Küsse wie Schneeflocken - Joanna Wolfe - E-Book

Küsse wie Schneeflocken E-Book

Joanna Wolfe

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Beschreibung

Als Cheryl den süßen Rick kennenlernt, hat sie eigentlich gerade die Nase voll von Jungs. Sie hat einen tollen Ferienjob an Land gezogen, als Hundeschlitten-Guide in der ehemaligen Goldgräberstadt Dawson City am Ostufer des Yukon, und genießt es einfach nur, für eine Weile ihrer überfürsorglichen Mutter zu entkommen. Doch als sie Rick eines Tages während eines schlimmen Schneesturms in den Ogilvie Mountains aufliest und die beiden in einer abgelegenen Blockhütte Schutz suchen müssen, geraten ihre Prinzipien ins Wanken ...

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Seitenzahl: 368

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DIEAUTORIN

Joanna Wolfe war lang in den USA unterwegs und Europa und schwärmt vom hohen Norden, solange sie denken kann. Mit Wölfen verbindet sie eine »Seelenverwandtschaft«. Sie verbringt zahlreiche Monate des Jahres in Alaska und Kanada und lebt die restliche Zeit des Jahres in Chicago und Frankfurt am Main. Unter anderen Namen hat sich die weit gereiste Autorin bereits mit Spannungsromanen und gefühlvollen Liebesgeschichten einen Namen gemacht.

Von der Autorin ist außerdem bei cbt erschienen:

Küss mich unterm Nordlicht (31004)

Joanna Wolfe

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1. Auflage

Originalausgabe November 2016

© 2015 by cbt Verlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: *zeichenpool, München

Umschlagmotive: Gettyimages (AleksandarNakic); Shutterstock (True-bunny, David M. Schrader); Strandperle (Daniel Vonwiller/imageBROKER)

MI · Herstellung: AnG

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-19268-6V001

www.cbt-buecher.de

»Vorwärts! Lauft! Lauft!«, feuerte Cheryl die Huskys an. Mit lauten Zurufen trieb sie ihr Gespann die steile Straße hinauf, sprang von den Kufen und stemmte sich keuchend gegen den Schlitten, weil sie sonst niemals die Steigung geschafft hätte. Mit ihrer ganzen Kraft rammte sie ihre Stiefel in den Schnee, wie ein Kletterer, der eine Wand erklomm, nur schneller und hastiger, um nicht das Gegenteil zu erreichen und den Hunden zur Last zu werden.

Der frische Schnee, der während der vergangenen Nacht gefallen war, gab den Hunden und ihr festen Halt, und die frisch gewachsten Kufen hielten den Schlitten in der Spur. Sie hatte schon Tage erlebt, an denen die Straße so vereist gewesen war, dass selbst die Hunde aufgegeben hatten. »Go! Go!«, rief sie ungeduldig. »Gleich haben wir es geschafft. Immer weiter, Snowball!«

Snowball war ihr Leithund, ein muskulöser Siberian Husky, der sich mit seinem schwarzen Fell deutlich vom Schnee abhob. Er lebte hauptsächlich von seiner Kraft, auch jetzt wieder, als er die letzten Meter der Steigung erklomm und die anderen Hunde allein durch seine Körpersprache mitriss. Zusammen erreichten sie die Anhöhe und liefen weiter. Ihre Huskys kannten keine Müdigkeit, konnten sich nichts Schöneres vorstellen, als über einen verschneiten Trail zu laufen. Der böige Wind machte ihnen kaum etwas aus.

Cheryl sprang auf die Kufen und ließ ihnen ihren Willen. Erst an der nächsten Biegung bremste sie und rief: »Whoaa! Haltet an! Zeit für eine kurze Rast, oder habt ihr Angst, was zu verpassen?« Sie fuhr an den Straßenrand und stieg von den Kufen, rammte den Anker in den Schnee, ging von einem Husky zum anderen und dankte ihnen für ihren Einsatz. Huskys brauchten Zuspruch, besonders Snowball, der sich am liebsten zwischen den Ohren kraulen ließ. »Das habt ihr toll gemacht!«, lobte sie ihr Gespann. »Ihr seid wirklich gut in Form. Wir würden unseren Spaß in Dawson haben, was?«

Sie zog ihre Thermoskanne aus dem Schlittensack und gönnte sich einen Becher von dem inzwischen lauwarmen Tee. Dazu aß sie einen Riegel von der Schokolade, die sie auf jeder Fahrt mitführte. Sie liebte Schokolade über alles, besonders die teure Zartbitter mit Orangengeschmack, die der Besitzer des General Store in Dease Lake nur für sie bestellte. »Ich glaube, ich sag’s meinen Eltern heute Abend«, wandte sie sich an ihre Hunde. »Sie werden wohl sauer sein, weil ich nicht früher Bescheid gesagt habe, aber irgendwie werde ich sie schon rumkriegen. In Dawson sind wir schließlich nicht aus der Welt. Sie sind sowieso lieber mit dem Snowmobil unterwegs. Höchste Zeit, dass ich mal eine andere Stadt sehe und von diesem Mistkerl wegkomme.«

Snowball antwortete ihr mit einem leisen Jaulen. Er hatte natürlich keine Ahnung, wovon sie sprach, und wollte so schnell wie möglich weiter. Auch die anderen Huskys waren stehen geblieben und warteten auf die Weiterfahrt.

Sie trank den restlichen Tee und schraubte den Becher auf die Thermosflasche. Die Ungeduld der Huskys schien sie gar nicht zu bemerken. »Ich weiß, Andy sieht nicht übel aus, und die Cheerleaderinnen stehen sicher Schlange bei ihm, aber ich kann mit dem Kerl nichts anfangen. So einen Macho hab ich selten gesehen. Soll er sich doch mit Suze trösten, die ist genauso eingebildet wie er und rennt sicher nicht umsonst in diesen Klamotten rum. Ihr hättet das Kleid sehen sollen, das sie beim Abschlussball anhatte. Einen halben Zentimeter kürzer und der Direktor hätte sie von der Polizei abholen lassen.« Sie lachte. »Und mir will er weismachen, dass er nie was mit ihr hatte und nur mich liebt. Der kann es nur nicht ertragen, dass ich mich von ihm getrennt habe. Niemand verlässt den großen Andy.« Ihre Stimme hatte jetzt einen spöttischen Unterton. »Ich bin heilfroh, wenn ich den Typ nicht mehr sehe.«

Snowball zog an den Leinen und bellte ungeduldig. Irgendjemand hatte mal behauptet, dass Huskys nicht bellten, aber ihr Leithund bellte immer, wenn ihm was gegen den Strich ging. Ruhepausen mochte er überhaupt nicht.

