Kunst.Raub.Mord - Norbert Sahrhage - E-Book

Kunst.Raub.Mord E-Book

Norbert Sahrhage

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Beschreibung

August 1949: Ein aus dem Saarland angereister privater Ermittler wird in Bielefeld ermordet. Er hatte den Auftrag, ein während der Zeit der deutschen Besatzung aus Paris geraubtes Gemälde von Jan Vermeer wiederzu- beschaffen. Kriminalkommissar Walter Helmke findet heraus, dass der Mord mit dem von NS-Reichsleiter Alfred Rosenberg während des Krieges angeordneten Raub von Kunst- gegenständen aus Frankreich, Belgien und den Nieder- landen zusammenhängt. Während Helmke nach dem Vermeer-Gemälde sucht, weil er glaubt, dadurch auch den Mörder fassen zu können, erfolgt ein zweiter Mord. Die aktuelle Diskussion um nationalsozialistische Raubkunst erhält in dem gut recherchierten und spannenden Kriminalroman ihre historische Tiefenschärfe.

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Seitenzahl: 215

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Norbert Sahrhage wurde 1951 in Spenge geboren. Er studierte an der Universität Bielefeld Geschichte, Sozialwissenschaften und Sport. Von 1979 bis 2015 arbeitete er als Lehrer an einem Gymnasium. Promotion 2004.

Weitere Titel des Autors:

Der tote Hitlerjunge (2010)

Blutiges Zeitspiel (2012)

Lehrermord (2014)

Der Mordfall Franziska Spiegel (2016)

Werwolfmorde? (2021)

Kieslich muss sterben (2021)

Die Hauptpersonen

Walter Helmke

Kriminalkommissar

Maximilian Bach

Kriminalassistent

Gerhard Quade

Kriminalkommissar

Konstantin Mähler

Kriminalrat

Kurt Wessler

ehemaliger Kriminalbeamter

Harald Coring

Kriminalbeamter

Dr. Gottfried Weidlich

Gerichtsmediziner

Gabi Bongert

Bibliothekarin

Hans-Heinrich Zeller

privater Ermittler

Katherine Wellmer

private Ermittlerin

Dr. Karl Bressog

Museumsleiter

Gisbert von Renckow

stellvertretender Museumsleiter

Bernhard von Renckow

Rechtsanwalt

Manfred Elsger

Kunsthändler, ehem. Mitglied d.

Einsatzstabes RL Rosenberg

Dr. Oskar Strasoff

Lehrer, ehem. Mitglied d.

Einsatzstabes RL Rosenberg

Ludwig Kruga

Kunsthändler

Hertha Koenig

Gutsbesitzerin u. Literatin

Albert Schwartz

Gemäldesammler

Inhaltsverzeichnis

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

1. Kapitel

Paris, 2. November 1940

„Morgen kommt der Reichsmarschall!“ Die Männer, die sich im Besprechungszimmer des Pariser Museums Jeu de Paume versammelt hatten, blickten ungläubig auf, als Wolfgang Lührmann, der kurz zuvor von seiner Sekretärin aus der Besprechung herausgeholt worden war, den Raum wieder betrat und die Neuigkeit verkündete. „Die Mitteilung ist gerade reingekommen“ ergänzte er.

Unter den Anwesenden setzte ein Gemurmel ein. Hermann Göring, der zur absoluten Führungsspitze des „Dritten Reiches“ gehörte, würde das Jeu de Paume und die Mitglieder des Einsatzstabes mit seinem Besuch beehren.

Gernot Matikal, der ein enger Vertrauter von Reichsleiter Rosenberg war und die Besprechung leitete, hob beide Arme und gebot damit Ruhe. Dann nickte er bedächtig. „Gut“, sagte er nach einer kurzen Pause „das bestätigt die Wichtigkeit unserer Arbeit.“

Matikal wusste natürlich, was Hermann Göring mit seinem Besuch im Jeu de Paume bezweckte, das als Zwischenlager für die in Paris requirierten französischen Kunstschätze diente. Göring verstand sich als Kunstexperte und privater Sammler, der zur Ausstattung seines in der Schorfheide gelegenen Landhauses Carinhall immer neue Kunstwerke von Rang suchte.

