Küss mich unterm Wintermond - Joanna Wolfe - E-Book

Küss mich unterm Wintermond E-Book

Joanna Wolfe

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Beschreibung

Herzklopfen im Winterwonderland

Annie Baldwin ist eine erfahrene Schlittenhundeführerin und hilft in den Ferien in der Lodge ihrer Eltern im westlichen Kanada aus. Einer der Gäste ist der gleichaltrige Mark Donovan aus Vancouver, der sie anfangs mit seiner Arroganz ziemlich nervt. Doch als ein Promipaar eincheckt, das vor aufdringlichen Paparazzi beschützt werden muss, erweist sich Mark als cleverer Helfer, der Annies Herz gegen ihren Willen schneller schlagen lässt …

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Seitenzahl: 311

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DIE AUTORIN

Joanna Wolfe reiste mit einer Band durch die USA und Europa und schwärmt vom hohen Norden, solange sie denken kann. Mit Wölfen verbindet sie eine »Seelenverwandtschaft«. Sie verbringt zahlreiche Monate des Jahres in Alaska und Kanada und lebt die restliche Zeit des Jahres in Chicago und Frankfurt am Main. Unter anderen Namen hat sich die weit gereiste Autorin bereits mit Spannungsromanen und gefühlvollen Liebesgeschichten einen Namen gemacht.

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JOANNA WOLFE

KÜSS MICHUNTERMWINTERMOND

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Originalausgabe November 2018 © 2018 cbt Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: Kathrin Schüler, Berlin Umschlagmotive: © Gettyimages / Westend61; Photocase.de / bit.it MI ∙ Herstellung: eR Satz und E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN: 978-3-641-21550-7V001www.cbj-verlag.de

1

Annie hatte das Gefühl, beobachtet zu werden, als sie Rebel auf den Hügelkamm trieb. Sie griff dem Pferd in die Zügel und blickte sich aufmerksam um. Vor einigen Tagen hatten sie und ihr Vater einen Grizzly am Flussufer gesehen und auch einige Wölfe sollten sich in der näheren Umgebung herumtreiben. Obwohl sie den Menschen gewöhnlich aus dem Weg gingen, war erhöhte Vorsicht geboten. Sie gerieten in Panik, wenn man sie überraschte oder aus der Ruhe schreckte. »Easy, Rebel!«, beruhigte sie den Schecken.

Ihr Pferd entspannte sich und ließ erkennen, dass ihm keine ungewöhnliche Witterung in die Nüstern stieg. »Hab ich’s nicht gesagt?«, rief sie ihm zu. »Ich sehe schon Gespenster. Ich brauche dringend ein paar Monate Pause.«

Sie stützte sich mit beiden Händen auf das Sattelhorn und blickte über die Wälder hinweg nach Westen. Dichte Nebelschwaden hingen über den Fichten und leuchteten im Abendrot. Der Lost River, ein schmaler Nebenfluss des Fraser River, zog sich wie ein leuchtendes Band durch das Tal unterhalb der Hügelkämme und verlor sich zwischen einigen Felsen. Zwei Elche standen am jenseitigen Ufer im Gestrüpp und zupften daran. Sie hätten sich bestimmt davongemacht, wenn ein Grizzly oder Wölfe in der Nähe gewesen wären.

Die Hügel oberhalb des Flusses gehörten zu ihren Lieblingsplätzen auf der elterlichen Lodge und waren ein unverzichtbarer Teil der Ausritte, die sie mit den Gästen unternahm. Vor einigen Tagen war sie mit einem texanischen Ehepaar, das zwei Wochen auf ihrer Lodge verbracht hatte, auf den Hügeln gewesen und hatte von ihnen das schönste Kompliment gehört, das man von einem Texaner bekommen konnte. »Nun sieh dir das an, Schätzchen!«, hatte der Mann zu seiner Frau gesagt. »Hier ist es fast so schön wie in San Antonio. Okay, wir haben den Alamo und den Riverwalk, aber das hier schlägt alles.«

Annie beobachtete, wie sich die beiden Elche zwischen die Bäume zurückzogen, und genoss die letzten Sonnenstrahlen. Sie trennte sich nur ungern von ihrer Heimat. Umso näher ihr Abreisetag rückte, desto nervöser wurde sie. In nicht einmal zwölf Stunden würde ihre Clique sie mit dem alten Wohnmobil abholen und nach Kalifornien entführen, vielleicht sogar nach Mexiko, das wollten sie unterwegs entscheiden. »Urlaub vor dem Ernst des Lebens«, hatte Simon es genannt, der Typ, mit dem sie zum Abschlussball gegangen war. Noch einmal durchpusten, bevor sie zur Uni oder aufs College gingen oder einen Job annahmen. Ein halbes Jahr wollten sie unterwegs sein.

Ein lautes Knacken, als wäre jemand auf trockenes Holz getreten, ließ sie zum Waldrand blicken. Ihr Schecke begann, nervös zu tänzeln. Sie glaubte einen dunklen Schatten zwischen den Bäumen zu sehen, doch als sie genauer hinblickte, war er nicht mehr zu erkennen. Wahrscheinlich die Elche oder irgendein anderes Tier. Auf keinen Fall ein Raubtier, sonst hätten sich die Elche nicht so behäbig bewegt, und Rebel wäre wesentlich nervöser gewesen.

Sie tätschelte ihrem Schecken den Hals und redete eine Weile beruhigend auf ihn ein. Seit einem Unfall, der ihn beinahe das Leben gekostet hätte, war er besonders empfindsam. Außer ihr und vielleicht ihrem Vater hätte er niemand auf seinen Rücken gelassen. Sie würde Rebel vermissen, ihren Schecken, ihre Eltern, ihre Freunde und Bekannten und die vertraute Umgebung. Wie oft hatte sie während der vergangenen Wochen beschlossen, nach einer plausiblen Ausrede zu suchen und die Reise abzusagen, doch auch ihr Wunsch, neue Erfahrungen in einer vollkommen anderen Umgebung zu sammeln, war groß und ließ sie immer wieder zögern. Sie brachte Simon Taylor keine besonderen Gefühle entgegen, und allein wäre sie bestimmt nicht mit ihm auf große Fahrt gegangen, aber außer ihm waren noch ein Pärchen, ein Junge und zwei andere Mädchen dabei. Sie spielte sogar mit dem Gedanken, sich in Monterey von den anderen zu trennen und eine Bleibe in Big Sur zu suchen. Die traumhafte Küstenlandschaft am Highway One kannte sie aus Büchern und Filmen.

