KüstenBande - Gaby Kaden - E-Book + Hörbuch

KüstenBande E-Book und Hörbuch

Gaby Kaden

5,0

Der Titel, der als Synchrobook® erhältlich ist, ermöglicht es Ihnen, jederzeit zwischen den Formaten E-Book und Hörbuch zu wechseln.
Beschreibung

„Die Rote muss weg, egal wie!“ Um den letzten Willen ihres Ex-Mannes zu erfüllen, kommt die Bayerin Franziska Gronewald nach Ostfriesland. Das allerdings entpuppt sich als gefährlich. Zuerst eines Mordes beschuldigt, wird sie kurz darauf selbst Opfer eines Giftanschlages. Welches Geheimnis hüten die „drei toten Tanten“ vom Hyggehof? Was haben sie gegen die rothaarige Frau aus Bayern? Wer tötet mit einem seltenen Gift? Und dann … Oma und Tant’ Fienchen haben etwas gehört, was nicht für ihre Ohren bestimmt war. Sind die beiden alten Ostfriesinnen die nächsten Opfer? Zum Glück ist das Ermittlerteam aus Ostfriesland wieder komplett. Gemeinsam gehen sie auf Spuren- und Mördersuche.

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Seitenzahl: 427

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Zeit:9 Std. 37 min

Sprecher:Torben Sterner

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Andy24

Man kann sich nicht von der Lektüre losreißen

Topi
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Viel Spaß und spannende Unterhaltung mit KÜSTENBANDE.Tretet ein, kriecht hinein, wohnt in KÜSTENBANDE. Taucht ein in Abgründe – erlebt, wozu Menschen für fragwürdige Traditionen fähig sind.Ich verspreche, es bleibt spannend bis zum Schluss. Trefft in KÜSTENBANDE die Ermittler Carsten Schmied und Miriam Blum sowie weitere Protagonisten.Erfahrt, was Oma Jettchen und Tant’ Fienchen Spannendes passiert. Erfahrt, welch „schwerwiegende“ Rolle der Berner Sennenhund „Berner Benno“ spielt.Ach ja, natürlich sind Tomke und Hajo auch wieder dabei.

Die Geschehnisse, sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über http://dnb.ddb.de© 2022 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hamelnwww.niemeyer-buch.deAlle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: C. RiethmüllerDer Umschlag verwendet Motiv(e) von 123rf.comEPub Produktion durch CW Niemeyer Buchverlage GmbHeISBN 978-3-8271-8425-2

Gaby KadenKüstenBande

Danke

Liebe Leser und Leserinnen, – bevor ihr eintaucht in KÜSTENBANDE – auch diesmal ein herzliches DANKESCHÖN für eure Treue, für die unzähligen positiven Rückmeldungen auf vielerlei Wegen. Und das in dieser besonders schwierigen Zeit, denn durch Corona wurde alles anders. Der persönliche Kontakt bei Lesungen fehlt mir und euch sicher auch. Trotzdem seid ihr mir treu geblieben.

Danke dafür.

Nach acht erfolgreichen Küstenkrimis aus Ostfriesland, von der Nordseeküste, den Inseln, Carolinensiel – darf ich nun meine Nummer 9 präsentieren: KÜSTENBANDE.

Auch diesmal war es wieder ein langer Weg bis zum fertigen Buch. Geschrieben habe ich, aber außer mir waren noch weitere Menschen daran beteiligt, dass aus dem geschriebenen Wort ein fertiges Buch entstanden ist. Darum:

Danke an den Geschäftsführer Carsten Holzendorff von den CW Niemeyer Buchverlagen und an das ganze Team. An Sarah Krasemann, Rebecca Frankowitz, die mich unterstützen und immer ein offenes Ohr haben. Danke an Carsten Riethmüller, der für die kreativen und genialen Cover steht. Das Cover von KÜSTENBANDE ist der Hammer!

Danke auch wieder an Kerstin für konstruktive und hilfreiche Kritik im Text sowie an die „echte“ Kommissarin Irina, deren Ermahnung „Gaby, das gibt es nur im Fernsehen, aber die echte Polizei macht das nicht!“ mich bei jedem Buch begleitet.

Ich darf immer wieder Menschen aus meinem Umfeld nennen, danke dafür. Danke an Anne, Hermann, Mariechen, Ulrike vom Puppen-Café, Thomas und Gesche von Spiekeroog und …

Ein ganz großer Dank geht an die Buchhandlungen und Geschäfte, in denen meine Bücher angeboten werden.

Danke an Werner, meinen Mann, für die tatkräftige und kritische Unterstützung, an meine ganze Familie, danke für „Leah-Sophie“, die Bereicherung meines Lebens.

Ich danke euch allen – OHNE EUCH WÄRE ALLES NICHTS!

Und liebe Leser und Leserinnen, bedenkt, dass auch in KÜSTENBANDE alles meiner Fantasie entsprungen ist und nehmt es, wie es gemeint ist, nämlich mit einem Augenzwinkern.

Vorab

„Fischköppe“ aus vergangener Zeit

Dass es ein Geheimnis um sie gibt, ahnt Franziska Gronewald schon lange. Ein Geheimnis, düster und tief vergraben in ihrer Erinnerung. Ein Geheimnis, das sie fühlt, das ihr ab und an die Luft zum Atmen nimmt, das nicht greifbar, aber in ihren Träumen immer wieder da ist.

Sie träumt von einer Kammer, deren schräge Wand über und über mit Fischköpfen dekoriert ist. Ein schrecklicher Anblick. Sieht ein kleines Mädchen schlafend auf einem hölzernen Bettgestell. Hinter dem Kind liegt eine Frau, die Arme um das Kind gelegt.

Dann wechselt die Szene: Das Mädchen sitzt in einem Auto, Bremsen quietschen, Schreie, ein Riesenknall und dann Stille. Ganz entsetzliche, nicht enden wollende Stille. Sie hört das Kind rufen: „Mama, Mama …!“

Mama? Hatte sie doch an ihre eigene Mutter so keinerlei Erinnerung.

Und immer wieder sind sie da, diese Fischköpfe. Fischköpfe, überall Fischköpfe. Mit weit aufgerissenen Mäulern, aus denen hässlich braune, spitze Zähne ragen. Große und auch kleine Fischköpfe, die sie mit herausgetretenen Glupschaugen anstarren, näher kommen. Ganz nahe. Greifbar nahe.

Aber Franziska kann in diesen Träumen nicht greifen, um anschließend schweißgebadet und nach Luft ringend aufzuwachen.

Fische, fliegende Fische, Geisterfische! Immer und immer wieder. Was hatte sie mit Fischen zu tun, außer, dass sie vor Jahren der Liebe wegen für einige Zeit an der Nordseeküste gelebt hatte? Oder war da noch etwas anderes? Tiefer? Tief in ihrem Inneren vergraben, etwas aus einer längst vergangenen Zeit?

Die Gedanken daran lassen sie wieder und wieder erschaudern.

Fragen, die sie ihrer Tante gestellt hatte, waren bis auf einen Satz unbeantwortet geblieben: „Deine Mutter hat das alles mit ins Grab genommen.“ Irgendwann fand sich Franziska damit ab und bohrte nicht weiter.

Aber die Träume blieben.

Und dann wird aus dieser diffusen Angst plötzlich Realität und große Gefahr. Böse Realität, die nach dem Erhalt eines seltsamen Paketes, verbunden mit einem ungewöhnlichen Auftrag, sowie einer Reise nach Ostfriesland Wirklichkeit zu werden scheint.

Es passieren Dinge, die sie erschrecken, die nicht fassbar sind. Diese allerdings erscheinen im Nachhinein harmlos gegen das, was nach und nach Schreckliches ans Tageslicht kommt …

… denn in Ostfriesland sind sie wieder da, die hässlichen Fischköpfe, ganz nah. Franziska erkennt: Es gibt sie wirklich, dicht über ihr und zum Greifen nah. Doch danach greifen kann sie nicht, sie liegt festgebunden und stumm auf einem hölzernen Bettgestell. Über ihren Kopf hat jemand eine Plastiktüte gezogen. Kleine Löcher sorgen dafür, dass sie darunter nicht erstickt.

