Kurz vor Kassenschluss - Julia Heinecke - E-Book

Kurz vor Kassenschluss E-Book

Julia Heinecke

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Beschreibung

1993: Nachwuchsjournalistin Valerie sieht ihre Chance gekommen, als sie einen verurteilten Bankräuber für eine Reportage im Freiburger Gefängnis interviewen darf. Kuno Mattusch hatte 1968 bei einem Banküberfall den Filialleiter als Geisel genommen. Auf der abenteuerlichen Flucht starb die Geisel. Begeistert berichtet Valerie ihren Eltern von ihrem Projekt - und stößt auf heftige Ablehnung. Sie erfährt, dass ihre Familie mehr mit dem Banküberfall zu tun hat, als ihr lieb ist. Was verbergen ihre Eltern? Valerie beschließt, die Wahrheit zu ergründen.

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Seitenzahl: 285

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Julia Heinecke

Kurz vor Kassenschluss

Der erste Bankraub mit Geiselnahme

Zum Buch

Banküberfall mit Folgen Wer erschoss Erich Schmid? Kuno Mattusch jedenfalls nicht, behauptet er. 1968 überfiel der Berufsganove im badischen Kurort Badenweiler eine im Parkhotel provisorisch untergebrachte Bankfiliale und nahm den Filialleiter Erich Schmid als Geisel. Auf der abenteuerlichen Flucht kam die Geisel im Feuergefecht mit der Polizei ums Leben. 25 Jahre später sieht Valerie Neumann ihre Chance als Nachwuchsjournalistin gekommen, als sie mit der Reportage zu diesem Fall betraut wird. Bei ihren Gesprächsterminen im Freiburger Gefängnis versucht Kuno Mattusch ein ums andere Mal, sie zu überzeugen, dass der tödliche Schuss nicht von ihm hätte stammen können. Valerie beginnt zu recherchieren – und findet heraus, dass ihre eigene Familie mehr mit dem Banküberfall zu tun hat, als sie sich je hätte vorstellen können. Doch ihre Eltern mauern. Was gibt es zu verbergen? Gegen alle familiären Widerstände versucht Valerie, die Wahrheit zu ergründen.

Julia Heinecke wurde in Berlin geboren, wuchs im nördlichen Schleswig-Holstein auf und ist seit über 25 Jahren in Südbaden zu Hause. Sie absolvierte eine Ausbildung zur Übersetzerin/Dolmetscherin und studierte anschließend Kulturwissenschaften. Heute lebt und arbeitet Julia Heinecke als freiberufliche Übersetzerin, Lektorin und Autorin in Freiburg. »Kurz vor Kassenschluss« ist ihr siebter Roman.

Impressum

Die Geschichte spielt vor einem realen historischen Hintergrund und folgt dem Ablauf wahrer Begebenheiten. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind deshalb möglich. Einige Figuren des Romans und auch Teile der Handlung sind jedoch frei erfunden. Hier sind Ähnlichkeiten rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

Bei Fragen zur Produktsicherheit gemäß der Verordnung über die allgemeine Produktsicherheit (GPSR) wenden Sie sich bitte an den Verlag.

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2025

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Satz/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Willy Pragher, Badenweiler: Park Hotel« W 134 Nr. 028109 CC BY 4.0 https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/Landesarchiv Baden-Württemberg Staatsarchiv Freiburghttp://www.landesarchiv-bw.de/plink/?f=5-510047-1«

ISBN 978-3-7349-3344-8

Zitat

Nicht die Zeit prägt den Menschen, sondern der Mensch sich selbst.

Aus der mündlichen Urteilsbegründung, 1970

Vorbemerkung

Diese Geschichte schildert den ersten Banküberfall mit Geiselnahme in der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1968 sowie die Flucht des Täters nach zugänglicher Quellenlage. Die in diesem Buch dargestellten Charaktere rund um den Bankdirektor sind jedoch allesamt erfunden und ähneln in keiner Weise einem Mitglied der Familie der damaligen Geisel.

1

Der Tag, an dem das Leben eine unerwartete Wendung nahm, begann wie immer. Es war Ende Oktober 1993, als Valerie Neumann am Freitagmorgen im Freiburger Stadtteil Stühlinger ihr Fahrrad aufschloss und in die fahle Herbstsonne blinzelte.

Seit etwas über einem halben Jahr lebte die 29-Jährige in der Ferdinand-Weiß-Straße in einem der Siebzigerjahre-Häuserblöcke – im Rücken die vom vierspurigen Autobahnzubringer umtoste Dreisam, nach vorne der Blick auf den gegenüberliegenden Wohnblock mit all seinen Bewohnern. Die Zweizimmerwohnung war winzig, dafür günstig, denn von ihrem Volontariatsgehalt bei der hiesigen Zeitung konnte sich Valerie nicht viel leisten.

An jenem Herbstmorgen rechnete sie für ihren Arbeitstag als angehende Journalistin mit wenig Aufregung – ein Interview mit einem Gemeinderatsmitglied stand in ihrem Terminkalender, und wenn sie Glück hatte, gab es vielleicht noch einen berichtenswerten Verkehrsunfall oder Ähnliches. Heute war der letzte Schultag vor den Herbstferien, und das Leben in Freiburg verlor etwas an Geschwindigkeit. Am Abend wollte Valerie mit ihrem Freund Steffen zu ihren Eltern nach Müllheim fahren, worauf sie sich genauso freute, wie es sie nervös machte, denn es würde das erste Zusammentreffen sein; ihre Beziehung war erst fünf Monate alt.

Im morgendlichen Sonnenschein radelte Valerie über die Blaue Brücke, blickte in einem Anfall von Fernweh den Bahngleisen hinterher und erreichte kurz darauf das Haus der Badischen Allgemeinen Nachrichten – kurz BAN genannt – mitten in der Innenstadt unweit des Bertoldsbrunnens.

