Kurz vor Mitternacht - Agatha Christie - E-Book

Kurz vor Mitternacht E-Book

Agatha Christie

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  • Herausgeber: Atlantik
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2018
Beschreibung

»Es ist lange her, aber ich würde den Mörder sofort wiedererkennen.« Beim gemeinsamen Dinner während des Sommers in Gull's Point dreht sich das Tischgespräch um das Rechtssystem, Mord und Gerechtigkeit. In der Nacht darauf stirbt Rechtsanwalt Rever an einem vermeintlichen Herzinfarkt – oder hat jemand nachgeholfen? Superintendent Battle muss sich in seinem fünften und letzten Fall durch ein Geflecht an Hinweisen kämpfen, um den Täter unter den Gästen ausfindig zu machen.

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Seitenzahl: 292

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Agatha Christie

Kurz vor Mitternacht

Aus dem Englischen von Rebecca Gablé

Atlantik

Für Robert Graves

Lieber Robert,

da Sie so freundlich waren zu sagen, dass meine Geschichten Ihnen gefallen, erlaube ich mir, Ihnen dieses Buch zu widmen. Alles, worum ich Sie bitte, ist, Ihr literaturkritisches Talent (das zweifellos durch Ihre jüngsten Exzesse auf diesem Gebiet geschärft ist) nicht gerade hieran zu erproben.

Diese Geschichte soll Ihrem Vergnügen dienen und nicht an Mr Graves’ literarischem Pranger landen!

In freundschaftlicher Verbundenheit

Agatha Christie

Prolog: 19. November

Die Gruppe am Kamin bestand nahezu ausschließlich aus Juristen oder Personen, die ein Interesse am Gesetz hatten. Dies waren der Rechtsanwalt Martindale, der Kronanwalt Rufus Lord, der junge Daniels, der sich mit dem Fall Carstairs einen Namen gemacht hatte, eine Hand voll weiterer Anwälte, der ehrenwerte Richter Cleaver, Lewis von Lewis & Trench, sowie der alte Mr Treves. Mr Treves war an die achtzig, was in seinem Falle ein besonders reifes und erfahrenes Alter war. Er gehörte zu einer renommierten Anwaltskanzlei, deren berühmtestes Mitglied er war. Es wurde gemunkelt, er kenne mehr dunkle Geheimnisse aus gerichtlichen Hinterzimmern als irgendein anderer Mann in England, und er war ein Kriminologieexperte.

Unbedachte Menschen sagten, Mr Treves sollte seine Memoiren schreiben. Doch Mr Treves wusste es besser. Er wusste, dass er zu viel wusste.

Wenngleich er sich schon lange aus dem aktiven Berufsleben zurückgezogen hatte, gab es doch keinen anderen Mann in England, dessen Meinung in der juristischen Bruderschaft so hohes Ansehen genoss. Wann immer er die dünne, perfekt modulierte Stimme erhob, herrschte respektvolles Schweigen.

Die Unterhaltung drehte sich jetzt um einen viel diskutierten Fall, der heute vor dem Old Bailey zum Abschluss gebracht worden war. Es handelte sich um eine Mordsache, und der Angeklagte war freigesprochen worden. Die Herrschaften am Kamin fochten den Prozess mit großer Lebhaftigkeit erneut aus und kritisierten technische Schwachstellen.

Die Anklage hatte den Fehler begangen, sich auf eine ihrer Zeuginnen zu verlassen – dem alten Depleach hätte doch klar sein müssen, welche Angriffsfläche er der Verteidigung damit bot. Und der junge Arthur hatte alles aus der Aussage dieses Dienstmädchens herausgeholt, was sie hergab. In seiner Zusammenfassung hatte Bentmore die Angelegenheit völlig korrekt ins rechte Licht gerückt, aber der Schaden war längst angerichtet – die Geschworenen hatten der jungen Frau geglaubt. Geschworene waren schon komisch – man konnte nie vorhersagen, was sie schlucken würden und was nicht. Aber wenn sie sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatten, gab es nichts, das sie wieder hätte umstimmen können. Sie waren überzeugt, dass das Dienstmädchen die Wahrheit über das Brecheisen gesagt hatte, und damit basta. Das medizinische Gutachten war ein bisschen zu hoch für sie gewesen. All diese langen Wörter und wissenschaftlichen Fachausdrücke – verflucht schlechte Zeugen, diese Wissenschaftsknilche, ewig drucksten sie herum und konnten eine einfach Frage nie mit ja oder nein beantworten, sagten ständig Dinge wie: »Unter gewissen Umständen könnte es sich so zutragen«, und so weiter.

Nach und nach gingen den Herren die Argumente aus, und als die Kommentare sporadischer und unzusammenhängender wurden, blieb das allgemeine Gefühl zurück, dass irgendetwas fehlte. Ein Gesicht nach dem anderen wandte sich Mr Treves zu, denn er hatte bislang noch nichts zur Diskussion beigetragen. Allmählich wurde offensichtlich, dass die Runde auf einen Kommentar ihres angesehensten Mitgliedes wartete.

Mr Treves saß in seinen Sessel zurückgelehnt und putzte versonnen seine Brille. Irgendetwas an der Stille veranlasste ihn, plötzlich aufzuschauen.

»He?«, sagte er. »Wie war das? Haben Sie mich etwas gefragt?«

Der junge Lewis ergriff das Wort: »Wir sprachen über den Fall Lamorne, Sir.«

Er schwieg erwartungsvoll.

»Ja, ja«, sagte Mr Treves. »Darüber musste ich auch gerade nachdenken.«

Respektvolle Stille herrschte.

»Aber ich fürchte, dass meine Phantasie mit mir durchgegangen ist«, fuhr Mr Treves fort, der immer noch seine Brillengläser polierte. »Ja, die Phantasie ist mit mir durchgegangen. Das liegt wohl am Alter. In fortgeschrittenen Jahren kann man sich ja erlauben, ein bisschen schrullig zu werden, wenn einem danach ist.«

»In der Tat, Sir«, versicherte der junge Lewis, aber er schien verwirrt.