»Schon gut«, gab sie nach, »ich fahre ja schon weiter.« Sie verstaute die Thermoskanne im Schlittensack und gönnte sich einen weiteren Riegel Schokolade, bevor sie wieder auf die Kufen stieg. »Ich hoffe nur, meine Eltern lassen euch mitgehen, sonst wäre ich schön aufgeschmissen. Natürlich hätten sie ein Gespann für mich in Dawson, aber ich gehe lieber mit euch auf Tour. Außerdem bekomme ich mehr Geld, wenn ich die eigenen Huskys mitbringe.«

Diesmal brauchte sie die Huskys nicht anzufeuern. Die Straße zog sich zumindest für die nächsten paar Kilometer in sanften Kurven durch den Wald, eine perfekte Rennstrecke für ein laufhungriges Gespann und ihre Musherin, die auf ebenen Strecken auf den Kufen bleiben konnte und lediglich damit beschäftigt war, auf Hindernisse wie heruntergefallene Äste zu achten und bei jeder Bodenwelle wie eine Skifahrerin in die Hocke zu gehen.

Die eisige Kälte machte ihr nichts aus. Sie trug gefütterte Nylonhosen und einen blauen Anorak, dick genug, um selbst schneidenden Wind abzuhalten, feste Stiefel, einen dicken Schal und die mit Vielfraßpelz besetzte Kapuze. Der Pelz des kleinen Tieres hatte den Vorteil, selbst bei extremer Kälte nicht zu verkrusten. Ihre Handschuhe hingen an einer Lederschnur um ihren Hals.

Die schmale Straße von Dease Lake nach Telegraph Creek gehörte zu ihren Lieblingsstrecken. Über hundert Kilometer zog sie sich durch das hügelige und von lichten Fichtenwäldern bestandene Gebiet, vorbei an zerklüfteten Felsen und kahlen Bergen, die kuppelförmig aus den Bäumen hervorragten. Der böige Wind rauschte in den Baumkronen und wirbelte frischen Schnee in dünnen Schleiern über die Straße. Urlauber wagten sich im Winter nur selten auf diese abgelegene Piste und selbst die Bewohner von Telegraph Creek ließen ihre Wagen stehen. Räumfahrzeuge verirrten sich nicht nach Westen.

Der lärmende Motor eines Snowmobils drang durch die Schwarzfichten. Der Doppelscheinwerfer der Maschine flackerte in der Abenddämmerung und kam rasch näher. Ein junger Mann im dunkelroten Anorak eines Vermieters aus Dease Lake hielt auf sie zu. »Hey, Cheryl!«, rief er schon von Weitem.

Sie erkannte ihn sofort und bremste den Schlitten. Die Huskys waren nicht gerade erfreut über den Lärm und den erneuten Halt und knurrten wütend, als der Junge bremste. »Andy!«, erwiderte sie. »Was tust du denn hier draußen?«

Der Junge ließ sich durch ihre abweisende Haltung nicht aus der Ruhe bringen. »Ich fahre die neuen Maschinen ein. Du weißt doch, wie die Dinger im Sommer einrosten.« Er arbeitete für einen ATV- und Snowmobil-Verleiher in Dease Lake. Als er merkte, dass sie ihm nicht glaubte, rückte er widerwillig mit der Wahrheit heraus. »Okay, ich wusste, dass du mit den Huskys trainierst, und dachte, ich schaue mal vorbei. Du hast doch nichts dagegen?«

»Was willst du, Andy? Wir haben Schluss gemacht, schon vergessen?«

Auf den ersten Blick machte Andy einen guten Eindruck. Selbst in seinem Anorak wirkte er sportlich und durchtrainiert, seine Haut war von Wind und Wetter gebräunt, und wenn er lächelte, wirkte er regelrecht sympathisch. Nicht umsonst hatte auf der Highschool die Hälfte aller Mädchen für ihn geschwärmt. Sie hatte ihn ja selbst angehimmelt, bis ihr klar geworden war, was für ein Blender er war. Ihm ging es nur darum, seine Macht auszuspielen und den anderen Jungen zu zeigen, was für ein toller Typ er war. Nur gut, dass er wenigstens mit dem Football-Team der Highschool baden gegangen war.

Sein Grinsen fiel schräg aus. »Das hast du doch nicht ernst gemeint, oder? Okay, ich hab ein bisschen den Macker raushängen lassen und bin dir vielleicht mit meinem Gequatsche über die NFL und die neue Corvette auf den Geist gegangen. Aber das ist wichtig für mich, das weißt du doch. Ich bin eben nicht der Typ, der ständig Blumen mitbringt und Liebesfilme guckt.«

»Da sieht man mal, wie gut du mich kennst«, konterte sie. »Ich hab mir nie was aus Blumen gemacht und spannende Krimis gefallen mir tausendmal besser als romantische Schnulzen. Wenn du clever wärst, wüsstest du, dass man mir die größte Freude mit Schokolade macht, aber was soll’s? Das mit uns beiden war ein Fehler, und es lag bestimmt nicht an Blumen oder Filmen. Du wolltest mit mir rummachen, so, wie du am liebsten mit allen rummachen würdest, das ist alles. Du hältst dich für den Größten und meinst, je mehr Mädchen du anmachst, desto cooler bist du. Nicht bei mir, Andy.«

»Du kannst mich doch nicht einfach so stehen lassen.«

»Und ob ich das kann, mein Lieber. Ich weiß, das bist du nicht gewohnt, und wie ich sehe, schwirrt längst schon wieder eine Cheerleaderin um dich rum. Du hast mich nie geliebt, Andy, du magst mich wahrscheinlich nicht mal. Es geht nur nicht in deinen Kopf, dass ein Mädchen auch Nein sagen kann.« Sie hatte sich wieder mal in Rage geredet, eine Angewohnheit, die ihr selbst zu schaffen machte. »Komm endlich mal runter, Andy! Du wirst weder ein Quarterback in der NFL noch wirst du jemals genug Geld für eine Corvette besitzen. Irgendwann bist du zu alt für hübsche Cheerleaderinnen und dann stehst du allein da. Also verschone mich mit deiner Anmache. Ich hab kein Interesse, kapiert?« Sie stieg auf die Kufen und feuerte die Huskys an. »Außerdem ziehe ich sowieso aus Dease Lake weg. In ein paar Tagen schon.«

»Du gehst weg? Wieso denn?« Er war echt überrascht.

»Weil ich dringend mal hier rausmuss«, hatte sie das letzte Wort. Sie steuerte den Schlitten an ihm vorbei und ließ ihn wie einen dummen Schuljungen stehen. Sie drehte sich nicht einmal nach ihm um, der Beweis dafür, wie gleichgültig er ihr geworden war. Vier Monate waren sie zusammen gewesen, viel zu lange, wie sie inzwischen wusste. Mit etwas mehr Selbstbewusstsein hätte sie früher mit ihm Schluss gemacht, nach zwei Wochen, um genau zu sein. Da hatte er vor seinen Freunden mit ihr angegeben und sie »Kleines« und »Baby« genannt. Sie war wohl auf die bewundernden und neidischen Blicke der Cheerleaderinnen hereingefallen.