„Du bist das Böse!“, dringt eine Stimme an ihr Ohr. „Du störst die Familienbande. Keiner wollte euch damals hier, keiner will dich jetzt hier. Du musst verschwinden, dann kehrt hier wieder Frieden ein!“

Wie alles begann …

Eine gefährliche Lieferung

Der Blick aus dem Fenster ihres kleinen Büros hinüber auf die in der Ferne liegende Welt der bayerischen Berge war an diesem Morgen wieder einmal atemberaubend. Franziska allerdings nahm ihn nur selten wahr. Heute schon. Immer wieder hob sie den Kopf und ließ ihre Augen über die Wiesen und Auen gleiten. Der Anblick des blauen Sommerhimmels, saftig grüner Wiesen und der leicht verhangenen Berge im Hintergrund tat ihren computerbelasteten Augen gut. Das satte Grün im Vordergrund, die noch dunstverhangenen Berggipfel am Horizont, wunderschön. Und was kommt dann?, befällt sie ein spontaner Gedanke. Was kommt hinterm Horizont? Wo geht es weiter? Franziska schüttelte sich und fluchte: „Scheiß Metapher! Scheiß Corona-Depri!“

Aber ganz abwegig waren diese Gedanken nicht. Manchmal fragte sie sich wirklich, was wohl noch kommen würde. Sinnlose Werbetexte verfassen? Konnte das alles sein? Sie ahnte nicht, dass sich ihr Leben bald radikal verändern würde.

Doch jetzt – Homeoffice war nicht zu verachten, wie sie schon nach wenigen Tagen im Lockdown festgestellt hatte. Hier gab es keine nervigen Kollegen, keinen Kollegentratsch auf dem Flur oder in der Kaffeeküche, nur ihren Kaffee, den musste sie sich selbst brauen. Aber das konnte sie verschmerzen. Nein, sie fehlten ihr nicht, die Kollegen und Kolleginnen aus der Agentur. Ihre Arbeit als Werbetexterin konnte sie von zu Hause viel besser erledigen, was noch immer der Pandemie geschuldet war. Außerdem gelang es ihr so auch viel besser, in ihrem Nebenjob als freie Journalistin für die heimische Presse zu arbeiten. Hier, zu Hause, fiel es niemandem auf. An ihrem Arbeitsplatz in der Agentur war das schwieriger.

Nun saß sie, die wilden roten Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, wieder tief im Dschungel ihrer Gedanken und Ideen versunken am Schreibtisch, bastelte an einem Werbetext für „Unkaputtbare Stützstrumpfhosen“ und nahm das Läuten an der Haustür gar nicht wahr. Jedenfalls nicht sofort. „Unkaputtbare Stützstrumpfhosen, so a Scheiß“, maulte sie vor sich hin. Erst als ihr alter Berner Sennenhund Benno sie mit seiner nassen Schnauze anstupste, sich die Türglocke nochmals und dazu viel energischer meldete, schaute Franziska von ihrer Arbeit auf. Dann hörte sie auch von der Haustür her eine Stimme:

„He Franzi, i bin’s, die Vroni. Mach auf oder muss i erst wieder singa?“

Nein bloß nicht, durchfuhr es sie, nicht schon wieder. Franziska stand vom Schreibtisch auf und hielt sich die Ohren zu. Doch das half nicht. Vor der Tür erschall es schon:

♫„I bin die Vroni von der Pooost“♫, so falsch und schrill wie immer, so falsch, dass Franziska zur Tür spurtete und Berner Benno sich unter ihren Schreibtisch verkroch, die Vorderpfoten über den Kopf legte und leicht grunzte. „Hält er sich etwa die Ohren zu?“, wunderte sich Franziska leise.

Sie griff nach ihrem Mundschutz am Garderobenhaken, legte ihn an und öffnete die Tür.

„Bitte nicht singen, die Nachbarn laufen zusammen, weil sie fürchten, es brennt, wenn deine Sirene ertönt. Außerdem wird mir dann schmerzhaft bewusst, dass ich morgen einen Termin beim Zahnarzt habe.“

Vor ihr stand, wie zu erwarten, Vroni Semmelmayer, die Postbotin der Region und Franziskas beste und älteste Freundin. Sie hielt ein Paket in den Händen, das so groß war, dass es ihren Oberkörper samt Kopf verdeckte und Franziska ihre Freundin nur an der Stimme erkennen konnte.

Dann lugte die Postbotin um das Riesenpaket herum, scherzte mit blitzenden Augen und nicht mehr so ganz tiefem Bairisch: „Nehmen S’ den Mundschutz ab, sonst muss i darauf bestehen, dass Sie sich ausweisen, junge Frau. So kann ich Ihnen das Riesentrumm von Paket nicht übergeben!“, legte die Stirn in Falten und stellte es mit einem Stöhnen auf dem Boden ab.

„Oh Mann, welchen Clown hast du denn heute gefrühstückt und warum trägst du keinen Schutz? Nicht mal Handschuhe hast du an. Du bist so leichtsinnig, Vroni.“ Franziska zeigte auf die nackten Finger der Postbotin.

Okay, Vroni gegenüber konnte sie den Mundschutz wirklich ablegen, schließlich waren sie beide geimpft. Vorsicht ließ Franziska trotzdem walten, denn viel wusste man noch nicht über das Virus und die Wirkung der Impfung.

„Ach Schatz, doch nicht, wenn ich zu dir komme. Außerdem ist dieses Virus nun schon so lange unterwegs, entweder es erwischt mich oder nicht. Zudem trinke ich jeden Morgen frische Ziegenmilch von unserer Selma, schmeckt beschissen, aber macht immun, und zwar gegen alles. Auch gegen Männer, wie ich vermute, sonst hätte ich doch schon längst einen Kerl abgekriegt, oder?“ Mit einem Stöhnen fasste sie sich an den Rücken. „Außerdem sind wir hier in Tuntenhausen“, fuhr sie fort, „nicht in China, aber das Paket hier, das kommt aus China. Ich gehe mal davon aus, diese Kronenviren haben die Reise nicht überlebt.“ Sie zeigte mit spitzen Fingern und hochgezogenen Augenbrauen darauf. Ihr Lachen war unverkennbar.

„Aus China?“, entfuhr es Franzi und sie vergaß auf Vronis leichtsinnige Einlassung weiter zu reagieren. „Ich habe aber nichts bestellt. Wer schickt mir denn etwas aus China? Nimm es wieder mit, das ist sicher ein Fake.“

Vroni schüttelte den Kopf. „Weiß nicht, wer dir so was schickt und Chinesisch kann ich auch nicht, sonst hätte ich den Absender schon längst ermittelt. Aber wir können es ja öffnen und nachschauen.“

Die Postbotin riss die Augen auf, blinzelte freudig gespannt und wackelte ungeduldig mit dem Kopf. Dann bemerkte sie Franziskas Zögern und fuhr fort: „Durch den Zoll ist es jedenfalls und das ohne Beanstandung, wie du an diesem Aufkleber hier sehen kannst.“

„Aber, aber was …?“, stotterte Franzi nun. „Ich hab doch gar nichts bestellt!“, wiederholte sie mit großen Augen. „Wer sollte mir denn …?“

„Mach’s halt auf, dann weißt du es!“ Die Postbotin war nun mehr als neugierig und sehr darauf erpicht, mehr über das seltsame Paket zu erfahren. Solch eine Lieferung hatte sie nicht alle Tage. Es stand ihr deutlich ins Gesicht geschrieben, dass sie unbedingt wissen wollte, was sich hinter dieser seltsamen Lieferung verbarg. Aus dem Absender und verschiedenen Aufklebern, die in chinesischen Schriftzeichen verfasst waren, konnte man nichts entnehmen.

Doch nun hatte sich Franziska gefangen.

„Ach“, meinte sie, „sicher ist mein Ex noch auf Montage in China und hat mir was geschickt. Gib mal her. Wo muss ich unterschreiben?“

Vroni war die Enttäuschung anzusehen. „Von Hilko?“, wollte sie schrill wissen.

Da kam schon mal eine derart seltene Post aus dem Ausland in das kleine bayerische Dorf und sie sollte nicht erfahren, was sie beinhaltete?