»Ich dachte nicht so sehr an die strittigen Rechtsfragen des Falles – auch wenn sie von Interesse waren, von größtem Interesse. Wäre das Urteil anders ausgefallen, hätte eine Berufung gute Chancen gehabt. Ich neige eher zu der Ansicht – aber das will ich jetzt nicht vertiefen. Ich dachte, wie gesagt, nicht an die strittigen Rechtsfragen, sondern an die Menschen, die in diesen Fall verwickelt waren.«

Verwunderung machte sich breit. Die Herren hatten die Menschen, die in diesen Fall verwickelt waren, nur in Bezug auf ihre Glaubwürdigkeit betrachtet oder eben als Zeugen. Niemand war bislang auf den Gedanken gekommen, darüber zu spekulieren, ob der Angeklagte schuldig war oder so unschuldig, wie das Gericht befunden hatte.

»Menschen, wissen Sie«, sagte Mr Treves nachdenklich. »Menschen aller Art und Sorten, jeder Größe und Gestalt. Manche mit Grips gesegnet, die Mehrheit jedoch nicht. Sie kamen aus dem ganzen Land – Lancashire, Schottland, dieser Restaurantbesitzer aus Italien und diese Lehrerin aus dem Mittleren Westen. Alle in irgendeiner Weise in diese Sache hineingeraten und verstrickt, treffen sie an einem grauen Novembertag in London in einem Gerichtssaal zusammen. Ein jeder hat seinen kleinen Teil beigetragen. Und das Ganze gipfelt schließlich in einem Mordprozess.«

Er unterbrach sich und trommelte mit den Fingern einen leisen Rhythmus auf seinem Knie.

»Ich liebe gute Detektivgeschichten«, fuhr er fort. »Aber wissen Sie, sie fangen an der falschen Stelle an! Sie beginnen mit dem Mord. Doch der Mord ist das Ende. Die Geschichte beginnt lange davor. Manchmal Jahre davor – mit den Ursachen und Ereignissen, die bestimmte Menschen zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Tag an einen bestimmten Ort verschlagen. Nehmen Sie nur die Zeugenaussage dieses kleinen Dienstmädchens: Hätte die Küchenmagd ihr nicht ihren Verehrer ausgespannt, hätte sie niemals im Zorn ihre Stellung aufgegeben, wäre niemals zu den Lamornes gegangen und die entscheidende Zeugin der Verteidigung geworden. Dieser Giuseppe Antonelli: Er ist für einen Monat herübergekommen, um für seinen Bruder einzuspringen. Der Bruder ist blind wie ein Maulwurf. Er hätte niemals sehen können, was Giuseppe mit seinen scharfen Augen beobachtet hat. Und hätte der Constable keine solche Schwäche für die Köchin von Nummer 48 gehabt, wäre er auf seinem Streifengang nicht so spät dran gewesen –« Er nickte verhalten. »Alle bewegen sich auf einen bestimmten Punkt zu. – Und dann, wenn die Zeit reif ist –, läuft das Fass über. Die Stunde X. Ja, sie alle bewegen sich auf den kritischen Punkt zu – auf den kritischen Punkt«, wiederholte er. Dann schauderte er leicht.

»Ist Ihnen kalt, Sir? Rücken Sie näher ans Feuer.«

»Nein, nein«, wehrte Mr Treves ab. »Es ist nur gerade jemand über mein Grab gelaufen, wie man so schön sagt. Nun, ich muss mich auf den Heimweg machen.«

Er nickte liebenswürdig in die Runde und ging gemessenen Schrittes hinaus.

Einen Moment herrschte ein unsicheres Schweigen, ehe der Kronanwalt Rufus Lord bemerkte, dass der arme alte Treves wirklich in die Jahre kam.

»Ein scharfer Verstand«, sagte William Cleaver. »Ein sehr scharfer Verstand. Aber irgendwann macht sich das Alter eben bemerkbar.«

»Sein Herz ist auch nicht mehr das beste«, wusste Lord zu berichten. »Ich glaube, er könnte jederzeit tot umfallen.«

»Er gibt schon auf sich Acht«, meinte der junge Lewis.

Im selben Moment stieg Mr Treves vorsichtig in seinen perfekt gewarteten Daimler, der ihn zu einem Haus an einem ruhigen Platz brachte. Ein fürsorglicher Butler half ihm aus dem Mantel. Mr Treves ging in seine Bibliothek, wo ein Kohlenfeuer brannte. Sein Schlafzimmer lag gleich dahinter, denn aus Rücksicht auf sein Herz stieg er nie ins Obergeschoss hinauf.

Er nahm vor dem Feuer Platz und zog sich die Post heran.

In Gedanken war er immer noch bei dem phantastischen Szenario, das er im Club gesponnen hatte.

Selbst jetzt, dachte Mr Treves, ist irgendein Drama, irgendein zukünftiger Mord in Vorbereitung. Wollte ich eine dieser amüsanten Kriminalgeschichten schreiben, würde ich mit einem älteren Gentleman beginnen, der am Feuer sitzt und seine Post öffnet – der sich, ohne es zu ahnen, auf den kritischen Punkt zubewegt.

Er schlitzte einen Umschlag auf und schaute blicklos auf den Bogen hinab, den er herausgeholt hatte.

Plötzlich veränderte sich sein Ausdruck. Er kehrte aus der Phantasiewelt zurück in die Wirklichkeit.

»Ach, du meine Güte«, sagte Mr Treves. »Wie überaus ärgerlich! Wirklich, wie schrecklich. Nach all den Jahren! Das durchkreuzt all meine Pläne!«

Hereinspaziert, und hier sind die Akteure!

11. Januar

Der Mann in dem Krankenhausbett regte sich und unterdrückte ein Stöhnen.