Mit dem eisigen Fahrtwind im Gesicht beruhigte sich Cheryl wieder. Natürlich hätte sie sich ihren Vortrag auch ganz sparen können, aber Andy war inzwischen zum roten Tuch für sie geworden, und sie konnte einfach nicht anders. Sie mochte keine Wichtigtuer. Bevor sie auf einen Jungen wie ihn hereinfiel, würde sie lieber allein bleiben. Dating um jeden Preis gehörte auf die Highschool, wo sich auch viele Mädchen zu wichtig nahmen und glaubten, sie wären was Besseres, wenn sie das Footballteam in knappen Kostümen anfeuern durften. Wo waren sie denn, die Cheerleaderinnen von früher? Als Model oder Schauspielerin hatte es keine geschafft, trotz der vollmundigen Ankündigungen. Eine hatte beim »Bachelor« mitgemacht und war schon in der ersten Runde rausgeflogen. Die beiden Wortführerinnen der Cheerleaderinnen hatten Langweiler aus Watson Lake geheiratet und arbeiteten in einem Supermarkt.

Cheryl wollte nicht genauso enden. Ihr Leben fing doch erst an und es gab noch so viel zu entdecken. Sie würde einen Winter in Dawson City arbeiten und anschließend aufs College in Prince George gehen. Tierärztin war ihr Traumberuf. Sie konnte gut mit Tieren umgehen, besonders mit Huskys, und würde vielleicht nach Vancouver oder Victoria ziehen, als Tierärztin oder Husky-Züchterin oder beides. Die Großstadt reizte sie, und wenn sie genug davon hatte, musste sie in beiden Städten nur ein paar Kilometer zurücklegen.

In der Ferne tauchte die Stadt auf. Verglichen mit Vancouver war Dease Lake nur ein winziges Nest, nicht viel größer als Telegraph Creek, aber wesentlich lebendiger. Besonders im Sommer wimmelte es dort von Urlaubern, die sich auf dem Weg zum Alaska Highway mit Vorräten eindeckten. Im Winter bevölkerten nur einige Hundert Einwohner und Wintersportler die Stadt.

Cheryl winkte ein paar Leuten zu, die sie kannte, und fuhr parallel zur Hauptstraße aus der Stadt. Der Laden und die Tankstelle ihrer Eltern lagen einige Meilen weiter nördlich am Ufer des Dease Lake, der jetzt im November schon fest gefroren war. Der Trail verlief parallel zum Stewart-Cassiar Highway, der legendären Wildnisstraße im Hinterland der unzugänglichen Coast Mountains. Sie führte weiter nach Watson Lake und mündete dort in den Alaska Highway. In der trüben Abenddämmerung hob sich der See wie ein riesiges blasses Tuch gegen die dunklen Schwarzfichten und die Berge ab.

Ein bisschen mulmig war Cheryl doch zumute, als sie das Blockhaus ihrer Eltern erreichte. Im vorderen Teil des zweistöckigen Gebäudes war ihr Souvenir- und Angelladen untergebracht, darüber lag die Wohnung ihrer Eltern. Ihr Zimmer befand sich in einem kleinen Anbau. Die Tankstelle bestand aus zwei altmodischen Zapfsäulen, an denen man noch nicht mit Kreditkarten bezahlen konnte. Die Neonlichter der Tankstelle und im Schaufenster des Ladens leuchteten in allen Regenbogenfarben. Nicht besonders geschmackvoll, fand sie, aber so, wie es die meisten Leute im kanadischen Busch erwarteten. Über den Außenlautsprecher drang ein Countrysong aus den Fifties nach draußen.

»Whoaa!«, bremste sie das Gespann. Sie sprang vom Schlitten und kümmerte sich wie immer zuerst um ihre Hunde, spannte sie aus und band sie vor ihren Hütten neben dem Anbau an. »Das habt ihr gut gemacht«, lobte sie ihr Gespann. Sie hatte für jeden ihrer Huskys einen liebevollen Klaps übrig und kraulte Snowball zwischen den Ohren. »Wenn wir so weitermachen, können wir doch noch irgendwann beim Yukon Quest mitmachen.« Sie kicherte leise. »Wenn ich nach dem College nicht schon alt und grau bin, man weiß ja nie.«

Sie träumte schon seit Jahren davon, an dem Rennen teilzunehmen, bezweifelte aber, während der nächsten Jahre genug Zeit zum Trainieren zu haben. Ihr Studium würde ihr sicher einen Strich durch die Rechnung machen. Wer sich auf die 1600 Kilometer von Whitehorse nach Fairbanks wagte, musste in Topform sein und ein erstklassiges Gespann vor dem Schlitten haben. Sie hatte an einem kleineren Rennen im letzten Winter teilgenommen und hinter einem indianischen Musher einen ehrenvollen zweiten Platz erreicht, aber das war mit dem mörderischen Yukon Quest nicht zu vergleichen.

»Mom! Dad!«, rief sie, als sie das Haus durch den Vorraum der Küche betrat. Beide Waschmaschinen waren in Betrieb und verursachten den üblichen Lärm. Sie öffnete die Küchentür und sah ihre Mutter am Herd stehen. »Ich füttere nur schnell die Hunde, dann helfe ich dir. Ich bin gleich wieder hier.«

Das Hundefutter lag in Säcken und Eimern unter einem Regal im Vorraum. An einem harten Trainingstag wie heute bekamen sie ein besonders leckeres Mahl aus feuchtem Reis und gekochten Lachsstücken. Die Huskys wussten, was sie erwartete, und jaulten bereits aufgeregt, als sie mit dem Eimer nach draußen trat und ihre Näpfe füllte. Snowball war wie immer als Erster dran. Als Leithund genoss er gewisse Vorrechte, dafür wurde er unterwegs auch am meisten gefordert. »Das schmeckt, was? Ihr habt es euch verdient.«

Sie ging in ihren Anbau und zog ihre Winterkleidung aus, nahm eine heiße Dusche und kehrte im Trainingsanzug ins Haus zurück. »Hey, Dad!«, rief sie ihrem Vater im Laden zu. Er räumte bereits zusammen und freute sich bestimmt schon aufs Abendessen. Es duftete nach Hackbraten, seiner Lieblingsspeise. »Die Huskys sind in Bestform. Wenn sie so weitermachen, kann ich doch noch mal am Yukon Quest teilnehmen. Oder am Iditarod in Alaska.«

»Warte nicht zu lange«, rief ihr Vater zurück. »Wenn du erst mal über zwanzig bist, wird es schwerer.« Er wusste, wovon er sprach. Als junger Mann hatte er zweimal am Yukon Quest teilgenommen und war beide Male unter die Top Twenty gekommen. »Die Musher werden jedes Jahr jünger.«

Sie half ihrer Mutter beim Tischdecken und schenkte ihren Eltern Kaffee ein. Beide tranken für ihr Leben gern Kaffee, auch abends, allerdings koffeinfrei und so schwach gebraut, dass er ihnen nicht die Nachtruhe raubte. Sie zog heißen Tee vor. »Ist irgendwas?«, fragte ihre Mutter neugierig.

