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Mai 1947: Ein ehemaliger Ortsgruppenleiter der NSDAP wird erschossen vor seiner Haustür aufgefunden. Der Bielefelder Kommissar Walter Helmke übernimmt den Fall im dörflichen Jöllenbeck. Der letzte Mord in dem Dorf liegt bereits einige Jahre zurück - kurz nach Kriegsende wurde ein anderer überzeugter Nazi erschossen. Verdächtigt, ihn getötet zu haben, wurde damals eine Werwolf-Gruppe. Könnte zwischen beiden Fällen ein Zusammenhang bestehen? Die Ermittlungen führen Helmke zurück in die Zeit des Nationalismus und des Zweiten Weltkrieges. Es scheinen noch offene Rechnungen zu bestehen, die jetzt, nach Kriegsende, beglichen werden sollen. Ein französischer Kriegsgefangener kam damals unter ungeklärten Umständen ums Leben. Und auch ehemalige Widerstandskämpfer könnten Selbstjustiz ausüben. Helmke steht unter Druck. Er soll Ergebnisse liefern und er weiß nicht, ob noch weitere Morde geplant sind. Die sorgfältig recherchierte Geschichte bildet einen idealen Rahmen für einen tiefgründigen historischen Krimi um Schuld und späte Rache.
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Seitenzahl: 251
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Norbert Sahrhage wurde 1951 in Spenge geboren. Er studierte an der Universität Bielefeld Geschichte, Sozialwissenschaften und Sport. Von 1979 bis 2015 arbeitete er als Lehrer an einem Gymnasium. Promotion 2004.
Weitere Titel des Autors:
Der tote Hitlerjunge (2010)
Blutiges Zeitspiel (2012)
Lehrermord (2014)
Der Mordfall Franziska Spiegel (2016)
Kieslich muss sterben (2021)
Walter Helmke
Kriminalkommissar
Kurt Wessler
Kriminalkommissar
Konstantin Mähler
Kriminalrat
Gustav Horstmann
Ortspolizist
Anton Goll
Ortsgruppenleiter d. NSDAP
Martin Richel
Mitgl. d. Ortsgruppenleitung
Reinhold Wiegand
ehem. SA-Sturmführer
Konrad Mellenthin
Mieter von A. Goll
Werner Franzen
Kriegsinvalide
Grete Dierker
Kommunistin
Rudi Dierker
Kommunist
Krischan Jäger
Kommunist
Paula Jäger
Kommunistin
Paul Beckmann
Schwarzhändler
Pierre Desmoulins
franz. Zwangsarbeiter
Dr. Karl Maßmann
Arzt
Helmut Maßmann
Unternehmer
Erich Hellmann
Unternehmer
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
Epilog
Sonntag, 11. Mai 1947
Der nächtliche Regen störte die beiden Männer nicht. Im Gegenteil: So konnten sie relativ sicher sein, dass ihr Handeln keine Zeugen haben würde. Wer sollte sich bei einem solchen Wetter schon freiwillig auf die Straße wagen?
Die Männer standen unter einer großen Kastanie, die aus ihren Blättern einen breiten Schirm aufspannte, der den Regen jedoch nicht vollständig abhalten konnte.
Das Haus, das die beiden Männer bereits seit einer geraumen Zeit beobachtet hatten, war das vorletzte Gebäude am Ende der schmalen Straße, die sich nach dem letzten Haus in einen Feldweg fortsetzte. Nur im ersten Stock des Hauses war ein Zimmer erleuchtet. Hinter den Gardinen bewegte sich gelegentlich eine schemenhafte Gestalt durch den Raum und wanderte von der einen Seite des Zimmers auf die andere. Die Fenster der unteren Wohnung waren dunkel.
Der Wind trieb dünne Regenschwaden die Straße hinunter. Auf dem mit reichlich Schlaglöchern versehenen Asphalt hatten sich Pfützen gebildet, die überliefen und sich in kleinen Rinnsalen die Straße hinunterschlängelten.
Die beiden Männer blickten sich an. Der Größere warf die angerauchte Zigarette weg, hustete in sein Taschentuch, wobei er sich bemühte leise zu sein. Er nickte und gab damit das Signal zum Aufbruch. Die bereits weitgehend durchnässten Männer zogen ihre tropfenden Hüte tiefer ins Gesicht und überquerten nacheinander die Straße.
Das Grundstück war von einer brusthohen Buchenhecke umgeben, die aber noch nicht voll im Laub stand und Blicke auf das Haus ermöglichte. Die beiden Männer schauten sich noch einmal um und schoben sich dann durch die Heckenöffnung, die einen schmalen Weg zur Eingangstür des Hauses freigab.
Während der kleinere der beiden Männer an der Heckenpforte stehenblieb, um den Rückweg zu sichern, ging der Große zur Haustür und zog an dem Griff des Klingeldrahts. Die Glocke im Hausflur gab ein schepperndes Geräusch von sich. Es dauerte eine Weile, bis sich in dem Haus etwas regte. Unten im Flur ging das Licht an und wenige Sekunden später wurde die Haustür geöffnet. Ein magerer, etwa 50-jähriger mittelgroßer Mann mit Stirnglatze stand in der geöffneten Tür. Sein Gesicht verriet Neugier. Er blickte den Mann, der da tropfend im Regen vor ihm stand, fragend an.