Kaum hatte Valerie die Redaktionsräumlichkeiten betreten, zog Albert Schenk, der Chefredakteur, sie in sein Büro. »Was haben Sie heute vor?«

»Nichts Besonderes. Nach der Redaktionssitzung um elf Uhr ein Interview mit Frau Vögele …«

»Gut, dann haben Sie ja noch viel Zeit.« Albert Schenk schaute zufrieden. »Vergessen Sie die Redaktionssitzung, Sie müssen für Angelika Heier übernehmen. Sie ist gestern Abend gestürzt und hat sich das Becken gebrochen, liegt in der Uniklinik.«

»Oh, mein Gott«, zeigte sich Valerie entsetzt. »Die Arme.«

»Jaja, sie wird erst mal eine Weile ausfallen. Und ausgerechnet heute hat sie einen wichtigen Interviewtermin im Gefängnis. Mit einem Bankräuber. Und zwar gleich, in fünfzehn Minuten.« Albert Schenk schnaufte kurz durch. »Den übernehmen Sie.«

Valeries Herz tat einen Hüpfer. Das klang interessant!

»Gerne. Was genau soll ich tun?«

»Passen Sie auf: Kuno Mattusch hat vor 25 Jahren eine Bank überfallen und eine Geisel genommen. 1968. Die erste Geiselnahme bei einem Banküberfall überhaupt in Deutschland. Im kleinen Badenweiler, hätten Sie das gedacht? Am 25. November ist jedenfalls der Jahrestag, und dazu wollen wir einen großen Bericht bringen. Frau Heier hatte sich daran erinnert, die ist ja schon lange dabei.«

»Und was ist mit der Geisel passiert?« Valerie war Feuer und Flamme für den Auftrag.

»Tot. Erschossen. Laut Gutachten war’s der Bankräuber. Also, aus der Story lässt sich einiges rausholen. Wichtig ist jetzt, dass wir den Termin nicht sausen lassen. Sie wissen, wie schwer es ist, im Gefängnis einen Termin zu bekommen.«

Valerie wusste es nicht, nickte aber eifrig.

»Also, dann machen Sie sich auf. Ich rufe im Gefängnis an und sage, dass jemand anderes kommt.« Mit einer hektischen Handbewegung scheuchte Schenk seine Volontärin aus dem Büro.

Valerie lief zurück zu ihrem Fahrrad und schwang sich drauf. Sie freute sich. Banküberfall, Geiselnahme, das klang nach Action, ganz anders als Gemeinderat. Ein Termin im Gefängnis, Wahnsinn! Sie war neugierig, was sie erwartete. Kräftig trat sie in die Pedale.

Der sternförmige Bau im Stadtteil Herdern war gerade mal einen Kilometer von der Innenstadt entfernt. Valerie kam er mit den hohen Mauern und dem Stacheldraht darauf einerseits abweisend vor, andererseits wirkte er mit seinen roten Sandsteinziegeln gar nicht wie eine Justizvollzugsanstalt, wie es so schön hieß. Ein paar Stufen führten zum Eingang, rechts davon hinter einer dicken Glasscheibe befand sich die Anmeldung.

»Guten Morgen. Ich komme von den Badischen Allgemeinen Nachrichten. Ich habe einen Termin mit Herrn … Mattusch.« Im letzten Moment fiel Valerie der von Schenk in aller Hektik genannte Name ihres Interviewpartners ein.

Der Justizbeamte auf der anderen Seite des Fensters schaute auf eine vor ihm liegende Liste und drückte dann auf die Taste seines Mikrofons. »Frau Heier?«

»Nein, Valerie Neumann. Frau Heier ist verhindert.«

Im Hintergrund wandte sich ein weiterer Mitarbeiter auf seinem Drehstuhl um und sprach mit dem Mann am Empfang. Die Scheibe vor ihr war so dick, dass Valerie nichts von der Unterhaltung verstand. Dahinter nickte der Justizbeamte und drückte wieder auf die Mikrofontaste.

»Personalausweis, bitte. Und Presseausweis.«

Valerie kramte in ihrer Tasche, bis sie die Ausweise zutage förderte. Sie legte sie in die Lade, sie sich vor ihr öffnete. Es machte ritsch, ratsch, und die Dokumente wechselten auf die andere Seite.

Dort blätterte der Beamte sorgfältig in ihrem Personalausweis, besah den Presseausweis, behielt beides ein und legte stattdessen einen Schlüssel in die Lade. Die Öffnung glitt wieder auf ihre Seite, und Valerie griff nach dem Schlüssel.

»Jacke, Tasche und so weiter – bitte alles einschließen. Und dann warten Sie, bis die Tür aufgeht.«

Valerie nickte. »Was ist mit meinem Block und meinem Stift?« Sie hielt beides gezückt.

»Zeigen Sie her.« Wieder ging die Lade auf und zu.

Aufmerksam besah der Beamte den Schreibblock. Nachdem er nichts Auffälliges feststellen konnte – alle Seiten waren Gott sei Dank leer –, erhielt Valerie ihn zurück. »Kann mit rein. Und Sie haben eine halbe Stunde, mehr ist heute nicht drin.«

Er drückte auf einen weiteren Knopf, und die erste Tür ins Gebäude wurde entriegelt. Die Schließfächer standen gleich dahinter auf der linken Seite. Nachdem sie alles darin verstaut hatte, stand Valerie unschlüssig herum und wartete. Irgendwann summte es an der nächsten Tür. Valerie drückte sie auf und gelangte in einen verglasten Warteraum. Dort nahm sie Platz und schaute sich um, versuchte, ihre Umgebung genau zu erfassen.