Immer noch mit einem mulmigen Gefühl im Magen lenkte sie den Schecken vom Hügelkamm. Im leichten Trab ritt sie über das Grasland nach Osten zurück. In British Columbia, der im äußersten Westen von Kanada gelegenen Provinz, war bereits der Herbst eingezogen. Das Gras war braun, die Laubbäume verloren ihre Blätter. Im Sommer verzauberte ein farbenprächtiger Blumenteppich die Ebene. Ihre Lodge lag einige Kilometer nördlich vom Yellowhead Highway, in den Ausläufern der Rainbow Range und in unmittelbarer Nähe des Mount Robson, einem beinahe viertausend Meter hohen Bergriesen, der sich in majestätischer Pracht aus dem Land erhob. Wie so oft lag sein Gipfel auch an diesem Abend hinter nebligem Dunst verborgen.

Annie hatte einen arbeitsreichen Sommer hinter sich. Nach dem Abschlussball in der Secondary School war sie auf der Lodge geblieben und hatte ihren Eltern geholfen. Obwohl sie weniger Gäste als im Vorjahr gehabt hatten, war die Arbeit nicht weniger geworden. Sie war mit den Gästen ausgeritten und gewandert, hatte sich zusammen mit dem alten Walker um die Pferde gekümmert und war beim Errichten neuer Zäune dabei gewesen. Die Lodge kam langsam in die Jahre. Walker hatte eigentlich einen unaussprechlichen polnischen Namen und sich der Einfachheit halber den Namen des Texas Rangers aus der gleichnamigen TV-Serie gegeben, die er sich jede Nacht in einem obskuren Kabelkanal ansah. Er stammte tatsächlich aus Texas und besaß einige Unterlagen und Zeitungsberichte, die bewiesen, dass er auch bei der legendären Polizeitruppe gewesen war. Doch seine große Zeit war lange vorbei und er begnügte sich inzwischen mit dem Aushilfsjob auf der Lodge.

Die Sonne war schon beinahe hinter den Bäumen verschwunden, als das Haupthaus in der Ferne auftauchte, ein zweistöckiges Blockhaus am Ufer des Lost Lake, von dessen Veranda man bei gutem Wetter einen herrlichen Ausblick auf den Mount Robson hatte. Das knallrote Giebeldach leuchtete im Abendrot noch intensiver und passte nicht so recht zum Namen der Lodge, der auf einem eher unscheinbaren Schild neben dem Eingang zu lesen war: Rainbow Lodge. Gegenüber dem Blockhaus lagen ein Stall, das Schlafhaus, in dem Walker und andere Angestellte schliefen, ein Schuppen und eine Koppel, auf der mehrere Pferde weideten. Die Tiere hatten Rebel längst bemerkt und wieherten erwartungsvoll. Walker war nirgendwo zu entdecken.

Sie ließ ihr Pferd in einen gemächlichen Schritt fallen und blickte verwundert auf die Scheinwerfer eines Pick-ups, der ungewöhnlich rasant über die Schotterstraße vom Highway gefahren kam. Selbst im schwachen Licht der untergehenden Sonne erkannte sie, dass es sich um den Wagen ihrer Eltern handelte. Sie waren in Prince George gewesen, um bei der Lodging Association über neue Werbemaßnahmen und mit der Bank über einen neuen Kredit zu verhandeln. Ohne Kredite überlebten nur wenige Ranches und Lodges.

»Das sind Mom und Dad«, sagte sie zu Rebel. Wie die meisten Cowboys und Cowgirls sprach sie mit ihrem Pferd, wenn sie allein war. Als passable Barrel Racerin hatte sie schon bei zahlreichen Rodeos mitgemacht, jedoch ohne einen der begehrten Pokale und Geldpreise zu gewinnen. Das hatte sie nur als Musherin mit ihrem Hundeschlitten geschafft. Eines der Junior Races hatte sie sogar gewonnen. »Ich möchte mal wissen, warum sie es so eilig haben.«

Sie stieß dem Schecken die Absätze in die Seite und erreichte die Lodge nur wenige Minuten nach ihren Eltern. Walker trat aus dem Schuppen, sah auf den ersten Blick, wie besorgt sie war, und bot ihr an, sich um ihr Pferd zu kümmern. Sie nahm dankbar an, reichte ihm die Zügel und betrat das Haus.

Ihre Eltern standen noch in ihren Anoraks in der Wohnküche. Ihre Mutter hatte Kaffee aufgesetzt, ihr Vater holte zwei Becher aus dem Schrank und ließ sich erschöpft auf einen der Stühle fallen. Obwohl nur das kleine Licht über dem Herd brannte, sah Annie, dass ihr Mutter geweint hatte und ihr Vater zumindest nahe daran gewesen war. Walter Baldwin gehörte zu den Männern, die sich immer noch schämten, ihre Gefühle offen zu zeigen, ein »Cowboy der alten Schule«, machte er sich über sich selbst lustig. Dabei hatte sie ihn mehrmals dabei erwischt, wie er kitschige Romanzen im Fernsehen verfolgte.

»Was ist passiert?«, fragte Annie besorgt.