„Herr Goll, ich habe etwas für Sie.“ Der Mann kramte zunächst betont umständlich in seiner Manteltasche, zog dann blitzschnell eine Pistole hervor und richtete sie auf Goll, der einen Schritt zurückwich. Golls Gesichtsausdruck veränderte sich und wechselte von Neugier über Erstaunen hin zu Furcht.
„Das ist für dich, du Arschloch“, sagte der Mann und drückte ab.
Montag, 12. Mai 1947
Der Tote war knapp zwei Stunden nach dem Mord gefunden worden, jedenfalls hatte Dr. Maßmann, der herbeigerufene Dorfarzt, den Todeszeitpunkt auf etwa 23:00 Uhr geschätzt. Der tote Anton Goll war von seinem Nachbarn, der am Ende der Straße wohnte, entdeckt worden. Der Nachbar war kurz nach Mitternacht aus einem Wirtshaus gekommen und hatte Goll, der vor der erleuchteten Eingangstür seines Hauses lag, gesehen, dann flüchtig begutachtet und dabei das Blut und die Wunde bemerkt. Daraufhin hatte er sich wieder auf sein Fahrrad geschwungen und war zur örtlichen Polizeiwache gefahren, wo er den Ortspolizisten herausgeklingelt hatte. Kurze Zeit später waren der Polizist, ein älterer, leicht kurzatmiger Mann mit Bauchansatz und schütterem Haar, und Dr. Maßmann am Tatort erschienen. Der Dorfarzt hatte nur noch den Tod des vor der Haustür liegenden Mannes feststellen können.
Inzwischen wurde es langsam hell. Der Regen war weniger geworden und hatte schließlich ganz aufgehört. Kommissar Walter Helmke von der Bielefelder Kriminalpolizei, der von dem Ortspolizisten angefordert worden war, hatte die Leitung vor Ort übernommen. Helmke, ein baumlanger Mann mit zurückgekämmten dunkelblonden Haaren, hatte in dieser Nacht Bereitschaftsdienst gehabt und war deshalb sofort nach Jöllenbeck gefahren. Kurze Zeit später waren auch zwei Leute von der Spurensicherung eingetroffen, die sich sofort an die Arbeit machten.
Der Dorfpolizist, der Helmke schon einen kurzen Lagebericht gegeben hatte, stand jetzt auf Anweisung des Kommissars vor der Buchenhecke, die das Grundstück des Ermordeten zur Straße hin abgrenzte, um neugierige Nachbarn davon abzuhalten, den Tatortbereich zu betreten. Es war kurz vor 4:00 Uhr. Erstaunlicherweise hatten einige Bewohner der umliegenden Häuser mitbekommen, dass auf der Straße und in der Nachbarschaft etwas Ungewöhnliches geschehen sein musste. Ein Mann und eine Frau standen in Morgenmänteln neben dem Dorfpolizisten und sprachen mit ihm.
Helmke betrachtete den auf dem Rücken liegenden Toten. Es handelte sich um einen etwa 50 Jahre alten Mann, rothaarig, bartlos, Stirnglatze. Seine Augen waren geöffnet. Er trug ein kariertes Hemd und eine vom Regen durchnässte braune Cordhose. Seine Füße steckten in grauen, verschlissenen Pantoffeln, die ebenfalls vom Regen durchweicht waren. Die Brust des Mannes zierte ein großer roter Fleck. Der Ermordete schien arglos an die Haustür gekommen zu sein und war hier seinem Mörder begegnet.
Helmke winkte den Nachbarn des Ermordeten zu sich, der auf Anweisung des Dorfpolizisten an der Buchenhecke gewartet hatte. „Wie heißen Sie?“
„Wiegand, Reinhold Wiegand. Ich wohne in dem Haus da drüben.“ Der ältere Mann wies auf das Nachbarhaus, das am Ende der Straße lag. Helmke roch den Alkohol, den Wiegand noch vor kurzer Zeit getrunken haben musste.
„Sie kennen den Ermordeten?“
Wiegand nickte. „Ja, sicher. Wir sind Nachbarn, seit fast 50 Jahren. Wir sind beide hier in dieser Straße aufgewachsen.“
„Wie sind Sie auf den Ermordeten aufmerksam geworden?“
Wiegand wies auf den Kirchturm, der von ihrem Standort aus zu sehen war. „Ich kam aus dem Gasthof zum Adler, da neben der Kirche. Hatte da mit ein paar Bekannten Skat gespielt, machen wir jeden Sonntag. Heute Abend war‘s ein bisschen spät geworden. Als ich die Straße herunterfuhr, fiel mir auf, dass bei Anton an der Vordertür noch Licht brannte. Und da sah ich ihn durch die Hecke auf der Erde liegen. Zuerst dachte ich, er sei gestürzt, und … ich wollte ihm helfen. Aber dann bemerkte ich das viele Blut und habe die Polizei informiert.“
„Wann war das?“
„Etwa um Mitternacht.“
Helmke notierte die Aussage in Stichworten. „Haben Sie jemanden in der Nähe des Hauses gesehen oder ist Ihnen auf der Straße jemand entgegengekommen?“
„Nein.“ Wiegand schüttelte den Kopf. „War ja schon spät.“
Helmke nickte. „Was war Ihr Nachbar für ein Mensch?“
Wiegand zuckte mit den Achseln. „Ein ganz normaler Nachbar, wie die übrigen hier in der Straße auch.“
Helmke war damit nicht zufrieden. „Irgendetwas muss ihn aber von den übrigen Nachbarn unterschieden haben. Schließlich ist er ermordet worden.“
Wiegand schwieg.