„Wir werden uns auf den Besuch des Reichsmarschalls gut vorbereiten“, sagte Matikal. „Stellen Sie unsere wertvollsten Gemälde hier in diesen Raum, dann hat es der Reichsmarschall leichter, die entsprechende Auswahl zu treffen. Er ist, soweit ich weiß, vor allem an den alten flämischen Meistern interessiert. Lührmann, Sie sind mir verantwortlich dafür, dass das morgen reibungslos klappt.“

„Jawohl.“

Nachdem Matikal die Versammlung aufgelöst hatte, zog Lührmann zwei seiner engsten Mitarbeiter zur Seite. „Wir werden für den Reichsmarschall hier eine kleine Ausstellung vorbereiten. Gehen Sie die Bestände durch und stellen Sie alles, was wir an flämischen Meistern haben, hier in diesen Raum, alles in Augenhöhe. Fangen Sie gleich damit an.“ Er wollte sich schon abwenden, da fiel ihm noch eine Frage ein: „Wie weit sind wir mit unserer Tauschaktion?“, erkundigte er sich.

Der größere der beiden Mitarbeiter, ein Kunsthistoriker aus Stendal, berichtete: „Die ersten Bilder sind gestern hereingekommen. Ob flämische Meister dabei sind, werden wir sofort überprüfen.“

Bei der sogenannten Tauschaktion wurden Gemälde von Expressionisten und anderen als „entartet“ eingestuften Künstlern, die Mitglieder des ‚Einsatzstabes Reichsleiter Rosenberg‘ in den Wohnungen von untergetauchten oder bereits deportierten Juden gefunden hatten, bei Pariser Kunsthändlern gegen alte Meister eingetauscht.

„Wir haben mit Monsieur Lejeune aus der Rue Vavin einige schöne Geschäfte abgeschlossen“, schaltete sich Lührmanns zweiter Mitarbeiter ein. „Dabei ging es auch um kleinere Werke von Quentin Massys und van Eyck. Die sind möglicherweise auch schon hier eingetroffen.“

„Gut. Ich verlasse mich auf Sie.“

Sonntag, 7. August 1949

Hans-Heinrich Zeller fluchte leise. Es nieselte leicht und sein Gesprächspartner kam nicht. Es war eine Schnapsidee gewesen, sich mit ihm an diesem tristen Ort zu verabreden. Der Anrufer hatte aber sehr geheimnisvoll getan und darauf bestanden, das von ihm angebotene Gespräch ohne weitere Zeugen zu führen.

Das war der erste erfolgversprechende Ansatzpunkt seiner Mission gewesen, die er ohnehin für sehr schwierig hielt. Albert Schwartz, sein Auftraggeber, hatte ihn aber dazu gedrängt, nach Bielefeld zu fahren. Falls seine Mission kein greifbares Ergebnis haben sollte, war das vereinbarte Honorar dennoch üppig genug, so dass sich die Fahrt nach Bielefeld auch lohnen würde.

Zeller zog den feuchten Hut etwas tiefer ins Gesicht. Den ganzen Tag lang hatte die Sonne geschienen, gegen Abend aber hatte ein leichter Regen eingesetzt. „Ausgerechnet jetzt“, dachte Zeller und griff in die linke Tasche seines Regenmantels, der mit einer dunkelgrauen gummiartigen Oberflächenschicht versehen war, und zog eine Packung mit Zigaretten hervor. Eine davon schob er zwischen seine regennassen Lippen. Er stellte sich mit dem Rücken zum aufkommenden Wind und schirmte seine Mundpartie mit einer Hand ab, mit der anderen betätigte er das Sturmfeuerzeug.

Als die Zigarette brannte, nahm er einen tiefen Zug und blickte die schmale Straße hinunter, die parallel zu den Schienen verlief. Es war niemand zu sehen. In einiger Entfernung waren lediglich die Lichter des Bahnhofes mehr zu erahnen als zu erkennen. Aus der anderen Richtung war Hundegekläff zu hören.

Zeller beschloss noch zehn weitere Minuten zu warten. Sollte sein Gesprächspartner, der seinen Namen nicht genannt hatte, den er, Zeller, aber dennoch zu kennen glaubte, bis zu diesem Zeitpunkt nicht gekommen sein, würde er den Treffpunkt verlassen. Vielleicht war dem Anrufer etwas dazwischengekommen und er würde sich später noch einmal melden. Er hatte sich offenbar etwas von dem angebotenen Gespräch erhofft, möglicherweise Geld. Deshalb würde er sicherlich noch einmal den Kontakt suchen.

Er ging einige Schritte auf und ab, rauchte dabei die Zigarette zu Ende und schnippte die Kippe schließlich in weitem Bogen auf die feuchte Straße, wo sie erlosch. Linker Hand lag ein dunkles Backsteingebäude, vermutlich eine Lagerhalle, auf der rechten Seite glänzten die Eisenbahnschienen im spärlichen Mondlicht. Und irgendwo dort hinten musste der Bahnhof sein.