Die diensthabende Stationsschwester stand von ihrem Tisch auf und ging zu ihm. Sie schüttelte seine Kissen auf und half ihm in eine bequemere Lage.

Angus MacWhirter brachte als Dank nur ein Knurren hervor.

Er befand sich in einem Zustand brodelnder Auflehnung und Verbitterung.

Dabei hätte es längst vorbei sein sollen. Er hätte aus allem heraus sein sollen! Zur Hölle mit dem verdammten, albernen Baum, der aus der Klippe herauswuchs. Zur Hölle mit dem Liebespaar, das der Kälte einer Winternacht getrotzt hatte, um sich zu einem Rendezvous am Rande der Klippe einzufinden.

Wären sie nicht gewesen (und der Baum!), dann wäre jetzt alles vorbei. Ein Sturz in tiefes, eisiges Wasser, vielleicht ein kurzer Kampf und dann Vergessen – das Ende eines verschwendeten, nutzlosen, unprofitablen Lebens.

Und wo war er jetzt? Hier lag er, der Lächerlichkeit preisgegeben, mit einer gebrochenen Schulter in einem Krankenhausbett mit der Aussicht, vor Gericht gestellt und für das Verbrechen, sich das Leben nehmen zu wollen, abgeurteilt zu werden.

Zur Hölle damit, es war doch sein Leben, oder nicht?

Und hätte es geklappt, hätten sie ihn als angeblich Geisteskranken mit dem Segen der Kirche beerdigt.

Geisteskrank! Er war nie bei klarerem Verstand gewesen. Und Selbstmord zu begehen war das Logischste und Vernünftigste, was ein Mann in seiner Lage tun konnte.

Er war vollkommen am Ende, hatte eine dauerhaft ruinierte Gesundheit und eine Frau, die ihn wegen eines anderen verlassen hatte. Er hatte keine Arbeit, keine Liebe, kein Geld und keine Hoffnung. All dem ein Ende zu machen war doch wohl die einzige Lösung?

Und jetzt steckte er hier in dieser lächerlichen Klemme. In Kürze würde er sich die Vorwürfe eines scheinheiligen Richters anhören müssen, der ihm Vorhaltungen machte, weil er das einzig Vernünftige hatte tun wollen mit einem Gut, das ganz allein ihm gehörte: seinem Leben.

Er schnaubte vor Wut. Eine Fieberwelle spülte über ihn hinweg.

Die Schwester erschien wieder an seiner Seite.

Sie war jung und rothaarig, hatte ein gutmütiges, wenn auch etwas geistloses Gesicht.

»Haben Sie große Schmerzen?«

»Nein.«

»Ich gebe Ihnen etwas, damit Sie schlafen können.«

»Sie werden nichts dergleichen tun.«

»Aber –«

»Glauben Sie, ich sei nicht in der Lage, das bisschen Schmerz und Schlaflosigkeit auszuhalten?«

Sie setzte ein mildes, etwas überhebliches Lächeln auf. »Der Doktor hat gesagt, Sie dürften etwas einnehmen.«

»Mir ist egal, was der Doktor gesagt hat.«

Sie strich die Decke glatt und schob das Glas Limonade ein Stückchen näher heran.

Er schämte sich ein wenig und sagte: »Tut mir leid, wenn ich grob war.«

»Ach, das macht doch nichts.«

Es ärgerte ihn, dass seine düstere Stimmung sie völlig unberührt ließ. So etwas konnte ihren Schwesternpanzer aus nachsichtiger Gleichgültigkeit nicht durchdringen. Er war ein Patient, kein Mann.

»Verdammte Einmischung«, sagte er. »All diese verdammte Einmischung.«

Vorwurfsvoll erwiderte sie: »Aber, aber, das ist nicht sehr nett.«

»Nett?«, schnauzte er. »Nett? Mein Gott.«

»Morgen früh werden Sie sich schon viel besser fühlen«, sagte sie ruhig.

Er schluckte. »Ihr Schwestern. Ihr Schwestern! Ihr seid keine menschlichen Wesen!«

»Wir wissen, was das Beste für Sie ist, verstehen Sie.«

»Das ist es, was mich wahnsinnig macht. An Ihnen. Am Krankenhaus. An der Welt. Ununterbrochene Einmischung! Immer wissen, was das Beste für andere ist. Ich habe versucht, mich umzubringen. Das wissen Sie doch, nicht wahr?«

Sie nickte.

»Es geht niemanden etwas an außer mir, ob ich mich von einer verdammten Klippe stürze oder nicht. Ich war fertig mit meinem Leben. Ich war am Ende!«

Sie schnalzte leise mit der Zunge, ein Laut, der eine Art abstraktes Mitgefühl ausdrückte. Er war ein Patient. Sie beruhigte ihn, indem sie ihm Gelegenheit gab, ein bisschen Dampf abzulassen.

»Warum soll ich mich nicht umbringen, wenn ich das will?«, verlangte er zu wissen.

Sie antwortete mit ernster Miene: »Weil es falsch ist.«

»Wieso ist es falsch?«

Sie betrachtete ihn zweifelnd. Ihre Überzeugung war keineswegs erschüttert, aber ihr fehlte der nötige Wortschatz, um ihre Reaktion zu erklären. »Na ja, ich meine – es ist Sünde, sich das Leben zu nehmen. Man muss weiterleben, ob es einem gefällt oder nicht.«

»Warum muss man das?«

»Nun, man muss Rücksicht auf andere Menschen nehmen, oder nicht?«

»Nicht in meinem Fall. Es gibt nicht eine Menschenseele auf der Welt, der es durch meinen Tod irgendwie schlechter ginge.«

»Haben Sie denn keine Familie? Keine Mutter oder Schwester oder Ähnliches?«

»Nein. Ich hatte einmal eine Frau, aber sie hat mich verlassen. Und recht hatte sie! Sie hat erkannt, dass ich nichts tauge.«