Helmke setzte noch einmal an: „War Herr Goll verheiratet? Hatte er Kinder?“
Wiegand senkte seine Stimme, als ob er befürchtete, der Tote könnte ihn noch hören: „Er war verheiratet, wurde aber kurz vor Kriegsausbruch geschieden. Kinder hatte er nicht.“ Er grinste und schob nach: „Jedenfalls keine ehelichen.“
„Was meinen Sie damit?“
„Na ja, Anton war kein Kostverächter. Wenn Sie wissen, was ich meine.“
„Lebte er allein in dem Haus?“
„Nein. In der unteren Wohnung ist im letzten Jahr eine Flüchtlingsfamilie einquartiert worden. Soweit ich weiß, sind die Leute zur Zeit aber nicht da. Sie besuchen an diesem Wochenende Verwandte in Hamm. Konrad hat mir erzählt, dass sie da zu einer Hochzeit eingeladen sind.“
Helmke hakte nach: „Wer ist Konrad?“
„Konrad Mellenthin, der Untermieter von Anton.“
„Hatte Herr Goll Feinde? Gab es in letzter Zeit Streit?“
Wiegand überlegte kurz, bevor er sagte: „Nein, glaube ich nicht. Von einem Streit weiß ich nichts.“
Für Helmke klang die Antwort nicht überzeugend, dafür hatte Wiegand einen Augenblick zu lange gezögert. Er nahm sich vor, diese Aussage später noch einmal aufzugreifen. Zuvor wollte er sich aber mit dem Dorfpolizisten absprechen.
„Gut, Herr Wiegand“, sagte er, „vielen Dank. Vielleicht werde ich noch einmal auf Sie zurückkommen.“ Walter Helmke, 1,90 Meter groß, der sich während des Gespräches zu dem wesentlich kleineren Wiegand hinuntergebeugt hatte, reckte sich und gab Wiegand damit auch durch seine Körpersprache zu verstehen, dass das Gespräch beendet war.
Reinhold Wiegand nickte. „Dann kann ich ja noch ein Stündchen schlafen, bevor ich zur Arbeit muss.“ Leise murmelnd fügte er hinzu: „Hab‘ hier ja lange genug warten müssen.“ Helmke wusste nicht, ob das eine bloße Feststellung oder als eine Beschwerde gemeint war.
Als Wiegand das Grundstück verließ, trat Harald Coring, einer der beiden Kollegen von der Spurensicherung auf Helmke zu. Er trug einen unzufriedenen Gesichtsausdruck zur Schau. „Der Regen hat alle Spuren – wenn es überhaupt welche gab – beseitigt. Den Rest hat der Nachbar des Toten erledigt. Wir haben lediglich die Patronenhülse gefunden.“ Helmke zuckte die Achseln. Diesen wenig erfreulichen Befund hatte er erwartet.
„Dann kann der Tote gleich abtransportiert werden. Er muss nach Bielefeld zur Obduktion. Ich will wissen, mit welcher Waffe er erschossen worden ist.“
Coring nickte. „Werde ich veranlassen. Wir fahren dann auch.“
Der junge Dorfarzt, der noch immer in der Nähe des Tatortes gestanden hatte, blickte Helmke an. „Brauchen Sie mich noch?“
Helmke schüttelte den Kopf. „Jetzt nicht. Vielen Dank für Ihren Einsatz. Ich komme später noch mal bei Ihnen vorbei. Wünsche Ihnen eine gute Restnachtruhe.“
Während die Kollegen von der Spurensicherung ihre Sachen zusammenpackten, wandte sich Helmke an den Dorfpolizisten, der gerade die neugierigen Nachbarn weggeschickt hatte. Er zog ihn hinter die Hecke und bot ihm eine Zigarette an, die dieser dankend annahm.
