Küss mich unterm Nordlicht - Joanna Wolfe - E-Book
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Küss mich unterm Nordlicht E-Book

Joanna Wolfe

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Beschreibung

Seit dem Tod ihrer Mutter betreibt die achtzehnjährige Jenny mit ihrem Vater eine Lodge in Alaska und hilft bei der Husky-Zucht. Sie will unbedingt in die Fußstapfen ihrer Mutter treten und an dem legendären Iditarod-Hundeschlittenrennen teilnehmen. Gemeinsam mit dem gleichaltrigen Mike, der in der Lodge zu Gast ist, unternimmt sie Touren durch Schnee und Eis, aber sie geraten in große Gefahr, als sie militanten Umweltschützern in die Quere kommen ...

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DIEAUTORIN

Joanna Wolfe reiste mit einer Band durch die USA und Europa und schwärmt vom hohen Norden, solange sie denken kann. Mit Wölfen verbindet sie eine »Seelenverwandtschaft«. Sie verbringt zahlreiche Monate des Jahres in Alaska und Kanada und lebt die restliche Zeit des Jahres in Chicago und Frankfurt am Main. Unter anderen Namen hat sich die weit gereiste Autorin bereits mit Spannungsromanen und gefühlvollen Liebesgeschichten einen Namen gemacht.

Joanna Wolfe

Küss mich unterm

Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Verlagsgruppe Random House

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1. Auflage

Originalausgabe Dezember 2015

© 2015 by cbt Verlag, in der Verlagsgruppe

Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Birgit Förster

Umschlaggestaltung: Kathrin Schüler, Berlin

Umschlagmotive: Shutterstock (Aleshyn_Andrei, turtix, David S. Rose)

mi · Herstellung: kw

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-15467-7V002

www.cbt-buecher.de

Jenny blieb verwundert auf den Kufen stehen, als sie den Schlitten vor der heimatlichen Lodge bremste. Die Huskys, die zu Hause geblieben waren, begrüßten sie jaulend. Sie beruhigte ihr Hundegespann und blickte nervös auf die offene Eingangstür. »Dad! Bist du zu Hause, Dad?«

Ihr Vater antwortete nicht. Das zweistöckige Blockhaus lag verlassen in der Dunkelheit, inmitten des leichten Schneegestöbers, das am frühen Nachmittag eingesetzt hatte. Es war bitterkalt, sogar für Alaska. Ungefähr zwanzig Grad unter null, schätzte sie. Aus dem Norden wehte ein frostiger Wind heran. Der Mond und die Sterne hatten sich hinter Wolken versteckt.

Seltsam, dachte sie, ihr Vater würde niemals die Eingangstür offen lassen, nicht einmal, um nach den Huskys zu sehen oder etwas aus dem Schuppen hinter dem Haus zu holen. Die Wärme im großen Wohnraum war viel zu kostbar, um sie von einer Windböe vertreiben zu lassen.

Irgendetwas hatte ihn überrascht oder erschreckt und ins Freie gelockt. »Dad!«, rief sie wieder.

Sie verankerte den Schlitten und näherte sich dem Haus. Nur zögernd betrat sie den Vorraum, immer darauf gefasst, einem Einbrecher oder wilden Tier zu begegnen. Es war niemand im Wohnraum, doch der Fernseher lief, und die Wetterfee von Channel 11 erzählte was von einer Kaltfront, die sich über der Alaska Range zusammenbraute. Als ob es nicht schon kalt genug wäre.

»Dad? Wo steckst du, Dad?«

Sie stieg über die offene Treppe in den ersten Stock hinauf und sah in allen Zimmern und den Bädern nach. Es war niemand im Haus. Die nächsten Gäste würden erst am Samstagmorgen eintreffen, ein Journalist mit seiner Familie.

Seit dem Tod ihrer Mutter betrieben ihr Vater und sie eine Guest Lodge. Sie hatte nach der Highschool sogar das College verschoben, um ihrem Vater helfen zu können. Seinen früheren Job als Hotelmanager hatte er aufgegeben.

Enttäuscht stieg sie ins Erdgeschoss hinab. Sie ging in sein Arbeitszimmer und sah, dass er noch vor einer halben Stunde eine Seite im Internet aufgeschlagen hatte. Der halbvolle Kaffeebecher neben seiner Tastatur war warm. Sie rief ihn auf seinem Handy an und hörte es in der Küche klingeln. Wie so oft hatte er sein Handy auf dem Frühstückstisch liegen lassen. »Dad! Sag doch was!«, rief sie, obwohl sie längst wusste, dass er nicht zu Hause war.

Sie warf einen Holzscheit ins Feuer und kehrte nach draußen zurück. Erst jetzt bemerkte sie, dass eines der Snowmobile fehlte. »Oh Dad! Nicht schon wieder!«, seufzte sie.

Sie glaubte zu wissen, warum ihr Vater das Haus verlassen hatte und wohin er mit dem Snowmobil gefahren war. »Das bringt doch nichts, Dad! So holst du Mom auch nicht zurück. Sie ist … sie ist tot!«

Mit Tränen in den Augen stieg sie auf den Schlitten. »Wir müssen noch mal los, Ruby!«, rief sie ihrem Leithund zu. »Wir müssen Dad suchen. Er ist mit dem Snowmobil weggefahren. Euer Fressen bekommt ihr später, okay?«

Die Hunde ließen sich nicht zweimal bitten. Wie alle Huskys rannten sie für ihr Leben gern und konnten sich nichts Schöneres vorstellen, als bei klirrender Kälte durch die verschneite Wildnis zu laufen. Auch ohne ihr »Vorwärts! Go! Go!« wären sie wohl auf den Trail gestürmt. Sie folgte den Snowmobil-Spuren, die im Flockenwirbel allerdings kaum zu sehen waren, in den Wald und weiter nach Nordwesten. Ein alter Trail, der während des Goldrauschs vor über hundert Jahren in die White Mountains geführt hatte.

Sie nahm an, dass ihr Vater auf eine versteckte Lichtung am Chatanika River zuhielt. Das Steilufer des romantisch gelegenen Flusses war einer seiner Lieblingsplätze. Er glaubte, dort am besten nachdenken zu können. Auch während eines gemeinsamen Ausflugs hatte er dort angehalten und sehnsuchtsvoll gen Himmel geblickt.

Ihre Mutter war vor dreieinhalb Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen, und obwohl weder ihr Vater noch sie dabei gewesen waren, gab er sich noch immer die Schuld daran. Weder Jenny noch die Selbsthilfegruppe, zu der er jeden Donnerstag ging, hatten ihn davon abbringen können. »Erst wenn Mom mir ein Zeichen sendet, weiß ich, dass sie mir verziehen hat«, sagte er. »Ich bin schuld. Ich hätte sie niemals allein nach Fairbanks fahren lassen sollen.«

Dabei war sie eine viel bessere Autofahrerin als er gewesen, und er hätte alles nur noch schlimmer gemacht. Jenny erinnerte sich noch genau an den verhängnisvollen Tag. Es war ein Herbsttag im September. Ihnen waren die Eier ausgegangen, und ihre Mutter war im strömenden Regen zum Supermarkt in Fairbanks gefahren, um die Lodge-Gäste am nächsten Morgen nicht enttäuschen zu müssen.