Lisa Baldwin war nicht das »Heimchen am Herd«, wie es viele von der Frau eines angeblich harten Mannes wie Walter Baldwin erwartet hätten. Sie war auf einer Ranch bei Williams Lake aufgewachsen, hatte mit Rindern und später sogar mit Büffeln gearbeitet und zweimal im Jahr beim Zusammentrieb geholfen. Sie brachte so schnell nichts aus der Ruhe. »Die Bank hat uns den Kredit verweigert«, sagte sie mit ungewohnter Grabesstimme. »Wir sind pleite.«

»Pleite? Habt ihr denn keine Reserven?«

»Natürlich haben wir die«, erwiderte ihre Mutter, »und wenn wir unsere Winterjobs bekommen, brauchen wir uns auch keine Sorgen zu machen.« Während der langen Winter fuhr ihr Vater einen Schneeräumer und ihre Mutter half in einem Andenkenladen in Valemount aus. »Aber um mit der Lodge über den Winter zu kommen und vor allem um die nötigen Investitionen für die nächste Saison zu tätigen, brauchen wir eine größere Summe.«

»Und wenn ihr es mit einem niedrigeren Betrag versucht?«

»Das haben wir getan«, warf ihr Vater ein, »aber ich glaube, die hätten uns nicht mal hundert Dollar gegeben. Es wäre nichts Persönliches, nur wäre das Touristikangebot am Yellowhead Highway inzwischen so vielseitig, dass es kaum noch eine Zukunft für eine kleine Lodge wie unsere geben könnte.« Seine Stimme nahm einen verächtlichen Klang an. »Er würde uns aber dabei helfen, die Lodge möglichst gewinnbringend zu verkaufen. Wahrscheinlich hat er schon ein Angebot von dieser Superlodge am Fraser River auf dem Tisch.« Die Robson Wellness Lodge lockte mit einem überdachten Pool, einer Sauna, einem attraktiven Unterhaltungsprogramm und abendlichen Sterne-Menüs.

»Habt ihr es bei einer anderen Bank versucht?«

»Uns gibt keiner mehr was«, sagte ihr Vater, »und irgendwie haben sie sogar recht. Die Einnahmen im Sommer reichen nicht aus. Aber wie sollen wir unsere Lodge attraktiver gestalten, wenn wir kein Geld mehr für Investitionen bekommen?«

Ihre Mutter schenkte Kaffee ein und reichte auch Annie einen Becher. »Wir können nicht verkaufen«, sagte sie, während sie sich setzte. Sie wirkte inzwischen etwas gefasster. »Die Lodge ist alles, was wir haben. Unser Traum von einem erfüllten Leben. Die Freiheit, die Tiere, die Begegnungen mit den Menschen, die zu uns kommen … es muss doch einen Weg geben, das alles zu erhalten.« Sie blickte ihren Mann an, als wüsste er eine Antwort.

Stattdessen antwortete Annie: »Das wird schon wieder, Mom. Die Bank hat recht, es sieht nicht gerade gut aus, seitdem die Robson Wellness Lodge mit ihren Pools und ihren vielen anderen Extras lockt. Aber warum sollten wir deswegen pleitegehen? Die meisten Urlauber, die nach Kanada kommen, wollen doch die unverfälschte Wildnis erleben. Habt ihr nicht die Umfragen gelesen? Wandern, Reiten und Rafting, im Buschflieger über den Mount Robson und die Gletscher in den Nationalparks fliegen, das wollen die Leute. Wir müssen ihnen das geben, was sie in der Superlodge nicht bekommen.«

»Das haben wir doch schon im Spätsommer vergeblich versucht«, sagte ihre Mutter. »Sobald die Wellness Lodge eröffnet hatte, sprangen uns die Gäste ab.« Sie trank einen Schluck von ihrem Kaffee. »Ich bin mir immer noch sicher, dass sich das wieder legen wird, und habe nicht einmal im Traum daran gedacht, dass die Bank den Glauben an uns verlieren und uns einen Kredit verweigern könnte.«

»Wer weiß?« Ihr Vater wurde schnell wütend und reagierte öfter übertrieben emotional, wie es einige seiner Freunde formulierten. »Vielleicht haben diese Wellness-Heinis ihre Finger im Spiel und die Banken angewiesen, uns den Geldhahn abzudrehen. Die Lodge gehört zu einem großen Konzern, der hat sicher einige Power. Man könnte glauben, die seien auf unser Land scharf.«

»Auf unsere Lodge?« Ihre Mutter schüttelte den Kopf. »Was wollen sie denn damit? Die haben doch am Fraser River alles, was sie brauchen. Und mit den Veranstaltern in den Nationalparks handeln sie sicher beste Bedingungen aus.« Sie schniefte leise. »Was sollen wir bloß machen, Walter?«

»Uns fällt schon etwas ein«, sagte er. Er klang nicht sehr optimistisch.

»Unter den Umständen bleibe ich natürlich hier«, entschied Annie. Sie versuchte, ihrer Stimme einen festen Klang zu geben. »Ich finde sicher einen Job, der uns ein paar Tausender zusätzlich einbringt. Ich könnte bei den Husky-Leuten in Jasper als Musherin anheuern. Oder in einem Lokal arbeiten.«

»Kommt nicht infrage!«, mischte sich ihre Mutter ein. »So gerne ich dich um mich habe, aber du freust dich seit drei Monaten auf diesen Trip, und wir denken gar nicht daran, dir diese Fahrt zu verderben. Stimmt doch, Walter, oder?«

Ihr Vater klang genauso entschieden wie sie. »Das ist ganz allein unsere Sache, Annie! Wir wissen, wie gerne du mit unseren Gästen über die Bergwiesen reitest, aber dich trifft keine Schuld an unseren Problemen, und wir werden den Teufel tun und dich für unsere Zwecke einspannen. Wir kommen schon irgendwie zurecht. Wer weiß? Wenn wir alles noch mal durchrechnen und der Bank neue Zahlen vorlegen, gewähren sie uns vielleicht doch noch einen Kredit. Wenn wir ihnen klarmachen, dass wir eine echte Alternative zu der Wellness Lodge darstellen und genug Gäste anziehen …« Er klang nicht sehr zuversichtlich. »Wenn wir genug Reservierungen vorweisen können … es haben sich schon einige Gäste angekündigt. Ein Ehepaar aus Seattle …«