Franziska nickte. „Ich denke schon, dass es von ihm ist.“

„Scheiße, Mann“, murmelte Vroni leise und hielt Franziska das Unterschriftspad mit ausgestrecktem Arm entgegen. Was sollte der Ostfriese ihrer Freundin schon schicken?

„Hier, du woast, wo!“, brummte sie leicht säuerlich. „Kannst mir ja morgen erzählen, welch a geheime Fracht da einisteckt“, ihr rollendes R war nun besonders ausgeprägt.

Franziska quittierte den Empfang. „Du wirst es als Erste erfahren, ganz bestimmt, Vroni!“, versprach sie gedankenverloren und schloss die Haustür. Vronis: „Passt scho!“ bekam sie nicht mehr mit.

Nun kam Berner Benno unter dem Schreibtisch hervor und lugte um die Ecke in den Flur.

„Ja, sie ist weg, kannst rauskommen“, versprach Franzi und schleppte das Paket in die Küche. Benno folgte ihr bedächtig, blieb aber im Türrahmen stehen. Weiter wagte er sich nicht und sein Frauchen wusste auch gleich warum. Die vernahm nämlich ein leichtes Zischen, drehte sich kurz um, schnüffelte und verstand.

„Benno!“, rief sie entsetzt, „du hast schon wieder gepupst. Herrje, wie das stinkt! Bist du wohl am Verwesen, alter Mann? Verschwinde mit deiner Stinkbombe!“

Doch der alte Hund bewegte sich nicht von der Stelle, sondern ließ sich im Türrahmen auf den Boden sinken, nahm so den ganzen Durchgang ein. Franziska sah es und wunderte sich. „Na?“, fragte sie in seine Richtung. „Machst du jetzt schon ‚Toter Mann‘ ohne Kommando?“

Und wieder zischte es. Franziska schüttelte angewidert den Kopf, hielt sich die Nase zu, öffnete das Fenster, zog beide Flügel weit auf.

Immer dasselbe mit dem alten Kerl. Dann widmete sie sich wieder der seltsamen Lieferung, diesem großen Paket.

Ja, seltsam war es schon. Ein Paket aus dem fernen China, an sie adressiert – Franzi hatte die Lieferanschrift zweimal kontrolliert –, dort standen ihr Name und ihre Adresse, daran gab es keinen Zweifel. Allerdings erkannte sie an der Stelle, wo die Absenderanschrift zu vermuten war, nur chinesische Schriftzeichen. Ob sie es öffnen sollte? Entschlossen griff sie sich ein Messer aus dem Messerblock rechts auf der Anrichte und fuhr vorsichtig unter das vordere Klebeband.

Mal sehen. Etwas Gefährliches konnte ja wohl nicht drinnen sein, der Zoll hatte das Paket schließlich kontrolliert und hätte eine Bombe oder ein giftiges Tier sicher entdeckt.

Schnell schalt sie sich für ihre Gedanken. „Franzi, du liest zu viele Krimis.“ Trotzdem, was konnte das nur sein? Sie legte das Messer zur Seite, hob das Paket an und schüttelte es leicht. Es war groß und unhandlich, aber für seine Größe dann doch nicht wirklich schwer. Vorsichtig legte sie ein Ohr an den Karton. Nein, hören konnte sie nichts.

Energisch griff die junge Frau wieder nach dem Küchenmesser, um das Klebeband weiter zu lösen. Plötzlich fuhr sie erschrocken zusammen. Ein seltsames Geräusch drang an ihr Ohr … Kam es aus dem Paket oder: „Hab ich die Haustüre offen gelassen?“, entfuhr es ihr. Rasch drehte sie sich um und blickte auf ihren schlafenden Hund. Der lag schnarchend im Türrahmen, das Geräusch kam von ihm. „Benno!“, schimpfte sie, „schlaf gefälligst leise“ und säbelte sich weiter durch das Band.

Nun war es geschafft.

Sollte sie das Paket tatsächlich öffnen? Eine kritische Kolumne, die sie vor einiger Zeit über die Ausbreitung des chinesischen Virus geschrieben hatte, fiel ihr ein. Sollte hier etwa die Rache der chinesischen Regierung verpackt sein? Schlug das Imperium zurück? Wollte man sie etwa töten? Mit einer Bombe vielleicht oder am Ende mit Gift? Schnell schalt sie sich eine dumme Gans. „So wichtig bin ich denn doch nicht.“

Bevor sie die Seitenklappen des Kartons anhob, schlug Franziska sich mit der flachen Hand gegen die Stirn.

„Hilko!“, rief sie laut aus. „Das Paket ist natürlich von Hilko.“

Klar, Hilko Gronewald, ihr geschiedener Mann, war doch einige Zeit nach ihrer Scheidung nach China gegangen, fiel ihr nun ein. Beruflich. Was sie vorher noch Vroni so lapidar als Erklärung hingeworfen hatte, um sie loszuwerden, erwies sich gar nicht als falsch. Eigentlich wollte Hilko nur für ein Jahr dortbleiben. Dann aber hatte er von seiner Firma einen tollen Job angeboten bekommen, mit der Bedingung, sich für weitere fünf Jahre an die Tochterfirma in China zu binden. Das hatte er ihr irgendwann mal per WhatsApp geschrieben.

„Ja, dieses Paket kann nur von Hilko sein, aber warum sollte er mir ein solches Monstrum schicken?“, führte sie ihr Selbstgespräch fort. Alleine die Fracht musste immens teuer gewesen sein. Außerdem hatte sie schon seit Längerem nichts mehr von ihm gehört.

Egal, Hilko war die einzige plausible Erklärung für diese Lieferung. Erleichtert fuhr sie fort und klappte auch die beiden anderen Seitenteile hoch. Ihr Blick fiel auf Styroporschnipsel, auf denen ein dicker Briefumschlag lag.

„Für Franzi, meine ostfriesische Bayerin“, stand in schwungvoller Schrift darauf.

„Hilko, das ist Hilkos Schrift“, erkannte sie sofort und war erleichtert. Nun erschien ihr das spannende und fremde Paket nicht mehr ganz so fremd. Sie legte den Umschlag zur Seite. Was ihr Ex geschrieben hatte, war Franzi im Moment nicht so wichtig. Interessanter war doch, was in dem Paket steckte. In den letzten Jahren hatte er ihr immer mal wieder Souvenirs von seinen beruflichen Auslandsaufenthalten geschickt. „Ach Hilko, hoffentlich ist das nicht wieder so ein Dünnschiss, ich kenne deinen Geschmack.“

Mit beiden Händen schob sie einige Schnipsel zur Seite und erkannte, dass sich unter einer Knackfolie ein Gegenstand aus Porzellan befand, jedenfalls das Oberteil schien es zu sein. Vorsichtig schob sie weitere Styroporschnipsel und auch Folie zur Seite, um mehr erkennen zu können. Nun fiel ihr Blick auf chinesische Malerei. Ein Teeservice? Schickte ihr der gebürtige Ostfriese etwa ein chinesisches Teeservice?

Sie wühlte sich weiter durch Plastik und Styropor. Nein, es handelte sich um ein größeres Teil, wohl um eine Vase. Mit den Fingerknöcheln klopfte sie dagegen. „Eine Vase mit Deckel. Wow! Hilko! Herzlich willkommen in der Abteilung Geschmacksverirrung! Eine chinesische Deckelvase“, entfuhr es ihr. „Was soll ich damit?“ Der Sarkasmus war nicht zu überhören. Franziska überlegte einen Moment.

Oder sollte das etwa ein antikes chinesisches Stück sein? Sicher hatte Hilko sich daran erinnert, dass sie auf Antiquitäten stand. Alt mussten sie sein und eine sinnvolle Verwendung aus ihrer Zeit mussten sie haben. Das war Franzis Faible. Für China hatte sie sich allerdings nie wirklich interessiert.

„Was ist das denn nun?“, flüsterte sie verwundert und schob noch ein paar Schnipsel zur Seite.

Vorsichtig hob sie die Deckelvase aus der Verpackung und musste feststellen, dass sie schwer war, für ihre Größe sehr schwer. Viel zu schwer für eine Vase aus Porzellan, auch wenn diese einen Deckel hatte. Besaß sie einen anderen Kern? Komisch.