Der Regen ließ jetzt nach. Zeller blickte auf seine Armbanduhr. Gleich war es kurz vor 22:00 Uhr, die Verabredung hatte für 21:30 Uhr gegolten. Es war jetzt dunkel, nur der Mond schob sich gelegentlich durch die Wolken. Die nächste Straßenlaterne befand sich am unteren Ende der Straße, in gut 200 Metern Entfernung, dort, wo die schmale Nebenstraße in eine breitere Straße mündete.

Er hatte sich gerade zum Gehen entschlossen, als von unten die Scheinwerfer eines Autos aufleuchteten, das soeben von der Hauptstraße in die Nebenstraße eingebogen war.

Zeller blieb stehen. Vielleicht kam sein Gesprächspartner ja jetzt. Er fasste in seine rechte Manteltasche und spürte das kalte Metall seiner Pistole. Die Angelegenheit war delikat, das hatte ihm Schwartz, sein Auftraggeber, mit auf den Weg gegeben. Er war deshalb auf alles vorbereitet.

2. Kapitel

Paris, 3. November 1940

Hermann Göring wurde von Kurt von Behr begleitet, den die Männer des ‚Einsatzstabes‘ kannten, da er im Jeu de Paume ein- und ausging. Der Reichsmarschall war – entgegen seiner Vorliebe für prächtige Uniformen – in einen unförmigen dicken Mantel gehüllt, der fast bis zu seinen Schuhen reichte und das Übergewicht des hohen Besuchers nur wenig kaschierte. Göring, der sich schwerfällig wie ein Bär bewegte, wurde von Gernot Matikal begrüßt, der ihm erklärte, dass sich die Mitglieder des ‚Einsatzstabes‘ über seinen Besuch freuten und alles daransetzen würden, ihn zufriedenzustellen.

Göring gab sich volkstümlich. Er grinste jovial, begrüßte die Mitarbeiter des ‚Einsatzstabes‘ freundlich, sprach mit einigen ein paar Worte, verteilte einige Zigarren, zündete sich dann selber eine an und ließ sich den Weg zu dem für ihn vorbereiteten Saal zeigen, in den Lührmann und seine Mitarbeiter mehr als 30 Gemälde aufgehängt oder in Augenhöhe aufgestellt hatten.

Die Männer sahen sofort, dass der Reichsmarschall begeistert war. Nach einem kurzen Rundgang setzte sich Göring auf den für ihn hingestellten voluminösen Stuhl und ließ sich die Gemälde noch einmal genauer zeigen. Er nahm die Bilder, die ihm die Kunsthistoriker hinhielten, in Augenschein, stellte dabei zu jedem Gemälde durchaus sachverständige Fragen, die ihm bereitwillig beantwortet wurden. Es bewahrheitete sich, dass Göring besonders an den flämischen Meistern interessiert war. Er entschied sich rasch für zwei Gemälde von Quentin Massys, daneben war er aber auch von dem Bild ‚Infantin Margarita Teresa‘ von Diego Velasquez angetan. „Ich wundere mich“, sagte er, „dass solche Bilder in Wohnungen von Juden hängen, dass sich diese Leute erdreisten, sich damit zu schmücken. Das ist ein Sakrileg.“

Die anwesenden Kunsthistoriker pflichteten ihrem Besucher nickend bei. „Fantastisch“, sagte Göring und zeigte auf das Gemälde von Jean Siméon Chardin mit dem Titel ‚Une petite fille jouant au volant‘, das Lührmann ihm hinhielt. „Das nehme ich auch.“

Montag, 8. August 1949

Kriminalrat Konstantin Mähler blickte unwillig zur Tür. Er mochte es nicht bei der morgendlichen Lagebesprechung gestört zu werden. Liane Bartels, seine Sekretärin, stand in der, von ihr leise geöffneten Tür des Besprechungsraumes und winkte mit der rechten Hand. Sie schien eine wichtige Nachricht zu haben, die offenbar keinen Aufschub duldete.

„Fräulein Bartels, was gibt es?“

Die Sekretärin betrat den Raum, ging auf den Kriminalrat zu und sprach halblaut auf ihn ein. Der Kriminalrat spitzte die Lippen und nickte bedächtig.