Zwei Stunden später war ein State Trooper vorbeigekommen und hatte ihnen mitgeteilt, dass Michelle Sheldon bei einem tragischen Verkehrsunfall ums Leben gekommen war. Ihr Wagen war auf der regennassen Straße ins Schleudern geraten und gegen einen Baum geprallt. Sie war sofort tot gewesen. Ein schwacher Trost für ihren Vater und sie.

Dann waren sie mit dem State Trooper in die Stadt gefahren und hatten sie identifiziert. Es war einer der traurigsten Tage in ihrem ganzen Leben gewesen. Sie hatte so lange geheult, bis keine Tränen mehr gekommen waren und ihre Augen nur noch gebrannt hatten. Noch schlimmer war die Beerdigung drei Tage später gewesen, als ihr Vater am Grab zusammengebrochen war. Er hatte sie so sehr geliebt.

Die Huskys zogen den Schlitten an einem abgebrochenen Ast vorbei. Sie hatte die Stirnlampe eingeschaltet und vertraute dem Lichtschein, der kegelförmig auf den Trail fiel. An einigen Stellen blieb ihr nichts anderes übrig, als sich nur auf ihre Hunde zu verlassen. Vor allem auf Ruby, ihren erfahrenen Leithund, der jede noch so kleine Gefahr schon lange im Voraus zu wittern schien.

Die anderen Hunde akzeptierten ihn einhellig als ihren Anführer. Waldo und Yukon, die beiden Starken, Atlas und die schnelle Jade, Johnny und Nugget, jung und draufgängerisch. Genau die richtige Mischung für ein Team, das beim Iditarod mitmachen wollte. Am härtesten Hundeschlittenrennen der Welt teilzunehmen, war der größte Wunsch ihrer Mutter gewesen, und sie hatte fest vor, in ihre Fußstapfen zu treten und dieses Rennen für sie zu gewinnen oder zumindest einen respektablen Platz im Mittelfeld zu erringen.

Die Hundezucht war das zweite Standbein der Sheldons und einer der Gründe, warum sie vor sieben Jahren nach Alaska gezogen waren. Jenny war damals elf gewesen. Sie hatten immer Schlittenhunde besessen, und ihre Mutter hatte sogar schon in Minnesota an einigen Rennen teilgenommen, aber Alaska war das Mekka für Husky-Besitzer, und sie hatten nicht lange überlegt, als man ihrem Vater einen Job in Fairbanks angeboten hatte.

Sie hatten das zweistöckige Blockhaus vor der Stadt gekauft und es in eine Guest Lodge umgebaut, die ihnen ein weiteres Standbein geliefert hatte. Damals hatten sie allerdings nur sporadisch Gäste aufgenommen. Inzwischen waren sie im Sommer ausgebucht und im Winter vor allem bei Husky-Freunden und Snowmobil-Fahrern beliebt. Sie besaßen vier Snowmobile, auf denen die Gäste nach einer kurzen Einführung allein fahren durften, und den Hundeschlitten, mit dem Jenny die Lodge-Gäste über gängige Trails spazieren fuhr.

Auf einer Lichtung hielt sie an und lauschte. Es war kein Motorengeräusch zu hören. Lediglich der Wind rauschte in den Schwarzfichten. Der Schnee fiel lautlos vom Himmel herab, selbst die Hunde verhielten sich für einen Augenblick ruhig. Das plötzliche Knacken eines Astes klang störend in der Stille.

Sie fuhr rasch weiter. Der Schnee war dabei, die Spuren vollständig zu bedecken, sodass sie weiter ihrem Bauchgefühl vertraute und auf die Lichtung am Chatanika River zuhielt. Der Trail führte jetzt durch lichten Wald und war leicht befahrbar, ein vertrauter Teil ihrer Trainingsstrecke, die zu ihrer Vorbereitung auf das Iditarod-Rennen gehörte. Weiter nördlich, in den Ausläufern der White Mountains, bot er ähnliche Bedingungen wie der tatsächliche Iditarod Trail im Landesinneren. »Lauft! Lauft!«, rief sie den Huskys zu. »Bloß nicht schlappmachen. Oder seid ihr vielleicht schon müde? Weiter, Ruby!«

Jenny vermisste ihre Mutter sehr und weinte fast jeden Abend, wenn sie daran dachte, wie sie ihr noch in Minnesota immer eine Geschichte vor dem Einschlafen vorgelesen hatte. Und als sie älter war, in Alaska, hatte sie ihr öfter ein Buch geschenkt und dazu gesagt: »Das musst du unbedingt vor dem Einschlafen lesen. Ein tolles Buch.« Oder so ähnlich. Vor allem Abenteuerromane von Jack London und Joseph Conrad, die sie selbst gerne las und die angeblich vorwiegend von Männern gelesen wurden.

Jenny hatte sich immer nach dem großen Abenteuer gesehnt und fühlte sich auch deshalb pudelwohl in Alaska. Hier konnte man auch heute noch viel erleben.

Ihrem Vater machte der Verlust wesentlich mehr zu schaffen. Er würde wohl erst über den Tod seiner Frau hinwegkommen, wenn sie ihm tatsächlich ein Zeichen schickte. Für andere Frauen interessierte er sich herzlich wenig. Als im letzten Sommer zwei attraktive Schwestern in seinem Alter ein Zimmer gemietet und ihn beide umschwärmt hatten, war er regelrecht geflohen. Und die Dates, die seine wenigen Freunde und Bekannten für ihn organisierten, schlug er jedes Mal in den Wind. »Ich weiß selbst, was gut für mich ist«, antwortete er dann, »lasst mich in Frieden!«

Jenny fühlte sich verantwortlich für ihren Vater und hatte auch deshalb ihren College-Besuch verschoben. Sie brauchte eine Auszeit und wollte nach der Highschool erst einmal was ganz anderes machen. Nach dem Tod ihrer Mutter waren ihr die Unterhaltungen mit ihren Mitschülerinnen seltsam hohl und leer vorgekommen, und mit Brian, mit dem sie im letzten Sommer ausgegangen war, hatte sie sogar Schluss gemacht. Er hatte die Abfuhr nicht akzeptieren wollen und hatte sie wochenlang verfolgt, bis sie ihn am Kragen gepackt und angeschrien hatte: »Ich kann jetzt einfach keinen Freund gebrauchen! Wann kapierst du das endlich?« Das war auch nicht die feine englische Art, wie sie sich eingestehen musste, aber auf andere Weise war dem Mistkerl nicht beizukommen.