»Aber Sie haben doch bestimmt Freunde?«

»Nein. Ich bin kein besonders freundlicher Mann. Hören Sie, Schwester, ich erzähl Ihnen was: Ich war einmal ein ganz glücklicher Bursche. Hatte einen guten Job und eine gut aussehende Frau. Es gab einen Autounfall. Mein Chef fuhr den Wagen und ich saß daneben. Er wollte, dass ich aussagte, er sei zum Zeitpunkt des Unfalls weniger als fünfzig Kilometer die Stunde gefahren. Das stimmte nicht. Er war fast achtzig gefahren. Niemand war ums Leben gekommen, nichts dergleichen, er wollte nur für die Versicherung im Recht sein. Nun, ich habe nicht gesagt, was er wollte. Es wäre eine Lüge gewesen. Ich lüge nicht.«

Die Krankenschwester sagte: »Ich finde, Sie hatten völlig recht. Völlig recht.«

»Meinen Sie wirklich? Diese Sturheit hat mich meine Stellung gekostet. Mein Chef war wütend. Und er hat dafür gesorgt, dass ich keinen neuen Job bekam. Meine Frau hatte irgendwann die Nase voll davon, mich herumlungern zu sehen, unfähig, eine Arbeit zu finden. Sie lief davon, mit einem Mann, der mein Freund gewesen war. Er verdiente gut und war erfolgreich. Ich ließ mich treiben, und es ging kontinuierlich abwärts. Ich fing an, ein bisschen zu trinken. Das hat mir auch nicht gerade geholfen, einen Job mal zu behalten. Schließlich hab ich nur noch Arbeit als Packer gefunden, und dabei habe ich mir die Innereien gezerrt. Der Arzt hat gesagt, ich würde nie wieder richtig kräftig werden. Na ja, danach hatte ich nicht mehr viel, wofür es sich gelohnt hätte, weiterzuleben. Der einfachste und sauberste Weg schien, Schluss zu machen. Mein Leben nützte weder mir noch sonst wem.«

Die kleine Krankenschwester murmelte: »Das können Sie nicht wissen.«

Er lachte. Seine Stimmung hatte sich schon gehoben. Ihre naive Hartnäckigkeit amüsierte ihn. »Mein liebes Kind, welchen Nutzen sollte ich noch für irgendwen haben?«

»Das wissen Sie nicht«, wiederholte sie unsicher. »Vielleicht – eines Tages –«

»Eines Tages? Es wird kein ›eines Tages‹ geben. Beim nächsten Mal gehe ich auf Nummer sicher.«

Sie schüttelte entschieden den Kopf. »O nein«, sagte sie. »Jetzt werden Sie’s nicht noch einmal versuchen.«

»Wieso nicht?«

»Das tun sie nie.«

Er starrte sie an. Das tun sie nie. Er gehörte jetzt also zur Klasse der gescheiterten Selbstmörder. Er öffnete den Mund, um mit allem Nachdruck zu widersprechen, doch seine tief verwurzelte Ehrlichkeit hielt ihn zurück.

Würde er es wieder versuchen? Wollte er es wirklich tun?

Nein, erkannte er plötzlich. Ohne jeden Grund. Vielleicht war der einzig wahre Grund der, den sie aus ihrem Fachwissen geschöpft und ihm genannt hatte: Gescheiterte Selbstmörder versuchten es kein zweites Mal.

Um so entschlossener war er plötzlich, ihr ein Eingeständnis in der ethischen Frage abzuringen. »Auf jeden Fall habe ich doch das Recht, mit meinem Leben zu tun, was ich will.«

»Nein. Nein, das haben Sie nicht.«

»Aber warum nicht, mein liebes Kind? Warum?«

Sie lief rot an. Ihre Finger spielten mit dem kleinen goldenen Kreuz, das an einer Kette um ihren Hals hing, und sie sagte: »Verstehen Sie denn nicht, dass Gott Sie vielleicht braucht?«

Er schaute sie verblüfft an. Er wollte ihren Kinderglauben nicht erschüttern. Höhnisch fragte er: »Es könnte also sein, dass ich eines Tages ein durchgegangenes Pferd aufhalte und einem goldgelockten Kind so das Leben rette, ja, meinen Sie das?«

Sie schüttelte den Kopf und versuchte auszudrücken, was so klar in ihren Gedanken stand, ihr aber so schwer über die Lippen kam, indem sie vehement sagte: »Vielleicht nur dadurch, dass Sie irgendwo sind, nicht unbedingt irgendetwas tun. Einfach dadurch, dass Sie zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort sind. – Ach, ich kann nicht gut erklären, was ich meine, aber vielleicht werden Sie einfach – einfach mal eine Straße entlanggehen und dadurch irgendetwas furchtbar Wichtiges bewirken – womöglich gar ohne etwas davon zu wissen.«

Die rothaarige kleine Schwester stammte von der Westküste Schottlands, und einige Mitglieder ihrer Familie hatten das Zweite Gesicht.

Vielleicht sah sie ein verschwommenes Bild von einem Mann, der an einem Septemberabend eine Straße entlanggeht und dadurch einen Menschen vor einem furchtbaren Tod bewahrt …

14. Februar

Nur eine Person befand sich im Zimmer, und der einzige Laut, der zu hören war, war das Kratzen des Füllfederhalters, der Zeile um Zeile übers Papier fuhr.

Niemand würde die Worte lesen, die geschrieben wurden. Wenn doch, hätte der Leser kaum seinen Augen getraut. Denn das, was dort zu Papier gebracht wurde, war ein ausgefeilter, detaillierter Mordplan.

Manchmal ist der Körper sich des Geistes deutlich bewusst, der ihn kontrolliert, wenn er sich gehorsam dieser fremden Instanz beugt, die sein Handeln beherrscht. Manchmal ist sich aber auch der Geist bewusst, dass er einen Körper besitzt und kontrolliert, und erreicht seine Ziele, indem er diesen Körper benutzt.