Während Helmke dem Kollegen Feuer gab, fragte er: „Herr Horstmann, was wissen Sie über den Ermordeten?“
Der Polizist räusperte sich kurz. „Na ja, Goll war nicht ohne. In der Hitlerzeit war er hier Ortsgruppenleiter. Er galt als ‚scharfer Hund‘, als überzeugter Nationalsozialist.“
Helmke nahm einen tiefen Zug und nickte knapp. „Interessant. Hatte Goll Feinde?“
„Bestimmt. Während der Hitlerzeit haben die sich natürlich nicht getraut, etwas gegen ihn zu unternehmen und nach Kriegsende war Goll ja eine Zeitlang verschwunden. Er ist erst seit wenigen Tagen wieder hier.“
„Wo war er?“
Der Dorfpolizist blickte noch einmal auf den Toten. „Er hat fast zwei Jahre lang in Internierungslagern, zuletzt in Eselheide in der Senne, verbracht und ist erst vor kurzem aus dem Lager entlassen worden. Er soll …, ich meine, er sollte sich jetzt einmal monatlich auf der Polizeiwache melden.“
Helmke schnippte die Asche von seiner Zigarette. „Ich hörte eben, Goll war geschieden?“
Horstmann nickte. „Ja, er hatte hier im Ort den Ruf eines Schürzenjägers. Nachdem er Ortsgruppenleiter geworden war, glaubte er, die Frauenwelt liege ihm zu Füßen. Gelegentlich scheint er wohl auch Erfolg gehabt zu haben. Seine Frau hat das irgendwann nicht mehr mitgemacht.“
Helmke nickte verstehend. „Wo ist seine Frau jetzt?“
„Sie wohnt hier im Dorf, hat eine Arbeit in der Weberei.“
Der Morgen graute immer mehr. Die Lautstärke des Vogelkonzerts nahm zu. Auch die Hähne in der Umgebung wurden wach und meldeten sich. Helmke blickte sich um. ‚Eigentlich eine schöne Zeit, die man sonst immer verschläft‘, dachte er.
Er wandte sich wieder an den Dorfpolizisten. „Was ist mit Golls Feinden, von denen Sie eben sprachen? Gibt es da offene Rechnungen?“
„Das weiß ich nicht. Es hat im Dorf seinerzeit einigen Unmut gegeben, weil die Söhne von Werner Franzen und Krischan Jäger eingezogen wurden, obwohl sie erst 17 Jahre alt waren. Die sind in den letzten Kriegstagen noch gefallen. Die Leute hier haben vermutet, dass es Goll war, der dafür gesorgt hat, dass die beiden Jungen noch an die Front mussten.“
„Kennen Sie Wiegand?“
„Ja sicher, Wiegand war hier der örtliche SA-Führer. Während der Nazizeit war er ein enger Gefolgsmann Golls.“
Inzwischen waren einige Fenster in den umliegenden Häusern erleuchtet. „Die Leute müssen zur Frühschicht“, erläuterte Horstmann, indem er auf die Fenster zeigte. „Die meisten arbeiten in der Weberei.“
Helmke nickte und blickte auf seine Armbanduhr. „Gibt es hier die Möglichkeit, einen Kaffee zu trinken?“
Horstmann schüttelte den Kopf. „Nicht um diese Uhrzeit. Sie können aber mit zur Wache kommen, dann koche ich uns welchen.“
„Das Angebot nehme ich an. Wir sollten ohnehin noch besprechen, wie ich hier weiter vorgehen kann. Könnte aber noch ein Stündchen dauern, weil ich zunächst noch die Nachbarn befragen will.“
Horstmann erklärte Helmke den Weg zur Polizeiwache, dann schwang er sich auf sein Dienstfahrrad, während Helmke darauf wartete, dass die Spurensicherung ihre Arbeit beendet hatte.
Als der Leichenwagen kam, wies Helmke die beiden Bestatter an, den Ermordeten zur Obduktion nach Bielefeld ins Krankenhaus zu bringen, dann verschloss er die Haustür von außen.
Helmke entschied sich dafür, jetzt nur die nähere Nachbarschaft Golls zu befragen. Es dauerte teilweise mehrere Minuten, bis die Nachbarn auf das energische Klingeln Helmkes reagierten. Die meisten trugen nur einen hastig übergeworfenen Morgenmantel. Die Befragung der überraschten, zum Teil auch verstörten Menschen erbrachte wenig. Ein Nachbar Golls hatte gegen 22:00 Uhr zwei Männer beobachtet, die eine Zeitlang unter der Kastanie auf der gegenüberliegenden Seite von Golls Haus gestanden hatten. Er war auf die Männer aufmerksam geworden, da er gesehen hatte, dass sie rauchten. Er hatte die glühenden Punkte der Zigaretten noch kurze Zeit verfolgt, war dann aber zu Bett gegangen. Den Schuss hatte er nicht gehört. Da müsse er schon geschlafen haben.
Eine Frau aus dem gegenüberliegenden Haus, vor dem der Kastanienbaum stand, glaubte, einen Knall gehört zu haben, war aber, als kein weiterer Lärm folgte, im Bett liegen geblieben. Die Nachbarn in den übrigen Häusern hatten nichts gesehen und nichts gehört.
Helmke nahm, bevor er zu seinem Opel Olympia ging, den er vor dem Haus abgestellt hatte, den Platz unter der Kastanie in Augenschein. Fußspuren waren nicht zu erkennen. Er fand lediglich vier durchweichte Zigarettenkippen, die er sorgfältig in ein sauberes Taschentuch einwickelte. Dann setzte er sich in sein Auto.
***
Die Polizeistation war leicht zu finden. Die Wache befand sich in einem alten roten Backsteingebäude, das hauptsächlich von der örtlichen Feuerwehr genutzt wurde. In einem grob verputzten Anbau war das Löschfahrzeug untergebracht. Über der Wache, im ersten Stock, befand sich die Dienstwohnung des Polizisten.
Als Helmke den Dienstraum betrat, hatte Horstmann den Kaffee bereits gekocht. Mittlerweile war es kurz vor 6:00 Uhr.