»Wie kannst du einen solchen Supertyp nur laufen lassen?«, hatte ihr Karen, ihre beste Freundin, danach vorgeworfen. Sie traf sich einmal die Woche mit ihr im Starbucks auf einen Caffè Latte und manchmal auch zum Essen. »Wenn ich mir nicht geschworen hätte, niemals den abgelegten Lover meiner besten Freundin ins Bett zu zerren, hätte ich ihn mir glatt geangelt. Was ist nur los mit dir, Jenny? Willst du ewig mit so ’ner Leidensmiene rumlaufen?«

»Du bist achtzehn, du hast noch viel Zeit«, hatte ihr Vater sie getröstet, »dir rennen die Männer schon bald die Bude ein, und dann hast du die freie Auswahl. Was nicht heißt, dass ich dir keinen Freund gönne. Wie du weißt, komme ich hier auch allein ganz gut zurecht, und für die Hunde könnte ich einen Helfer anstellen, falls du ausziehen möchtest. Du weißt, dass ich nicht klammere, oder?« Sein Blick drückte etwas anderes aus.

Inzwischen hatte sie den Wald verlassen, und der Trail führte am Ufer des Chatanika River entlang nach Nordosten. Die Lichtung, auf der sie ihren Vater vermutete, war noch etliche Meilen entfernt. Im flackernden Lichtschein ihrer Stirnlampe huschten die Bäume und die Böschung zu ihrer Rechten vorbei, links fiel das Ufer, nur von wenigen Bäumen und Gestrüpp unterbrochen, steil nach unten ab. Der Tiefschnee und das aufgeworfene Eis des zugefrorenen Flusses reflektierten das wenige Licht und schimmerten matt.

Vor einer scharfen Biegung stellte Ruby die Ohren auf. Er wurde langsamer, ohne dass sie das Kommando dafür gegeben hätte, und blickte sich nervös nach ihr um. Sie war auf einen Elch oder ein anderes Hindernis gefasst und ließ die Hunde sofort anhalten. Vergeblich lauschte sie nach einem verdächtigen Geräusch. Außer dem Rauschen des Windes war nichts zu hören.

Sie rammte den Anker des Schlittens in den Schnee und ging um die Biegung herum. Vor ihr war der Schnee aufgewühlt und mit Dreck vermischt. Die breite Spur eines Snowmobils führte vom Trail weg auf das Steilufer zu.

»Dad!«, rief sie erschrocken.

Sie blickte nach unten und sah das Snowmobil über einem Gebüsch im Tiefschnee liegen. Ihr Vater lag halb unter der schweren Maschine begraben und versuchte verzweifelt, seine Beine freizubekommen. Der Lichtkegel ihrer Stirnlampe streifte seine angespannte Miene und eine Wunde an seiner Stirn.

»Dad!«, rief sie wieder. »Ich komme, Dad!«

»Jenny!«, flüsterte er dankbar.

Nur weil der Schnee so tief war, dass sie bei jedem Schritt bis zu den Knien einsank, geriet sie beim Abstieg nicht ins Rutschen. Geduldig arbeitete sie sich bis zu ihrem Vater vor und beugte sich zu ihm hinab. Als sie sah, dass er im hellen Licht die Augen zusammenkniff, schaltete sie die Stirnlampe aus. »Dad!«, rief sie aufgeregt. Sie wischte Schnee von seinem Gesicht. »Ist alles in Ordnung? Du hast dir doch nichts gebrochen, oder? Warte … ich helfe dir!«

Sie packte das Snowmobil am Lenker und zog mit allen Kräften, während er die schwere Maschine mit beiden Armen und Beinen von sich wegdrückte. Wie in Zeitlupe neigte sie sich zur anderen Seite. Jenny wich gerade noch rechtzeitig aus, bevor sie kippte und fast vollständig im Tiefschnee versank.

Ihr Vater schnaufte erleichtert. »Danke … danke, Jenny.«

Sie umarmten sich innig, und Jenny weinte sogar, als ihr klar wurde, dass er wahrscheinlich nur gestürzt war, weil er zu sehr an ihre Mutter gedacht und deshalb die Kontrolle über das Snowmobil verloren hatte. Auch sie war schon einmal mit dem Snowmobil gestürzt, hatte sich aber kaum verletzt, weil die Maschine an ihr vorbeigerutscht war und sie kaum berührt hatte. Ihr Vater klagte über leichte Schmerzen in beiden Beinen, hatte sich aber zum Glück nichts gebrochen.

Sie half ihm auf und hielt ihn so lange fest, bis seine Schmerzen nachließen und er einigermaßen das Gleichgewicht halten konnte. Zusammen kletterten sie den Hang zum Trail hinauf. Das Snowmobil würden sie später holen müssen, dafür brauchten sie tatkräftige Hilfe und Ketten. Das Ufer war viel zu steil, um die Maschine mit den Händen nach oben zu wuchten.

Die Huskys empfingen sie aufgeregt. »Dad ist nichts passiert«, beruhigte sie das Gespann, »er braucht nur ein wenig Ruhe, dann ist er wieder okay.«

Er setzte sich auf die Ladefläche und hüllte sich in die Decken, die sie immer im Schlittensack mitführten. Jenny zog die Thermosflasche hervor. »Hier … ich hab noch heißen Tee für dich. Du bist ja vollkommen durchgefroren.« Sie schraubte den Deckel ab und reichte sie ihm. »Du hast die Haustür offen gelassen«, sagte sie ohne den geringsten Vorwurf in ihrer Stimme.

»Hab ich das?« Er trank einen Schluck und blickte sie schuldbewusst an. »Es tut mir leid, Jenny. Ich wollte dir keine Angst einjagen. Es ist nur …« Er hielt die Thermosflasche mit beiden Händen umklammert. »Ich musste unbedingt mit Mom reden, und das kann ich am besten hier draußen. Ihr Grab ist ein Platz, um Blumen abzulegen, aber treffen kann ich sie nur in der Wildnis. Hier ist es noch stiller als in einer Kathedrale, und selbst bei einem solchen Wetter kann ich immer noch einen blinkenden Stern finden, der mich an sie erinnert.« Er gab ihr die Thermosflasche zurück. »Es tut mir leid, Jenny. Ich weiß, ich sollte mich langsam von ihr lösen, aber … ich bin noch nicht dazu bereit. Ich weiß auch, dass du es nicht leicht mit mir hast …«