Während seine Sekretärin den Rückzug antrat, wandte sich Mähler an Walter Helmke, der mit seinen Kollegen in einem Halbkreis vor Mähler gesessen und zugehört hatte.

„Herr Helmke, wir haben einen Leichenfund in der Nähe des Güterbahnhofes. Fräulein Bartels wird Sie über alles Weitere informieren. Nehmen Sie Herrn Bach mit.“

Helmke nickte und stand auf, auch Bach erhob sich. Mähler nickte den beiden zu und wartete mit seiner weiteren Ansprache solange, bis Helmke und Bach den Besprechungsraum verlassen hatten.

Draußen vor der Tür konnte Bach seine Freude über den anstehenden Einsatz nur schlecht verbergen. Unter den Kollegen war die morgendliche „Lage“ wenig beliebt, weil Mähler sie über Gebühr auszudehnen pflegte, während jeder darauf wartete, sich wieder mit den eigenen Ermittlungen beschäftigen zu können. Mähler hingegen schien mit den ausgedehnten Lagebesprechungen seine Führungsposition demonstrieren zu wollen.

Helmke empfand ähnlich wie Bach. „Holen wir uns von Fräulein Bartels die nötigen Informationen und dann nichts wie weg“, sagte er.

Liane Bartels saß bereits wieder an ihrem Schreibtisch, als Helmke und Bach hereinkamen. Sie war Anfang Dreißig, schlank, hatte ein freundliches Gesicht, in dem eine Hornbrille für einen durchaus reizvollen Akzent sorgte.

„Was haben Sie für uns?“, fragte Helmke und lächelte der Sekretärin dabei freundlich zu.

Liane Bartels lächelte zurück. „Bahnarbeiter haben am frühen Morgen eine männliche Leiche in der Nähe des Güterbahnhofes gefunden“, sagte sie. „Der Mann ist vermutlich erschossen worden.“

Helmke nickte. „Sind die Kollegen von der Spurensicherung bereits verständigt?“, fragte er.

„Ja, die müssten jetzt bereits am Tatort sein.“

„Gut.“ Helmke wandte sich zum Gehen. „Dann machen wir uns auch auf den Weg.“

Liane Bartels lächelte wieder. „Ich habe Ihnen schon einen Wagen reserviert“, sagte sie.

***

Bach, der am Steuer des neuen Volkswagens saß, über den die Bielefelder Kriminalpolizei seit etwa vier Wochen verfügte, hatte den Tatort auf Anhieb gefunden. Der Bereich hinter dem Güterbahnhof war von Streifenpolizisten bereits abgesperrt worden.

Seit etwa Mitternacht hatte es nicht mehr geregnet. Die Straße schimmerte aber noch feucht in der Morgensonne, es schien sich wieder ein schöner Tag anzukündigen.

Dr. Weidlich kniete neben der Leiche, die man hinter einem Gebüsch gefunden hatte, das an einer aus roten Backsteinen errichteten Lagerhalle wucherte.

Helmke und Bach nickten dem Arzt freundlich zu. Dr. Weidlich hatte den dunkelgrauen Kleppermantel des Toten vorne geöffnet und das Jackett und das Oberhemd nach oben bis kurz unter das Kinn des Toten geschoben. Der Tote, ein Mann, den Helmke auf etwa 40 Jahre schätzte, hatte ein wenig markantes Allerweltsgesicht, das nur durch einen dünnen Schnurrbart etwas an Individualität gewann.

Helmke wies auf den mit Blut verschmierten Oberkörper des Toten. „Schusswunde?“, erkundigte er sich.

Der Arzt nickte. „Ja. Der Schuss hat die Herzregion getroffen. Ein schneller Tod.“

„Wann etwa ist das geschehen?“

„Ich schätze vor ungefähr zehn bis zwölf Stunden, genauer kann ich das erst nach der Obduktion sagen.“

„Wer hat den Toten gefunden?“, fragte Bach.

„Zwei Bahnarbeiter, die heute Morgen zur Arbeit gehen wollten.“ Der Arzt deutete auf einen Mann, der sich unweit der Lagerhalle mit einem Streifenpolizisten unterhielt.

„Ich sehe nur einen Mann“, sagte Bach.

Dr. Weidlich zuckte mit den Schultern. „Eben waren da noch zwei Männer.“

Helmke wollte sich schon von dem Mediziner verabschieden, als dieser ihn am Arm fasste: „Ich habe da noch etwas für Sie.“

Als Helmke ihn fragend ansah, deutete Dr. Weidlich auf die Manteltasche des Toten. „Er hatte eine Pistole dabei.“

Helmke streifte sich seine Handschuhe über und griff in die Manteltasche. Er zog eine Luger hervor, eine Waffe, die während des Krieges auch in der deutschen Wehrmacht Verwendung gefunden hatte. Er wog die Pistole in der Hand und untersuchte sie, wobei er auch am Lauf der Waffe roch.