»Ich muss nicht nach Kalifornien reisen, Dad.«

»Wir bestehen darauf, Annie. Auch ich habe dich gern um mich, aber es wird höchste Zeit, dass du mal hier rauskommst und dir den Wind um die Nase wehen lässt. Du hast in letzter Zeit viel gearbeitet, in der Schule und hier auf der Lodge. Lass dir in Kalifornien die Sonne auf den Bauch scheinen. Du musst ausgeruht sein, wenn du an der Uni anfängst. Genieße deine Auszeit.«

»Aber Dad …«

»Keine Widerrede!« Er lächelte aufmunternd. »Es ist alles nicht so dramatisch, wie es sich anhört. Natürlich sind wir erst mal ein wenig unter Schock, das wäre wohl jeder, der sich von seinem Banker sagen lassen muss, dass er kein Geld mehr bekommt. Aber deine Mutter und ich haben schon ganz andere Probleme gemeistert.« Er blickte seine Frau an. »Weißt du noch? Als einer unserer Gäste von einem Grizzly angegriffen und schwer verletzt wurde, stornierten so viele Leute ihre Reservierungen, dass wir an unsere eisernen Reserven ranmussten. Da spielte es auch keine Rolle, dass der Mann unsere Warnungen in den Wind geschlagen und sich dem Grizzly auf leichtsinnige Weise genähert hatte. Es war auf unserem Land passiert, und die meisten Leute hatten Angst, dass ihnen Ähnliches widerfahren würde, wenn sie ihre Ferien bei uns verbrachten.«

Ihre Mutter reichte über den Tisch und griff nach ihrer Hand. »Mach dir keine Sorgen, Annie! Wir schaffen das! So leicht lassen wir uns nicht unterkriegen.« Sie lächelte tapfer. »Wann kommt Simon dich morgen abholen?«

»Um acht Uhr früh.«

»Dann frühstücken wir noch zusammen, okay? Sag mir, wenn du Hilfe beim Packen brauchst. Und vergiss nicht, deinen neuen Bikini mitzunehmen.«

Jetzt lächelte auch Annie. »Ich war noch nie im Meer baden.«

»Dann wird’s höchste Zeit, oder?«

Obwohl der Gedanke an Sonne, Strand und Palmen verlockend war, fand Annie an diesem Abend nicht in den Schlaf. Zu groß waren die Probleme, die ihre Eltern nach dem abgelehnten Kredit zu überwinden hatten. Selbst wenn sie einen Weg fanden, den drohenden Bankrott zu verhindern, würde es einige Jahre dauern, wieder in die Spur zu kommen. Sie kam sich wie eine Verräterin vor. Wie konnte sie sich in Kalifornien am Strand vergnügen, wenn ihre Eltern den ganzen Winter schuften mussten und versuchten, die Lodge zu retten? Die Lage war dramatisch, daran änderten auch ihre Beteuerungen nichts.

»Ich kann das nicht«, sagte sie, »ich kann es einfach nicht.«

Sie schaltete die Nachttischlampe ein und stieg aus dem Bett. Barfuß ging sie zum Fenster. Der Nebel hatte sich verzogen und ein ungewöhnlich klarer Sternenhimmel spannte sich über den Wäldern. Das silberne Licht verlieh dem Land einen magischen Glanz und ließ selbst die schroffen Berge im Norden verlockend erscheinen. Den Mount Robson konnte sie von ihrem Fenster aus nicht sehen, aber sie lebte lange genug in dieser Gegend, um zu wissen, dass der eben noch verhangene Gipfel wieder sichtbar war und mit seinen verschneiten Hängen in den Himmel ragte. Allein wegen dieses Anblicks buchten viele Gäste einen Urlaub auf der Lodge und waren erst zufrieden, wenn sie das magische Foto auf der Speicherkarte ihrer Kamera hatten.

Mit einem hörbaren Seufzen stützte sie sich auf das Fensterbrett. Der Anblick der nächtlichen Wildnis wärmte ihr das Herz, trotz der kühlen Temperaturen, die bereits den Winter ankündigten. Als hätte es die Natur darauf angelegt, sie umzustimmen und zu überreden, zu Hause zu bleiben. Das Wiehern eines Pferdes in der Koppel drang zu ihr herauf. Gleich darauf glaubte sie, die beruhigende Stimme des alten Walker zu vernehmen. Der Oldtimer war ein Pferdeflüsterer, kannte sich besser mit Pferden aus als die meisten anderen.

Es klopfte an ihre Tür. »Annie! Darf ich reinkommen?«

»Mom?«

Die Tür ging auf und ihre Mutter erschien. Sie trug einen leichten Morgenrock, so wie die Frauen in alten Filmen. »Ich hab Licht bei dir gesehen.«

»Ich mach mir Sorgen.«

»Ich weiß«, sagte ihre Mutter, »die machen wir uns alle, aber es ist alles nicht so dramatisch, wie du denkst. Ich hab vorhin ein wenig überreagiert. Kein Wunder, nachdem wir gerade erst in der Bank gewesen waren. Aber dein Vater hat recht. Wir kriegen das schon hin. Und du fährst nach Kalifornien!«

»Ich weiß nicht, Mom.«

»Dein Vater und ich sind erwachsen, Annie. Und Geldprobleme hatten wir schon öfter, die hauen uns nicht um. Du wirst sehen, wenn du zurückkommst, sieht die Welt schon wieder ganz anders aus. Versprich mir, dass du fährst.«

»Okay, Mom.«

»Lass dir die Laune nicht vermiesen.«

»Nein, Mom.«

Ihre Mutter umarmte sie und drückte ihr einen Kuss aufs Haar, so wie damals, als sie ein kleines Mädchen gewesen war, und verließ das Zimmer.

Annie kehrte in ihr Bett zurück und löschte die Nachttischlampe.