Lieber Gott, durchfuhr es die erstaunte Frau, lass da bitte kein Tier herauskommen. Vielleicht nehme ich den Deckel einfach nicht ab. Nun klopfte sie mit dem Knöchel des Zeigefingers gegen die Vasenwand, rief: „Hallo, ist da jemand drin?“, schalt sich aber sofort dafür. Das Geräusch, das von der Vase zurückkam, hörte sich dumpf an, hatte nicht den hellen Klang von feinem Porzellan. Welches Material konnte es sonst sein? Metall? Gold mit einer Porzellan­ummantelung? Gab es so etwas eigentlich? Nun, in China vielleicht, sie kannte die Kultur der Chinesen nicht. Aber wenn, dann war das Teil wertvoll. Behutsam stellte sie die Vase auf den Küchentisch, wischte mit den Händen sanft darüber und betrachtete die Bemalung. „Schön schlicht, nein, trist,“ murmelte Franziska, „eigenartig, na ja, ist eben alles Geschmackssache. Von Hilko eben.“ Ob sie in ihrer Wohnung dafür wohl einen Platz finden würde? Prüfend schaute sie sich um. Na, vielleicht im Wohnzimmer.

Mit einem Küchentuch wischte sie sanft die kleinen Styroporreste ab, die, wohl statisch geladen, noch immer an der Vase hafteten, und nahm das schwere Teil hoch, um es ins Wohnzimmer zu tragen. Dem riesigen Karton auf dem Fußboden gab sie einen Tritt mit dem Fuß, um nicht darüber zu stolpern.

Vorsichtig kletterte sie über Berner Benno, der noch immer im Türrahmen schnarchte.

„Mein Gott, ist die schwer, was ist das nur? Oder hat Hilko auch noch etwas in der Vase versteckt? Vielleicht sogar geschmuggelt?“ Franziska ertappte sich dabei, dass sie, wie es ihre Eigenart war, leise vor sich hinsprach. Welches Geheimnis barg diese Vase? „Goldmünzen aus dem chinesischen Reich vielleicht?“, fragte sie sich, stellte die Vase auf dem Boden ab und setzte sich daneben. „Oder Schmuck, antiken Schmuck?“, ging die Fantasie mit ihr durch. „Hat er mir vielleicht Schmugglerware geschickt und steht bald vor der Tür, um sie abzuholen?“ Aber nein, nicht Hilko. Der war zu ostfriesisch nüchtern und ideenlos für solche Dinge. Obwohl, durchfuhr es sie dann, als Ostfriese hatte er sicher noch Schmugglergene im Blut. Doch auch diesen Gedanken verwarf sie schnell wieder. „Nein, nicht Hilko!“ Diese Vase war sicher einfach nur sauschwer. Franziska versuchte, vorsichtig den Deckel abzunehmen, aber der rührte sich nicht. Egal ob sie zog oder drehte, er bewegte sich nicht. Sie zog sich den rechten Ärmel ihres dünnen Pullis über die Hand, aber auch das half nicht.

„Dann eben nicht, das gehört sicher so“, sprach sie wieder leise für sich und unternahm doch noch einen Versuch. Dann aber, tatsächlich, der Vasendeckel gab knirschend ein klein wenig nach und ließ sich jetzt ein bisschen bewegen.

„Na komm schon, gib auf, ich krieg dich doch!“ Franziska wackelte ihn hin und her, holte sich aus der Küche ein Tuch zur Hilfe und tatsächlich, Stück für Stück bewegte sich der Deckel, mehr und mehr. Es knirschte und fiepte, dass sie glaubte, jeden Moment müsse ein Geist aus der Vase entweichen. Dann war es geschafft, der Porzellandeckel ließ sich anheben und Franziska versuchte, vorsichtig in das Innere zu blicken. Ganz vorsichtig. Denn sicher war sie sich nicht, ob da nicht doch irgendein Tier aus dem Land der aufgehenden Sonne seine Fühler, Spinnenbeine oder glitschigen Gliedmaßen herausstreckte und nach ihr griff. Wenn doch? Ihr schauderte. Schnell verschloss sie die Vase wieder.

„Soll ich wirklich?“ Franziska zögerte, schalt sich dann aber eine Hosenscheißerin. Mit einem mutigen: „Okay!“ hob sie langsam den Deckel an, Millimeter für Millimeter. Weder zischte noch fauchte es aus der Vase. Franziska war erleichtert. Vorsichtig blickte sie hinein. Erlöst und gleichzeitig enttäuscht, denn auch kein Flaschengeist, kein anderes Geheimnis steckte in der Vase, sondern Sand. Ganz primitiver, feiner Sand. „Nur Sand? Sonst nichts?“, fragte sie sich. „Vielleicht sollte ich …?“ Die Frau sah sich um, auf dem Tisch lag ein Kerzenlöscher mit langem Stiel. Damit wollte sie es versuchen. Franziska nahm ihn und bohrte sich damit in den Sand. Tiefer, immer tiefer, bis der Stiel den Boden der Vase berührte. Sie rührte in der Vase herum, aber einen Widerstand konnte sie nicht erkennen. Mutig fuhr sie nun mit der Hand hinein und ließ die Finger durch den Sand gleiten. Nix, nichts zu fühlen. In der Vase, im Sand hatte sich nichts versteckt.

Typisch Hilko! Ostfriesisch fantasielos hatte er hier Sand eingefüllt. Warum denn das? Die Füllung machte das Paket doch nur schwer und somit teurer. „Und wenn ich mir dein Geschenk genauer ansehe, lieber Hilko“, überlegte sie laut weiter, „ist es typisch du! Vollkommen geschmacklos, denn schön ist anders, mein Lieber!“ Franziska war ärgerlich.

Wo sollte sie das Teil wohl hinstellen? In das Glasregal hier im Wohnzimmer ganz sicher nicht, obwohl die zartgrüne Landschaft mit der untergehenden Sonne auf der Vorderseite der Vase gut zwischen ihre Deko aus Smaragdgrün und Gold passte.

Aber das Teil war von Hilko und somit schon mal von vorneherein nicht schön. Wie konnte es auch anders sein? Was nur hatte er sich vorgestellt? Sollte die Vase wirklich ihr Wohnzimmer dekorieren? Eher nicht! „Außerdem ist das Teil sauschwer und diesem Gewicht wird die Glasplatte des Regals ganz sicher nicht standhalten“, überlegte sie weiter. Ihr Blick wechselte von der Vase zum Regal und wieder zurück. „Aber passen würde sie schon, dort oben neben der goldfarbenen Figur, das wäre ein Platz.“ Der Gedanke gefiel ihr immer mehr. Franziska war unschlüssig, überlegte kurz, nahm den Deckel ab und fuhr mit der Hand nochmals in den Sand, immer weiter, bis sie den Boden der Vase berührte. Tatsächlich, es war wirklich nur Sand in der Vase, kein weiterer Gegenstand, kein Schmuck, keine Münzen, kein Geheimnis, kein geheimes Papier. Also auch keine Schmugglerware. Sie schaute sich enttäuscht um. Ihr Blick blieb an der Fensterbank hängen. Dann nahm ein Gedanke von ihr Besitz, den sie spontan umsetzte. Franziska stand auf, hob die Vase hoch und verteilte den Sand in den Blumentöpfen auf der Fensterbank. „Bevor mein Regal unter dem Gewicht zusammenbricht, vielleicht ist Sand aus China ein guter Dünger und tut euch gut, den Rest bekommt ihr später“, sprach sie ihren Pflanzen zu, verschloss die Vase wieder, stellte sie, nun ein ganzes Stück leichter, in das Regal und betrachtete ihr Werk mit etwas Abstand. Sie drehte die Vase noch ein wenig, damit die Landschaft in den Raum schaute, und nickte: „Passt!“ Anschließend lief Franziska zurück in die Küche, stieg erneut über den schlafenden Hund und nahm den Umschlag zur Hand.

„Moin Hilko!“, sprach sie den Brief in ihrer Hand an. „Na, da bin ich ja mal gespannt, was du mir zu sagen hast. Wohl sehr viel, schwer wie der Umschlag ist.“ Mit dem Küchenmesser, das sie zuvor zum Öffnen des Paketes benutzt hatte, fuhr sie in den Schlitz des dicken Umschlages und ritzte ihn auf.