»Nein, wieso?«, fragte sie scheinbar unschuldig.

»Du hast doch irgendwas, Cheryl. Hattest du Ärger mit Andy?«

»Wie kommst du denn darauf?«

»Er war heute Mittag hier und hat nach dir gefragt«, sagte ihre Mutter.

Cheryl nickte schwach. »Er hat mich auf der Straße nach Telegraph Creek abgepasst und wollte wohl, dass ich mich wieder mit ihm einlasse. Ich hab ihm die Meinung gesagt. Dass er ein Macho ist und nur nicht ertragen kann, dass ein Mädchen mal ihn verlassen hat. Er hat doch Suze.«

»Die Cheerleaderin?«

»Genau die.«

Beim Essen schwieg Cheryl lange genug, um auch ihren Vater misstrauisch zu machen. »Ist irgendetwas nicht in Ordnung?«, fragte er. »Du siehst aus, als hätte man dir deinen ganzen Schokoladenvorrat weggenommen.«

»Nun ja«, begann sie und stocherte verlegen in ihrem Gemüse herum. »Es ist nur … ich muss euch etwas Wichtiges sagen. Eigentlich hätte ich das schon vor einigen Wochen tun sollen, aber … Ich hoffe, ihr seid nicht allzu sauer.«

»Du willst doch nicht etwa das College schmeißen?«, fragte ihr Vater. Das Lächeln war ihm plötzlich vergangen. »Es war nicht einfach, das Geld dafür zusammenzubekommen. Zu unseren Zeiten reichte noch die Highschool, aber heute braucht man für alles einen College-Abschluss.«

»Das weiß ich doch, Dad«, beruhigte sie ihn. »Ich fange im nächsten Sommer mit dem College an. Ich hab mich längst angemeldet, das weißt du doch. Ich will Tierärztin werden, dafür braucht man unbedingt den Master.«

»Na, Gott sei Dank. Was hast du dann? Ärger?«

Cheryl wollte ihren Vater nicht weiter raten lassen und rückte mit der Wahrheit heraus. »Ich fahre übermorgen nach Dawson City. Mit den Hunden und dem Schlitten, wenn ihr nichts dagegen habt. Eine Firma hat mir angeboten, als Guide für sie zu arbeiten. Dog sledding Adventures, die veranstalten Touren für Touristen. Der Besitzer war bei dem Rennen neulich und meinte, er könnte eine Frau im Team gebrauchen. Sie bezahlen gut und ich kann den ganzen Winter über bei ihnen bleiben. Ich hab immer davon geträumt, mal länger mit den Hunden arbeiten zu können, und auf dem College macht sich das sicher auch gut, wenn ich praktische Erfahrung mit Huskys sammle.« Sie wagte kaum, ihre Eltern anzusehen. »Ich hätte es euch früher sagen sollen.«

Ihr Vater brauchte einige Zeit, um die Neuigkeiten zu verarbeiten. Er kaute lange auf einem Bissen herum und spülte ihn mit einem Schluck Kaffee hinunter, bevor er sagte: »Und das College? Du verlierst beinahe ein Jahr, wenn du den Winter in Dawson rumtrödelst. Ist dieser Ferienjob das denn wirklich wert?«

»Es ist nicht nur ein Job«, erwiderte sie. »Es ist richtige Arbeit mit allem Drum und Dran. Ich werde sogar versichert sein. Dog sledding Adventures ist eine erfolgreiche Firma. Sie haben einen Spot im Fernsehen laufen.«

»Das heißt gar nichts.«

»Und es gibt einen Tierarzt in ihrem Team, einen sehr erfolgreichen, der auch beim Yukon Quest im Einsatz ist. Von ihm kann ich bestimmt eine Menge lernen. Praktische Erfahrung schadet nichts, schon gar nicht auf dem College. Es macht sich immer gut, wenn man Beispiele aus der Praxis in seine Arbeiten einbauen kann. Die meisten Seminararbeiten lesen sich viel zu trocken. Und wenn ich Glück habe, bekomme ich dann sogar eine bessere Note.«

»Willst du wirklich Tierärztin werden?« Ihr Vater hatte sich einigermaßen von seiner Überraschung erholt und seine Stimme hatte wieder einen ruhigen Klang. Vom Essen ließ er sich nicht abhalten. Er sprach mit vollem Mund, etwas, was er sonst strikt ablehnte. »Dafür musst du bestimmt viel pauken.«

»Ich pauke gern, wenn es mir im Beruf hilft.«

»Das weiß ich.« Ihr Vater schien ihr mit seinem Kaffeebecher zuzuprosten. »Auf der Highschool warst du eine der Besten. Eine gute Note war dir immer wichtiger als dieser ganze Cheerleader-Hype. Ich bin sicher, für einige warst du sogar eine Streberin.« Er lächelte jetzt sogar. »Und du magst Huskys. Wenn du im Norden bleibst, was ich doch annehme, wirst du hauptsächlich mit Huskys zu tun haben, auch wenn kaum noch jemand mit dem Hundeschlitten fährt. Aber wie verlässlich Snowmobile sind, sehen wir ja an den Dingern, die jeden Winter schlappmachen. Wenn ich unser Snowmobil nicht alle paar Monate zur Inspektion bringen würde, könnten wir einpacken.«

Cheryl hütete sich, ihm zu sagen, dass sie auch daran dachte, in eine Großstadt wie Vancouver oder Victoria zu ziehen, und es dann mit ebenso vielen Schäferhunden, Dackeln und Schoßhündchen zu tun haben würde. Dafür war noch genug Zeit, wenn sie auf dem College war. »Ihr habt doch nichts dagegen, wenn ich den Schlitten und die Huskys mit nach Dawson City nehme?«

»Natürlich nicht.«

Sie trank von ihrem inzwischen lauwarmen Tee. »Wer weiß? Vielleicht werde ich ja Tierärztin und Huskyzüchterin. Wenn ich’s nicht zum Yukon Quest oder Iditarod schaffe, könnte ich wenigstens die Siegerhunde züchten. Einer wie Snowball würde nicht nur bei den Mushern viel Geld bringen.«

»Snowball ist unverkäuflich.«

Sie lächelte. »Das weiß ich doch. Die besten Hunde würde ich sowieso selbst behalten oder nur an wirklich gute Freunde verkaufen. Snowball soll bei euch alt werden. Er hat sich sein Rentnerdasein redlich verdient. Zum Glück dauert es noch ein paar Jahre, bis er sich aufs Altenteil zurückzieht.«

»Und du willst wirklich den ganzen Winter da oben bleiben?«, fragte ihre Mutter. Sie hatte bisher schweigend zugehört und wirkte nachdenklich. »Übermorgen schon? Du hättest uns ruhig etwas eher Bescheid geben können.«

»Ich weiß, Mom. Tut mir leid.«

Ihre Mutter hatte das halbe Essen stehen lassen. »Schon gut. Du weißt, dass ich nicht zu den Müttern gehöre, die sich an ihre Kinder klammern und sie am liebsten ihr ganzes Leben im Haus hätten. Nun ja, vielleicht ein bisschen. Aber ich sehe natürlich ein, dass du unser Nest irgendwann verlassen und etwas Eigenes auf die Beine stellen musst. Es wird allerdings etwas dauern, bis ich mich daran gewöhnt habe, dass wir nur noch zu zweit sind.« Sie hielt den Kaffeebecher in beiden Händen, die Ellbogen auf den Tisch gestützt. »Willst du denn über Weihnachten auch in Dawson bleiben? Dein Bruder und seine Freundin wollen doch kommen.« Bobby und Sophie wohnten in Whitehorse.