„Ist geladen und entsichert“, sagte er. „Vermutlich hat der Tote die Gefahr geahnt, in der er sich befand, aber er war nicht schnell genug. Geschossen wurde damit jedenfalls nicht.“

Bach wandte sich an den Arzt: „Hat der Tote einen Namen?“

Der Arzt schüttelte den Kopf. „Er hat weder Ausweispapiere noch eine Brieftasche bei sich.“

„Vielleicht hat man sie ihm abgenommen?“

Helmkes Vermutung entlockte dem Arzt nur ein weiteres Schulterzucken.

Während Bach auf den Arbeiter zuging, der die Leiche gefunden hatte und jetzt hinter dem Absperrband neben einem Polizisten stand, begrüßte Helmke den Spurenermittler Harald Coring, der wenige Schritte von der Leiche den Boden untersuchte.

Helmke tippte zur Begrüßung an seine Hutkrempe. „Wie sieht es aus? Hast du schon verwertbare Spuren gefunden?“

Helmke konnte Coring ansehen, dass er unzufrieden war. „Viele Spuren gibt es nicht. Es hat ja geregnet. Der Tote ist vermutlich nach seiner Ermordung hinter das Gebüsch geschleift worden, damit man ihn nicht so schnell findet. Er ist allem Anschein nach auf der Straße erschossen worden, wir haben da trotz des Regens Blutspuren sichergestellt.“

Er zeigte auf Schuhabdrücke, die sich neben einer Schleifspur unscharf im aufgeweichten Boden abzeichneten. „Die dürften vom Täter stammen, als er die Leiche von der Straße gezogen hat. Vermutlich gab es nur einen Täter. Ich habe jedenfalls nur diese Spuren gefunden. Mit solchen Spuren ist aber wenig bis nichts anzufangen. Damit lässt sich vermutlich nichts beweisen.“

Helmke nickte. Was die Fußspuren anging, so hatte Coring Recht. „Wir müssen zunächst herausfinden, wer der Tote ist“, sagte er.

Dr. Weidlich, der das Gespräch zwischen Helmke und Coring mit angehört hatte, winkte den Kommissar zu sich heran. „Vielleicht hilft Ihnen das hier weiter.“ Er zeigte auf ein Etikett am Mantelkragen des Erschossenen.

Helmke beugte sich zur Leiche herab. Er las laut vor: „Modehaus Knebusch, Saarlouis.“ Er überlegte laut: „Wenn es sich dabei um das Geschäft handelt, das den Mantel verkauft hat, besteht die Möglichkeit, dass der Ermordete nicht aus Bielefeld, sondern aus dem Saarland stammt.“

Der Arzt begann seine Instrumente einzupacken. Er winkte die beiden Bestatter heran, die vor der Absperrung gewartet hatten. An Helmke gewandt sagte er: „Vielleicht hat der Mann dann hier in Bielefeld in einem Hotel oder einer Pension übernachtet?“

Helmke nahm seinen Hut ab und kratzte sich am Kopf. „Möglich. Das werden wir überprüfen. Notfalls werden wir auch die Zeitungen bitten, ein Foto des Toten abzudrucken.“

***

Als Helmke und Bach wieder im Auto saßen, zündete sich Helmke eine Zigarette an. „Was hat der Bahnarbeiter gesagt?“, fragte er seinen Assistenten.

Bach kurbelte das Seitenfenster herunter. Er mochte es nicht, wenn Helmke im Auto rauchte. „Wenig was uns weiterbringt. Er und sein Kollege wohnen hier in der Nähe. Sie gehen jeden Morgen zu Fuß zum Bahnhof, wo sie mit dem Umladen von Gütern beschäftigt werden. Der Mann hat den Toten zufällig gefunden, weil er hinter dem Busch pinkeln wollte.“

Helmke hatte ähnliches erwartet. „Und wo ist sein Kollege?“

Bach startete den Volkswagen. „Der ist schon zu seinem Chef gegangen, um ihn darüber zu informieren, dass sein Arbeitskollege etwas später kommt.“

„Hm ...“ Helmke brummte irgendetwas Unverständliches. „Das hilft uns nicht weiter“, sagte er dann. „Wir kommen dem Täter nur näher, wenn wir wissen, wer der Tote ist.“

Bach zeigte auf das Lenkrad. „Wo fahren wir jetzt hin?“, wollte er wissen.