Der kleine Raum war nüchtern mit ein paar Stühlen eingerichtet. Gleich neben der Tür stand ein riesiger Süßigkeitenautomat, aus dem Besucher zu offensichtlich moderaten Preisen etwas für die Insassen ziehen konnten. An den Wänden war auf zahlreichen Schildern zu lesen, was alles verboten war und welche Gegenstände nicht in den Gefängnisbereich mitgebracht werden durften. Valerie bekam den Eindruck, dass eigentlich nichts erlaubt war. Eine zweite Tür führte offenbar ins Innere des Besuchertraktes, den Valerie hinter der Glaswand erahnte. Nach zehn Minuten ging diese Tür mit einem Summen auf und ein Justizbeamter steckte seinen Kopf hinein.

»Frau Neumann?«

Valerie stand schnell auf. »Ja.«

»Kommen Sie.«

Die Tür führte in eine enge Schleuse.

»Hier warten.« Der Beamte zeigte auf die nächste Tür.

Als diese mit einem weiteren Summen aufglitt, gelangte Valerie in den zentralen Raum des Besuchertraktes. Der nächste Aufseher kam auf sie zu und brachte sie an ihr Ziel – in einen Raum, in dem sechs Tische mit Stühlen standen. Die Fenster waren so hoch angebracht, dass man nicht hinausschauen konnte. Drei der Tische waren besetzt, an zweien saßen sich jeweils ein Insasse und eine Frau gegenüber. In der Ecke hockte ein weiterer Justizbeamter auf einem Stuhl und hatte die Arme vor sich verschränkt, während seine Blicke gelangweilt durch den Raum gingen.

Am dritten Tisch wartete ein älterer Mann. Die Haare waren akkurat zurückgekämmt, und soweit Valerie es erkennen konnte, war der Mann eher klein. Seine Augen hatte er nach unten auf die Tischplatte gerichtet, offensichtlich besah er seine gefalteten Hände. Besonders interessiert wirkte er nicht.

»Herr Mattusch?« Vorsichtig näherte sich Valerie dem Mann.

Die Augen gingen nach oben und taxierten Valeries Gesicht. »Bin ich, ja.«

»Ich bin Valerie Neumann von den Badischen Allgemeinen Nachrichten. Ich komme wegen des Interviews.« Mein erster Mörder, dachte sie. Er sieht ganz normal aus. Eher schmächtig.

»Ich dachte, es kommt eine Frau Heier.«

»Sie ist leider verhindert, sie liegt im Krankenhaus. Deswegen bin ich hier.«

»Aha.« Kuno Mattusch senkte wieder den Kopf. »Na ja.«

»Ist es in Ordnung, wenn ich mich setze?«

»Jaja, machen Sie nur.«

Valerie zog den Stuhl zurück und nahm Platz. Den Block platzierte sie auf dem Tisch, Stift obendrauf. Sie räusperte sich.

»Ich habe leider gerade eben erst erfahren, dass Frau Heier nicht kann. Also … vor zwanzig Minuten vielleicht. Deswegen weiß ich eigentlich nicht viel zu der Geschichte …«

»Ich war’s nicht«, unterbrach sie Mattusch.

Valerie schaute ihn verunsichert an. »Was waren Sie nicht?«

»Ich hab ihn nicht erschossen.«

»Wen?«

»Na, den Bankdirektor.«

»Ihre Geisel?«

Der Mann schüttelte den Kopf. »Ich war’s nicht. Das haben sie mir angehängt. Der ganze Prozess war ein Betrug.«

»Äh …«, stammelte Valerie verunsichert, »ich bin in dem Fall noch nicht so informiert.«

»Wieso kommen Sie dann überhaupt her?«, fragte Mattusch unwirsch. Verärgert wischte er sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, bevor sein Blick wieder nach unten ging. »Mein Gott. Ich kann doch wohl erwarten, dass Sie meine Geschichte kennen, wenn Sie mit mir reden wollen.«

»Ja, da haben Sie natürlich recht.«

Valerie stockte. Sie hatte sich in der Kürze der Zeit keine Gedanken darüber gemacht, dass der ihr gegenübersitzende Mann eher unwillig sein könnte. Und sie hatte wirklich keine Ahnung, was sich vor 25 Jahren abgespielt hatte. Einen Moment ärgerte sie sich, dass sie von ihrem Chefredakteur so schlecht vorbereitet worden war. Sie war schließlich nur die Volontärin. Aber gut, die Zeit war nun mal knapp gewesen.

»Möchten Sie mir vielleicht Ihre Version mal erzählen?«, fragte sie vorsichtig.

»Was wissen Sie überhaupt?«, fragte Mattusch zurück.

»Ehrlich gesagt: nichts. Ich bin ja gerade erst eingesprungen. Tut mir leid, dass ich so unvorbereitet bin, aber es ging nicht anders. Der Termin stand ja fest, und die Zeitung wollte ihn nicht ausfallen lassen. Vielleicht können Sie mir einfach von diesem Tag damals erzählen.«

Mattusch lehnte sich zurück und hielt mit beiden Händen die Enden der Tischplatte fest. »Es stimmt, dass ich die Bank überfallen habe«, erklärte er. »Und dass ich mit dem Bankdirektor raus bin. Dass ich mit ihm geflohen bin.«

»Wie sind Sie denn geflohen?«, unterbrach Valerie.

Mattusch winkte ab. »Wir haben uns ein Auto genommen. Na ja, auf der Autobahn haben sie uns gestellt.«

»Die Polizei?«

»Nee, der Männergesangsverein. Natürlich die Polizei, wer denn sonst?«

»Und … dann?«

Mattusch beugte sich vor. »Dann wurde geschossen. Aber nicht von mir«, erklärte er bestimmt und lehnte sich wieder zurück.