»Ich fürchte, ich komme weder an Weihnachten noch an Neujahr dort weg. Da soll immer am meisten los sein.« Sie legte ihrer Mutter eine Hand auf die Schulter. »Warum fliegt ihr nicht nach Hawaii? Da wolltet ihr doch schon seit Jahren hin und genug Geld dürftet ihr auch angespart haben.«

»Wir können den Laden doch nicht zumachen.«

»Wegen der paar Kunden, die sich im Winter zu euch verirren?«

»Cheryl hat recht«, mischte sich ihr Vater ein, »wenn wir bis zur goldenen Hochzeit warten wollen, kommen wir vielleicht nie hin. Was steht auf manchen Wohnmobilen, die bei uns halten? Wir verprassen das Erbe unserer Kinder. Cheryl hat bestimmt nichts dagegen, wenn wir uns mal etwas gönnen.«

»Ich komme auch allein zurecht.«

»Und der Laden? Willst du den auch nicht übernehmen?«

Cheryl schüttelte den Kopf. »Daran verschwende ich keinen Gedanken, Mom. Ihr seid gesund und munter, und bis ihr euch ins Altersheim einliefern lasst, bin ich selbst alt und grau. Ich hab lange genug hier gearbeitet. Jetzt muss ich mir den Wind um die Nase wehen lassen. Wie eine junge Löwin in Afrika. Die muss auch allein zurechtkommen, wenn sie zu jagen gelernt hat.«

»Und das hat nichts mit Andy zu tun?«

Sie wischte sich den Mund ab und knüllte die Papierserviette zusammen. »Ich würde auch nach Dawson gehen, wenn wir uns nie getroffen hätten. Klar bin ich froh, diesen Kerl nicht mehr sehen zu müssen, aber ich laufe nicht vor ihm davon. Mit so jemandem kann ich es jederzeit aufnehmen.«

»Oder hast du etwa jemand aus Dawson kennengelernt?«

»Meinen neuen Chef«, räumte sie ein. »Er ist ein paar Jahre älter als ich und genauso von sich eingenommen wie Andy. Aber er ist mein Chef. Von Männern hab ich sowieso erst mal die Nase voll. Wenn ich was erreichen will, kann ich mir keine Ablenkung erlauben, jedenfalls nicht mit einem Nervtöter wie Andy. Dass ich nach Dawson gehe, hat nur was mit dem Job zu tun.«

Ihre Mutter nickte zaghaft. »Vielleicht hast du recht. Hawaii wäre wirklich mal schön, und so teuer, wie ich dachte, ist es gar nicht. Wir könnten uns sogar eine kleine Kreuzfahrt leisten.« Sie dachte eine Weile darüber nach und begann, das Geschirr abzuräumen. »Hast du denn schon eine Wohnung da oben?«

»Die stellt die Firma. Der Chef besitzt einige Blockhäuser.«

»Und du kannst da kochen und waschen?«

»Ist alles drin. Küche, Waschmaschine und was man sonst noch so braucht.«

Ihre Mutter war noch immer nicht zufrieden. »Bist du dir denn vollkommen sicher, dass diese Arbeit das Richtige für dich ist? Soweit ich mich erinnere, waren wir erst einmal in Dawson City, und das ist drei Jahre her. Musst du denn die Gegend nicht genau kennen, wenn du mit Urlaubern durch die Wildnis fährst?«

»Keine Angst, Mom. Die Trails sind alle markiert, und die ersten paarmal ist entweder der Chef oder einer der anderen Musher dabei.« Sie half ihrer Mutter beim Abräumen. Ihr Vater braute inzwischen neuen Kaffee. »Außerdem kenne ich schon ein paar von den Trails, zumindest die Etappen des Yukon Quest. Dad und ich sind sie damals abgefahren, weißt du noch?«

Ihr Vater drehte sich zu ihnen um. »Und ob. Die Etappe vor Dawson ist eine der schwierigsten auf dem ganzen Trail. Hätte ich die beiden Male, als ich beim Yukon Quest mitfuhr, nicht so einen guten Leithund gehabt, wäre ich wohl kaum unter die ersten zwanzig gekommen.« Seine Miene entspannte sich, als er daran dachte. »Ich habe dir einige Trails in Dawson oben gezeigt.«

»Während ich im Hotel versauert bin«, beklagte sich ihre Mutter.

»Während du mit deinen Freundinnen in der Buchhandlung über Krimis diskutiert und englische Kekse geknabbert hast«, stellte ihr Vater grinsend richtig. »Und danach wart ihr im Gold Dust Café und hattet schon ordentlich einen in der Krone, als Cheryl und ich von unserem Ausflug zurückkamen.«

Auch ihre Mutter grinste. »Da verwechselst du wohl was.«

»Ich komme schon zurecht«, beruhigte Cheryl ihre Eltern.

»Hast du denn genug gespart?«, fragte ihr Vater, während Cheryl und ihre Mutter die Essensreste in einer Schüssel in den Kühlschrank und das schmutzige Geschirr in die Spülmaschine stellten. »Einen kleinen Betrag können wir beisteuern, aber das Leben ist teuer, und du bekommst noch keinen Lohn.«

»Ich hab genug gespart, Dad. Ich bin schon zufrieden, wenn ich den Pick-up, die Hunde und den Schlitten mitnehmen darf. Wenn ich erst mal meinen Lohn habe, brauche ich kaum was. Der Lohn kann sich sehen lassen.«

»Kein Problem«, erwiderte ihr Vater. »Das kommt zwar alles etwas überraschend, aber wir wollen dir keine Steine in den Weg legen. Lass uns morgen ein paar Elchsteaks braten und deinen neuen Job feiern. Ich glaube, wir haben sogar noch eine Flasche Champagner in der Vorratskammer.«

»Mir reicht schon ein Glas Limonade«, erwiderte Cheryl lachend.