Die Person, die dort saß und schrieb, befand sich in dem letztgenannten Zustand. Sie war Geist, eine kühle, berechnende Intelligenz. Dieser Geist hatte nur einen Gedanken und ein Ziel: die Vernichtung eines anderen menschlichen Wesens. Und der Plan, der zur Erreichung dieses Zieles führen sollte, wurde dort mit akribischer Sorgfalt zu Papier gebracht. Jede Eventualität, jede Möglichkeit wurde in Betracht gezogen. Die Sache musste absolut idiotensicher sein. Der Plan war, wie alle guten Pläne, nicht vollkommen eingleisig. An bestimmten Punkten sah er verschiedene Handlungsalternativen vor. Da der Geist intelligent war, sah er darüber hinaus ein, dass man einen gewissen Raum für das Unvorhersehbare lassen musste. Aber die wichtigsten Punkte standen fest und waren klar umrissen: die Zeit, der Ort, die Methode, das Opfer.

Die Person hob den Kopf. Sie nahm die Papierbogen in die Hand und las sie nochmals sorgsam durch. Ja, die Sache war kristallklar.

Ein Lächeln erhellte das ernste Gesicht. Es war ein irres Lächeln. Die Person atmete tief durch.

Da der Mensch das Abbild seines Schöpfers war, zeigte sich nun eine schreckliche Karikatur des schöpferischen Wohlgefallens.

Ja, alles war geplant: jede Reaktion vorhergesehen und berücksichtigt, das Gute und Böse in jedem Einzelnen berechnet und mit dem einen bösen Trachten in Einklang gebracht.

Nur eine Sache fehlte noch …

Mit einem Lächeln schrieb die Person ein Datum nieder, ein Datum im September.

Dann wurden die Blätter mit einem Lachen zerrissen, zum Kamin hinübergetragen und mitten in die Glut geworfen. Keine Nachlässigkeiten. Jeder Fetzen wurde verzehrt und vernichtet. Der Plan existierte jetzt nur noch im Gehirn seines Schöpfers.

8. März

Superintendent Battle saß am Frühstückstisch. Mit trotzig vorgerecktem Kinn las er langsam und sorgfältig den Brief, den seine Frau ihm weinend überreicht hatte. Keine Regung war seinem Gesicht abzulesen, denn dieses Gesicht war immer ausdruckslos. Es wirkte wie aus Holz geschnitten, massiv und unvergänglich und in gewisser Weise beeindruckend. Niemand wäre je auf den Gedanken gekommen, Superintendent Battle als brillant zu bezeichnen. Er war sicherlich kein brillanter Mann, doch er besaß eine andere Eigenschaft, die schwierig zu definieren und doch kraftvoll war.

»Ich kann das einfach nicht glauben«, sagte Mrs Battle schluchzend. »Sylvia!«

Sylvia war das jüngste ihrer fünf Kinder. Sie war sechzehn und besuchte ein Internat in der Nähe von Maidstone.

Der Brief war von der Direktorin dieser Schule, Miss Amphrey. Es war ein unverschnörkelter, freundlicher und extrem taktvoller Brief. Schwarz auf weiß stand dort, dass mehrere kleine Diebstähle die Schulleitung seit einiger Zeit in Sorge versetzt hätten, dass die Angelegenheit nun endlich aufgeklärt sei, dass Sylvia Battle die Diebstähle gestanden habe und dass Miss Amphrey darum bäte, Mr. und Mrs Battle möchten sie zum frühest möglichen Zeitpunkt aufsuchen, um »die Lage zu erörtern«.

Superintendent Battle faltete den Brief, steckte ihn in die Tasche und sagte: »Überlass diese Sache mir, Mary.« Er stand auf, umrundete den Tisch und streichelte ihr die Wange. »Mach dir keine Sorgen, Liebes, es renkt sich alles wieder ein.«

Er ging hinaus und ließ Trost und Sicherheit zurück.

Am selben Nachmittag saß Superintendent Battle in Miss Amphreys Salon, der modern und mit einem ausgeprägten persönlichen Stil eingerichtet war. Battle hatte die großen, hölzern wirkenden Hände auf den Knien und schaute Miss Amphrey an, wobei es ihm gelang, mehr als üblich von Kopf bis Fuß wie ein Polizist zu wirken.

Miss Amphrey war eine äußerst erfolgreiche Schulleiterin. Sie hatte Persönlichkeit – jede Menge Persönlichkeit –, sie war aufgeklärt und fortschrittlich und kombinierte Disziplin mit modernen Vorstellungen von Selbstbestimmung.

Der Raum repräsentierte den Geist Meadways: Kühle, helle Töne wie von Hafermehl herrschten vor, und überall standen große Vasen mit Narzissen, Tulpen und Hyazinthen. Ein oder zwei gute Kopien antiker griechischer Kunst, zwei sehr moderne Plastiken, zwei Werke italienischer Frühmeister an den Wänden. Und mitten darin Miss Amphrey selbst, in Dunkelblau gekleidet, ein eifriges Gesicht, das an einen gewissenhaften Jagdhund erinnerte, mit klaren, blauen Augen hinter dicken Brillengläsern.