»Und der Bankdirektor wurde getroffen?«

»Genau, aber ich war’s nicht. Ich bin nicht der Mörder, als der ich verurteilt wurde.« Mattusch atmete hörbar aus. »Bankräuber ja, aber kein Mörder. Die Polizei hatte geschossen. Ich wäre schon längst wieder draußen, wenn man wirklich Recht gesprochen hätte.«

Valerie war von ihrem Gegenüber gleichermaßen abgestoßen und fasziniert. Man sah Kuno Mattusch seine Gefängniszeit an, er wirkte älter, als er vermutlich war. Valerie schätzte sein Alter auf Anfang bis Mitte sechzig. Seine Gesichtshaut hatte einen gelblichen Schimmer, die Zähne waren braun – offensichtlich, so konnte Valerie riechen, war er Raucher, worauf auch die Zigarettenschachtel auf dem Tisch hindeutete. Seine Haare waren zwar sorgfältig zurückgekämmt, wirkten sonst aber fettig. Dennoch: Valerie hatte noch nie mit einem Schwerverbrecher zu tun gehabt, und das zog sie in den Bann. Angst verspürte sie hier, in der sicheren Gefängnisumgebung, jedenfalls nicht.

»Irgendwie muss die Polizei – oder das Gericht – ja drauf gekommen sein, dass Sie den Bankdirektor erschossen haben.«

»Ha!« Mattusch lachte kurz auf, es klang höhnisch. »Die wollten doch nur ein Exempel an mir statuieren. Die wollten doch nur vertuschen, dass sie selbst versagt hatten. Wissen Sie, wie weit wir es gebracht hatten, der Bankdirektor und ich?«

»Nein, erzählen Sie es mir.« Valerie spürte, dass Mattusch doch reden wollte. Seine anfängliche vermeintliche Ablehnung hatte er abgelegt, und Valerie selbst fühlte sich schon etwas sicherer.

»Rastatt. Bis Rastatt sind wir gekommen. Das waren zwei Stunden Fahrt.« Mattusch schien darauf heute noch stolz zu sein. »Die haben uns nicht gekriegt.«

»Wer ist denn gefahren?«

»Na, der Direktor natürlich. Hat auf die Tube gedrückt. Guter Fahrer.«

Wie grotesk, fand Valerie. Sie stellte sich vor, wie der arme Mann unter Druck als Geisel über die Autobahn rasen musste. Das hatte er sich bestimmt nicht ausgesucht. Aber sie erwiderte nichts.

»Auf jeden Fall hat die Polizei uns bei Baden-Baden eingeholt und bis Rastatt verfolgt. Eingekeilt hatten sie uns, wir mussten anhalten. Und dann haben sie gleich geschossen. Mit Maschinenpistolen! Gefährlich, sag ich Ihnen. Das war nicht gut. Erst trafen sie Herrn Schmid – und dann trafen sie mich.«

»Ach so, Sie wurden angeschossen. Sie waren verletzt?«

»Ja, genau.« Mattusch nickte.

»Was ist dann passiert?«

Die Story ist wirklich gut, dachte Valerie. Ihre Neugier stieg sekündlich.

»Mich haben sie nicht gekriegt.« Mattusch stemmte seine Hände in die Hüften, fast war es, als wollte er vom Stuhl aufspringen. »Ich bin abgehauen.«

»Weggerannt?«

»Erst gerannt«, er grinste, »dann habe ich ein Taxi genommen. Dann den Zug. Ich hatte ja genug Geld dabei.«

»Wie viel haben Sie denn erbeutet?«

»Hm, es waren gute 9600 Mark. Das hat damals gereicht, um ein paar Monate ordentlich davon zu leben. Und ich war ja krank.«

»Krank?«

»Jaja. Ich brauchte Geld für einen Genesungsurlaub, verstehen Sie? Für eine Kur.«

9600 Mark für ein Menschenleben. Valerie schüttelte innerlich den Kopf. Und er schien noch stolz darauf zu sein.

»Und wohin sind Sie gefahren?«

»Bis Hannover. Da hab ich … Verwandte. Tja, da wurde ich geschnappt. Seitdem sitze ich hier.«

»Das sind schon 25 Jahre.«

»Genau. Ungerecht ist das«, erklärte Mattusch überzeugt. »Viel zu lang für einen Bankraub. Ich meine, warum wurde die Polizei nicht ausgiebig verhört? Die hat doch geschossen! Alle haben sich immer nur auf mich konzentriert.«

»Haben Sie schon mal einen Antrag auf Freilassung gestellt? Wegen guter Führung oder so?«

Valerie hatte keine Ahnung, ob das überhaupt ging, sie sagte es einfach nur so daher.

»Hab ich gemacht.« Mattusch verschränkte erneut die Arme. »Aber alles abgelehnt. Tja, so ist das.«

»Hm.« Valerie wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. Sie warf einen Blick auf einen der Nachbartische, an dem ein Häftling mit einer Frau Händchen hielt. Die Frau lächelte ihn an, während er redete.

»War’s das? Sind Sie schon fertig mit Ihren Fragen?«, riss Mattusch sie aus ihrer Beobachtung.

Er griff nach der Zigarettenschachtel, zündete sich eine Zigarette an und atmete den Rauch tief ein.