„Du fährst ins Präsidium und telefonierst erst einmal die Hotels und Pensionen ab. Du erkundigst dich danach, ob heute morgen ein Gast vermisst wird. Ich hoffe, dass uns Coring rasch Fotos des Toten anfertigt, damit wir dann bei den in Frage kommenden Hotels gezielter nachfragen können.“

Da Bach ihn fragend ansah, wollte sein Assistent offenbar wissen, was Helmke seinerseits zu tun gedachte. Der Kommissar zeigte auf ein Haus, das einsam am unteren Ende der Straße stand. „Ich befrage die Bewohner des Hauses, ob ihnen in der vergangenen Nacht etwas aufgefallen ist.“

Er öffnete die Beifahrertür und stieg aus. Bach nickte, legte den ersten Gang ein und fuhr los.

Das Haus lag nur wenige Steinwürfe vom Tatort entfernt. Helmke stand bald vor dem heruntergekommenen grauen Gebäude ohne Charme. Das Haus hatte den Krieg zwar unbeschadet überstanden, es machte aber den Eindruck, als ob seit vielen Jahren nichts getan worden sei, um den langsamen Verfall des Gebäudes zu verhindern.

Anhand der Klingelschilder stellte er fest, dass in dem Haus zwei Familien wohnten. Helmke klingelte zunächst bei der Familie Hohnermann. Es dauerte einen Augenblick, bis eine korpulente Frau mit dauergewellten Haaren an der Tür erschien. Sie trug einen dezent geblümten Kittel und blickte Helmke fragend an: „Wissen Sie, was da oben los ist?“ Sie zeigte mit ihrer rechten Hand Richtung Lagerhalle.

Helmke musste grinsen. „Das werde ich Ihnen gleich sagen.“ Er hielt der Frau seinen Ausweis hin. „Zuvor habe ich aber einige Fragen an Sie.“

„Sie sind von der Polizei?“, fragte sie, nachdem sie den Ausweis längere Zeit betrachtet hatte.

„Ja. Sie sind Frau Hohnermann?“

Die Frau nickte. „Kommen Sie herein.“

Frau Hohnermann führte Helmke in die Küche, in der es nach Sauerkraut roch, jedenfalls glaubte Helmke diesen Geruch aus seiner Kindheit wiederzuerkennen. Sie bot Helmke einen Platz am Küchentisch an, blieb aber selbst vor dem weißlackierten Küchenschrank stehen.

Sobald er saß, sprach Helmke die Frau an, um weiteren Fragen von ihrer Seite zuvorzukommen: „Frau Hohnermann, haben Sie oder hat jemand aus Ihrer Familie gestern Abend hier in der Straße etwas Ungewöhnliches bemerkt?“

Die Frau schüttelte den Kopf. „Nein. Was ist denn passiert?“

„Das sage ich Ihnen gleich. Haben Sie zum Beispiel ungewöhnliche Geräusche gehört?“

„Doch. Jetzt, wo Sie es sagen …“ Frau Hohnermann nickte eifrig. „Mein Mann meinte nämlich: ‚Da muss einem ein Reifen geplatzt sein.‘ Er hatte einen Knall gehört, der vom Güterbahnhof kam.“

„Wann war das etwa?“

Die Frau überlegte kurz. „Das muss so gegen zehn Uhr gewesen sein. Ich saß auf der Toilette und hatte nichts gehört. Wir gehen immer so gegen zehn Uhr ins Bett.“

„Und – haben Sie vielleicht aus dem Fenster geschaut?“

Frau Hohnermann nickte. „Ja, aber wir haben nicht viel gesehen. Da oben an der Lagerhalle stand ein Auto mit eingeschalteten Scheinwerfern. Mehr war nicht zu sehen.“

Das war doch etwas. Helmke setzte nach: „Was war das für ein Auto? Haben Sie die Automarke, die Farbe oder das Kennzeichen erkannt?“

Die Frau schüttelte den Kopf. „Nein, es war ja dunkel und das Auto war auch zu weit entfernt. Wir sind dann bald vom Fenster weg und haben uns schlafen gelegt. Mein Mann sagte noch: ‚Der wird den Reifen ja wohl selber wechseln können.‘“

„Hm. Weitere Dinge sind Ihnen nicht aufgefallen?“ Helmke blickte die Frau erwartungsvoll an. Er hoffte auf zusätzliche Informationen.