»Schon gut, Dad«, beschwichtigte sie, »das ist doch alles ganz normal. Du trinkst nicht, du rauchst nicht, du schreist nicht rum. Ich hab schon Filme gesehen, da drehen die Männer völlig durch, wenn sie ihre Frauen verloren haben.« Sie verstaute die Thermosflasche im Schlittensack. »Ich zeige es vielleicht nicht so, aber ich denke auch jeden Tag an Mom. Ich brauche mir nicht mal das Foto auf meinem Nachttisch anzusehen. Wenn ich die Augen schließe, sehe ich sie genau vor mir. Ihr langes Haar, die dunklen Augen und ihr Lächeln. Vor allem ihr Lächeln. Sie war immer so sanft und geduldig, findest du nicht auch, Dad?«

»Vor allem deswegen habe ich sie geliebt«, gestand er, »und ich liebe sie immer noch. Eine Frau wie sie kann man nicht einfach vergessen. Ich werde sie wohl immer lieben. Wie heißt es so schön? Über den Tod hinaus und in alle Ewigkeit.«

»Das darfst du doch auch, Dad. Aber das heißt noch lange nicht, dass du nicht mehr fröhlich sein und keine andere Frau mehr ansehen darfst. Mom hätte sicher gewollt, dass du ein neues Leben beginnst. Nicht nur äußerlich, mit der Lodge und so, auch sonst. Du musst dich von ihr lösen, Dad.«

»Das sagen sie in der Selbsthilfegruppe auch immer.«

»Und sie haben recht«, betonte sie. »Die Psychologin, bei der ich war, hat etwas Ähnliches gesagt. Man sollte weinen, bis keine Tränen mehr kommen, und dann wieder jeden Tag mit einem Lächeln beginnen. Ich glaube, man kann beides. Um Mom trauern und der Zukunft ins Auge sehen.«

»Und was siehst du in der Zukunft?«, fragte er.

Sie lächelte. »Bestimmt keinen neuen Freund. Ich habe schon bei Brian danebengegriffen und keine Lust, mir noch mal eine Niete einzuhandeln. Ich gehe nur noch mit jungen Männern aus, wenn sie mir wirklich gefallen. Mir reicht es nicht, wenn einer gut aussieht und beim Wolf Pack spielt.« So hieß das Football-Team der West Valley High School. »Und von den Angebern, die mir zeigen wollen, wie man einen Hundeschlitten richtig steuert, hab ich auch die Nase voll. Denen zeige ich beim Iditarod, wer besser mit einem Husky-Team umgehen kann. Ich hab genug von diesen Typen.«

Er grinste. »Wie wär’s, wenn wir nach Hause fahren?«

»Wie wär’s mit einem leckeren Eintopf?«

»Dem von heute Mittag?« Seine Schmerzen hatten anscheinend nachgelassen. »Das klingt gut. Obwohl ich noch mal zugelangt habe, als du weg warst.« Er lehnte sich mit dem Rücken gegen den Schlittensack. »Am besten setzen wir schon mal neuen auf, damit wir genug haben, wenn morgen früh die Gäste eintreffen. Die kommen aus L. A. und haben sicher einen Bärenhunger.«

»Aus L. A.? Von der Sonne in den Schnee?«

»Sie machen hier keinen Urlaub«, erklärte ihr Vater. »John Cooper ist Journalist. Er schreibt Reiseberichte für ein großes Magazin und hat wohl mehrere Trips mit einem Buschflieger geplant. Ob seine Frau und sein Sohn mitfliegen, weiß ich nicht. Ich vermute, um die beiden müssen wir uns kümmern.«

Sie stöhnte leise. »Genau das, was ich jetzt brauche. Noch so ein arroganter Stadtjunge, der keine Ahnung von Schlittenhunden hat und trotzdem alles besser weiß. Zu dumm, dass wir zu diesen Typen immer nett sein müssen.«

»Warte es doch erst mal ab«, sagte ihr Vater.

Sie stieg auf die Kufen und hielt sich an der Haltestange fest. »Wie gesagt, den Typ, der mir gefällt, gibt’s sowieso nicht. Vorwärts, Ruby, lauft, lauft!«

Noch vor dem Frühstück fütterte Jenny die Huskys. Eine andere Reihenfolge hätten die Huskys nicht akzeptiert und mit einem wütenden Jaulkonzert quittiert. Jenny und ihr Vater ließen ihren vierbeinigen Freunden den Willen. Immerhin hatten sie schon mehrmals bewiesen, wie wertvoll sie sein konnten.

Mit einem Eimer Trockenfutter und einem Eimer Wasser ging sie zu den Huskys, die bereits ungeduldig an ihren Ketten zerrten. Die Ketten waren gerade so lang, dass sich die Hunde gegenseitig nicht in die Quere kamen, eine Vorsichtsmaßnahme, die alle Husky-Züchter einhielten. Die Ketten störten sie wenig. Sie wussten, dass Jenny und ihr Vater auch mit den Huskys, die nicht zum Iditarod-Team gehörten, so oft wie möglich auf Tour gingen.

»Guten Morgen allerseits«, begrüßte sie die Hunde. »Ihr dachtet wohl, ich hätte euch vergessen. Ich habe ein leckeres Frühstück für euch. In dem neuen Trockenfutter ist alles drin, was ein Husky-Herz begehrt.« Das Futter hatte ein gelegentlicher Sponsor ihnen geliefert. Wenn sie zumindest einen guten Mittelplatz beim Rennen erreichte, würde sie vielleicht noch mehr Sponsoren bekommen, um sich den teuren Sport leisten zu können.

»Hallo, Ruby.« Wie jeden Morgen kam der Leithund als Erster dran. Eine andere Reihenfolge würde seine Stellung innerhalb des Teams schwächen. »Du hast sicher einen Bärenhunger.« Sie kraulte ihn zwischen den Ohren, wie er es am liebsten hatte. »Heute geht Dad mit euch auf Tour. Ich muss einkaufen und die neuen Gäste abholen. Drück mir die Daumen, dass sie nicht solche Nervtöter wie diese Familie aus New York sind, die vor einem halben Jahr hier war. Weißt du noch? Die konnten mit der Wildnis überhaupt nichts anfangen und hatten ständig Angst vor Bären und Wölfen. Dass ich nicht lache. Als ob New York weniger gefährlich wäre.«

Ruby interessierte ihre Ansprache reichlich wenig. Beim Fressen ließ er sich durch nichts stören, nicht einmal durch ihre vertraute Stimme. Und das neue Trockenfutter schmeckte ihm anscheinend. Noch vor ein paar Jahren hätte Jenny ihre Hunde niemals mit Trockenfutter gefüttert, die Qualität hatte sich inzwischen aber so verbessert, dass die meisten Teilnehmer des Iditarod solches Qualitätsfutter verwendeten. Nur alle paar Tage gab es lauwarmen Reis mit Lachsstücken oder leckeren Eintopf. »Sei heute besonders nett zu Dad«, gab sie ihm mit auf den Weg, »er ist zurzeit nicht so bei der Sache.«

Ruby war ihnen regelrecht zugelaufen. Eines Morgens hatte er an der Abzweigung zu ihrer Lodge gelegen, ein bedauernswertes Bündel, dem selbst der Tierarzt kaum noch Chancen gegeben hatte. Ein herzloser Mensch hatte ihm verdorbenes Fleisch zu fressen gegeben und ihn dann ausgesetzt. Die State Troopers hatten nach dem Typen gesucht, ihn aber nie gefunden. Ruby erholte sich schnell und gedieh so prächtig, dass er es bis in ihr Iditarod-Team geschafft hatte. So viel Energie wie er hatte kein anderer Hund.