Valeries Blick ging zurück zu ihrem Gegenüber. »Haben Sie denn versucht, das Urteil anzufechten?«

»Ach«, Mattusch atmete den Rauch aus und winkte ab, »das bringt doch nichts. Wurde auch abgelehnt, die Revision. Mein Anwalt hatte damals gleich gesagt, ich solle es lassen. Der hat mir halt nicht geglaubt, genauso wenig wie die Polizei, das Gericht oder …«, er machte eine Pause, »oder wie Sie.«

»Ich weiß doch noch gar nichts«, wehrte Valerie ab. »Das haben Sie doch selbst schon festgestellt. Erzählen Sie mir mehr von der Sache. Wenn Sie wirklich nicht geschossen haben, dann wäre es ja ein Skandal, dass Sie für einen Mord verurteilt worden sind.«

»Sie sagen es!« Mattusch lehnte sich so weit nach vorne über den Tisch, wie es ging. »Wissen Sie was, Frau … Neumann? Sie können mir doch helfen. Recherchieren Sie! Vielleicht bringt’s was. Vielleicht finden Sie etwas, das mich entlastet, etwas, das keiner in den Prozess einbringen wollte. Dann komm ich möglicherweise doch hier raus.«

»Wie soll ich das machen?«, fragte Valerie verwirrt. Genau, wie sollte sie das machen? Sie, die kleine angehende Journalistin.

»Recherchieren Sie.« Mattusch lehnte sich zurück, zog an seiner Zigarette und ließ Valerie nicht aus den Augen. »Recherchieren Sie, hören Sie sich um. Und kommen Sie mich wieder besuchen.«

»Na, da hatte ja jemand richtig Redebedarf.« Der Justizbeamte, der unauffällig auf seinem Stuhl in der Ecke gesessen hatte, brachte Valerie zurück zur Schleusentür.

»Fanden Sie?« Valerie kam sich wie eine kleine Idiotin vor, nachdem sie von Kuno Mattusch einfach herauskomplimentiert worden war.

»Auf jeden Fall. Der Mattusch ist sonst total zurückhaltend. Hockt in seiner Zelle und macht Kupfersticharbeiten.« Der Beamte hielt Valerie die Tür auf. »Wissen Sie was? Seit ich hier bin, seit zwölf Jahren, hab ich kein einziges Mal mitgekriegt, dass der je Besuch hatte. Kein Wunder hat der losgelegt.«

»Wie ist Mattusch denn so?«, wollte Valerie wissen.

»Ganz okay eigentlich. Fällt nicht auf. Hält sich aus allem raus. Er ist ruhig, kann aber auch ganz schön stur sein. Wie gesagt, wenn er nicht in der Buchbinderei arbeitet, bleibt er eher in seiner Zelle, Hofgang interessiert ihn nicht so. Also, eigentlich …«, der Beamte schüttelte den Kopf, »weiß ich gar nichts über ihn zu erzählen.«

»Meinen Sie, ich kann wiederkommen?«, fragte Valerie. »Allzu viel habe ich noch nicht in Erfahrung gebracht.«

»Das müssen Sie beantragen, fragen Sie vorne beim Empfang. Eigentlich gibt es ja nicht so viele Besuchszeiten für einen Häftling, aber vielleicht gibt es für Journalisten eine Ausnahme. Und der Mattusch hatte ja noch nie Besuch, da könnte man eventuell großzügig sein. Aber ich weiß es nicht. Fragen Sie einfach nach. Schönen Tag noch.«

Der Wärter machte eine einladende Geste Richtung Schleuse, und Valerie ging hindurch.

Wieder vor dem Gefängnis schaute Valerie auf ihre Armbanduhr. Es war noch nicht mal zehn Uhr. Sie könnte sich beeilen und den Rest der vormittäglichen Redaktionssitzung noch mitbekommen. Oder sie radelte zur Uniklinik, um ihrer verunglückten Kollegin einen Besuch abzustatten. Vielleicht war Angelika Heier auskunftsfreudig. Ein Beckenbruch klang nicht danach, bald wieder zur Arbeit zurückzukehren. Warum also sollte sie ihre Informationen horten wollen?

Valerie hatte am Eingang nach der Möglichkeit weiterer Besuche zu Recherchezwecken gefragt. Der Mann hinter der Scheibe war freundlich gewesen und hatte sie an die Gefängnisleitung verwiesen, bei der sie – oder ihr Chef – einen Antrag stellen sollte. Das passende Formular hatte er ihr gleich mitgegeben und sehr optimistisch geklungen. Valerie schloss ihr Fahrrad auf und hatte ihre Entscheidung getroffen. Sie fuhr direkt zur Universitätsklinik.

Auf der chirurgischen Station klopfte sie wenig später an die Tür.

Angelika Heier lag am Fenster eines Doppelzimmers und schaute sie mit müden Augen an.

»Ach, du bist’s.«

Es gehörte zu Angelika Heiers Privilegien in der Redaktion, als langjährige Mitarbeiterin die Volontärsgeneration zu duzen, während sie selbst sich siezen ließ.

»Hallo, Frau Heier«, Valerie griff nach der Hand der Kollegin, die sich ganz schwach anfühlte, »was machen Sie denn für Sachen?«

»Hör mir auf, so ein Mist.« Angelika Heier drückte Valeries Hand etwas fester, bevor sie sie schlapp auf die Bettdecke fallen ließ. »Ich kann dir nur empfehlen: Steig niemals in diese neuen Papiermülltonnen, um mit den Füßen noch etwas Platz darin zu schaffen. Hundsgefährlich, die Dinger.«

»Sie sind in der Mülltonne verunglückt?«

»Ganz genau. Ehe ich was machen konnte, war ich auch schon umgefallen. Mitsamt der Tonne.«

»Wir haben in unserem Wohnblock Gott sei Dank nur Container«, erwiderte Valerie. »Aber die schlimmsten Unfälle passieren ja bekanntlich im Haushalt.«

»Ja, das ist wohl wahr. Was führt dich denn her zu mir?«

Valerie deutete auf den Stuhl in der Ecke. »Darf ich mich setzen?«

Angelika Heier nickte.