Erstaunt zog sie einen Stapel Bögen heraus und blätterte sie kurz durch. Einen weiteren Umschlag, rückseitig mit einem roten Siegel samt Unterschrift versiegelt, sowie zwei weitere nummerierte Briefe legte sie zur Seite.

Viele der Papiere in ihrer Hand waren in chinesischen Schriftzeichen verfasst, aber obenauf erkannte sie die Handschrift von Hilko und begann zu lesen.

Meine liebe Franziska,

war hier zu lesen,

sicher wunderst du dich über dieses Paket aus dem Land der aufgehenden Sonne und ich kann mir dein Gesicht und vor allem deine Gedanken gut vorstellen, als du den Inhalt des Paketes gesehen hast. Der sture Ostfriese mit seinem schrecklichen Geschmack, hast du wohl gedacht. Warum schickt er mir eine solch hässliche Vase. Aber meine liebe Franzi, das ist … nein, dazu später mehr.

Ich fange dort an, wo alles begann.

Ach bitte, setz dich, mach es dir bequem, du wirst es brauchen.

Nun leg schon los, dachte Franziska ungeduldig. Sie wanderte zurück Richtung Wohnzimmer, machte einen großen Schritt über Berner Benno und stellte sich an das Fenster. Was wollte er ihr nur sagen und warum per Brief? Warum rief er nicht einfach an oder schrieb ihr wie sonst eine WhatsApp? Sie las weiter:

Seit fast zwei Jahren hatten wir keinen Kontakt und doch weißt du, dass ich in China mein berufliches wie auch privates Glück gefunden habe, oder? Ja, ich weiß, das interessiert dich im Moment nicht, du denkst, komm doch endlich zur Sache, Hilko.

„Stimmt“, brummte Franzi und überlegte weiter: „Echt zwei Jahre? Mein Gott, wie die Zeit vergeht.“

Gut, das will ich tun und mich nicht weiter mit Vorreden aufhalten.

Bis vor Kurzem habe ich hier in Wuhan (der Name sagt dir etwas?) bei einem Hersteller für medizinische Geräte gearbeitet. Unter anderem entwickeln sie dort Beatmungsgeräte und Ähnliches – diese waren und sind noch immer in aller Munde. (Kalauer, ich weiß.) Bei uns in Wuhan hat, auch das weißt du sicher, Corona, also Covid-19, zuerst und das ganz heftig, zugeschlagen. Meine Frau (ja, ich habe wieder geheiratet und ja, eine Chinesin) war eine der Ersten, die von dem Virus heimgesucht wurden, und Kim Lu ist nach ganz kurzer Erkrankung daran verstorben. Das geschah zu einer Zeit, als man hier bei uns diese Krankheit noch schwer unter dem Deckel hielt. Nach außen dringt noch immer kaum etwas, Kritiker werden ausgeschaltet, die wahren Zahlen der Toten geheim gehalten. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf.

Aber weiter. Nun, wie sollte es anders sein, auch mich hat Corona nach einiger Zeit erwischt und wenn du diesen Brief liest, bin auch ich daran verstorben.

Franziska ließ sich in ihren Fernsehsessel fallen und starrte auf den Brief. „Bitte?“ Sie schaute sich den Brief von allen Seiten an.

Ja genau, setz dich, denn es kommt noch heftiger. Diesen Brief habe ich geschrieben, als ich noch lebte, wie sollte es auch anders sein. Aber ich meine damit, als ich noch wirklich lebte, und zwar so, dass ich denken und agieren konnte, eben vorsorglich. Ohne Atemmaske, ohne Sauerstoffmaske, ohne Beatmungsgerät und ich weiß nicht, ob ich als Ausländer ein solches hier überhaupt bekomme.

Mir ist klar, dass das nicht mehr lange der Fall sein wird, denn ich habe das Sterben meiner Frau und anderer Menschen gesehen. Die Hoffnung, dass ich den Kampf überleben werde, ist sehr gering, denn Beatmungsmaschinen haben sie hier für uns nicht wirklich, die sind der erkrankten Elite, den braven und regierungstreuen Chinesen vorbehalten. Ausländern schon mal gar nicht. Ein Hohn, da ich die Dinger doch gebaut habe. Ich darf das schreiben, mir kann nichts mehr passieren, ich bin ja schon tot, wenn du meine Post erhältst.

Wie ich dich kenne, ist dir nun nach einem Kaffee, hole ihn dir, du wirst ihn brauchen und vielleicht schenkst du dir einen „Schluck“, wie wir in meiner alten Heimat Ostfriesland sagen, dazu ein. Gönne dir eine Pause, du wirst sie brauchen.

Hilko tot? Franziska war entsetzt über das, was sie da las, aber auch darüber, dass ihr ein Schmunzeln über das Gesicht huschte. Wie gut Hilko sie doch kannte. Tatsächlich stand sie auf und ging wie ferngesteuert Richtung Küche, stieg über Berner Benno, drückte bei ihrem Kaffeeautomaten die Taste für Espresso und nahm sich aus dem Eisfach ein Schnapsglas und die Aquavitflasche. Mit dem dampfenden schwarzen Getränk, dem Schnapsglas und der eiskalten Flasche Aquavit in den Händen stieg sie über den noch immer lautstark schlafenden Hund zurück in das Wohnzimmer. Der erste Aquavit bereitete ihr eine Gänsehaut, der zweite nicht mehr ganz so stark. Beide erwärmten ihr Inneres, der Espresso, den sie ebenfalls in einem Schluck trank, tat das Übrige.

„Weiter!“, forderte sie sich dann selbst auf.

Ja, liebe Franzi, meine kleine ostfriesische Bayerin, wären wir nicht geschieden, wärst du jetzt Witwe. Oder bist du die Witwe deines geschiedenen Mannes? Ich kenne die Rechtslage in diesem Fall nicht wirklich.

Aber weiter. Ich weiß im Moment nicht, ob ich diese Erkrankung überlebe, jedoch die Hoffnung stirbt ja bekanntlich zuletzt. Haha. Sollte die Hoffnung dann doch mit mir gegangen sein und du diesen Brief in Händen halten, möchte ich dich bitten, meine Angelegenheiten zu regeln. Keine Angst, es gibt nicht viel zu tun. Das wenige aber wird nicht einfach sein. Doch ich verspreche dir, ich werde dich von oben, oder egal wo ich bin, unterstützen.

„Quatschkopf!“ Franziska verzog das Gesicht.

Hiermit komme ich nun zum Anfang meines Briefes zurück, als ich erwähnte „später mehr“. Kommen wir zu meinem schrecklichen Geschmack, zu dem Paket aus China, das dich sicherlich sehr überraschte. Ach bitte – gibt es die Vroni von der Post noch? Deine Freundin, diese schrille Postbotin? Vielleicht hat sie dir ja mein Paket gebracht. Das Paket mit der Vase, die keine ist.

Hast du den Deckel der Vase schon entfernt und hineingeschaut?

Hast du erkannt, was sich darin befindet? Hast du den staubigen Bruder erkannt? Ja genau, ich bin es! Okay, in etwas anderer Form, aber doch ich! Nun erhole dich von dem nächsten Schock, mache eine Pause. Du wirst noch weitere Kräfte brauchen.

Als sie die letzten Worte gelesen und wahrgenommen hatte, aus ihrer Schockstarre erwacht war, sprang Franziska aus dem Sessel hoch und lief schreiend zu der Vase im Regal. Sie hob sie herunter, nahm den Deckel ab und schaute hinein.

„Hilko, du Depp, du ostfriesischer Dickschädel, hast du sie noch alle?“, entfuhr es ihr entsetzt. Dann fiel ihr Blick Richtung Blumenfenster und der nächste Schrei war fällig.

„Mein Gott, Hilko, ich habe die Blumen mit dir gedüngt!“ Panisch rannte sie zum Fenster, nahm einen Blumentopf nach dem anderen herunter und schüttete den vermeintlichen Sand zurück in die Vase. Als sie damit fertig war, betrachtete sie die Vase und verstand! „Das ist gar keine Vase, das ist eine Urne. Hilko, du Döskopp, wie kannst du nur!“

Schnell nahm sie den Brief zur Hand, um weiterzulesen. Was kam da wohl noch auf sie zu? Was sollte ausgerechnet sie mit Hilkos sterblichen Überresten?