„Nein.“

„Haben Sie das Auto wegfahren gesehen?“

„Nein.“

„Schade.“ Helmke erhob sich, um sich zu verabschieden. Darauf hatte die Frau nur gewartet. „Was ist denn da oben an der Lagerhalle passiert?“, fragte sie schnell.

„Gestern Abend ist dort ein Mann erschossen worden, möglicherweise von dem Fahrer des Autos, das Sie gesehen haben.“ Helmke hielt kurz inne. „Falls Ihnen dazu noch etwas einfallen sollte, auch wenn es Ihnen noch so nebensächlich vorkommt, rufen Sie mich bitte an. Besprechen Sie das auch mit Ihrem Mann.“

Die Frau nickte.

Helmke riss einen Zettel von seinem Notizblock ab, schrieb seine Telefonnummer darauf und reichte den Zettel an die Frau weiter.

Als er wieder vor der Haustür stand, klingelte er bei der Familie Arends, die die obere Etage des Hauses bewohnte.

Auch hier öffnete ihm eine Frau die Tür. Helmke schätzte die grauhaarige Frau auf mindestens 70 Jahre. Er stellte sich vor und zeigte der Frau seinen Ausweis, den sich jene nahe vor ihr Gesicht hielt. Ganz offensichtlich sah sie – trotz Brille – sehr schlecht.

„Ist Ihnen oder Ihrem Mann gestern Abend hier in der Straße etwas aufgefallen?“, fragte er, nachdem ihm die Frau seinen Ausweis zurückgegeben hatte. Er hatte das Gefühl, bei der Frau etwas lauter sprechen zu müssen, als er das normalerweise zu tun pflegte.

Frau Arends schüttelte den Kopf. „Mein Mann ist bettlägerig, der bekommt nicht sehr viel mit. Und ich höre nicht mehr ganz so gut.“

„Waren Sie gestern Abend um zehn Uhr noch wach?“

Die Frau schüttelte den Kopf. „Nein, nein. Ich gehe früh zu Bett. Ich stehe aber auch zeitig auf. Ich muss ja alles allein machen. Mein Mann kann mir nicht helfen.“

Helmke merkte, dass weiteres Fragen wenig Sinn machte. Er nickte freundlich und verabschiedete sich von der Frau.

***

Als Helmke nach einem etwas längeren Fußmarsch und einem guten Mittagessen wieder das Büro betrat, das er sich mit Bach teilte, hörte er gerade noch, dass sein Kollege „Haben Sie vielen Dank“ sagte und dann den Telefonhörer auf die Gabel legte.

„Ich glaube, wir haben eine Spur“, sagte Bach. „Wir bekommen gleich das Foto von dem Ermordeten, dann können wir zur Pension Niehaus in die Friedrichstraße fahren. Da fehlt nämlich seit heute Morgen ein Gast. Der hat gestern Abend das Haus verlassen und ist bis jetzt noch nicht wieder aufgetaucht.“

Helmke schenkte Bach ein anerkennendes Lächeln und berichtete kurz von seinem Gespräch mit Frau Hohnermann.

Wenige Minuten später betrat Harald Coring das Büro und legte Helmke einen Umschlag auf den Schreibtisch.

„Die Fotos“, sagte er, „habe ich eben entwickelt. Sind noch nicht ganz trocken.“

Helmke öffnete den Umschlag und sah sich die Fotos an. „Danke“, sagte er dann. „Hast du noch weitere Erkenntnisse für uns?“

Coring verzog seine Mundpartie. „Leider nicht“, sagte er. „Es hat sich bestätigt, mit den Spuren war wenig anzufangen.“

„Na gut“, Helmke schob die Fotos wieder in den Umschlag. „Dann wollen wir mal los. Vielleicht wissen wir gleich schon, wer der Tote ist.“

Bach erhob sich hinter seinem Schreibtisch. Er maulte: „Ich habe noch nicht einmal zu Mittag gegessen.“

Helmke grinste. „Du solltest dir das Rauchen angewöhnen, das zügelt den Appetit.“

Bach verzog sein Gesicht, erwiderte aber nichts. Coring lachte und verließ mit ihnen das Büro.

***

Bei der Pension Niehaus handelte es sich um einen kleinen Beherbergungsbetrieb mit nur wenigen Zimmern, in denen wohl vornehmlich Vertreter übernachteten. Die Pension lag in der Friedrichstraße, in nicht allzu weiter Entfernung vom Güterbahnhof.