2

Während des Frühstücks redeten sie über Belanglosigkeiten. Das Wetter, das sich an diesem Morgen von seiner angenehmsten Seite zeigte, den zottigen Hund, den Walker vor einigen Wochen auf einem Parkplatz aufgelesen hatte und um den er sich seitdem kümmerte, die Fortschritte, die eines der jungen Pferde machte, das sich nach einem Fehltritt nur noch humpelnd fortbewegen konnte. Die Baldwins gaben sich alle Mühe, ihre Probleme totzuschweigen und Annie den Abschied nicht schwerer zu machen, als er ohnehin schon war.

Annie hatte kaum geschlafen und begnügte sich mit etwas Rührei und einer Scheibe Toast, ließ sogar die Hälfte ihres Kaffees stehen. Obwohl sie ihren Eltern mehrfach versprochen hatte, ihren Ausflug nach Kalifornien zu genießen, war sie immer noch unschlüssig und hätte sich am liebsten in einer dunklen Ecke verkrochen. Sie kannte ihre Eltern gut genug, um die Besorgnis in ihren Augen zu entdecken. Die Lage war ernster, als sie zugeben wollten.

Simon Taylor war überpünktlich. Um Punkt acht Uhr beobachtete Annie durchs Fenster, wie er mit dem Wohnmobil seiner Eltern auf den Hof fuhr und vor dem Haus hielt. Walkers zottiger Hund bellte laut, als Simon ausstieg, ein junger Mann mit breiten Schultern, der mit seinem fröhlichen Lächeln sicher bei vielen Mädchen punkten konnte und auch sie beeindruckt hatte. Doch schon während des Abschlussballs hatte sie gespürt, dass sie kein zweites Date wollte. »Das wird schon noch«, hatte er lächelnd geantwortet.

Er hatte sie nicht bedrängt und sich wie ein netter Junge verhalten, der sich damit zufriedengab, lediglich mit ihr befreundet zu sein. Nur deshalb und weil sie eine ganze Clique sein würden, hatte sie eingewilligt, mit ihm nach Kalifornien zu fahren. Schließlich kamen ja auch noch Karen und Rita mit, die beiden Mädchen aus Prince George. Beide waren Cheerleaders des Schulteams gewesen und hatten schon lange ein Auge auf Simon geworfen.

Annies Eltern gaben sich große Mühe, einen unbeschwerten Eindruck zu machen, als er sie begrüßte. »Und Sie wollen tatsächlich nach Kalifornien?«, fragte Walter Baldwin. Er deutete aus dem Fenster. »Mit diesem Monstrum?«

»Halb so wild. Das Ding ist leichter zu fahren, als man denkt.«

»Passen Sie trotzdem auf.«

»Versprochen, Mister Baldwin.«

Annie machte kein großes Drama aus der Verabschiedung. Sie umarmte beide, ihre Mutter und ihren Vater, versprach noch einmal hoch und heilig, sich von unterwegs bei ihnen zu melden und ihnen ein Foto vom Palmenstrand zu mailen. Sie umarmte Walker und tätschelte Rebel, machte, dass sie auf den Beifahrersitz des Wohnmobils kam, bevor jemand ihre Tränen sah.

»Super, dass du mitkommst«, sagte Simon, als sie über die Schotterstraße zum Highway fuhren. Optimistisch, wie er war, hatte er sich bereits jetzt eine Sonnenbrille in die Haare geschoben. Sein Lächeln wirkte ein wenig unsicher. »Ich dachte schon, du wolltest überhaupt nichts mehr von mir wissen.«

»Wir haben kein Date, Simon.«

»Das weiß ich doch.«

»Wir sind befreundet, das ist alles.«

»Schon klar, Annie.«

»Dann ist es ja gut.« Sie blickte nach vorn und ignorierte seinen Dackelblick, wollte ihm auch auf diese Weise zu verstehen geben, dass er sie gar nicht erst anzubaggern brauchte. »Mit Karen und Rita hast du genug zu tun.«

»Und wenn ich dich lieber mag?«

Sie hatte nicht damit gerechnet, nach wenigen Meilen so direkt von ihm angegangen zu werden, und überlegte sich ihre Antwort gut. »Ich dachte, wir hätten nach dem Abschlussball eine Abmachung getroffen. Kein Date, keine Beziehung. Bis jetzt hast du dich daran gehalten. Wenn du auch nur versuchst mich anzubaggern, kannst du mich sofort nach Hause zurückfahren.«

»So war’s doch gar nicht gemeint«, wehrte Simon ab. »Leg doch nicht jedes Wort von mir auf die Goldwaage. Ich wollte nur ein bisschen nett sein.«

»Schon gut, ich hab schlecht geschlafen.«

»Kummer?«

»Nichts Besonderes«, wich sie aus.

Auf dem Yellowhead Highway herrschte wenig Verkehr. Den meisten Besuchern war es zu kühl im Spätherbst, auch wenn die Luft dann besonders klar war wie an diesem Morgen und einen keine Moskitos plagten. Zwischen vereinzelten Wolken zeigte sich sogar die Sonne, und als sie aus dem Beifahrerfenster blickte, sah sie den Gipfel des Mount Robson schneeweiß leuchten. Ein majestätischer Anblick, der sogar einige Einheimische an den Straßenrand fahren und ihre Smartphones hervorholen ließ. Der zweithöchste Berg Kanadas gehörte zu den beliebtesten Fotomotiven am Yellowhead Highway.

Die Robson Wellness Lodge erkannte Annie schon von Weitem. Das mehrstöckige Gebäude, im rustikalen Stil gehalten und jedes Zimmer mit einem geräumigen Balkon, erhob sich südlich vom Highway am Ufer des Fraser River, ein luxuriöses Resort, wie man sie meist nur in Nationalparks wie Jasper und Banff antraf. Es gab überdachte Tennisplätze, einen Indoor-Pool, eine eigene Anlegestelle für Schlauchboote, Kajaks und Kanus und ein Edelrestaurant, das von einem mehrfach preisgekrönten Koch aus Vancouver geführt wurde. Gleich neben der Tennishalle befand sich der hoteleigene Pferdestall.