Ja, ich bin in der Urne und du fragst dich sicher, was du mit mir anfangen sollst und wie ich es aus dem allüberwachten China herausgeschafft habe. Nun, auch in China hat man so seine Spezies. Ich werde hier jetzt nicht erwähnen, wer das ist, der mir mit dem Brief geholfen hat, wer es geschafft hat, dass ich verbrannt und dir die Asche aus China zugesandt wurde. Das auf diesem Weg zu berichten wäre zu gefährlich für die Menschen, die mir diesen Wunsch erfüllt haben. Nimm es bitte als gegeben hin. Und bitte nicht weinen. Ich kenne dich und weiß, dass dir jetzt ein paar Tränchen über die Wangen laufen. Lass dich von Benno trösten, wenn es den alten Stinker noch gibt. Ich stelle mir gerade vor, wie er neben dir auf dem Boden liegt und schnarchend so manche Stinkbombe ziehen lässt.

Wenn du dich dann beruhigt hast, kannst du dich gleich wieder aufregen. In einem separaten Umschlag findest du meinen Letzten Willen, außerdem gibt es noch zwei weitere Briefe. Die allerdings hat mein Vater mir kurz vor seinem Tod geschickt, in einem Begleitschreiben erwähnt, um was es geht und dass er mir überlasse, ob ich den Inhalt weitergebe. Ich komme allerdings leider nicht mehr dazu.

Ja, wer könnte meinen Letzten Willen und alles, was damit zusammenhängt, besser umsetzen als du? Schließlich habe ich sonst niemanden – obwohl, so ganz stimmt das nicht.

In Ostfriesland laufen schließlich noch einige Menschen mit meinen Genen herum. Dass die alle – und ich meine ausnahmslos alle – nicht einfach sind, hast du in der Zeit, die wir dort gemeinsam lebten, zur Genüge kennengelernt. Ich bin mir sicher, sie werden dir deinen Auftrag nicht leicht machen. Die Bande ist gierig, neidisch und böse. Vor allem die „drei toten Tanten“. Traue keinem, Franziska, und ich meine wirklich keinem.

So, mein geliebter Rotschopf, nun muss ich mich verabschieden, sicher hast du bemerkt, dass meine Schrift immer unleserlicher wurde, ich habe den Brief in mehreren Etappen geschrieben und das war meine Schlussetappe. Mein End­spurt. Jetzt gehe ich auf meine letzte große Reise. Vielleicht sieht man sich ja mal wieder, auf der anderen Seite der großen Tür. Aber lass dir damit ruhig noch etwas Zeit, ich kann warten.

So viel zu uns. Mein versiegeltes Testament und die Briefe meines Vaters hast du gefunden? In einem weiteren Umschlag, auf dem dein Name steht, findest du Hinweise und Informationen, die dir vorab sagen, was so auf dich zukommen wird.

Bitte kümmere dich um alles, auch darum, was ich in meinem Letzten Willen verfügt habe. Ich weiß, dass ich mich auf dich verlassen kann. Aber, meine liebe Franziska, nochmals, sei auf der Hut!

Viel Spaß in Ostfriesland bei den ollen Sturköppen und bitte pass auf dich auf!

Hol di munter,

Hilko

PS: Ich liebe dich, ich habe nie aufgehört, dich …

Nun war die Schrift fast nicht mehr zu erkennen.

Dicke Tränen liefen Franziska über das Gesicht, sie schniefte, wischte Tränen und Rotze weg, ohne es zu bemerken. Ja, die Schrift hatte sich im Laufe des Briefes verändert, schien verwackelt und manchmal unleserlich, das war ihr gar nicht aufgefallen, aber jetzt …

Schluchzend entfuhr ihr: „Ach Hilko, ich wusste gar nicht, dass du so viel Feingefühl hast, solch einen Brief hätte ich dir niemals zugetraut. Aber vielleicht hat dich China ja verändert – oder war es der nahende Tod? Mein Gott, ich habe mit dir meine Blumen gedüngt. Entschuldige bitte.“

Jetzt erst bemerkte Franziska, dass sie die ganze Zeit wieder laut gesprochen hatte, so, als wäre Hilko bei ihr im Raum, und hatte für einen kurzen Moment sogar das Gefühl, wie durch einen Windhauch Hilkos Rasierwasser zu riechen, seine Stimme zu hören. Verrückt, als wenn das möglich wäre. Sie lachte und weinte zugleich. Schnell schaute sie sich um. Nein, es hatte keiner bemerkt. Wie auch, schließlich war sie mit Berner Benno allein zu Hause. Ihre Eigenart, mit sich selbst oder anderen, die nicht im Raum waren, zu sprechen, holte sie gerade wieder ein.

Franziska putzte sich lautstark die Nase und blätterte in den Papieren, die seinem Schreiben beilagen. Sie erkannte jetzt, dass sich darunter eine Sterbeurkunde, verfasst vom deutschen Konsulat in China, befand. Der versiegelte Umschlag musste wohl Hilkos Testament sein. Unter dem Siegel stand: Zweitausfertigung liegt beim Notar.

Hatte Hilko in seinem Schreiben nicht einem weiteren Umschlag erwähnt, auf dem ihr Name …? Sie beugte sich über die Kiste, und tatsächlich, unter den Styroporschnipseln fand sie ihn. Sie öffnete ihn mit zitternden Händen, murmelte: „Welch ein Aufwand“ und begann zu lesen.

Nachdem das Schreiben geendet, sie die Worte wohl aber noch nicht verdaut hatte, schenkte sich Franziska noch einen Schnaps ein, kippte ihn hinunter und murmelte: „Na, das wird was werden! Wenn die olle Verwandtschaft erfährt, in welchem Auftrag ich komme, grillen die mich über dem offenen Feuer oder verbuddeln mich im Watt. Hilko hat recht“, überlegte sie weiter, „ich muss aufpassen, darf niemandem vertrauen.“

Unaufgefordert drängten sich wieder Fischköpfe vor ihr inneres Auge. Franziska schüttelte sich.

Dann pfiff sie nach ihrem alten Hund und meinte: „Benno, steh auf, alter Mann, wir müssen nach Ostfriesland!“

***

Franziska hörte auf Hilkos Rat, vorsichtig zu sein. Nur drei Menschen erzählte von ihrer anstehenden Reise und Hilkos Auftrag. Natürlich ihrer Freundin Vroni und zwei alten Ostfriesinnen aus Carolinensiel. Die einzigen Menschen, die ihr in ihrer Zeit dort offen und freundlich entgegengetreten waren. Ihnen, so wusste sie, konnte sie vertrauen. Die beiden waren auch die Einzigen, mit denen Franziska über die Jahre Kontakt gehalten hatte. Mehr oder weniger regelmäßig, aber doch herzlich.

Fast zur gleichen Zeit in Ostfriesland ...

Zwei alte Ostfriesinnen auf der Suche nach einem düsteren Geheimnis

„Ich muss an die frische Luft, Schwester, mir ist schlecht. Mein Gott, die ollen Nüsse in Gesines Geburtstagskuchen waren sicher ranzig“, flüsterte Jettchen Evers, schob ihren Stuhl zurück und stand auf.

„Warte, warte, ich komme mit, Schwester. Vielleicht finden wir unterwegs eine Flasche mit Schluck, den haben wir nötig.“

Der Besuch hier auf dem Hyggehof war notwendige, aber auch ungeliebte Tradition für Jettchen Evers und ihre Schwester Fienchen. Über vier Ecken mit Gesine verwandt, war es eine lästige Pflicht der beiden Schwestern aus Carolinensiel, sie zu ihrem Geburtstag zu besuchen.

Aber nicht nur das. Seit Jahren versuchten die beiden Frauen so, hinter ein jahrzehntelang zurückliegendes Geheimnis zu kommen. Etwas, das sich vor vielen Jahren hier auf dem Hyggehof in Schlicksiel abgespielt haben musste. Die Geburtstagsrunde fand wie immer in der Stube des großen Anwesens statt. In die kleine Kate, in der Gesine mit zwei weiteren Alten lebte, passten nur wenige Besucher.