Das Büro maß vielleicht 25 Quadratmeter. Hinter dem wenig repräsentativen Schreibtisch standen zwei Rollschränke. An der Wand rechts daneben war noch an der helleren Färbung der Tapete zu erkennen, dass da einmal ein Bild gehangen hatte: vermutlich ein Führerfoto, das inzwischen entfernt worden war. Einen Ersatz dafür gab es noch nicht. Vor dem Schreibtisch befanden sich zwei einfache, unbequeme Holzstühle. Auf einem dieser Stühle ließ sich Helmke nieder.
„Danke!“, sagte er und wies auf den Kaffee.
Horstmann lachte. „Ist nur Muckefuck, Bohnenkaffee kann ich mir hier nicht leisten.“
„Hauptsache heiß“. Helmke griff nach der ihm gereichten Tasse und nahm vorsichtig einen Schluck von dem Malzkaffee. Wach wurde man davon nicht. „Sie sind bestimmt seit vielen Jahren hier und kennen Land und Leute?“, fragte er.
Horstmann schüttelte den Kopf. „Nein, ich bin erst während des Krieges hierher versetzt worden. Man hat mich nach Jöllenbeck abgeschoben.“ Hier in seinem Büro wirkte der Dorfpolizist souverän und aufgeräumt.
„Mit Kapitaldelikten wie Mord haben Sie hier wohl wenig zu tun?“
Horstmann nickte. „Das stimmt. Ist erst der zweite Mordfall, mit dem ich hier in Berührung komme. Kurz nach Kriegsende ist ein Mann von Werwölfen erschossen worden, jedenfalls lag ein Zettel mit dieser Aufschrift unter der Leiche.“
Helmke war überrascht. Man hatte unmittelbar nach Kriegsende davon gehört, dass es in einigen Gegenden Deutschlands nationalsozialistische Partisanen gab, die sich Werwölfe nannten und durch Morde an deutschen Kollaborateuren und durch Attentate an den Soldaten der Besatzungsmacht in Erscheinung getreten waren. Heinrich Himmler hatte in den letzten Kriegsmonaten zur Bildung solcher Gruppen aufgerufen. „Ach, hat es hier tatsächlich Werwölfe gegeben, die sich mit der Besatzungsmacht angelegt haben?“
„Offenbar. Abgesehen von diesem einen Fall ist hier aber nichts weiter passiert. Ihre Kollegen in Bielefeld haben versucht, den Mord aufzuklären, waren aber, soweit ich weiß, nicht erfolgreich.“
Helmke nahm einen weiteren Schluck von dem dünnen Getränk. „Wenn Sie hierher versetzt worden sind … wo kommen Sie ursprünglich her?“
„Aus Steinfurt. Zuletzt war ich in Münster beschäftigt.“
Helmke wunderte sich: „Und weshalb sind Sie jetzt hier in Ostwestfalen? Münster ist doch sicherlich etwas interessanter als Jöllenbeck?“
Horstmann sah plötzlich traurig aus. „Das ist eine lange Geschichte. Man kann sich nicht immer aussuchen, wo man arbeitet. … In Münster hatte ich während des Krieges einen Konflikt mit dem dortigen SA-Führer, der sich darüber erregte, dass ich zusammen mit einem Kollegen zwei seiner Männer, üble Trunkenbolde, für eine Nacht eingesperrt hatte, weil sie in der Innenstadt randaliert hatten. Er meinte, wir hätten damit die Ehre der SA beschmutzt. Einige Zeit später musste ich dann meinen Dienst hier in Jöllenbeck antreten.“ Horstmann machte eine kurze Pause. „Inzwischen habe ich mich aber mit der ostwestfälischen Provinz abgefunden.“ Er grinste.
Helmke nickte. Der Dorfpolizist wurde ihm sympathisch. Offenbar einer der wenigen Männer mit Rückgrat, die ihm in den letzten Jahren begegnet waren.