Jenny ging von einem Hund zum anderen und füllte die Futter- und Wassertröge, die an den Holzhütten befestigt waren, damit sie im Schnee nicht wegrutschten. Für jeden ihrer vierbeinigen Freunde, die sie alle mit Namen kannte, hatte sie ein freundliches Wort übrig. Der junge Nugget, der vor ein paar Wochen nur mit Mühe den Hufen eines ausschlagenden Elchs entkommen war, bekam sogar ein paar Extra-Streicheleinheiten. »Keine Angst, Nugget. Gestern warst du schon wieder toll in Form. Wenn du so weitermachst, bringst du es noch mal zum Leithund.« Zum starken Waldo sagte sie: »Halt dich etwas zurück, sonst wirst du irgendwann zu schwer und die anderen Huskys müssen dich ins Ziel tragen.«

Ihr Vater wartete mit dem Frühstück auf sie: Rühreier mit Speck, dazu Toast und heißer Kakao. Genau die richtige Stärkung, bevor die neuen Gäste eintrafen. Ihr Vater war kein Macho und war gern bereit, in der Küche zu stehen oder zu putzen und die Betten zu machen, und genau das hatte er heute vor. »Das bin ich Mom schuldig«, hatte er mal gesagt, »und es ist sowieso besser, wenn die Gäste dein hübsches Gesicht am Flughafen sehen und nicht meins.« Dafür musste sie einkaufen, bevor der Flieger aus Los Angeles landete.

»Ist alles okay?«, fragte sie nach dem ersten Schluck.

»Alles okay«, bestätigte er. »Ich wollte nur ein wenig mit Mom reden, das ist alles. Dieser Unfall hätte jedem passieren können.« Er kaute eine Weile. »Okay, ich hätte besser aufpassen können, aber … mach dir keine Sorgen, Jenny. Ich komme langsam wieder in Schwung. Heute Nacht im Traum hat mir Mom sogar die Leviten gelesen. Ich soll dir nicht noch mehr Ärger machen.«

»Ich bin hart im Nehmen, Dad. Und … ich hab dich sehr lieb.«

»Ich weiß, Jenny. Wie gesagt, das wird wieder. Ich habe Bill Webster angerufen, er und sein Bruder wollen mir helfen, das Snowmobil zu bergen.«

Jenny fuhr mit dem Suburban in die Stadt, ihrem neuen Geländewagen, der Platz für sieben Personen und reichlich Gepäck bot. »Das ›rote Monstrum‹, wie sie den Wagen nannte, war das ideale Fahrzeug für Alaska. Robust genug für jede Witterung und genauso leicht wie ein Personenwagen zu fahren. Ihr Vater hatte ihn einem befreundeten Händler abgekauft. Er hatte als Hotelmanager reichlich Geld angespart, das ihnen dabei half, die Lodge in Gang zu bringen. Für den Sommer sahen die Buchungen bereits rosig aus.

Noch auf der verschneiten Schotterstraße, die vom Highway zu ihrem Haus führte, kam ihr ein Streifenwagen der Alaska State Troopers entgegen, zu ihrer Beruhigung ohne eingeschaltetes Warnlicht. Sie hielt an und ließ das Seitenfenster herunter. Eine Frau begrüßte sie lächelnd. Sie war etwas jünger als ihr Vater und sah selbst in der Uniform sehr attraktiv aus.

»Guten Morgen, Trooper. Wir haben hoffentlich nichts verbrochen.«

»Das will ich doch hoffen«, antwortete die Polizistin. Ihre dunklen Haare waren zu einem züchtigen Knoten gebunden, der ihre leicht hervorstehenden Wangenknochen noch besser zur Geltung brachte. Sie streckte eine Hand aus dem Fenster. »Ellen Jemison. Ich bin neu bei den Troopers in der Gegend und wollte nur mal Hallo sagen. Es ist besser, wenn man ein paar Leute kennt. Jennifer?«

»Jenny Sheldon«, verbesserte sie. »Ich bin gerade auf dem Weg in die Stadt, um neue Gäste vom Flughafen abzuholen. Aber mein Dad ist zu Hause. Ich bin sicher, er macht Ihnen gern einen Kaffee. Und wenn er guter Laune ist, serviert er auch ein Stück von seinem Apfelkuchen. Den müssen Sie unbedingt probieren, Trooper.«

»Danke für den Tipp, Jenny. Bis bald.«

Jenny bog grinsend auf den Highway. Einen weiblichen Trooper hatte es schon lange nicht mehr in ihrer Gegend gegeben. Vielleicht war es ein Wink des Schicksals, dass Ellen Jemison ihrer Mutter ein wenig ähnlich sah und genauso herzlich lachen konnte. Die Vorstellung, dieses Lachen könnte auch ihren Vater verzaubern, war verlockend. Sie hatte keinen Ehering bei Ellen gesehen, und sie war beinahe sicher, dass sich ihre Mutter im Himmel darüber freuen würde, wenn er sich wieder binden würde. Ihr Vater war nicht der Typ, der allein leben konnte, und sie konnte schließlich nicht ewig bei ihm wohnen. Sobald sie aufs College ging, würde sie nach Fairbanks ziehen.

Sie brauchte keine halbe Stunde für den Weg in die Stadt. Der Großhandel, bei dem sie einkauften, lag an der College Road im Nordosten der Stadt, es war ein riesiges Kaufhaus, in dem es so ziemlich alles gab, was sie in der Lodge brauchten. Der Flieger mit den Coopers würde um kurz nach halb fünf landen. Zeit genug, um einzukaufen und ihre Freundin Karen zu treffen. Sie hatte sich mit ihr zum Mittagessen in einer nahen Pizzeria verabredet, und danach würden sie wahrscheinlich noch Zeit für einen Shopping-Bummel in der Mall haben.

Beim Großhandel war wie jeden Samstag einiges los. Der Laden war mächtig voll, und sie brauchte beinahe zwei Stunden, um ihren Einkaufswagen vollzupacken. Die Gelegenheit, bei den zahlreichen Probierständen zu naschen, ließ sie sich jedoch nicht entgehen. An einem der Stände gab es Toastecken mit einem neuen Schokoaufstrich, von dem sie gleich ein halbes Dutzend Gläser mitnahm. Sie war sicher, dass er auch ihren Gästen schmecken würde. Die Thai-Suppe am nächsten Stand war allerdings so scharf, dass sie anschließend rasch zur Toilette laufen und aus dem Wasserbrunnen trinken musste.