Die Frauen, die in der großen, aber dunklen Stube zu Gesines zweiundneunzigstem Geburtstag an einer Teetafel zusammensaßen, bemerkten nicht, dass die beiden den Raum verließen. Alle waren in lautstarke Gespräche vertieft. Laut, weil fast ausnahmslos alle im Raum über neunzig Jahre alt und allesamt fast taub waren. Eine aber bemerkte es doch, dass Jettchen und Fienchen durch die Tür schlüpften. Gesine!

„Was schnüffeln die zwei schon wieder herum?“, flüsterte sie und erhob sich ebenfalls von ihrem Stuhl.

Vor der Stubentür schimpfte Jettchen: „Mein Gott, ist mir schlecht. Die Nüsse in der Eierlikörtorte waren sicher genauso alt wie die olle Gesine.“

„Und den Eierlikör konnte man auch suchen. Am liebsten würde ich von hier verschwinden. Sollen wir Hermann anrufen, dass er uns abholt?“, setzte Fienchen nach.

Jettchen schaute sich um. Die Frage ihrer Schwester beantwortete sie nicht.

Die beiden durchquerten den kleinen Flur und traten ins Freie. Jettchen atmete tief durch, dann schubste sie ihre Schwester mit dem Ellenbogen an.

„Schau mal, da sitzt Meta, die schaut, als wäre sie nicht in dieser Welt. Komm, das ist eine gute Gelegenheit, vielleicht bekommen wir etwas aus der tüdeligen Meta heraus.“

„Oh ja, ich habe schon lange den Verdacht, dass mit ihrem Kopf etwas nicht stimmt. Ist schließlich auch schon über neunzig.“

Sie gingen ein paar Stufen hinunter auf die Frau zu, die gedankenverloren in einem Korbstuhl vor dem Haus saß.

„Meta“, sprach Jettchen sie an, „was machst du denn hier so alleine? Ist dir auch schlecht von dem ollen Kuchen?“

Meta reagierte nicht. Jetzt versuchte es Fienchen, die für ihr geringes Maß an Feinfühligkeit bekannt war, auf ihre eigene derbe Art: „Meta, was ist los? Geht’s mit dir bergab? Ja, ja, das mit der Demenz ist ein Kreuz!“

Dafür bekam sie von ihrer Schwester einen weiteren Stoß in die Rippen. Jettchen zog einen zweiten Korbsessel herbei und ließ sich neben Meta nieder. Die reagierte plötzlich, so, als sei sie aus einem tiefen Schlaf erwacht.

„Jettchen! Du bist doch Jettchen? Was machst du denn hier?“

„Aber Meta, wir feiern heute alle den Geburtstag deiner Cousine, hast du das denn vergessen? Eure Stube ist voller Geburtstagsgäste.“

Meta überlegte einen Moment und wollte dann wissen: „Geburtstag? Hedda? Oder Gesine?“

„Gesine! Gesine hat heute Geburtstag, Meta.“

„Ach, stimmt. Und ich habe den Tee gekocht, ich weiß es wieder. Es ist schlimm mit mir, immer vergesse ich etwas. Immer mehr. Nur …“

Plötzlich brach die alte Frau ab.

„Nur …“, flüsterte sie dann, „nur die schlimmen Sachen, die kann ich nicht vergessen und möchte es doch so gern.“

Jettchen und Fienchen schauten sich an. War jetzt wohl die Gelegenheit, hinter das dunkle Geheimnis der drei alten Frauen vom Hyggehof, die mehr oder weniger heimlich die „drei toten Tanten“ genannt wurden, zu kommen? Ein Geheimnis, um das alle wussten oder von dem sie zumindest ahnten.

Wir müssen es geschickt anfangen, überlegte Jettchen blitzschnell.

„Ach“, begann sie vorsichtig. „Wird wohl nicht so schlimm sein, oder, Meta?“

„Oh doch, oh doch, aber ich muss still sein, darf nicht drüber reden. Gesine wird sonst böse mit mir.“

„Ja, das stimmt! Aber mit uns schon, mit uns darfst du reden, wir gehören doch zur Familie, sind eine große Familie und die muss zusammenhalten, stimmt’s, Meta?“

„Aber nur über tausend Ecken, zum Glück!“, kam es leise aus dem Hintergrund von Fienchen, die sich dann aber zurücknahm. Jettchen konnte besser mit Menschen, das wusste sie.

„Ja, diese schlimmen Sachen“, bohrte Jettchen weiter. „Ist ja schon lange her, aber man kann sie einfach nicht vergessen. Mir geht es da wie dir, Meta.“

„Du weißt?“, wollte die nun mit weit aufgerissenen Augen wissen.

Jettchen nickte wissend. „Wie gesagt, wir sind eine Familie!“ Sie blickte zu ihrer Schwester und deutete ihr an, still zu sein. Diesmal hielt sich tatsächlich Fienchen mit ihrem Kommentar zurück. Ihre Schwester machte das sehr geschickt.

Die überlegte, wie sie weiter vorgehen könnte, und begann: „Ja, ist wirklich lange her und war eine andere Zeit damals.“

Meta seufzte. Dann flüsterte sie: „Musste weg, die Rote! Hätte nix Gutes gebracht mit ihr. Das Blut muss ostfriesisch bleiben, die Bande dürfen nicht zerrissen werden. Und ein Balg von anderswo, als Erbe auf dem Hof, das bringt Unglück. Ist gut, dass sie weg ist. Gesine hat da diese Wundertropfen … Danach kam alles ins Lot. Alles ins Lot. Obwohl …“

Jettchen, wie auch ihrer Schwester, war sofort klar, was gemeint war. Bande, ostfriesische Bande unter sich. Verwoben, verstrickt, so eng, dass keiner dazwischenpasste. Ihnen schauderte.

„Mein Gott, sie haben sie tatsächlich umgebracht!“, entfuhr es der alten Ostfriesin. Sie schlug sich entsetzt die Hand vor den Mund und schaute zu Fienchen hoch. Die schüttelte den Kopf und flüsterte ihrer Schwester ins Ohr: „Mach weiter. Und versuche, etwas über Bertie herauszubekommen. Vielleicht weiß sie von seinem … du weißt schon!“

„Gesines Tropfen helfen immer!“, kam es nochmals von Meta, begleitet von einem unkontrollierten Lachen. Dann brach sie abrupt ab und hauchte: „Und jetzt gibt es gar keinen Erben, gar keinen. Auf keinem der Höfe. Ist das die Strafe?“

Jettchen überlegte kurz, wie sie weiterbohren könnte, und wollte gerade beginnen, als Gesine, wie immer ganz in Schwarz gekleidet, in der Tür erschien.

„Meta!“, fauchte sie, „kumm in un schnack kein dummes Zeug! Und ihr beide, was schleicht ihr hier herum? Kommt in die Stube oder wollt ihr schon nach Hause?“

„Gleich, Gesine, wollen nur einen Moment frische Luft schnappen.“

Sie beobachteten, wie Gesine ihre Cousine am Arm grob ins Haus zog und dabei derbe beschimpfte. „Lass mich, ich muss aufs Klo!“, hörten sie Meta noch kreischen.

Der Gedanke, Hermann, ihren Nachbarn, anzurufen der sie gebracht hatte und auch wieder abholen wollte, war vergessen.

Nach Hause fahren kam nun nicht mehr infrage. Als die beiden Schwestern kurz darauf ebenfalls ins Haus zurückkamen, hörten sie, wie sich zwei Frauen, bei der einen schien es sich um Meta zu handeln, im dunklen Flur unterhielten. Leise, aber doch so, dass sie jedes Wort verstanden. Fienchen war froh, sich vor einiger Zeit doch ein Hörgerät angeschafft zu haben, wenn sie auch das Geld noch immer reute. Nun war es aber für etwas gut. Das, was sie hörten, trieb den beiden Ostfriesinnen den Schreck in die Glieder und Hühnerpelle über den Körper.