„Wie sind Sie hier vor Ort mit dem Ermordeten klargekommen?“
Horstmann verzog sein Gesicht. „Eher schlecht als recht. Goll war ein unangenehmer Typ. Der hat bis zuletzt an den Endsieg geglaubt. Wenn man ihm schmeichelte, konnte man mit ihm auskommen. Ich hatte wenig mit ihm zu tun und habe deshalb meine Schmeicheleien auf das Nötigste reduzieren können.“
Helmke überlegte einen Augenblick und fragte dann: „Waren Sie in der Partei?“
Horstmann runzelte aufgrund der indiskreten Frage die Stirn und überlegte offenbar, ob er die Frage beantworten sollte, sagte aber schließlich: „Ja, ab 1937. Ich stamme aus einem katholischen Elternhaus. Meine Eltern waren Zentrumsleute und hatten mit den Nazis nichts am Hut, ich auch nicht. Nach der Machtergreifung wurde auf uns Polizeibeamte gehöriger Druck ausgeübt, der NSDAP beizutreten. 1937 habe ich kapituliert.“
„Danke für Ihre Offenheit. Da wir in den nächsten Tagen möglicherweise noch häufiger miteinander zu tun haben werden, ist es gut zu wissen, an wen man da geraten ist.“
Horstmann nickte. „Gut, das sollte aber auch umgekehrt gelten.“
Helmke lächelte. „Da haben Sie Recht. Ich war auch kein Freund der Nazis, konnte ebenfalls bis 1937 den Parteieintritt verhindern. Bis 1941 habe ich als Kriminalbeamter gearbeitet, danach war ich an der Front, zuerst kurz im Westen, dann im Osten.“ Helmke hielt inne, so als ob er überlege, weiterzusprechen. „Dort habe ich Dinge erlebt, die ich mir bis dahin nicht hatte vorstellen können. Unsere Wehrmachtseinheit war zwar an Erschießungsaktionen nicht direkt beteiligt, hat aber für die Einsatzgruppen der SS Hilfsdienste geleistet und dafür gesorgt, dass die ihre Mordaktionen reibungslos durchführen konnten. Soviel zur ‚sauberen‘ Wehrmacht, von der heute immer noch die Rede ist.“
Die beiden Männer schwiegen. Horstmann schenkte Kaffee nach und nahm die ihm von Helmke angebotene Eckstein. Sie rauchten schweigend, dann fragte Helmke: „Mit wem sollte ich mich unbedingt unterhalten, damit ich den Mord an Goll aufklären kann?“
Horstmann überlegte eine Weile, dann begann er zu sprechen und Helmke notierte sich die Namen.
Montag, 21. August 1933
„Machen Sie auf! Sofort!“ Die Stimme, begleitet von einem heftigen Klopfen an der Wohnungstür, duldete keinen Widerspruch.
Grete Dierker gab ihrem Mann einen kräftigen Stoß in die Rippen. Dieser, noch schlaftrunken, verstand sofort, raffte seine Kleidung und Schuhe zusammen und schwang sich halbnackt genau in dem Augenblick aus dem Fenster, als die Wohnungstür krachend aufflog und zwei Männer, einer mit einer Pistole in der Hand, in die Wohnung drängten. Über das Dach des Holzschuppens, der an das Haus angebaut war, fand Rudi Dierker den Weg nach unten.
Die beiden Eindringlinge stürzten zum Fenster, wo sie sahen, wie Rudi Dierker den vor dem Haus postierten älteren Polizisten niederschlug und dann das Weite suchte. Ein noch auf Dierker abgegebener Schuss verfehlte sein Ziel.
„Los, hinterher“, brüllte der Pistolenschütze und rannte, gefolgt von seinem Begleiter, zurück durch die Wohnungstür und die Treppe hinunter auf die Straße. Sie ließen den auf dem Boden liegenden Polizisten, der gerade Anstalten machte wieder aufzustehen, unbeachtet und nahmen die Verfolgung des Flüchtigen auf, allerdings ohne genau zu wissen, wohin der in der Dunkelheit verschwunden war. Die mondlose Nacht kam dem Flüchtenden zugute.
Etwa zehn Minuten später standen die beiden Männer, schwer atmend, wieder in der kleinen Wohnung.
„Mach‘ dir keine falschen Hoffnungen, es ist nur eine Frage der Zeit, bis wir deinen Mann gefasst haben. Er entkommt uns nicht.“ Der Pistolenschütze grinste die Frau an, die sich inzwischen angezogen hatte und auf einem Küchenstuhl saß.
Grete Dierker antwortete nur mit einem Schulterzucken. Innerlich jubelte sie, da sie jetzt wusste, dass Rudi seinen Verfolgern entkommen war.
Es war kurz nach 4:00 Uhr. Die beiden Gestapobeamten begannen mit der letztlich erfolglosen Durchsuchung der Wohnung, wobei sie wenig Rücksicht auf das Mobiliar nahmen. Sie rissen die Schränke auf, kippten die Schubladen aus und verstreuten Bettwäsche und Kleidungsstücke auf dem Fußboden.
Grete Dierker war dennoch zufrieden. Sie hatte die wenigen Minuten, die die beiden Gestapoleute für die Verfolgung ihres Mannes gebraucht hatten, genutzt, um die belastenden Flugblätter so zu verstecken, dass die beiden keine Chance hatten, sie zu finden.
„Wo ist das Zeugs?“, fragte der Pistolenschütze, ein mittelgroßer Mann mit einem feingeschnittenen Gesicht und intelligenten Augen.
„Das liegt dort auf dem Boden, Sie haben es ja dort selber hingeworfen.“ Grete Dierker wies auf die Kleidungsstücke.
„Werd‘ nicht frech, du rote Schlampe, wir können auch anders!“ Der Pistolenschütze wurde etwas lauter.
„Sie sehen doch selbst, es gibt hier nichts“, versuchte Grete Dierker die Situation nicht eskalieren zu lassen. „Sie haben doch alles durchsucht.“
Sie war von ihrem Mann darauf vorbereitet worden, dass eine solche Situation eintreten konnte. Die Flugblätter der illegalen KP-Zeitung „Der Kämpfer“ lagen jetzt unerreichbar für die Gestapobeamten unter einem losen Dielenbrett im Schlafzimmer, auf dem einer der Füße des Bettes stand.