An diesem Abend ging sie früh zu Bett. Die Fahrt über die Telegraph Creek Road war anstrengend gewesen und sie wollte nach dem intensiven Training der vergangenen Tage mal wieder richtig ausschlafen. Sogar zum Lesen war sie zu müde. Der neue Krimi von Tess Gerritsen, den sie vor einer Woche bestellt hatte, lag noch unberührt auf ihrem Nachttisch, neben ihrem mechanischen Mickey-Mouse-Wecker mit den schwarzen Ohren und der Flasche Wasser, die sie sich jeden Abend mit in ihr Zimmer nahm. Der Fernseher, den sie über ihrem Schreibtisch an der Wand hängen hatte, blieb dunkel. Für langweilige Serien, »Rizzoli & Isles« mal ausgenommen, lohnte es sich nicht aufzubleiben. Und für Reality- und Castingshows erst recht nicht.

Vor ihrem Fenster jaulten die Huskys. Sie waren so laut, dass man sie selbst durch das geschlossene Fenster hörte. Gleich darauf dröhnte der Motor eines Trucks durch die Dunkelheit. Sie sprang aus dem Bett und lief zum Fenster. Durch die angefrorenen Scheiben beobachtete sie, wie ein schwerer Sattelschlepper bremste und vor den Zapfsäulen hielt. Normalerweise waren der Laden und die Tankstelle ihrer Eltern bis zwanzig Uhr geöffnet, aber wenn der Fahrer etwas vergessen hatte oder Hilfe brauchte, machten ihre Eltern gern eine Ausnahme. In der Wildnis war einer auf den anderen angewiesen.

Sie schlüpfte rasch in ihren Trainingsanzug und die Hausschuhe und lief an einem der beiden Gästezimmer vorbei ins Haus. Falls ihre Eltern schon schliefen, würde sie den Kunden übernehmen. Doch als sie den Laden betrat, waren beide da, und ihr Vater griff bereits nach seinem Anorak, der hinter der Kasse an einem Haken hing. Wie Cheryl und ihre Mutter hatte er seinen Trainingsanzug angezogen. »Und ich dachte, ich könnte heute mal früh schlafen gehen«, schimpfte er leise. Er ging zur Tür. »Geht ruhig wieder schlafen. Wegen eines Truckers brauchen wir doch nicht in Regimentsstärke anzurücken.«

Dass beide blieben, lag an dem Truck Driver, der nur hielt, um einen jungen Mann aussteigen zu lassen, ihm etwas zurief, das sie nicht verstanden, und sofort weiterfuhr. Das Dröhnen des starken Motors erfüllte die Luft, als er seinen Sattelschlepper auf die Straße lenkte und weiter nach Norden fuhr.

»Träum ich, oder ist da gerade ein Anhalter ausgestiegen?«, fragte Cheryl erstaunt. Sie trat neben ihren Vater und blickte durch die verglaste Tür nach draußen. Vor den Zapfsäulen stand ein junger Mann. So viel ließ sich in dem trüben Licht erkennen. Er trug gefütterte Hosen, einen pelzbesetzten Anorak, eine Wollmütze und hatte einen Rucksack und eine Gitarre umhängen.

Obwohl sie seine Augen nicht erkennen konnte, spürte Cheryl, wie zurückhaltend der junge Mann war. Er überlegte anscheinend einige Zeit, ob er es wagen konnte, den Laden zu betreten, und fühlte sich wohl nur ermutigt, weil ihr Vater das Licht eingeschaltet hatte und bereits dabei war, die Tür zu öffnen.

»Entschuldigen Sie die Störung«, sagte er. »Ich wollte Sie nicht wecken. Joe … dem Fahrer fiel leider jetzt erst ein, dass er auf dem nächsten Rastplatz übernachten würde, sonst wäre ich schon in der Stadt ausgestiegen. Ich nehme an, ihm sind die Muntermacher ausgegangen. Darf ich reinkommen?«

»Sicher«, sagte Cheryls Vater und hielt ihm die Tür auf.

Der junge Mann betrat den Laden und stellte seinen Rucksack und die Gitarre ab. »Rick Johnson«, stellte er sich vor. Er nickte Cheryl und ihrer Mutter zu. »Ma’am … Miss.« Er sprach im breiten Dialekt der Texaner. »Ich komme aus Williams Lake, das heißt, eigentlich stamme ich aus Fort Worth in Texas, aber meine Mutter hat einen Kanadier geheiratet, und ich lebe schon seit einigen Jahren hier. Ich habe auf einer Guest Ranch gejobbt. Bis es im Mai wieder losgeht …« Er schien nicht zu wissen, was er sagen sollte, und zögerte lange. »Ich fahre rum und sehe mir das Land an.«

»Paul Robinson«, erwiderte Cheryls Vater. »Meine Frau Maggie und meine Tochter Cheryl.« Er grinste. »Ich dachte, Trampen wäre längst aus der Mode. Die meisten jungen Männer, die bei uns haltmachen, kommen mit dem Bus oder fahren einen Pick-up.« Er blickte Rick forschend an. »Und Sie ziehen ziellos durchs Land, so wie wir früher? Sehen sich die Gegend an?« Er blickte seine Frau an. »Maggie und ich haben uns auf einem solchen Trip kennengelernt. Weißt du noch, Maggie? In einem kleinen Kaff am Trans-Canada-Highway. Wir halfen beide bei einem Farmer aus und fuhren gemeinsam nach Regina zu einem Konzert der Eagles weiter. Waren tolle Zeiten.« Er schloss die Tür ab. »Ich nehme an, Sie suchen eine Bleibe. Wir hätten ein Gästezimmer für Sie. Nichts Besonderes, aber für eine Nacht ist es okay.«

»Ich bin nicht wählerisch, Sir. Und ich zahle natürlich dafür.«

»Das ist schon okay«, warf Cheryls Mutter ein. »Ziehen Sie erst mal Ihren Anorak und die Stiefel aus und kommen Sie mit ins Wohnzimmer. Sie haben doch sicher nichts gegen ein Sandwich und einen heißen Tee einzuwenden. Oder wie wär’s mit Kaffee oder Kakao? Haben wir alles im Haus.«

»Kakao wäre toll.«

»Ich mach das schon«, erklärte Cheryl bereitwillig. Sie lächelte Rick zu und war froh, in die Küche zu entkommen, aus Angst, der junge Mann oder ihre Eltern könnten merken, wie sie rot wurde. »Es dauert ein paar Minuten. Wir haben Käse und Schinken für das Sandwich da. Und Gurken.«

»Was immer Sie haben«, erwiderte Rick dankbar.

In der Küche blieb Cheryl stehen und atmete erst mal tief durch. Der junge Mann hatte sie verwirrt. Ausgerechnet sie, die vor wenigen Stunden noch geschworen hatte, sich von keinem Mann mehr anquatschen zu lassen, zumindest für die nächsten Wochen. Oder Monate. Warum ausgerechnet dieser Tramper sie so aus der Ruhe brachte, wusste sie nicht. Sportlich war er wohl, und wenn seine zurückhaltende Art keine Masche war, traf er bei ihr damit genau ins Schwarze. Er war keiner dieser Hollywood-Schönlinge, trug weder angesagte Kleidung noch sein Haar nach der letzten Mode frisiert. Ein Durchschnittstyp, sollte man meinen, aber als sie seinen Blick erwidert und in seine Augen gesehen hatte, war sie für einen Moment wie gebannt gewesen, als hätte der junge Mann sie mit einem Zauberstab berührt.