»Das Wichtigste ist, hier richtig zu reagieren«, sagte sie mit ihrer hellen, wohl modulierten Stimme. »Es ist das Mädchen, an das wir denken müssen, Mr Battle. Sylvia selbst. Es ist von allergrößter Wichtigkeit, dass dies keine Beeinträchtigung für ihre Zukunft bedeutet. Wir dürfen ihr keine Gewissenslast aufbürden – mit Schuldzuweisungen sollten wir äußerst sparsam umgehen. Wir müssen herausfinden, was sich hinter diesen doch recht geringfügigen Diebereien verbirgt. Ein Gefühl von Minderwertigkeit vielleicht? Sie ist nicht besonders gut beim Sport, wissen Sie. Vielleicht der unterdrückte Wunsch, auf anderem Gebiet zu glänzen? Das Bedürfnis, ihrem Ego Geltung zu verschaffen? Wir müssen sehr, sehr behutsam sein. Deswegen wollte ich zuerst mit Ihnen allein sprechen: um Ihnen vor Augen zu führen, wie entscheidend es ist, sehr, sehr behutsam mit Sylvia umzugehen. Ich kann nur wiederholen: Es ist von größter Wichtigkeit zu ergründen, was sich hinter alldem verbirgt.«

»Deswegen bin ich gekommen, Miss Amphrey«, erwiderte Superintendent Battle. Er sprach ruhig, sein Gesicht gab keinerlei Emotionen preis und der Blick, mit dem er die Schuldirektorin betrachtete, war abschätzend.

»Ich habe ganz freundlich mit ihr gesprochen«, bemerkte Miss Amphrey.

»Nett von Ihnen, Ma’am«, antwortete Battle lakonisch.

»Wissen Sie, ich liebe diese jungen Dinger wirklich, und ich verstehe sie.«

Battle ging nicht direkt darauf ein. »Ich würde meine Tochter jetzt gerne sehen, wenn Sie nichts dagegen haben, Miss Amphrey.«

Nochmals mahnte Miss Amphrey ihn nachdrücklich zur Vorsicht, es mit Bedacht anzugehen, das Kind, das im Begriff war, erwachsen zu werden, nicht feindselig zu stimmen.

Superintendent Battle zeigte keinerlei Anzeichen von Ungeduld. Seine Miene blieb einfach nur verschlossen.

Endlich brachte sie ihn in ihr Büro. Auf dem Flur begegnete ihnen die eine oder andere Schülerin. Alle machten ihnen höflich Platz, doch die Augen waren voller Neugier. Nachdem Miss Amphrey ihn in einen kleinen Raum geführt hatte, der nicht so deutlich von ihrer Persönlichkeit geprägt war wie der Salon im Erdgeschoss, zog sie sich zurück und versprach, Sylvia zu ihm zu schicken.

Als sie die Tür erreicht hatte, hielt Battle sie zurück. »Einen Augenblick, Ma’am. Wie sind Sie darauf gekommen, dass Sylvia diejenige ist, die für das – ähm, Abhandenkommen dieser Dinge verantwortlich war?«

»Meine Methoden, Mr Battle, waren psychologisch«, antwortete Miss Amphrey würdevoll.

»Psychologisch? Hm. Wie steht es mit Beweisen, Miss Amphrey?«

»Ja, ja, Mr Battle, ich verstehe, dass Sie so denken. Hier macht sich Ihr – ähm, Beruf bemerkbar. Aber die Psychologie wird inzwischen von den Kriminologen anerkannt. Ich kann Ihnen versichern, dass hier kein Irrtum vorliegt – Sylvia hat freimütig gestanden.«

»Ja, ja, das weiß ich. Ich wollte nur wissen, was Sie bewogen hat, sie überhaupt zu verdächtigen.«

»Nun, Mr Battle, die Diebstähle aus den Schränken der Mädchen nahmen zu. Ich habe die Schule zusammengerufen und allen die Fakten vorgetragen. Unauffällig habe ich dabei die Gesichter der Mädchen beobachtet. Sylvias Ausdruck bemerkte ich sofort. Schuldbewusst und verwirrt. In dem Moment wusste ich, wer verantwortlich war. Ich wollte sie nicht mit Vorwürfen konfrontieren, sondern sie dazu bewegen, ihre Schuld von sich aus einzugestehen. Ich habe einen kleinen Test mit ihr durchgeführt: freie Assoziation.«

Battle nickte, um zu zeigen, dass er wusste, wovon sie sprach.

»Und schließlich hat das Mädchen alles zugegeben.«

»Verstehe«, sagte der Vater.

Miss Amphrey zögerte noch einen Moment, dann ging sie hinaus.

Battle stand am Fenster und schaute nach draußen, als die Tür sich wieder öffnete. Langsam wandte er sich um und betrachtete seine Tochter.

Sylvia war an der geschlossenen Tür stehen geblieben. Sie war groß, knochig und dunkelhaarig. Ihr Gesicht war finster und zeigte Tränenspuren. Eher scheu als trotzig sagte sie: »Also, hier bin ich.«

Battle betrachtete sie eine Weile versonnen. Er seufzte. »Ich hätte dich nie hierher schicken sollen«, sagte er. »Diese Frau ist eine Idiotin.«

Vor Verblüffung vergaß Sylvia einen Augenblick ihre Sorgen. »Miss Amphrey? Oh, aber sie ist wunderbar. Das finden wir hier alle.«

»Hm«, machte Battle. »So eine Idiotin kann sie also gar nicht sein, wenn sie sich so gut verkauft. Trotzdem, Meadway war nicht die richtige Schule für dich. Allerdings weiß ich nicht, ob dies nicht überall hätte passieren können.«

Sylvia verschränkte die Finger ineinander und senkte den Blick. »Ich – es tut mir leid, Vater. Wirklich.«

»Das sollte es auch«, erwiderte Battle brüsk. »Komm her.«

Langsam und unwillig kam sie auf ihn zu. Mit seiner riesigen Hand ergriff er ihr Kinn und sah sie scharf an. »Du hast allerhand durchgemacht, nicht wahr?«, fragte er sanft.

Tränen traten ihr in die Augen.

»Weißt du, Sylvia, ich habe immer gewusst, dass es mit dir irgendetwas auf sich hat«, sagte Battle langsam. »Die meisten Menschen haben irgendeine Schwäche. Meistens ist sie ganz offensichtlich. Man merkt, ob ein Kind gierig ist oder launisch oder eine Neigung zum Tyrannen hat. Du warst ein liebes Kind, ganz still und artig – du hast uns nie irgendwelchen Kummer gemacht – und manchmal hat mich das beunruhigt. Denn wenn ein verborgener Fehler im Material steckt, kann es passieren, dass er die ganze Vorführung verdirbt, wenn ein neues Auto getestet wird.«

»So wie bei mir«, sagte Sylvia.