Valerie rutschte mit dem Stuhl näher an das Bett heran. »Wie geht es Ihnen?«

»Schlecht, Mädel, schlecht. Rühren darf ich mich nicht, und Schmerzen hab ich, ach!«, ächzte die Kollegin. »Die hauen mir hier das Zeug nur so rein, aber es tut trotzdem noch schrecklich weh.« Sie zeigte mit den Augen auf den Infusionsständer neben ihr. »Ich will einfach nur schlafen und hoffen, dass es vorbeigeht.«

»Ich bin gleich wieder weg«, erwiderte Valerie verständnisvoll. »Ich wollte nur sagen, dass ich heute im Gefängnis war. Bei Kuno Mattusch.«

»Mattusch. Der Banküberfall.« Angelika Heier verzog keine Miene. »Auf die Story hatte ich mich schon gefreut. Tja, jetzt bist du dran. So schnell kann’s gehen. Wie ist der Mattusch denn so?«

»Hm. Schwer zu sagen«, meinte Valerie. »Ich glaube, er will schon reden. Aber ich war so schlecht vorbereitet, dass er es mir übel genommen hat. Ich weiß ja gar nichts über den Fall.«

»Hat dich der Schenk ins kalte Wasser gestoßen.« Angelika Heier grinste leicht, und Valerie sah ihre Schmerzen. »So geht das, Mädel. Nimm dir Mattuschs Meinung nicht allzu sehr zu Herzen, das ist schließlich ein Krimineller hinter Gittern, der kann dir gar nichts. Er soll sich mal nichts einbilden, der Kerl. Das war damals jedenfalls eine große Sache. Da war ich quasi in der Position in der Zeitung, in der du heute bist. Ich bin auch ins kalte Wasser geschubst und nach Badenweiler geschickt worden. Zum ersten Mal ein Banküberfall mit Geiselnahme. Das ist gar nicht so bekannt. Allgemein sagt man ja immer, dass das zum ersten Mal 1971 in München vorkam. Dort gab es damals zwei Tote. Und die zwei Bankräuber hatten insgesamt 18 Geiseln genommen. Hier waren es ja nur vier, die zwei Mitarbeiterinnen, eine Kundin und der Filialleiter. Was heißt nur? Der arme Kerl.«

»Ja, das stimmt«, nickte Valerie. »Wieso eigentlich das kleine Badenweiler? Warum ist der Bankräuber ausgerechnet dort hin?« Sie blickte auf Heiers ältere Zimmernachbarin, die offensichtlich von ihrem Bett aus interessiert zuhörte.

»Tja, kleine Orte sind immer besser als Städte, in denen die Polizei schnell am Tatort sein kann. Und kennst du das Parkhotel? Nein? Nun, dort im Restaurant, im Parkstüble, war die Sparkasse untergebracht. Da staunst du, gell? Die Sparkasse war gerade dabei, ihr altes Gebäude abzureißen und neu zu bauen, das Parkstüble war lediglich ein Provisorium. Und das war äußerst schlecht gesichert.«

»Seltsam«, wunderte sich Valerie, »ich komme ja aus Müllheim, das ist ja nur ein paar Kilometer entfernt, aber von der Geschichte wusste ich nichts.«

»Ja, wirklich seltsam«, bestätigte Angelika Heier. »Die Geschichte ist zumindest in eurer Gegend ja bestens bekannt. Woher dieser Mattusch das mit dem Provisorium und der schlechten Sicherung wusste, keine Ahnung. Der lebte damals in Frankfurt. Aber so war’s. Er war halt Berufsverbrecher. Vom Fach sozusagen.«

In diesem Moment wurde energisch von außen gegen die Tür geklopft und diese sofort weit geöffnet. »Guten Morgen, Visite.« Eine Armada an Weißkitteln schob sich in den Raum, vorneweg eine Krankenschwester mit einem Rollwagen.

»Besucher bitte raus«, erklärte sie an Valerie gerichtet. »Sie können draußen warten.«

»Ach, Mädel, komm lieber in ein paar Tagen wieder.« Angelika Heier sah erschöpft aus. »Ich bin froh, wenn der Visitezirkus rum ist und ich ein bisschen schlafen kann. Wenn du Fragen hast, jederzeit. Aber jetzt brauche ich eine Pause.«

»Danke, Frau Heier. Bis bald.«

Valerie stand auf und ging. Sie war ein bisschen enttäuscht, aber der Kraftaufwand, den es ihre verletzte Kollegin kostete, sich mit ihr zu unterhalten, war ihr nicht entgangen.

Albert Schenk zeigte sich kurz darauf mit Valeries mündlichem Bericht äußerst zufrieden.

»Ein guter Anfang, Frau Neumann«, lobte er. »Jetzt brauchen wir noch ein paar Interviewtermine, und dann schaffen wir es noch rechtzeitig, daraus eine schöne Story zu machen.«

»Hier ist das Formular«, Valerie streckte es ihrem Chef entgegen.

»Wunderbar. Ich kümmere mich drum. Sie können sich ja zunächst im Archiv schlaumachen.«