Während das Wasser für den Kakao kochte, belegte sie das Sandwich. Den Kakao garnierte sie mit Marshmallows, die hatten ihr früher auch geschmeckt. Inzwischen trank sie lieber Tee. Sie trug beides ins Wohnzimmer und erntete einen dankbaren Blick. »Ich dachte, so schmeckt er noch besser.«

»Marshmallows … wie an Weihnachten«, freute er sich.

Rick aß mit großem Appetit, wirkte aber seltsam nachdenklich, wenn er sich unbeobachtet glaubte. Cheryl merkte, dass er länger als nötig auf einem Bissen kaute und gedanklich woanders zu sein schien. »So guten Kakao hab ich schon lange nicht mehr getrunken«, sagte er wohl auch, um nicht trübsinnig zu wirken. »Genau das Richtige nach einer langen Fahrt.« Er hielt in der Bewegung inne. »Ich störe Sie doch nicht?«

»Nein, nein … das ist schon okay«, sagte Paul Robinson.

Cheryl setzte sich dem jungen Mann schräg gegenüber und gab sich große Mühe, kein zu großes Interesse an ihm zu zeigen. Es lohnte sich nicht. Nach dem Frühstück am nächsten Morgen würde er weiterziehen und für immer aus ihrem Leben verschwinden. Die zufällige Begegnung zweier Menschen, die sich vielleicht sympathisch fanden, aber kaum Zeit hatten, einander kennenzulernen.

»Wollen Sie in den Yukon hoch?«, fragte Maggie Robinson.

»Vielleicht«, antwortete Rick, ohne sie direkt anzublicken. Es klang beinahe so, als versuchte er, ihrer Frage auszuweichen. »Ich lasse es einfach auf mich zukommen.« Er blickte gedankenverloren in seinen Becher und schwieg eine Weile. »Vielleicht werde ich dort auf einer Ranch oder Lodge anheuern.«

»Und die Gitarre?«

»Die gehört zum Inventar.« Seine nachdenkliche Stimmung schwand und er bemühte sich sichtlich um gute Laune. »Auf einer Guest Ranch erwarten die Besucher, dass die Cowboys am Lagerfeuer singen.« Er zog die Gitarre aus der Hülle und schlug ein paar Akkorde. »Die Leute sagen, ich singe wie Ian Tyson, als er noch jung war. Kennen Sie Ian Tyson? Er war Rancher …«

»Ob wir Ian Tyson kennen?« Cheryls Vater war plötzlich hellwach. »Er war eines unserer Idole. Ein toller Sänger, den wir beide sehr verehren. Schade, dass er im Alter seine Stimme verloren hat.« Er blickte Rick hoffnungsvoll an. »Sind Sie noch munter? Ich meine … könnten Sie uns einen seiner Songs singen? ›Navajo Rug‹, ›Alberta Rain‹… ach was, suchen Sie sich einen aus!«

Rick brauchte nicht lange nachzudenken, um einen Song zu finden. Keinen der schmissigen Countrysongs, eher eine nachdenkliche Ballade über das Ende eines Rodeos. »So burn all the blankets and dry all the tears, we can always go further out west and I’ll meet you out there in the vastness somewhere. I swear it but first I must rest. Also verbrennt alle Decken und trocknet die Tränen, wir können immer noch weiter nach Westen gehen und uns irgendwo in der Weite treffen. Das schwöre ich, aber zuerst muss ich mich ausruhen.«

Das traurige Lied verfolgte Cheryl bis in den Schlaf. Sie hatte Tränen in den Augen, als sie einschlief und von einem Rodeoreiter träumte, der seine Liebste im Stich ließ, um im fernen Norden nach neuen Abenteuern zu suchen.

Ungefähr eine Stunde vor Sonnenaufgang schreckte Cheryl aus dem Schlaf. Durch das Fenster konnte sie sehen, wie ein Sattelschlepper an der Tankstelle vorfuhr und mit quietschenden Bremsen zum Stehen kam. Die Fahrertür ging auf, und ein Mann rief: »Hey, Paul! Bist du schon wach? In Dease Lake war alles dunkel und ich brauche dringend Diesel. Tu mir den Gefallen, Paul!«

Cheryl erkannte die Stimme auf Anhieb. Es war Randy Wagner, ein Trucker aus Prince George, der alle paar Tage in Dease Lake vorbeikam und schon öfter bei ihnen getankt hatte. Weil sie annahm, dass ihre Eltern noch schliefen, schlüpfte sie rasch in ihren Trainingsanzug und öffnete die Tür, aber ihr Vater war bereits angezogen und schon in den Laden unterwegs. »Randy!«, begrüßte er den Fahrer, einen bulligen Mann in seinem Alter. »Seit wann hast du’s denn so eilig? Komm doch erst mal rein! Wie wär’s mit einem Kaffee? Wenn du willst, hau ich noch zwei Eier und ein Hacksteak für dich in die Pfanne.«

»Klingt verlockend, aber ich hab leider keine Zeit.« Er deutete auf seinen Truck. »Terminfracht für Watson Lake. Wenn ich zu spät komme, geben sie den nächsten Auftrag einem anderen. Aber du könntest mir den Kaffee in meine Thermoskanne füllen.« Er reichte ihm die Kanne und zog seine Tankkarte aus der Brusttasche. »Ich hoffe, du hast noch genug Diesel für mich.«

»Für dich immer«, antwortete Cheryls Vater. Er entsperrte die Tanksäule und verschwand in der Küche, um die Thermoskanne zu füllen. Als er in den Wohnraum zurückkehrte, sah er Cheryl in der offenen Tür stehen. »Cheryl, haben wir dich geweckt? Leg dich wieder hin. Ich komme schon klar hier.«

Cheryl lächelte. »Du stehst als Erster auf und gehst als Letzter schlafen. Manchmal glaube ich, du schläfst überhaupt nicht mehr. Ich helfe dir, Dad.«

Sie schlüpfte in ihren Anorak und nahm ihrem Vater die Kanne ab. Fest entschlossen, ihm nicht die ganze Arbeit aufzubürden, brachte sie Randy die Thermoskanne nach draußen. »Hi, Randy«, begrüßte sie den Fahrer, der gerade um seinen Truck herumlief und vor allem die Reifen checkte. Manchmal verfingen sich Eisbrocken in den Profilen. »Ich hab gehört, du hast es eilig.« Sie kletterte ins Fahrerhaus und verstaute die Thermoskanne in der Halterung.

»Terminfracht«, sagte er nur.