»Ja, wie bei dir. Du bist unter Belastung zerbrochen. Und auf eine verdammt eigenartige Weise. Eine Art und Weise, die mir, so merkwürdig es auch scheint, noch nie begegnet ist.«

»Ich hätte gedacht, du hast oft genug mit Dieben zu tun«, warf das Mädchen verächtlich ein.

»O ja, mit denen kenne ich mich aus. Und deshalb, mein Kind – nicht weil ich dein Vater bin, denn Väter wissen nicht besonders viel über ihre Kinder, sondern weil ich Polizist bin, weiß ich, dass du keine Diebin bist. Du hast hier nichts gestohlen. Es gibt zwei Arten von Dieben: Die einen geben der plötzlichen und überwältigenden Versuchung nach. Doch das passiert verdammt selten. Es ist erstaunlich, welchen Versuchungen der normale, ehrliche Durchschnittsmensch widerstehen kann. Und dann gibt es die Art von Dieben, die sich einfach nehmen, was ihnen nicht gehört, beinah als wäre es selbstverständlich. Du gehörst in keine dieser Kategorien. Du bist keine Diebin. Du gehörst zu einer höchst ungewöhnlichen Sorte Lügner.«

»Aber –«, begann Sylvia.

Er ließ sich nicht unterbrechen. »Du hast alles zugegeben? O ja, ich weiß. Es gab einmal eine Heilige, die hinausging, um den Armen Brot zu bringen. Ihrem Mann gefiel das nicht. Er hat ihr aufgelauert und gefragt, was in ihrem Korb sei. Sie bekam es mit der Angst zu tun und behauptete, es seien Rosen. Er riss das Tuch vom Korb und siehe da: Er war voller Rosen. Ein Wunder. Aber wärst du die heilige Elisabeth und wärst mit einem Korb Rosen unterwegs, und dein Mann käme vorbei und fragte dich, was du da hast, hättest du Angst bekommen und behauptet, es sei Brot.« Er schwieg einen Moment, ehe er sanft sagte: »So war es doch, oder?«

Es war lange still. Dann senkte das Mädchen plötzlich den Kopf.

»Erzähl es mir, Kind. Was genau ist passiert?«, fragte Battle.

»Sie hat uns alle zusammengerufen. Eine Ansprache gehalten. Und ich hab gemerkt, wie sie mich anschaute, und wusste, sie denkt, ich war’s! Ich hab gespürt, dass ich rot wurde, und ein paar der Mädchen haben mich angeguckt. Es war entsetzlich. Und dann fingen die anderen an, mir seltsame Blicke zuzuwerfen und in Ecken zu tuscheln. Ich konnte sehen, dass sie alle glaubten, ich wär die Diebin. Und dann hat Miss Amphrey mich und ein paar andere eines Abends herbestellt, und wir haben eine Art Wortspiel gemacht – sie hat Wörter gesagt, und wir haben Antworten gegeben –«

Battle grunzte angewidert.

»Und ich konnte sehen, worauf es hinauslief, und – und – ich war wie gelähmt. Ich habe versucht, nicht das falsche Wort zu sagen. Ich habe mich bemüht, an völlig andere Dinge zu denken, wie Eichhörnchen oder Blumen – und die Amphrey saß da und stierte mich an – weißt du, als wollte sie mich mit ihren Blicken durchbohren. Und dann – ach, es wurde schlimmer und schlimmer – und dann eines Tages hat die Amphrey mit mir geredet, so gütig und – so verständnisvoll und – und dann hab ich’s nicht mehr ausgehalten und gesagt, ich hätt es getan und – oh, Daddy, diese Erleichterung!«

Battle strich sich übers Kinn. »Aha.«

»Du verstehst es?«

»Nein, Sylvia, ich verstehe es nicht, denn das ist nicht meine Art. Wenn jemand versuchte, mich dazu zu bringen, etwas zu gestehen, was ich nicht getan habe, würde ich ihm eher einen Kinnhaken verpassen. Aber mir ist klar, wie es in deinem Fall dazu gekommen ist. Und deine Miss Amphrey mit ihrem bohrenden Blick hatte das schönste Beispiel einer ungewöhnlichen psychischen Reaktion vor der Nase, das sich eine dilettantische Hobbypsychologin, die von der Materie keine Ahnung hat, nur wünschen kann. Was wir jetzt tun müssen, ist Ordnung in dieses Durcheinander bringen. Wo ist Miss Amphrey?«

Miss Amphrey wartete taktvoll in Rufweite. Das wohlwollende Lächeln gefror auf ihrem Gesicht, als Superintendent Battle ihr brüsk eröffnete: »Damit meiner Tochter Gerechtigkeit widerfährt, muss ich Sie bitten, die örtliche Polizei in dieser Sache einzuschalten.«

»Aber Mr Battle, Sylvia selbst –«

»Sylvia hat hier nie etwas angerührt, das ihr nicht gehörte.«

»Ich verstehe durchaus, dass Sie als Vater –«

»Ich spreche nicht als Vater, sondern als Polizist. Holen Sie die Polizei zu Hilfe. Sie wird diskret sein. Sie werden die gestohlenen Gegenstände mit den richtigen Fingerabdrücken darauf in irgendeinem Versteck finden, nehme ich an. Kleine Langfinger denken nie daran, Handschuhe zu tragen. Ich nehme meine Tochter jetzt mit nach Hause. Sollte die Polizei Beweise finden – echte Beweise –, die sie mit diesen Vorfällen in Zusammenhang bringen, sorge ich dafür, dass sie vor Gericht erscheint und die Verantwortung übernimmt. Aber ich bin völlig unbesorgt.«