Wieder bei ihrem Wagen, blickte sie sich aufmerksam um. Sie hatte plötzlich das Gefühl, beobachtet zu werden, und taxierte misstrauisch die anderen Kunden. Sie war hübsch, besonders dann, wenn sie ihre Haare offen trug und sich für die Gäste leicht geschminkt hatte, und es wäre nicht das erste Mal, dass ihr ein Mann folgte und sie belästigte.

Doch keiner der Blicke war auf sie gerichtet. Wahrscheinlich hatte sie sich alles nur eingebildet. Sie kaufte weiter ein und hatte gerade die Backwaren erreicht, als sie sich erneut beobachtet fühlte. Sie blieb abrupt stehen, drehte sich um und sah einen Schatten hinter dem hohen Regal mit den Cornflakes verschwinden.

Leicht verwirrt ging sie weiter. Auf dem Weg zur Kasse blieb sie noch ein paarmal stehen, bemerkte aber nichts Verdächtiges und ging achselzuckend weiter. Es kam ihr niemand zu nahe. Sie zahlte mit der Kreditkarte der Lodge und ließ sich die Kartons und Tüten von einem Angestellten zu ihrem Suburban fahren und aufladen. Mit einem Trinkgeld bedankte sie sich bei ihm.

Nachdem er gegangen war, kam sie nicht mal bis zur Fahrertür. Wie aus dem Nichts tauchte Brian auf, ihr früherer Freund, und stellte sich ihr in den Weg. Er trug einen Anorak und eine Wollmütze und wirkte in dem trüben Licht, das die Lampen auf dem Parkplatz verbreiteten, beinahe bedrohlich.

»Brian!«, rief sie erschrocken. »Was soll das? Hast du mich etwa im Laden verfolgt?«

Brian versuchte sie mit seinem Lächeln zu beruhigen. Ein scheinbar schüchternes Lausbubenlächeln, wie das eines kleinen Jungen, nachdem er mit seinem Football das Auto eines Nachbarn getroffen hatte. »Verfolgt? Ich habe dich zufällig gesehen und wollte mit dir reden, aber im Laden waren mir zu viele Leute. Du bist mir doch nicht böse? Ich wollte mich bei dir entschuldigen, Jenny. Dass ich dich so lange verfolgt habe, war nicht in Ordnung.«

»Und warum tust du’s dann jetzt wieder?«, fuhr sie ihn an.

»Ich möchte nur, dass wir Freunde bleiben«, fuhr er unbeirrt fort. »Du warst bei unserem letzten Date auch nicht besonders nett zu mir. Warum vergessen wir den blöden Streit nicht und fangen noch mal ganz von vorn an?«

Jenny hielt sich nur mühsam im Zaum. »Unser letztes Treffen war kein Date, sondern ich hab dir gesagt, dass ich nichts mehr mit dir zu tun haben will. Ich weiß, ich war nicht sehr freundlich, und dafür entschuldige ich mich auch. Es ist einfach so, dass … dass zwischen uns nichts mehr ist, vielleicht niemals etwas war. Deshalb habe ich auch keine Lust, wieder etwas mit dir anzufangen. Und jetzt sag bloß nicht, dass wir Freunde bleiben könnten, denn auch das können wir nicht. Du findest eine andere, Brian, also lass mich bitte in Ruhe, und lauere mir vor allem nicht mehr beim Einkaufen auf, okay?«

Sein Gesicht rötete sich und nicht nur wegen der Kälte. »Du schickst mich einfach so weg? Wie einen dummen Schuljungen? Das habe ich nicht verdient, Jenny. Ich habe dich immer gut behandelt, oder nicht? Sogar die Cheerleaders waren neidisch, weil ich dich um ein Date gebeten hatte.«

»Es ist vorbei, Brian«, sagte sie hart. »Es ist schon seit einigen Monaten vorbei, deshalb weiß ich gar nicht, warum du mich immer noch verfolgst.« Brian brachte sie inzwischen schon durch seine arrogante Miene in Rage. »Geh doch zu deinen neidischen Cheerleaders, wenn die so wild auf dich sind!«

Jenny wollte die Fahrertür öffnen, aber Brian packte sie am Handgelenk und hielt sie zurück. »Was fällt dir ein? Du könntest ruhig etwas netter zu mir sein.« Sein Blick wurde fester, und er zog sie noch näher zu sich heran. »Komm schon, gib mir wenigstens einen Kuss. Stell dich nicht so an, Jenny!«

Sie ohrfeigte ihn mit der freien Hand und versuchte sich loszureißen. Doch ihm gelang es, auch ihr rechtes Handgelenk zu packen, und er drückte so fest zu, dass sie zu schreien begann. »Lass mich los! Du sollst mich loslassen!«

Die anderen Kunden in ihrer Nähe scherten sich nicht um sie, sie hielten es wohl für einen simplen Streit, wie er alle paar Minuten auf dem Parkplatz vorkam. Wie fest Brian zudrückte und wie gewaltsam er sie vom Wagen wegzerrte, erkannten sie nicht. Oder sie verschlossen die Augen, um nicht in eine üble Sache hineingezogen zu werden. Man sah doch jeden Tag in den Nachrichten, wie böse so etwas ausgehen konnte. Am Schluss wurde man noch erschossen.

Doch dann kam unerwartete Hilfe. Ein Einkaufswagen rollte aus der Dunkelheit heran und riss Brian beinahe den Boden unter den Füßen weg. Doch Brian hielt Jenny weiter fest und fluchte so ungestüm, dass ihr angst und bange wurde.

»Lass sie sofort los, Brian, oder ich rufe die Polizei!«, hörte sie eine vertraute Stimme. Karen trat aus dem trüben Halbdunkel und hielt ein leuchtendes Smartphone in die Höhe. »Siehst du das, Brian? Ich habe die Nummer der Polizei einprogrammiert und brauche nur zu drücken. Weißt du, wie lange sie brauchen, um hierherzukommen? Keine drei Minuten, Brian, und falls du fliehst, gebe ich den Officers deinen Namen und deine Adresse. Also lass gefälligst meine Freundin los und scher dich zum Teufel! Wird’s bald?«

Brian schnaubte wie ein wütender Stier, gehorchte aber und stapfte beleidigt davon.