„Du weißt doch sicher, wo wir deinen Mann jetzt finden können – oder?“
„Das weiß ich nicht!“ Grete Dierker schüttelte den Kopf.
„Es ist besser, wenn du uns hilfst. Dein Mann hat noch nicht viel auf dem Kerbholz, er wird mit einem blauen Auge davonkommen.“
„Woher soll ich denn wissen, wohin er geflohen ist?“
Der Pistolenschütze lächelte, seine Augen blickten dabei aber ohne jegliche Empathie. „Wenn wir ihn weiter jagen müssen, besteht die Möglichkeit, dass er auf der Flucht erschossen wird … Es ist besser für euch beide, wenn du uns hilfst.“
Grete Dierker schüttelte abermals den Kopf. „Selbst wenn ich etwas wüsste …. Sie glauben doch wohl nicht, dass ich meinen Mann verraten würde …“
Der Pistolenschütze sah die Frau einige Sekunden lang mit starrem Blick an, seine Wut nur schlecht verbergend, dann wandte er sich an seinen Begleiter. „Abmarsch“, befahl er. An Grete Dierker gewandt, sagte er: „Freu dich nicht zu früh, Schlampe, wir kommen wieder.“
***
Grete Dierker war gerade dabei, die Unordnung in ihrer Wohnung zu beseitigen, als es an der beschädigten Wohnungstür klopfte. Alfred Wellmann, ihr Vermieter, stand im Morgenmantel vor der Tür. Er wirkte verlegen.
„Grete“, sagte er, „wir haben das natürlich mitbekommen. Schrecklich. Ich hoffe, Rudi ist nichts passiert.“
Grete Dierker zuckte mit den Schultern. „Sie haben Rudi nicht gefasst und er ist wohl unverletzt. Er kennt Leute, die ihm helfen werden, eine Zeitlang aus der Gegend zu verschwinden.“
„Das ist eine gute Nachricht“, sagte Wellmann zögernd. „Wie geht es dir?“
Grete Dierker machte mit den Händen eine unbestimmte Bewegung: „Ich komme schon allein zurecht, auch wenn das alles nicht ganz einfach ist. Man kann bei dem, was gerade in Deutschland geschieht, aber nicht tatenlos zusehen.“
Wellmann stutzte. War das ein Vorwurf an ihn? „Du hast recht“, sagte er schließlich, „aber unsere Situation ist auch nicht ganz einfach. Jetzt hat die Gestapo ein Auge auf unser Haus geworfen. Vielleicht ist es besser, wenn ihr, ich meine … wenn du dir eine andere Wohnung suchst. Dein Mann ist auf der Flucht, so schnell wird er ja wohl nicht zurückkommen. Alleine für dich ist die Wohnung ja auch zu groß. Meine Frau meint jedenfalls, dass es das Beste für uns alle sei, wenn du ausziehst.“
Alfred Wellmann war Sozialdemokrat. Trotz der Spannungen zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten in den letzten Jahren vor der Machtergreifung der Nazis waren Rudi und sie mit Wellmann und seiner Frau gut ausgekommen.
Jetzt aber schien Wellmann, wohl mehr noch seine Frau, denn Alfred hörte sehr auf seine Frau, kalte Füße bekommen zu haben. Die Wellmanns waren im Begriff, vor der massiven Gewalt der Nazis einzuknicken, da war sich Grete Dierker sehr sicher. Vermutlich war er von den Gestapoleuten unter Druck gesetzt worden. Die von Wellmann mehr oder weniger deutlich ausgesprochene Wohnungskündigung erschütterte sie aber dennoch. ‚Typisch Sozialdemokrat‘, dachte sie, ‚wenn es hart auf hart kommt, verkriechen sich diese Leute lieber.‘
„Wenn du meinst“, sagte sie, bemüht, sich ihre Enttäuschung nicht anmerken zu lassen, „dann werde ich mich um eine andere Wohnung kümmern. Ein bisschen Zeit brauche ich dazu aber.“
Montag, 12. Mai 1947
Es war kurz nach 8:00 Uhr, als sich Helmke von Horstmann verabschiedete. Das Gespräch mit dem Ortspolizisten hatte einige Erkenntnisse gebracht. Horstmann hatte ihm eine Reihe von Personen genannt, die Helmke in den nächsten Stunden und Tagen aufzusuchen gedachte.
Es schien ein schöner Tag zu werden. Nur das nasse Kopfsteinpflaster vor der Polizeiwache und einige Pfützen auf dem Bürgersteig verrieten noch, dass es in der Nacht heftig geregnet hatte. Die Sonne sorgte dafür, dass alle Spuren des nächtlichen Regenschauers in kurzer Zeit verschwunden sein würden.
Helmke gähnte. Er hatte in dieser Nacht nicht geschlafen, dafür aber mehr als zehn Zigaretten geraucht. Er hatte leichte Kopfschmerzen und war sich unschlüssig darüber, wie er weiter vorgehen wollte. Vielleicht sollte er sich zunächst mit Golls Exfrau unterhalten? Er hatte ihre Adresse von Horstmann bekommen. Die geschiedene Frau konnte ihm eventuell helfen, sich ein genaueres Bild von Goll zu machen. Vielleicht kannte sie auch Menschen, die Goll nicht wohlgesonnen waren. Aber dann entschloss sich Helmke dazu, zuerst Golls Wohnung zu inspizieren.