Nun war ihnen klar, dass der Verdacht, den sie schon seit vielen Jahren hatten, stimmte. Eben noch von Meta bestätigt und gerade hier von – ja von wem? Wer war das gerade im dunklen Flur? Meta, klar! Aber mit wem? Jettchen zog ihre Schwester am Arm zurück vor die Tür und flüsterte entsetzt: „Hast du das gehört? Sie haben es tatsächlich getan!“ und beschloss: „Wir müssen Tomke anrufen!“, schlug sich dann aber gegen die Stirn. „Ach, die ist ja noch in Amerika. Aber gleich wenn sie zurück ist, muss sie sich darum kümmern.“ Ihre Schwester nickte zustimmend und fuhr fort: „Nur noch ein paar Tage, dann ist sie wieder da. Aber du hast recht. Wozu haben wir das Kind zur Polizei geschickt? Komm, Schwester, ich will sehen, ob wir noch etwas erfahren!“

Jettchen wunderte sich über ihre sonst so ängstliche und dröge Schwester, die eher eine Sache bejammerte, als sich ihr zu stellen. Diesmal war es wohl anders.

Die Stimmen im Flur waren verschwunden. Jettchen und Fienchen durchschritten ihn leise. „Warte einen Moment!“ Jettchen blieb im dunklen Flur stehen, nahm ihr Hörgerät aus dem Ohr, pustete fest hinein und steckte es wieder ins Ohr.

Ihre Schwester schüttelte den Kopf.

„Na und? Ich will doch nichts verpassen! Die reden alle durcheinander da drinnen.“

Wieder schüttelte Fienchen den Kopf.

„Glaube mir, Schwester“, kam es heiser von Jettchen, „ich gebe nicht Ruhe, bevor die drei toten Tanten ihre Strafe bekommen haben.“

„Ich auch, ich auch, das sind wir der Deern aus Bayern schuldig. Sie sind alle wieder in der Stube, lass uns auch hineingehen. Vielleicht erfahren wir noch etwas. Aber eines sage ich dir, Kuchen esse ich hier keinen mehr.“ Fienchen griff nach der Stubentür.

„Aber einen Schnaps, den haben wir uns verdient.“

Als sie die Stubentür hinter sich geschlossen hatten, trat Gesine aus einem tiefen Türrahmen hervor.

„Einen Schluck, den sollt ihr haben, gerne auch zwei, ihr ollen Schnüfflerinnen. Und eure Tomke wird hier auch nichts erfahren. Niemand wird etwas erfahren. Dafür sorge ich.“ Sie griff in ihre Rocktasche und zog eine kleine braune Flasche hervor, schüttelte sie und stellte fest, bald wieder für Nachschub sorgen zu müssen.

Tage später – In der Küche der beiden Ostfriesinnen

„… mir war noch am nächsten Tag schlecht, so schlecht wie noch nie. Ich dachte, ich sterbe. Selbst als wir damals zu viel Schluck hatten, nachdem Miri angeschossen worden war, selbst danach war mir nicht so schlecht. Ob die uns wohl was ins Essen getan haben?“, beendete Oma Jettchen ihren Bericht.

„Oder es war der ranzige Kuchen!“, schickte Fienchen nach, „obwohl, den dree ollen Wievslüüt trau ich nich. Die haben Dreck am Stecken, da bin ich mir jetzt hundert Prozent sicher.“

Fienchen schaute ihre Schwester mit hochgezogenen Augenbrauen an und fuhr jammernd fort: „Ach, dass wir das noch erleben müssen, so was aber auch. Aber ich wusste ja schon immer, dass sie bösartig sind, die drei. Waren sie schon in der Schule. Ein Verhau, alle drei, wee de Düvel sülvst.“

Jettchen winkte ab. „Das will ich wohl noch erleben, dass denen das Handwerk gelegt wird, und wenn es das Letzte ist, was ich tue.“

Ihr war klar, hier musste schnell gehandelt und nicht gejammert werden und sie hoffte: „Vielleicht geht es ihnen jetzt endlich an den Kragen. Schließlich wissen wir, dass es wirklich kein Unfall war, sondern sie die Frau getötet haben, nur beweisen müssen wir es ihnen.“

„Wie willst du das machen, Schwester? Am Ende macht Gesine mit uns auch kurzen Prozess. Ach, wenn unsere Tomke nur endlich wieder zurück wäre!“ Von Fienchens anfänglichem Tatendrang war inzwischen nichts mehr zu spüren.

Carsten, der eigentlich nur kurz zu Besuch bei seinen Nachbarinnen war und sich die ganze Geschichte geduldig angehört hatte, erinnerte sich noch gut an das Besäufnis der beiden Alten. Gemeinsam mit den Nachbarinnen rechts und links hatten sie eine wilde Fete gefeiert, weil seine junge Kollegin Miri, die damals angeschossen worden war, außer Lebensgefahr war. Jetzt entgegnete er in gespielter Verärgerung: „Na, meinst du, Miri und ich kommen ohne Tomke auf dem Kommissariat nicht zurecht? Da bin ich jetzt aber verärgert. Übrigens hast du Hajo vergessen.“ Er verzog das Gesicht zu einer beleidigten Grimasse.

„Nein, so war das nicht gemeint und Hajo ist … aber wenn Tomke doch nur …“ Jettchens Stimme zitterte.

„Ja, ich verstehe schon, ihr könnt es nicht abwarten, bis Mord und Totschlag wieder von kompetenter Kraft geklärt werden.“ Er grinste leicht in sich hinein. Seine beiden alten Nachbarinnen wieder einmal auf den Arm zu nehmen, machte ihm sichtlich Spaß. Dann aber fuhr er fort: „Ende der Woche sind sie doch wieder da!“

Jettchens Gesicht hellte sich auf.

„Stimmt! Dann kommen beide zurück. Es ist nicht zu fassen, dass die beiden wegen diesem Corona-Zeugs nicht nach Hause fliegen durften, als Hajos Urlaub und Tomkes Dozentenzeit zu Ende waren. Das ist doch reiner Menschenraub, oder Entführung, wenn man nicht aus dem Land gelassen wird. Himmel, da fällt mir ein: Ich werde das Haus der beiden mal wieder ordentlich durchlüften!“

„Lüften reicht nicht. Ich komme mit und putze einmal quer!“, keifte Fienchen hinterher.

Carsten lachte verstohlen, aber Jettchen hatte ja recht. Ursprünglich war der Plan, dass Hajo seine Frau, die für ein halbes Jahr in Amerika eine Dozentenstelle angenommen hatte, zum Ende ihres Aufenthaltes besuchen und dann mit ihr gemeinsam zurückkommen wollte. Zuerst Tomke und später auch Hajo durften trotz Einreisesperre mit einer Sondergenehmigung ins Land, aber dann … Dann aber gab es in der Region dort derart viele Coronafälle, dass keiner den Bundesstaat betreten oder verlassen durfte. So hatten Hajo und Tomke noch vier ungeplante Urlaubswochen in Amerika. Auf dem Revier allerdings musste er gemeinsam mit Miri, die sich nach Abschluss ihres Studiums an der Polizeiakademie auf die Stelle in Wittmund beworben hatte und auch direkt genommen worden war, das Kommissariat alleine führen.

Carsten, der den Erzählungen der beiden Ostfriesinnen anfangs nur unaufmerksam folgte, war dann aber mit der Zeit doch hellhörig geworden. In den knapp zehn Jahren, die er nun in Ostfriesland lebte, begegneten ihm immer wieder einige alte Geschichten, die sehr merkwürdig schienen. Ob nun von Michaela, seiner Frau, einer wasch­echten Ostfriesin, oder von deren Schwägerin Gesche. Beide hatten sie ihm schon von Geschehnissen aus früherer Zeit berichtet, die großes kriminelles Potenzial in sich trugen. Da hatten sich zwei Bauern wegen ein paar Hektar Land gegenseitig die Köpfe eingeschlagen, eine Frau einen Mörder beauftragt, ihren Mann zu töten, damit sie mit ihrem Geliebten freie Bahn hatte. Mord und Totschlag aus Gier und Erbstreitereien sollte es auch gegeben haben. Aber wo gab es das nicht?

Ob diese Geschichten alle stimmten oder man ihm auch Dönjes untergejubelt hatte, wusste er nicht.