Annie konnte sich einen neidvollen Blick nicht verkneifen, hütete sich jedoch, in Simons Gegenwart auf die Lodge zu schimpfen. So war das nun mal in der freien Wirtschaft, sagte sie sich, gegen Konzerne kam man nicht an. Es sei denn, man fand eine Nische wie der kleine Buchladen in Prince George, der sich auf Kochbücher spezialisiert hatte und sogar gegen Amazon bestand.

»Edler Laden«, bemerkte Simon mit einem Blick nach links, »die stechen sogar die riesigen Kästen in Banff aus.« Er war so fasziniert vom Anblick der Luxusherberge, dass er beinahe auf die Gegenfahrbahn geriet und erst bei Annies ängstlichem Schrei zurücksteuerte. »Sorry, aber der Laden ist wirklich absolute Extraklasse!« Er sah Annie an. »Machen die euch auch zu schaffen?«

Sie schüttelte tapfer den Kopf. »Andere Zielgruppe.«

Simon Taylor brauchte sich wegen der Lodge keine Sorgen zu machen. Seine Eltern besaßen ein erfolgreiches Restaurant an einem See westlich von Prince George und waren an einem Catering-Unternehmen beteiligt, das Firmen und Privatleute im weiten Umkreis belieferte. Prince George war ein Verkehrsknotenpunkt und lag wesentlich günstiger als die Wellness-Lodge.

»Hast du noch mal mit den anderen gesprochen?«, fragte Annie.

»Mit wem?«

»Mit Karen und Rita«, antwortete sie leicht irritiert, »dem Jungen aus Williams Lake und dem Pärchen aus Vancouver. Wer waren die beiden noch?«

»Mein Halbbruder und seine Verlobte. Joe und Melissa.«

»Dein Vater war schon mal verheiratet?«

»Meine Mutter. Mit einem Fallensteller, stell dir vor.« Er konzentrierte sich auf ein Überholmanöver und sprach erst weiter, als er einen Truck mit Baumstämmen hinter sich gelassen hatte. »Der Typ hielt es mit der Treue nicht besonders genau und brannte mit einer Jüngeren durch. Joe, meinen Halbbruder, ließ er bei meiner Mutter zurück. Mein Dad hat ihn adoptiert.«

»Nobel von ihm.«

Simon blickte zu ihr herüber und nickte. »Meine ich auch. Meine Eltern legen Wert auf geordnete Familienverhältnisse. Kein Wunder nach dem, was meine Mom mit dem Fallensteller durchmachen musste. Meinem Dad ging es übrigens nicht besser. Ihn hat seine Verlobte drei Tage vor der Hochzeit verlassen.« Er lachte. »Was soll’s? Was Besseres hätte ihnen nicht passieren können.«

»Und wann heiraten Joe und Melissa?«

»Meine Eltern hätten es gern gesehen, wenn sie noch vor unserer Reise geheiratet hätten, aber daraus wurde nichts. Wer weiß? Vielleicht müssen wir einen Umweg über Las Vegas machen. Obwohl Mom ihnen eine heimliche Hochzeit niemals verzeihen würde. Sie will was Festliches, so wie bei den Royals im alten London.«

»Und der Typ aus Williams Lake? Ronny, oder?«

»Ronny Shephard«, bestätigte er. »Erinnerst du dich nicht mehr an ihn? Ein echter Draufgänger. Spielte im Footballteam, kletterte in den Bergen rum und fuhr in einem Kajak die Stromschnellen des Fraser runter. In Kalifornien will er unter die Surfer gehen. Kann auch nicht schwerer als Snowboarding sein, glaubt er. Wie ich Ronny kenne, macht er gleich bei irgendwelchen Meisterschaften mit. Soweit ich weiß, hat er mit Mädels wenig im Sinn.«

»Oh, oh.« Sie musste unwillkürlich lächeln. »Und Karen und Rita?«

»Die wollen Spaß haben. Du kennst sie doch. Cheerleaders eben.«

»Holen wir sie zu Hause ab?«

»Ja …« Die Antwort kam etwas zögernd. »Das heißt, ich soll sie noch mal anrufen, bevor wir nach Prince George reinfahren. Falls irgendwas dazwischenkommt. Könnte sein, dass sie mit den Cheerleaders auf Tour müssen.«

»Es ist noch gar nicht sicher, ob sie mitkommen?«

»Doch … schon … es sei denn …«

»Es sei denn, sie gehen mit den Cheerleaders auf Tour. Dann sind wir mit deinem Halbbruder, seiner Verlobten und Ronny allein. Tolle Aussichten.«

»Wäre das so schlimm?«

»Das werden wir ja sehen«, antwortete sie.

Während der nächsten Kilometer schwieg Annie. Sie lehnte sich zurück und schloss die Augen, gab vor zu schlafen, während Simon das Radio einschaltete und belanglose Top-40-Hits die Stille füllten. Sie traute ihm nicht mehr. Schon die Anspielungen und Komplimente zu Beginn ihrer Fahrt hatten sie misstrauisch gemacht, doch die Ausrede mit den Anrufen war noch viel heftiger. Was, wenn er es von Anfang an darauf angelegt hatte, mit ihr allein zu fahren? Wenn Karen und Rita längst mit ihren Cheerleaders unterwegs waren und auch Ronny und sein Halbbruder und dessen Verlobte niemals zusteigen würden? Oder sah sie zu schwarz? War sie nach der Meldung über die drohende Pleite ihrer Eltern schon so negativ gepolt, dass ihr Glas immer nur halb leer und niemals mehr halb voll war? So verrückt zu glauben, dass sie ein halbes Jahr allein mit ihm durch Kalifornien reisen würde, konnte er doch nicht sein.

Als der Top-Hit der Woche zum dritten Mal innerhalb einer Stunde erklang, hielt sie es nicht länger aus. »Ruf sie an!«, forderte sie Simon unvermittelt auf.

Er blickte sie erschrocken an.