»Mach ich. Aber jetzt muss ich zur Stadträtin.«

2

Valeries weiterer Tag verlief geschäftig. Das Interview mit Frau Vögele war nicht so langweilig, wie sie befürchtet hatte, im Gegenteil fand sie die Stadträtin sehr sympathisch, die sich wiederum mit der Anfängerjournalistin sehr geduldig zeigte. Nachdem Valerie in der Redaktion alles Wesentliche des Gesprächs zusammengefasst hatte, wurde sie zu einem Wohnungsbrand nach Ebnet, dem äußersten Freiburger Stadtteil im Osten, geschickt. Sie fuhr zusammen mit dem Fotografen Ralf Nagel im Auto dorthin, und beide ärgerten sich schon kurz darauf, dass sie für die sieben Kilometer nicht ihre Fahrräder genommen hatten, weil sie auf der ins Dreisamtal führenden Bundesstraße unweigerlich im Stau standen. Die B31 war zu jeder Zeit ein Nadelöhr, aber heute war es noch schlimmer als üblich. Vermutlich war der Brand daran schuld. Die beiden erreichten die Brandstelle viel zu spät, das Feuer war längst gelöscht. Ralf Nagel fluchte und machte sich dran, immerhin noch die verkohlten Stellen gut ins Bild zu bekommen, während Valerie das Gespräch mit der Polizei suchte. Als sie sich eine halbe Stunde später auf den Rückweg machten, standen sie wieder im Stau. In Gedanken formulierte Valerie schon mal den Pressetext, was ihr leichtfiel, weil durch Ralf Nagel keine Ablenkung zu erwarten war. Der Fotograf schwieg meistens. Zurück in der Redaktion tippte Valerie ihren Beitrag schnell in den Computer, bevor sie sich bei den Kollegen ins Wochenende verabschiedete.

Sie hatte es eilig, denn sie wollte sich mit Steffen direkt am Hauptbahnhof treffen, um mit ihm zu ihren Eltern nach Müllheim zu fahren. Wegen dieses Kennlernabends war Valerie schon seit Tagen aufgeregt. Sie hatte noch nicht viele Partner nach Hause mitgebracht, und sie wusste, dass ihre Eltern in der Hinsicht zwar nie etwas sagen würden, aber innerlich doch ganz genaue Vorstellungen in Bezug auf das Leben ihrer einzigen Tochter hatten.

Valerie war im Markgräflerland in der Nähe von Freiburg aufgewachsen, hatte nach dem Abitur erst eine Lehre bei Geschenke Hansen am Rathausmarkt angefangen und nach wenigen Monaten wieder aufgehört, bevor sie zum Studium nach Göttingen, Heidelberg und Berlin ging. Gefühlt hatte sie sich durch alle geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächer studiert, und als ihre Eltern es kaum noch zu hoffen wagten, machte sie nach 17 Semestern mit 28 Jahren doch noch den Magisterabschluss. Valerie zog es zurück in ihre alte Heimat und sie bewarb sich bei den BAN – sie hatte Glück und ergatterte das zweijährige Volontariat bei der Zeitung, das aus ihr eine gute Journalistin machen sollte. Nach einem halben Jahr war sie gerade mittendrin in der harten Schule der Vereinsversammlungen und Gemeinderatssitzungen.

Mit Steffen war sie seit fünf Monaten zusammen. Sie hatten sich im Mai auf der gemeinsam von Romanistinnen und Physikern veranstalteten Studiparty kennengelernt. Die zwei Fakultäten taten sich immer zusammen, um das Geschlechterverhältnis auf ihren Partys auszugleichen, und diese Veranstaltungen galten als legendär. Nachdem Valerie und Steffen dort von einer gemeinsamen Freundin vorgestellt wurden, hatten sie sich gleich gut verstanden und sich schon am nächsten Tag am Seepark zum Spazieren getroffen. Kurz darauf wurden sie ein Paar.

Steffen war wie Valerie 29 Jahre alt, hochgewachsen, von seinen ehemals langen Haaren zeugte noch ein schmaler geflochtener Zopf auf der linken Seite. Was seinen Kleidungsstil anging, sah er aus wie ein typischer Freiburger Linker. Er promovierte in Physik und war dafür am Institut mit einer halben Stelle ausgestattet. Steffen war sehr zielstrebig, selbstbewusst und wortgewandt, was Valerie sehr anzog. Sie betrachtete sich selbst als das komplette Gegenteil – sie wusste nie genau, was sie wollte, und von einem gesunden Selbstbewusstsein spürte sie wenig. Neben dem schillernden Steffen kam sie sich manchmal unscheinbar vor. Sie hatte lange blonde Haare, an denen ihrer Meinung nach gar nichts aufregend war, war durchschnittlich groß und kleidete sich eher unauffällig, auf jeden Fall nicht so, dass man daraus, anders als bei Steffen, eine politische Meinung herauslesen konnte. Valerie trat selten in den Vordergrund, sondern hielt sich eher zurück. Sie war häufig unentschieden und konnte im Gegensatz zu ihrem Freund keine schnellen Entscheidungen treffen. Für sich selbst wusste sie nie, wohin die Reise gehen sollte. Vielleicht war auch das ein Grund, warum Valerie so lange gebraucht hatte, um überhaupt irgendeine Art von Ausbildung abzuschließen.

Steffen ging die Sachen an, egal, was da kam. Es imponierte Valerie. Was er sich vornahm, das schaffte er auch. Valerie war nicht so planvoll, sondern neigte dazu, Sachen aufzuschieben. Ihre Magisterarbeit hatte sie genau eine Stunde vor Fristende abgegeben. Aus diesem Grund stapelten sich in ihrer Schreibtischschublade und in ihrem Leben sprichwörtlich die ungeschriebenen Geschichten, die sie niemals fertig bekommen würde.

Die beiden trafen sich direkt am Bahnhof und setzten sich in den Regionalzug Richtung Basel.

»Wie geht’s dir?«, fragte Valerie, während sie seine Hand fest umklammert hielt.

»Scheißtag heute«, schimpfte Steffen los. »Mein Prof ist so desorganisiert, das gibt’s echt nicht.«

Steffen führte lang und breit aus, wie chaotisch sein Tag verlaufen war, dass er wieder einmal für eine Lehrveranstaltung einspringen musste, die er doch gar nicht hätte halten dürfen, und wie dankbar die Studenten deswegen waren.

»Immer muss ich ihm den Arsch retten«, grollte er, doch Valerie kannte ihn schon gut genug, um zu erkennen, dass Steffen daran großen Gefallen fand.