Helmke und Bach trafen die Inhaberin der Pension, eine etwa fünfzigjährige mittelgroße blonde Frau mit kurzgeschnittenen Haaren, im Eingangsbereich der Pension an.

„Sind Sie Frau Niehaus, die Inhaberin?“, sprach Helmke die Frau an.

„Ja.“ Die Frau musterte ihn. Sie schien sich zu fragen, was die beiden Männer von ihr wollten.

„Mein Kollege hat vorhin bereits mit Ihnen am Telefon gesprochen“, sagte Helmke, deutete dabei auf Bach und hielt der Frau seinen Ausweis hin. „Handelt es sich bei dem fehlenden Gast um diesen Mann?“ Er zog eines der Fotos, das den am Güterbahnhof ermordeten Mann zeigte, aus dem Umschlag und legte es auf den Tresen, hinter den sich die Frau inzwischen zurückgezogen hatte.

„Ach so.“ Frau Niehaus nahm das Foto und erschrak, denn sie erkannte sofort, dass das Foto von einem Toten angefertigt worden war. Sie nickte. „Ja, das ist … Herr Zeller. … Was ist passiert?“ Sie blickte Helmke verstört an.

„Herr Zeller ist gestern Abend am Güterbahnhof ermordet worden.“

Die Pensionswirtin schien ernsthaft erschüttert zu sein. „Ermordet? Aber wer …“ Sie ließ den Satz unvollendet.

„Das wissen wir noch nicht.“ Helmke steckte das Foto wieder ein. „Das werden wir aber hoffentlich bald herausfinden.“

„Dürfen wir einen Blick in Ihr Anmeldebuch werfen?“, fragte Bach dazwischen.

„Ja, natürlich.“ Anneliese Niehaus, offenbar froh darüber etwas tun zu können, ging zwei Schritte nach links, zog aus einer Schublade eine DIN A4 große Kladde hervor und legte sie auf den Tresen.

„Seit wann wohnte Herr Zeller bei Ihnen?“, fragte Helmke.

„Seit zwei Tagen.“ Sie schlug die Kladde auf und zeigte auf den Eintrag. „Hier … ich habe ihn am 6. August eingetragen. Er kam am Samstag so um die Mittagszeit.“

„Hatte er während seines Aufenthaltes bei Ihnen Besuch?“

Frau Niehaus schüttelte den Kopf: „Nein, nicht soweit ich weiß.“

Helmke fragte weiter: „Hat er Anrufe erhalten?“

Frau Niehaus musste nicht lange überlegen: „Ja, einen Anruf. Gestern am frühen Abend musste ich ihn ans Telefon holen.“

„Und – wissen Sie, wer ihn angerufen hat?“

„Nein, der Mann hat sich nicht vorgestellt. Er hat nur gefragt, ob Herr Zeller zu sprechen sei.“

„Was war das für ein Mann? War er alt oder jünger? Kam er aus Westfalen oder sprach er einen Dialekt?“

Frau Niehaus dachte kurz nach. „Es war die Stimme eines erwachsenen Mannes, warm, sehr angenehm, sehr freundlich. Er dürfte etwa 40 bis 50 Jahre alt gewesen sein. Aber ganz sicher bin ich mir da nicht. Er sprach hochdeutsch, ohne Akzent. … Ich will damit sagen, er sprach so, wie die Leute hier in der Gegend sprechen.“

Das war doch schon etwas. Vielleicht hatte die Frau noch mehr beobachtet. „Haben Sie mitbekommen, um was es in dem Gespräch ging?“

Frau Niehaus schüttelte den Kopf. „Nein, eigentlich nicht. Ich bin dann ja auch wieder zurück in meine Wohnung.“

„Was heißt ‚eigentlich‘?“ Helmke war sich sicher, dass die Pensionsinhaberin etwas mehr erfahren hatte als sie zugeben wollte.

„Na ja, Herr Zeller schien sich über den Anruf gefreut zu haben. Er sagte so etwas wie ‚Gut, dass Sie sich melden. Wir finden sicherlich eine Möglichkeit die Angelegenheit zu regeln. Herr Schwartz ist da großzügig.‘“

Helmke machte sich Notizen. „Und weiter?“, fragte er.

„Nichts weiter. Ich bin dann weggegangen. Das Ende des Gespräches habe ich nicht mitbekommen.“

Bach hatte sich inzwischen die im Anmeldebuch enthaltenen Angaben notiert. Er machte Helmke auf den Wohnort des Ermordeten aufmerksam.