Jenny wartete, bis er in seinen Wagen gestiegen und davongefahren war, und umarmte Karen dann. »Das war gerade noch rechtzeitig, Karen. Der Mistkerl wollte mich küssen, und wer weiß, was er sonst noch gemacht hätte. Ich hätte niemals mit ihm ausgehen sollen.« Ihr kam erst jetzt in den Sinn, was Karen vor ein paar Monaten gesagt hatte, und sie löste sich verwundert von ihr. »Hast du nicht mal gesagt, er wäre ein Supertyp?« Sie wischte sich ein paar Tränen aus den Augen. »Hättest du ihn nicht am liebsten in dein Bett gezerrt, wenn er nicht mein ehemaliger Lover gewesen wäre?«

Karen errötete ein wenig. »Das stimmt schon. Ich dachte tatsächlich mal, er wäre ein schnuckeliges Kerlchen, und wäre wirklich nicht abgeneigt gewesen …« Sie vermied es, ihr in die Augen zu sehen. »Nun ja … tut mir leid, Jenny, aber ich habe nicht durchgehalten. Ich habe tatsächlich mit ihm … na, du weißt schon. Und dabei hat er sich so widerlich benommen, dass ich ihm gleich wieder davongelaufen bin und nichts mehr mit ihm zu tun haben will.«

»Sieh an«, erwiderte Jenny eher belustigt als verärgert.

»Ein dunkler Fleck in meiner Biografie.«

»Den du gerade wieder wettgemacht hast«, tröstete Jenny sie. »Aber warum reden wir eigentlich die ganze Zeit über unseren Verflossenen? Lass und lieber was essen gehen. In dem Pizza-Laden gibt’s eine neue Alaska-Pizza.«

»Alaska-Pizza?«

»Mit Krabben und so.«

»Klingt gut«, erklärte sich Karen einverstanden.

Sie fuhren hintereinander zu dem Pizza-Restaurant, das an derselben Straße lag, und ließen es sich schmecken. Karen war einen Kopf kleiner als Jenny, machte aber einiges durch ihre hohen Absätze wett, die sie selbst im Winter trug. Sie hielt sich selten in der Wildnis auf, war eher ein City Girl und überlegte sogar, irgendwann einmal nach L.A. oder San Diego zu ziehen.

Mit ihren kurzen blonden Haaren und den knallroten Strähnen passte sie dort auch bestens hin. Auch im Winter war sie modisch gekleidet, trug enge Jeans und einen pinkfarbenen Pullover unter ihrem Anorak und ein etwas zu auffälliges Make-up. Mit ihrer kessen Art kam sie überall durch, sogar in ihrer Firma, einem eher konservativen Laden, dessen Chef sie vor allem durch ihre flotte Arbeitsweise beeindruckt hatte. Sie war schnell und zögerte niemals lange, vor allem dann nicht, wenn es um junge Männer ging.

»Wie ich dich kenne, hast du sowieso schon wieder einen Neuen«, sagte Jenny.

Karen trank lachend von ihrer Diet Coke. »Hast du vielleicht was anderes erwartet? Das mit Brian war ein Ausrutscher, und mit dem langweiligen Typen, den ich mir im Club geangelt hatte, war nicht viel los. Er kann froh sein, dass es im Winter in Alaska niemals richtig hell wird und ich ihn nie bei Tageslicht betrachten konnte.« Sie schüttelte den Kopf, als ließe sich damit das störende Bild aus ihren Gedanken vertreiben. Dann lächelte sie. »Aber Georgie-Boy, mein Neuer, der sieht immer gut aus, sogar im Scheinwerferlicht. Stell dir vor, er ist Model.«

»Model? Du meinst, er führt Klamotten vor?«

»Für einen der Ausstatter, die wir im Programm haben. Ich durfte letzte Woche auf eine Modenschau nach Anchorage mit und hab ihn dort kennengelernt. Er kommt ziemlich viel rum. Alaska, Kalifornien, Chicago, New Orleans …«

Jenny erschrak. »Du willst doch nicht etwa mit?«

»Unsinn. Aber er kommt einmal im Monat nach Fairbanks, um mit den Firmenbossen zu reden, und dann sehen wir uns. Ist das nicht toll?«

»Ich weiß nicht«, sagte Jenny ehrlich.

»Und was ist mit dir?«, fragte Karen nach. »Bist du endlich aus deinem Schneckenhaus gekommen und datest wieder? In Fairbanks gibt’s eine Menge junger Männer, die sich glücklich schätzen würden, dich kennenzulernen. Gib ihnen eine Chance, Jenny, sonst versauerst du noch.«

»Keine Zeit und keine Lust«, antwortete sie. »Ich muss erst mal zusehen, dass es meinem Dad wieder besser geht. Das heißt …« Sie berichtete ihr lächelnd von der netten Polizistin. »In einem Kitschfilm würde sie ihn kriegen.«

Karen biss lachend in ihre Pizza. »In einem Kitschfilm gäbe es einen netten jungen Mann unter euren Gästen, der dir den Kopf verdreht und auf einem weißen Pferd mit dir in den Sonnenuntergang reitet. Nach Hawaii oder so.«

»Hawaii?« Sie lachte wieder. »Da ist’s mir viel zu warm.«

Jenny fand diese Schilder, die die Angestellten von Reiseunternehmen in Flughäfen hochhielten, ziemlich albern. Natürlich war es einfacher, auf diese Weise seine Kunden herauszupicken, aber sie entdeckte die Coopers auch ohne Schild.

Ein dunkelhaariger Mann in Jeans und Anorak und mit einer Fototasche über der Schulter. Seine Frau, die langen Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden und genauso gekleidet, nur dass ihr Anorak nicht dunkelblau, sondern pinkfarben war. Und ein junger Mann in Jennys Alter, der gelangweilt in die Runde blickte, als sie den Sicherheitsposten passierten, und dann gleich wieder auf sein Smartphone starrte. So, wie er den Daumen bewegte, ein Computerspiel.

Von wegen ein netter junger Mann auf einem weißen Pferd. Der Typ war weder ein Prinz noch jemand, der sie auch nur im Entferntesten interessierte. Mit so einem würde sie bestimmt nicht in den Sonnenuntergang reiten. Man sah ihm doch schon von Weitem an, wie sehr ihn alles langweilte. Wahrscheinlich war er nur mitgekommen, weil er keine andere Wahl gehabt hatte.

Dennoch lächelte sie, als sie auf die Coopers zuging und sich ihnen vorstellte. Man konnte sich seine Gäste schließlich nicht aussuchen, und es gehörte zu ihrem Job, jeden höflich zu behandeln. »Ich hoffe, Sie hatten einen angenehmen Flug. Mrs Cooper … Mr Cooper … und du bist Mike, nicht wahr?«

Der Junge hatte schöne Augen, das musste man ihm lassen. Sehr sanft und beinahe verträumt. Wenn sie ehrlich war, sah er überhaupt ziemlich gut aus, aber was nützte das, wenn er sich völlig danebenbenahm? Alles, was er für sie übrighatte, war ein unverständliches Brummen. Er dachte gar nicht daran, den Blick von seinem Smartphone zu nehmen und sie anzusehen.