»Gott sei Dank kenne ich mich in dem Thema aus«, ergänzte er. Er redete weiter, bis sie den Bahnhof Müllheim erreichten. Valerie hatte sich zurückgehalten und so keine Gelegenheit gehabt, ihm von ihrem Tag zu erzählen. Gerade beschäftigte sie auch mehr das Zusammentreffen ihres neuen Freundes mit ihren Eltern.

»Bist du auch so nervös?«, wollte sie wissen, als sie ausstiegen.

»Nö, wieso denn?« Steffen grinste sie aufmunternd an.

Auf dem Vorplatz entdeckte Valerie ihren Vater, der vor seinem Auto stand und auf sie wartete. Der Müllheimer Bahnhof lag außerhalb der Stadt, ihr Elternhaus lag drei Kilometer entfernt, und die Busverbindungen ins Wohngebiet waren eher dürftig.

»Hallo, Papa!« Valerie begrüßte ihren Vater wie immer mit einer Umarmung.

»Hallo, Große!« Jürgen Neumann drückte seine Tochter. Dann gab er Steffen die Hand. »Neumann, guten Abend. Schön, dass wir Sie heute kennenlernen.«

So förmlich, dachte Valerie, sagte aber nichts. Sie schaute Steffen an, der keine Miene verzog. Jürgen Neumann öffnete die Beifahrertür des Wagens und machte unmissverständlich deutlich, dass er seine Tochter neben sich wünschte. Steffen nahm auf dem Rücksitz Platz.

Im Haus angekommen, kam ihnen Valeries Mutter entgegen, und die Begrüßung wiederholte sich ähnlich steif wie am Bahnhof.

»Ursula Neumann, Valeries Mutter, hallo. Schön, dass Sie da sind. Herzlich willkommen.«

»Ihr könnt euch doch ruhig duzen«, ging Valerie dazwischen. »Siezen ist total out.«

»In deiner Generation vielleicht«, erwiderte ihre Mutter. »Aber bevor wir uns duzen, wollen wir uns doch erst einmal kennenlernen, oder nicht?«

»Kein Problem, Frau Neumann.« Steffen lächelte. »Sagen Sie du oder Sie zu mir, für mich geht beides.«

»Aber …« Valerie war peinlich berührt. Sie fürchtete, dass ihre Eltern arg altmodisch daherkamen, doch Steffen machte eine beruhigende Geste.

Dann fragte er laut: »Schuhe aus?«

»Ja, gerne«, erwiderte Ursula Neumann. »Brauchen Sie Hausschuhe?«

»Danke«, wehrte Steffen lächelnd ab, »nicht nötig.«

Im Stehen zog er seine Schuhe aus und stand in bunten Stricksocken im Flur. Valerie fragte sich unwillkürlich, wie ihre Eltern wohl die Socken fanden, während sie selbst in ihre Hausschuhe schlüpfte. Blöde Gedanken, dachte sie und versuchte, sie wegzuwischen.

»Gut. Setzt euch doch, der Tisch ist gedeckt, ich komm sofort. Es gibt Lasagne.« Ursula Neumann verschwand in der Küche.

»Bitte, hier entlang.« Jürgen Neumann wies mit einer Handbewegung den Weg Richtung Esszimmer. »Wollen Sie ein Bier?«

»Gerne«, antwortete Steffen.

»Ich nehm auch eins«, ergänzte Valerie.

Als sich alle gesetzt und sich einen guten Appetit gewünscht hatten, hörte man eine Weile nur das Klackern des Bestecks auf dem Teller.

»Steffen, Sie studieren Physik«, begann Jürgen die Unterhaltung.

Grauenhafter Smalltalk, dachte Valerie und schämte sich. Sie wäre so gerne cooler, entspannter, so wie Steffen es zu sein schien, aber das entsprach nicht ihrem Naturell.

»Ja, also, Diplom hab ich schon gemacht. Jetzt promoviere ich«, antwortete Steffen.

»Worüber?«

»Es geht um Laserstrahlen, sehr komplex.« Steffen lachte leicht auf. »Es lässt sich schwer erklären, die meisten finden es langweilig.«

»Ich bin Ingenieur, ich glaube, auf mich trifft das nicht zu«, erwiderte Jürgen Neumann.

»Aber auf andere schon«, ging Valerie dazwischen. »Ihr könnt das ja gleich besprechen.«

Ihr Vater warf Valerie einen befremdeten Blick zu. »Wenn du meinst.« Er nahm ein weiteres Stück Lasagne in den Mund, kaute und sah in die Runde.

»Schmeckt sehr gut«, lobte Steffen.

»Ja, lecker«, ergänzte Valerie knallrot im Gesicht. Das Essen konnte sie jedenfalls nicht genießen.

»Wie war denn dein Tag?« Ursula Neumann lächelte ihre Tochter auffordernd an. »Ist heute etwas Aufregendes in Freiburg passiert, über das du berichten darfst? Im Radio kam vorhin, dass es in Ebnet gebrannt hatte.«

»Jaja«, nickte Valerie. Sie schluckte einen Bissen herunter. »Da war ich sogar vor Ort. Das heißt, das Feuer war eigentlich schon gelöscht, als wir ankamen. Wir standen wieder mal auf der Schwarzwaldstraße im Stau.«

»Wird Zeit, dass der Tunnel gebaut wird«, murmelte Jürgen Neumann.

»Aber dann muss der Park abgeholzt werden, auch keine Lösung. Wir brauchen den Wald«, entgegnete Steffen.

Valerie hoffte inständig, dass jetzt, am Kennlernabend, keine politischen Diskussionen begannen. Und sie hatte ja auch noch was zu erzählen.

»Heute Morgen war es aber viel aufregender«, fing sie an. »Da war ich im Gefängnis.«

»Oh, das klingt wirklich spannend«, meinte ihre Mutter. »Was hast du dort verbrochen?«