»Dreh das Radio leiser und ruf sie an!«

Eine Weile reagierte er gar nicht, dann hielt er am Straßenrand an und zog sein Handy aus der Tasche. »Soll ich bei Karen anrufen? Sie müssten beide bei ihr sein.«

»Bei wem denn sonst?«

Er wählte Karens Nummer und wartete darauf, dass sie abhob. Beim dritten Klingeln hustete er nervös, nach dem vierten Klingeln schaltete sich der Anrufbeantworter ein, und ihre Stimme war selbst für Annie deutlich zu hören. »Tut mir leid, aber ich bin mit den Cheerleaders unterwegs und kann leider selten drangehen. Meldet euch nach dem Piepton, dann rufe ich zurück.«

»Das hab ich mir doch gedacht«, sagte Annie verärgert.

Er spielte den Unschuldigen und hob entrüstet die Hände. »Aber das wusste ich doch nicht! Ich hatte keine Ahnung, dass sie bei dieser Tournee mitmachen. Wenn ich es gewusst hätte, dass sie dabei sind, hätte ich’s dir doch gesagt.«

»Das glaubst du doch selbst nicht!«

»Ich hatte fest damit gerechnet, dass sie mitkommen, ehrlich! Warum auch nicht? Zugegeben, sie können einen gewaltig nerven mit ihrem Gekicher. Aber sie können auch lustig sein und nach Kalifornien hätten sie irgendwie gepasst. Sie wollten dabei sein. Sie wollten unbedingt nach L. A. Okay, vielleicht wären sie dort ausgestiegen und nach Hollywood weitergefahren. Dann hätten wir sie nächstes oder übernächstes Jahr vielleicht im Kino sehen können.«

»Ja, als Opfer in einem Horrorfilm. Oder in einem Porno.«

»Du bist gemein.«

»Klar bin ich gemein!« Sie machte gar kein Hehl aus ihrer Wut. »Du hast doch gewusst, dass Karen und Rita mit den Cheerleaders unterwegs sind, sonst hättest du dich nicht so unklar ausgedrückt. Du wusstest ganz genau, wie ich darauf reagieren würde, dass sie nicht mitkommen. Stimmt doch, Simon, oder?«

Er blieb scheinbar gelassen. »Ich weiß gar nicht, was du hast. Es ist zwar schade, dass die beiden nicht mitkommen, aber was macht es für einen Unterschied? Wir können auch ohne sie Spaß haben. Du regst dich völlig umsonst auf.«

»Und wer sagt mir, dass Ronny und die anderen mitkommen?«

»Joe und Melissa sagen bestimmt nicht ab.«

»Bist du auch sicher, dass sie sich nicht irgendwo absetzen? Liebespaare wollen lieber allein sein. Darauf hätte ich schon viel früher kommen können.«

»Wäre das so schlimm?«

»Wenn wir ein halbes Jahr allein unterwegs wären?«

»Ich mag dich, Annie. Ich mag dich sogar sehr.«

»Und ich hab dir gesagt, dass zwischen uns nichts läuft.«

Simon wirkte verlegen. »Jetzt warte doch erst mal ab.«

Annie wandte sich von ihm ab und blickte nach vorn. Wie ein endloses Band zog sich der Yellowhead Highway durch die Fichtenwälder. Nur gelegentlich entdeckte sie vereinzelte Blockhütten im Schatten der Bäume. Die Zivilisation schien weit entfernt, nicht mal eine Tankstelle war zu sehen. Etwas Dunkles tauchte auf einer Lichtung auf, vielleicht ein Schwarzbär auf der Suche nach seinem Schlafplatz, in den Baumkronen turnten Eichhörnchen.

Missmutig schloss sie die Augen. Sie war außer sich vor Wut, vor allem auf sich selbst, weil sie Simon nicht früher auf die Schliche gekommen war. Wie konnte sie nur so dumm sein und sich auf einen gemeinsamen Urlaub mit dem Typen einlassen, den sie nach dem Abschlussball in die Wüste geschickt hatte? Selbst wenn noch andere mitfuhren, ganz egal, wie viele, machte das die Situation nicht besser. Was hatte sie sich nur dabei gedacht? Warum hatte sie Simon nicht früher durchschaut? Wo war ihr gesunder Menschenverstand geblieben?

Aber es war nicht zu spät. Sie waren noch keine drei Stunden unterwegs und sie konnte jederzeit aussteigen und mit dem Bus zurückfahren. Vielleicht war ihre Auseinandersetzung mit Simon sogar ein Wink des Schicksals gewesen, das sie in diesen schweren Zeiten an der Seite ihrer Eltern sehen wollte.

In der Ferne tauchte Dome Creek auf, ein verlassenes Nest mit einigen Blockhäusern und einem Roadhouse, das sie von früheren Besuchen kannte. Der Wirt, ein ehemaliger Musher, der zweimal am Yukon Quest teilgenommen hatte, einem der großen Hundeschlittenrennen, war mit einer Indianerin verheiratet, die berühmt für ihre schmackhaften Eintöpfe war. Sie würde sich einen Teller gönnen und mit dem Nachmittagsbus nach Hause zurückfahren.

»Halte vor dem Roadhouse«, forderte sie ihn auf.