»Mike ist ein bisschen erschöpft«, entschuldigte ihn sein Vater. »Der Flug von L.A. hierher war etwas unruhig, und ihm wurde unterwegs übel.«

»Das lag an diesem blöden Sandwich«, warf Mike ein.

Cooper zeigte sich weiterhin gut gelaunt. »Ich bin John«, sagte er, »und meine Frau heißt Sarah. Ich denke, wir sollten uns mit Vornamen anreden.«

»Natürlich«, stimmte sie zu, »und was das Sandwich betrifft …« Sie blickte Mike an. »Mein Dad hat sicher schon einen leckeren Eintopf auf dem Herd stehen. Er kocht den besten Wildeintopf in ganz Alaska. Von dem ist noch keinem schlecht geworden. Die meisten Gäste sind ganz begeistert.«

»Ihr Dad kocht?«, wunderte sich John. »Und Ihre Mutter?«

»Die ist vor dreieinhalb Jahren gestorben. Ein Unfall.«

»Das tut mir leid«, erwiderte er.

Mit dem Gepäck gingen sie zu dem Suburban, den Jenny gegenüber vom Eingang geparkt hatte. Der eisige Wind, der ihnen dort entgegenschlug, erschreckte besonders Sarah, die sofort ihre Kapuze hochklappte. »Ganz schön kalt hier. So eisig war es nicht mal in den Rocky Mountains, als wir letzten Winter bei meinen Eltern in Denver waren. Wie halten Sie das bloß aus?«

»Man gewöhnt sich daran«, antwortete Jenny. Sie hatte diese Frage schon unzählige Male beantwortet. »Oder wie mein Großvater zu sagen pflegt: Es ist niemals zu kalt. Man ist höchstens falsch angezogen. Ein Inuit friert ja auch nicht.«

»Halb so schlimm«, sagte John. Er war nicht zum ersten Mal in Alaska. »Ihr hättet letztes Jahr dabei sein sollen, in Sibirien … da war es richtig kalt.«

Sie verluden das Gepäck, und Jenny fuhr los. Die Heizung lief auf vollen Touren. Am Himmel hingen dunkle Wolken, aber es schneite kaum, lediglich ein paar versprengte Flocken wirbelten im Wind über die Straßen. Das Licht der Scheinwerfer brachte den Schnee zum Glitzern. Selbst der Asphalt der Hauptstraßen war inzwischen unter einer dichten Schneedecke verschwunden. Obwohl es noch früh am Tag war, lagen die fernen Berge im Dunkeln.

»Wird’s hier auch mal hell?«, fragte Mike. Er saß hinter ihr und schien sein Smartphone endlich weggesteckt zu haben. Er blickte aus dem Fenster.

»Nur mittags«, antwortete sie, »für vier Stunden.«

»Nette Gegend.«

»Dafür ist es im Sommer lange hell.« Sie drehte sich zu John und seiner Frau um. »Aber keine Angst, der Winter hat auch seine Vorteile. Manche Leute sagen sogar, im Winter sei Alaska das schönste Land der Welt. So tolle Berglandschaften gibt es vielleicht noch im Himalaja, aber sonst nirgendwo.«

John blickte sie lächelnd an. »Ich darf Sie doch zitieren, junge Dame? Das wäre ein guter Einstieg für meinen Artikel. Mein Chefredakteur mag kernige Zitate von Einheimischen, die haben wir öfter im TravelUSAMagazine.«

»Und worum geht’s in dem Artikel?«

»Ich soll zeigen, wie wild und großartig dieses Land ist. Die Berge und Wälder, die Flüsse und Seen, die einsamen Highways und natürlich die Menschen.« Er kniff die Augen zusammen, als sie durch eine Schneewehe fuhren und die Räder verharschten Schnee aufwirbelten. »Dem Chef fiel gerade noch rechtzeitig ein, dass er für den nächsten Winter eine große Reportage braucht. Wir produzieren eine solche Story immer im Voraus, wissen Sie? Für das Winterheft brauchen wir was mit Schnee. Sonst wären wir jetzt auf Hawaii.«

»Und da wär’s sicher wärmer«, warf Mike ein. »Weißt du, wie viel Grad sie am Waikiki Beach haben? Dreiundzwanzig! Über null! Und wir frieren uns hier den … den Hintern ab. Warum bin ich eigentlich mitgekommen?«

»Weil ich dir versprochen habe, dass es hier genauso schön und aufregend ist wie auf Hawaii. Alaska ist großartig. Ich war vor fünf Jahren schon mal hier und bin heute noch begeistert von dem Trip.« Er wechselte einen Blick mit seiner Frau, die wohl ähnlich wie Mike dachte, und lächelte schuldbewusst. »Okay, hier ist es eisig kalt, und schwimmen können wir auch nicht …«

»Das stimmt nicht«, mischte sich Jenny ein, »hier gibt es keinen Strand, an dem man in der Sonne baden könnte, aber schwimmen können Sie hier. Ich bin sogar sicher, hier macht es noch mehr Spaß. Ungefähr zehn Meilen von unserer Lodge liegen die Chena Hot Springs, das sind heiße Quellen, in denen schon die Indianer gebadet haben. Das Wasser soll gegen Arthritis helfen. Dort können Sie sogar baden, wenn es draußen friert. Ich hoffe, Sie haben Ihre Badesachen dabei.« Sie grinste fröhlich. »Sonst können Sie sich was leihen.«

»Klingt verlockend, junge Dame. Sarah und Mike werden dort bestimmt vorbeischauen, aber ich befürchte, ich werde meistens unterwegs sein und wenig Zeit für Ausflüge haben. Könnten Sie mich übermorgen früh in die Stadt fahren? Ich habe einen Mietwagen reserviert und wollte mich sowieso ein wenig in Fairbanks umschauen. Natürlich nur, wenn Sie Zeit haben.«

»Gern.« Sie drehte sich zu Sarah und Mike um. »Und morgen könnten wir einen kleinen Ausflug in die Wildnis unternehmen. Mit dem Hundeschlitten, dem Snowmobil oder auf Schneeschuhen … ganz wie Sie mögen.«

»Surfen am Waikiki Beach wäre mir lieber«, maulte Mike.

»Ein anderes Mal«, versprach John. »Jetzt ist erst mal Alaska dran. Ich muss mich nach dem Chefredakteur richten. Außerdem hat er mir ein ordentliches Honorar versprochen. Wir müssen schließlich von irgendetwas leben.«

Ein gewaltiger Donnerschlag durchbrach die Nacht, gefolgt von einer grellen Stichflamme, die keinen Häuserblock entfernt zum Himmel hochstieg. In dem gleißenden Licht, das für den Bruchteil einer Sekunde die Nacht erhellte und dann zu einem gewöhnlichen Feuer verkümmerte, waren eine verlassene Tankstelle von Alaska Oil und ein hastig davonlaufender Mann zu erkennen.