Cheryl war bereits auf dem Rückweg in den Laden, als Rick mit Rucksack und Gitarre ins Freie kam. Er machte nicht den frischsten Eindruck und seine Haare standen nach allen Seiten ab. Anscheinend war er erst vor wenigen Minuten aus dem Bett gekrochen. »Tut mir leid, wenn ich Sie überfalle«, sagte er zu Randy, »aber ich habe mitbekommen, dass Sie nach Watson Lake fahren. Da will ich auch hin. Würden Sie mich mitnehmen?«

»Er mag Ian Tyson. Er ist ein guter Junge«, rief Paul Robinson.

»Na, meinetwegen«, ließ sich der Trucker breitschlagen. »Aber ich werde nirgendwo anhalten, nicht mal zum Pinkeln. Kommst du damit klar, Junge?«

»Sicher«, erwiderte Rick.

Cheryl lächelte dem jungen Mann schüchtern zu. Sie schämte sich für ihr schlampiges Aussehen, ihren Jogging-Anzug und ihre Haare, die sie lediglich mit einem Gummi zusammengebunden hatte. Obwohl ihr klar war, dass sie Rick niemals wiedersehen würde, hätte sie sich gern hübscher zurechtgemacht, warum auch immer. Dass er noch viel schlampiger und unausgeschlafener aussah, kam ihr gar nicht in den Sinn. »Ziemlich frostig heute Morgen, nicht wahr?«, sagte sie unsinnigerweise, als er in ihre Richtung blickte.

Ihr fiel ein, dass er sicher Hunger hatte, und sie wollte schon ins Haus laufen und etwas Proviant holen, als ihre Mutter mit einer Tüte und einem verschließbaren Pappbecher aus dem Laden trat. »Damit Sie unterwegs nicht verhungern«, sagte sie und reichte ihm den Proviant. »Alles Gute für Sie, okay?«

»Danke, Ma’am«, erwiderte er höflich.

Gleich darauf bemerkte sie, wie er sich wieder ihr zuwandte. Sie hatte das Gefühl, dass er ihr irgendetwas sagen wollte, etwas Nettes, wenn sie sein Lächeln richtig deutete, und auch sie verspürte plötzlich den Drang, sich herzlich von ihm zu verabschieden und ihm Glück zu wünschen. Doch als sie seinen Blick fühlte, fiel ihr nichts ein, und sie sagte nur: »Gute Fahrt, Rick!«

Sie blickte dem Truck nach, bis er in der Ferne verschwunden war, und kehrte nachdenklich ins Haus zurück. Sie wurde aus sich selbst nicht schlau. Gestern noch, nach ihrer Begegnung mit Andy, hatte sie sich geschworen, so lange wie möglich keinen Mann mehr anzusehen, und nur einen Tag später kreuzte ein junger Kerl ihren Weg, wechselte ein paar belanglose Worte mit ihr, und sie benahm sich plötzlich wie ein Schulmädchen, das zum ersten Mal für einen Jungen schwärmte. Ach was, rief sie sich zur Ordnung, das bilde ich mir doch alles nur ein. Ich sollte mich lieber auf meinen Job konzentrieren.

Doch ihr Vater war ihr bereits auf die Spur gekommen. »Der junge Mann gefällt dir, was?«, sagte er, als sie beim Frühstück zusammensaßen. Es gab Rührei mit Schinken und Toast mit Marmelade, dazu heißen Tee mit Honig.

»Rick? Er ist ein guter Sänger.«

»Aber das ist nicht alles, oder?«

»Nun ja«, wich sie aus, »er ist netter als Andy und sieht auch besser aus, aber das heißt nichts. So ziemlich jeder Junge, der hier vorbeikommt, ist netter als Andy. Als ich mit ihm ausgegangen bin, muss ich blind gewesen sein.«

Ihrem Vater schien die Unterhaltung zu gefallen. Anscheinend fühlte er sich an seine eigene Schulzeit erinnert. »Typen wie Andy gab es zu allen Zeiten. Wir hatten damals auch einen, er hieß Billy-Bob und war Captain unseres Football-Teams. Der größte Angeber und Macho, der mir jemals über den Weg gelaufen ist, aber die Cheerleaderinnen standen Schlange bei ihm und flippten schon aus, wenn er sie nur anlächelte. Er war ein guter Quarterback, das musste man ihm lassen. Er war so gut, dass die Scouts der großen Vereine auf ihn aufmerksam wurden und dafür sorgten, dass er ein Stipendium fürs College bekam. Doch dort gab es bessere Spieler als ihn und er wurde drei Monate später nur noch unter ›ferner liefen‹ geführt. Die Cheerleaderinnen interessierten sich nicht mehr für ihn und er landete als Verkäufer bei Walmart.«

»Nichts gegen Walmart, aber so wird Andy auch mal enden.« Cheryl trank einen Schluck und wischte sich den Mund ab. »Was soll’s? Das Thema hab ich längst abgeschlossen, und bevor ich auf den nächsten Jungen reinfalle, muss schon einiges passieren. Keine Angst, Dad. Ich hab erst mal nur meinen Job im Sinn und schlage einen großen Bogen um alle jungen Männer. Selbst wenn sie so nett sind wie Rick. Für so was hab ich im Moment keine Zeit.«

Ihre Mutter hatte lächelnd zugehört. »Mit einem jungen Mann wie Rick wäre Dad sicher sehr einverstanden. Er war selbst ein bisschen wie er, als wir uns kennenlernten. Ein Unruhegeist, ständig unterwegs und nicht bereit, sich irgendwo auf Dauer niederzulassen. Ölarbeiter, Cowboy, Farmhelfer … alles nur Gelegenheitsjobs. Ich wette, er wäre heute noch unterwegs, wenn ich ihn nicht eingefangen hätte. Der Laden am Highway gefiel uns beiden. Weit genug von der Zivilisation entfernt, um nicht zur Routine zu werden, und abwechslungsreich, weil wir hier ständig interessante Leute treffen.« Sie schenkte sich Tee nach. »Als Tierärztin müsstest du dich auch niederlassen.«

»Das ist noch eine ganze Weile hin, Mom. Wer weiß, was bis dahin alles passiert? Zuerst muss ich mal die Prüfung schaffen, bevor ich über alles andere nachdenke. Vielleicht züchte ich auch Huskys. Oder beides.«

»Hauptsache, du lässt dich nicht von deinem Weg abbringen, Cheryl«, sagte ihr Vater. »Selbst wenn ein netter Kerl wie dieser Rick auftaucht, musst du in der Spur bleiben. Sei klüger als ich. Ich hatte damals Glück, weil ich Mom traf und sie mich sofort an die Kandare nahm. Freiheit heißt nicht, in den Tag hineinzuleben. Man muss immer ein Ziel vor Augen haben, wenn man es zu etwas bringen will.« Er kicherte leise in sich hinein. »Jetzt klinge ich schon wie ein verdammter Besserwisser.«