Er parkte seinen Opel Olympia erneut vor Golls Haus und öffnete mit dem Schlüssel, den er des Nachts mitgenommen hatte, die Haustür. Die Familie, die die untere Etage bewohnte, war noch nicht zurückgekehrt. Helmke erreichte die obere Wohnung über eine schmale Treppe. Golls Wohnung bestand – wie Helmke rasch feststellen konnte – neben einem Korridor aus vier kleinen Zimmern: einem Wohnzimmer, einer Küche, einem Schlafzimmer und einem Abstellraum. Die Toilette, offenbar für beide Wohnparteien gedacht, befand sich unten neben der Eingangstür.
In der unaufgeräumten Wohnung roch es nach kaltem Zigarettenqualm. Auf dem Küchentisch befanden sich noch das Geschirr vom Abendessen sowie ein reichlich gefüllter Aschenbecher und eine halbvolle Flasche Wacholderschnaps. Eine Tür des braunen Buffetschranks war halb geöffnet und gab den Blick auf Tassen und Teller frei. Aus dem immer noch eingeschalteten Volksempfänger, der auf einem Holzregal stand, ertönte ein leises Rauschen. Helmke schaltete das Radiogerät aus.
Das kleine Wohnzimmer beherbergte eine umfangreiche Bibliothek mit nationalsozialistischen Standardwerken. Hierzu gehörten Adolf Hitlers Mein Kampf und Alfred Rosenbergs Mythus des 20. Jahrhunderts, daneben standen zwei Bände mit Hitler-Reden, die mit Der großdeutsche Freiheitskampf betitelt waren, sowie das Goebbels-Buch Vom Kaiserhof zur Reichskanzlei.
Im Schlafzimmer, einem eher kleinen Raum, befanden sich ein Ehebett, von dem aber nur eine Bettstelle benutzt war, und ein großer Kleiderschrank aus Eichenholzfurnier. In dem Schrank, dessen Inhalt Helmke routiniert durchsuchte, fand er, unter Wäsche sorgfältig versteckt, neben dem Buch Die Erotik in der Ehe von Theodoor Hendrik van der Velde auch zwei pornografische Bücher aus den 1920er Jahren, die mit einigen selbst aufgenommenen erotischen Fotos gespickt waren. Goll war auf den Fotos mit verschiedenen Frauen während des Geschlechtsaktes zu sehen. Er starrte dabei jeweils grinsend in die Kamera, die offenbar von einem weiteren Beteiligten ausgelöst worden war. Helmke steckte die beiden Bücher und die Fotos ein. Um diese Passion Golls würde er sich später kümmern.
Im Küchenschrank lagen einige Dokumente, unter anderem die Entlassungspapiere aus dem Internierungslager sowie der Entnazifizierungsbescheid Golls, der ihm am Ende seiner Internierungshaft ausgestellt worden war. Der Bescheid dokumentierte, dass Goll als bloßer Mitläufer klassifiziert worden war.
Helmke lachte bitter. Ein Ortsgruppenleiter, der Hoheitsträger der NSDAP vor Ort – ein bloßer Mitläufer? Da stimmte doch was nicht. Damit wurde das ganze Entnazifizierungsverfahren zur Farce.
Die unmittelbar nach Kriegsende begonnene Entnazifizierung hatte ihren Höhepunkt schon überschritten. Sie wurde in den vier Besatzungszonen ohnehin sehr unterschiedlich durchgeführt. Jetzt schienen alle, sowohl die Besatzungsmächte als auch die Deutschen, ein Interesse daran zu haben, die Sache schnellstmöglich abzuschließen.
Die Besatzungsmächte, vor allem die USA und die Sowjetunion hatten mittlerweile sehr divergierende Interessen in Bezug auf Deutschland, sie waren dadurch zu einem gemeinsamen Vorgehen nicht mehr fähig. Die politisch interessierten Deutschen in den westlichen Besatzungszonen wussten, dass sie von dieser Konstellation nur profitieren konnten. Das Scheitern der Moskauer Außenministerkonferenz im vergangenen Monat hatte die Teilung Deutschlands in einen West- und in einen Oststaat wahrscheinlicher gemacht.
Helmke hatte aus der Presse mitbekommen, dass der frühere Bürgermeister der Stadt Köln, ein gewisser Adenauer, sich zum Wortführer der Deutschen zu entwickeln schien.
Helmke steckte auch diese Papiere ein und wollte gerade die Wohnung verlassen, als er unten an der Haustür ein Geräusch hörte. Er blieb oben auf der Treppe stehen und wartete. Unten betraten vier Leute das Haus: ein Mann, eine Frau und zwei kleinere Kinder. Das schienen die Mieter Golls zu sein, die von der Hochzeit aus Hamm zurückkamen. Die mussten dann aber schon früh losgefahren sein.
Helmke machte sich durch ein lautes Räuspern bemerkbar.
Die Frau erschrak und stellte sich schützend vor ihre Kinder. Der Mann blieb ruhig. „Haben Sie Anton besucht?“, fragte er und blickte zu Helmke empor.