahrnehmung und Bewältigung. Dies macht einen ganzheitlichen Blick auf das Lehrer*innenhandeln und dessen (Weiter-)Entwicklung notwendig. Hiermit verbunden ist auch die Betrachtung von sowohl expliziten als auch impliziten Wissensbeständen sowie deren Relation zueinander. Dies wird in Kapitel 2.4 ausgeführt.

In Zusammenfassung der bisherigen Überlegungen und im Anschluss an Keller-Schneider und Hericks (2011) wird der berufsbiographische Ansatz in dieser Arbeit als ein „mittlerer Weg“ (ebd.: 386) oder auch als verbindende Klammer zwischen einem strukturtheoretischen und einem kompetenztheoretischen Zugang aufgefasst. Die Krisenhaftigkeit und Unvorhersehbarkeit des Lehrer*innenhandelns, welche besonders im strukturtheoretischen Ansatz vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung mit einer antinomischen Handlungsstruktur zum Tragen kommt, wird durch die Bearbeitung von berufsphasenspezifischen Entwicklungsaufgaben auch im berufsbiographischen Ansatz hervorgehoben. In der Auseinandersetzung mit der antinomischen Handlungsstruktur des Lehrberufs kann es durch das Erkennen und Bearbeiten von Entwicklungsaufgaben im Laufe der gesamten Berufsbiographie zur (Weiter-)Entwicklung der (professionellen) Kompetenzen sowie zur Stabilisierung von Identität kommen (vgl. Hericks 2006: 60). Zu berücksichtigen sind an dieser Stelle aber auch Aspekte von Deprofessionalisierung (vgl. Kapitel 2.1). Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn Entwicklungsaufgaben nicht erkannt oder angenommen und dementsprechend nicht bearbeitet werden.

Wie Gerlach (2020a) anmerkt, fällt in der Gesamtbetrachtung berufsbiographischer Forschung zum Lehrer*innenberuf auf, dass nur selten Entwicklungsverläufe von Fachlehrkräften in den Blick genommen werden. Eine Ausnahme bildet hier die Arbeit von Wilken (2021), welche die Professionalisierung von Englischlehrkräften im Umgang mit der Mehrsprachigkeit von Schüler*innen basierend auf einem strukturtheoretisch-berufsbiographischen Professionalisierungsverständnis in den Blick nimmt und weiter unten näher beschrieben wird (vgl. Kapitel 2.5.3). Die vorliegende Arbeit knüpft hieran an.

2.4Forschung zur Professionalität und Professionalisierung von Fremdsprachenlehrkräften

Während Professionalität und Professionalisierung im vorherigen Kapitel unter generischen Aspekten betrachtet wurden, widmet sich dieses Kapitel der Fachperspektive und gibt einen Überblick über die Zugänge und Schwerpunkte der fremdsprachendidaktischen Lehrer*innenforschung28