»Warum? Du willst doch nicht etwa …?«

»Ich hab’s mir anders überlegt, Simon. Ich fahre nicht mit. Tut mir leid, dass ich so plötzlich damit komme, aber ich kann nicht. Außerdem werde ich zu Hause gebraucht. Lass mich vor dem Lokal aussteigen.«

»Du meinst das ernst, was?« Er klang bestürzt. »Du meinst das tatsächlich ernst. Was hab ich dir getan, dass du plötzlich so … so wütend auf mich bist? Wir könnten auch ohne Karen und Rita eine schöne Zeit haben. Wir haben uns doch immer gut verstanden. Ich träume schon seit Wochen davon, mit dir am Strand zu liegen, Piña colada zu trinken und coole Musik zu hören.«

»Und genau das ist das Problem, Simon!« Sie wusste nicht, ob sie mitleidig oder entrüstet reagieren sollte. »Du wolltest am liebsten allein mit mir in Urlaub fahren. Unter dem Deckmantel, mit einer Clique durch Kalifornien zu ziehen. Und ich habe mich auf eine Fahrt mit vielen interessanten Leuten gefreut.«

»Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte Simon. »Ich würde dich bestimmt nicht belästigen, das ist nicht meine Art. Ich bin mir sicher, wir würden uns in Kalifornien näherkommen. So ein gemeinsames Erlebnis schweißt zusammen, und du würdest bestimmt merken, dass du auch etwas für mich empfindest.« Er seufzte. »Lass uns zusammen weiterfahren, Annie!«

Sie blieb eisern. »Halte bitte an! Vor dem Roadhouse.«

»Aber ich mag dich! Ich will, dass du bei mir bleibst!« Er klang verzweifelt. »Versuch’s doch wenigstens … bis Vancouver, okay? Bis Vancouver wirst du doch wohl durchhalten. Bitte tu mir den Gefallen, Annie!«

»Tut mir leid, Simon.«

»Das darfst du mir nicht antun, Annie!«, flehte er sie an. Wie ein Vierzehnjähriger, der seine erste Abfuhr bekam. »Denk daran, wie schön so ein gemeinsamer Urlaub sein kann. Wir hätten bestimmt eine tolle Zeit. Du würdest dich schon an mich gewöhnen. Wir gehören doch zusammen. Bitte, Annie!«

»Sorry, Simon.«

Er hielt vor dem Roadhouse und wollte weiter auf sie einreden, doch sie brachte ihn mit einem strengen Blick zum Schweigen. »Das mit uns wäre sowieso nie was geworden«, sagte sie, während sie nach ihrem Rucksack griff und die Tür öffnete. »Leb wohl, Simon. Tut mir leid, es geht nicht anders.«

Sie wartete, bis er davongefahren war, und betrat das Roadhouse.

3

Seit ihrem letzten Besuch vor einigen Wochen hatte sich im Roadhouse kaum etwas verändert, nicht einmal die Speisekarte. Auf der großen Tafel über dem Tresen stand immer noch »Der beste Eintopf des Nordens«, daneben der unveränderte Preis und ein Smiley. An der Wand hingen Elchgeweihe, historische Schneeschuhe, eine alte Flinte und Fotos aus der Goldgräberzeit im 19. Jahrhundert, und die Fenster warteten geduldig darauf, geputzt zu werden.

»Miss«, begrüßte sie der Wirt, trotz seines fortgeschrittenen Alters noch extrem sportlich, »sind Sie nicht die Lady von der Rainbow Lodge? Lange nicht gesehen. Suchen Sie sich einen Tisch aus. Was darf’s denn sein?«

Außer ihr waren nur noch zwei griesgrämige Alte im Lokal und spielten Mühle an einem der hinteren Tische. Sie nickte ihnen freundlich zu und setzte sich ans Fenster. »Schwarztee mit Milch und Zucker, bitte«, bestellte sie, »wie die englische Königin.« Einer ihrer Standardwitze, der ihr schon so in Fleisch und Blut übergegangen war, dass sie auch an diesem tristen Tag nicht darauf verzichtete. »Der Bus nach Banff kommt gegen zwei, nicht wahr?«

»Um zehn vor, wenn er pünktlich ist.« Er hatte wohl beobachtet, aus welcher Richtung das Wohnmobil gekommen war, und blickte sie neugierig an. »Sie wollen schon wieder nach Hause? Sie hatten hoffentlich keinen Ärger?«

»Ein Missverständnis«, erwiderte sie nur.

Während er den Tee holte, blickte sie aus dem Fenster. Vor der Werkstatt gegenüber hielt ein Motorradfahrer und rief nach einem Mechaniker. Anscheinend hatte er Probleme mit seiner Maschine. In der Werkstatt konnte ihm auch keiner helfen, und ihm blieb nichts anderes übrig, als weiterzufahren. Offensichtlich kein ernstes Problem, so wie er den Motor aufheulen ließ.

Der Wirt brachte ihren Tee. »Machen Sie diesen Winter auch wieder zu?«, fragte er. »Die Lodge, meine ich. Ihre Saison beginnt am ersten Mai, oder?«

»Im Mai, stimmt«, antwortete sie. »Warum fragen Sie?«

Er blieb neben ihrem Tisch stehen. »Wir hatten letztes Jahr von Weihnachten bis Anfang Januar geschlossen. Kein Problem, da war sowieso immer wenig los, aber das wird sich dieses Jahr ändern. Die neue Wellness Lodge hat etliche Christmas Specials im Programm, und es wäre ziemlich leichtsinnig von uns, das Lokal zu schließen. Die meisten Leute kommen hier vorbei.«

»Gute Idee«, erwiderte Annie.

»Ein ziemlicher Klotz, diese Robson Wellness Lodge.« Er schien noch etwas auf dem Herzen zu haben. »Da steckt mächtig Kohle dahinter. Bei mir haben schon einige Lodge-Besitzer auf die neue Konkurrenz geschimpft. Einige wollen es mit Specials und Rabatten versuchen, aber das bringt nichts.« Er zögerte, überlegte anscheinend, ob er mit seinem Vorschlag herausrücken sollte. »Ich hab wenig Ahnung von Lodges, aber wenn ich Besitzer wäre, würde ich durchgehend aufmachen, besonders an Weihnachten und Neujahr.«

Annie wurde hellhörig. Daran hatten ihre Eltern und sie schon selbst gedacht, aber keines ihrer Konzepte war finanzierbar gewesen. »Wie stellen Sie sich das vor? Wir haben keinen beheizten Pool, keine Luxussauna, nicht mal einen dieser russischen Pferdeschlitten, wie ihn diese Wellness Lodge auf den Flyern hat. Ich weiß, dass die im Winter offen haben, auch an Weihnachten.«