Als er ungefähr fünf Minuten später mit Sylvia auf dem Beifahrersitz durchs Tor fuhr, fragte er: »Wer ist das Mädchen mit den blonden, ziemlich krausen Haaren, sehr rosigen Wangen, einem Pickel am Kinn und weit auseinander stehenden blauen Augen? Ich bin ihr auf dem Flur begegnet.«

»Das klingt nach Olive Parsons.«

»Nun, es würde mich nicht überraschen, wenn sie diejenige ist.«

»Sah sie ängstlich aus?«

»Nein. Selbstgefällig. Diesen gelassenen, selbstgefälligen Blick habe ich schon Hunderte Male bei Gericht gesehen. Ich gehe jede Wette ein, sie ist die Diebin – aber sie wird nicht gestehen.«

Seufzend erwiderte Sylvia: »Es ist, als wäre ich aus einem bösen Traum erwacht. Oh, Daddy, es tut mir leid! Ach, es tut mir ja so Leid. Wie konnte ich so sagenhaft dumm sein? Ich fühle mich wirklich furchtbar.«

»Nun ja«, sagte Superintendent Battle, nahm eine Hand vom Lenkrad, tätschelte seiner Tochter den Arm und äußerte eine seiner bevorzugten, abgedroschenen Tröstungsformeln: »Nur keine Sorge. Solche Dinge werden uns als Prüfung auferlegt. Ja, als Prüfung. Jedenfalls nehme ich das an. Ich kann mir nicht vorstellen, wozu sie sonst gut sein sollten –«

19. April

Die Sonne schien auf Nevile Stranges Haus in Hindhead. Es war ein Tag, wie es ihn in jedem April zumindest einmal gibt: heißer als die meisten der kommenden Junitage.

Nevile Strange kam die Treppe herab. Er trug weiße Kleidung und vier Tennisschläger unter dem Arm.

Hätte ein Mann als der glücklichste aller Engländer gekürt werden sollen, dem kein Wunsch unerfüllt geblieben war, wäre die Entscheidung des Auswahlkomitees vielleicht auf Nevile Strange gefallen. Er war der britischen Öffentlichkeit durchaus bekannt. Ein erstklassiger Tennisspieler und vielseitig begabter Sportler. Obwohl er nie ins Finale von Wimbledon gekommen war, hatte er doch mehrfach die Vorrunden überstanden und im gemischten Doppel zweimal das Halbfinale erreicht. Er betrieb vielleicht zu viele Sportarten, um ein Tennischampion zu werden. Er hatte Handikap null beim Golf, war ein hervorragender Schwimmer und hatte sich in den Alpen als geschickter Bergsteiger erwiesen. Er war dreiunddreißig, erfreute sich bester Gesundheit, sah blendend aus und besaß ausreichend Geld, dazu eine außergewöhnlich schöne Frau, die er unlängst geheiratet hatte, und allem Anschein nach war er frei von Kummer oder Sorgen.

Und dennoch, als Nevile Strange an diesem strahlend schönen Morgen die Treppe herunterkam, lag ein Schatten auf ihm, ein Schatten, den vielleicht niemand außer ihm sehen konnte. Doch er war sich seines Vorhandenseins bewusst, und der Schatten furchte seine Stirn und verlieh ihm einen bedrückten, unentschlossenen Gesichtsausdruck.

Er durchquerte die Halle und straffte die Schultern, als werfe er trotzig eine Last von sich, ging durchs Wohnzimmer auf eine verglaste Veranda hinaus, wo seine Frau Kay sich in zahllose Kissen in einen Sessel kuschelte und Orangensaft trank.

Kay Strange war dreiundzwanzig und außergewöhnlich schön. Sie hatte eine schlanke, aber andeutungsweise üppige Figur, dunkelrotes Haar, eine so perfekte Haut, dass sie nur ein Minimum an Make-up benutzte, und die dunklen Augen und Brauen, die man so selten in Kombination mit rotem Haar sieht und die deswegen umso hinreißender sind.

»Hallo, meine Schöne«, sagte ihr Mann gut gelaunt. »Was gibt’s zum Frühstück?«

»Schreckliche, blutig aussehende Nierchen für dich. Und Pilze und Schinkenröllchen.«

»Klingt erträglich«, bemerkte Nevile.

Er füllte einen Teller auf und goss sich eine Tasse Kaffee ein. Ein paar Minuten herrschte einvernehmliches Schweigen.

»Ach«, sagte Kay wohlig und wackelte mit den Zehen, deren Nägel scharlachrot lackiert waren. »Ist die Sonne nicht herrlich? England ist doch nicht so übel.«

Sie waren gerade aus Südfrankreich zurückgekehrt.

Nevile warf lediglich einen nachlässigen Blick auf die Zeitungsschlagzeilen, bevor er sich dem Sportteil zuwandte, und machte nur: »Hm –«

Dann setzte er sein Frühstück mit Toast und Orangenmarmelade fort, legte die Zeitung beiseite und öffnete seine Post.

Es waren eine Menge Briefe, die meisten zerriss er jedoch und warf sie achtlos weg. Rundschreiben, Werbebroschüren und Drucksachen.

»Mir gefällt meine Farbgestaltung im Wohnzimmer nicht mehr«, bemerkte Kay. »Kann ich es renovieren lassen, Nevile?«

»Was immer du möchtest, meine Schöne.«

»Pfauenblau«, sagte Kay verträumt, »mit elfenbeinfarbenen Satinkissen.«

»Fehlt nur noch ein Affe.«

»Du kannst ja den Affen spielen«, entgegnete Kay.

Nevile öffnete einen weiteren Brief.

»Ach übrigens«, sagte Kay, »Shirty hat uns eingeladen, mit ihm auf seiner Jacht Ende Juni nach Norwegen zu fahren. Zu schade, dass wir nicht können.« Sie warf Nevile einen vorsichtigen Seitenblick zu und fügte niedergeschlagen hinzu: »Ich würde so furchtbar gerne.«