Küstenhuhn - Patricia Brandt - E-Book

Küstenhuhn E-Book

Patricia Brandt

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  • Herausgeber: GMEINER
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Im sonst so idyllischen Hohwacht an der Ostseeküste herrscht ein einziges Kuddelmuddel: Hühnerbauer Bartelsen plant einen Maststall und wird ermordet. Der bärbeißige Kommissar Oke Oltmanns ermittelt zwischen den aufgebrachten Mitgliedern von „Hühner ohne Grenzen e. V.“, die gegen den geplanten Maststall demonstrieren, und empörten Touristen, die sich in seiner Wache niederlassen. Als wäre das nicht genug, taucht in dem Durcheinander auch noch das Küstenhuhn Marlene auf, das bei der SUP-Regatta dem Sieg entgegensteuert.

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Seitenzahl: 309

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Patricia Brandt

Küstenhuhn

Kriminalroman

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

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Alle Rechte vorbehalten

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Coffeemill / Shutterstock und casc / pixabay

ISBN 978-3-8392-7112-4

Widmung

Für Michael

Vorwort

Im September 2021 hatte ich das große Vergnügen, eine Lesung von Patricia Brandt aus ihrem Buch »Imkersterben« beim Ostsee-Krimifestival zu moderieren, und bekam Einblicke in ihren Schaffensprozess als Autorin. Seit dieser Zeit habe ich voller Spannung und brennender Ungeduld auf ihren neuen Krimi »Küstenhuhn« gewartet. Ich wollte unbedingt die weiteren Entwicklungen in der Welt des eigenwilligen, wortkargen Polizisten Oke Oltmanns erfahren, einer Welt aus kleinen und manchmal auch großen Verbrechen, aber vor allem einer Welt, in der schrullige, knorrige, aber auch liebenswerte, heimat- und küstenverbundene Menschen leben. Und natürlich war ich neugierig, in welche Tiefen der Hohwachter »Unterwelt« uns Patricia Brandt diesmal führen würde.

In »Küstenhuhn« geht es um ein Thema, das viele Menschen umtreibt und das es inzwischen auch auf die Agenda politisch Verantwortlicher geschafft hat. Es geht um das Tierwohl oder anders ausgedrückt: um Tierquälerei. Ein Hühnerbaron will in Hohwacht einen großen Hähnchenmastbetrieb errichten. Und die Befürchtungen sind groß, dass er sich dabei nicht an Standards tiergerechter Haltung hält. 26 Hühner auf einem Quadratmeter am Ende der Mast! Diese nicht artgerechte Haltung führt unter anderem zu schmerzhaften Beindeformationen, Herz-Kreislauf-Problemen, Entzündungen und Geschwüren. All das empört einige Hohwachter, und so bildet sich Widerstand, der zu Auseinandersetzungen führt und schließlich auch Oke Oltmanns mehr beschäftigt, als ihm lieb sein kann. Die Idylle im kleinen Ostseebad ist getrübt.

Patricia Brandt schafft es wieder einmal, ein gesellschaftlich relevantes Thema mit einer Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit in einen Kriminalroman so einzubinden, dass es zwar immer präsent, aber nie dominant ist. Im Mittelpunkt stehen die Menschen mit ihren Träumen, Wünschen und Problemen. Und Küstenhuhn Marlene, die ihren Traum vom besseren Leben verwirklicht.

Patricia Brandt erzählt eine facettenreiche, höchst amüsante und unterhaltsame Geschichte, die vor allem eins ist: spannend bis zum Ende. Ein echter Pageturner.

Leo Hansen

Festivalleitung Ostsee-Krimifestival

Okes Welt

Oke Oltmanns: schrulliger XXL-Polizist und Tierpräparator mit Rücken. Er liebt die Ruhe im verträumten Fischerdorf. Darauf nehmen Urlauber und Verbrecher in diesem Sommer aber mal wieder keine Rücksicht. Verheiratet ist er mit der liebenswürdigen Inse.

Vincent Gott: Okes ziemlich neuer Kollege aus Köln. Auf der Suche nach dem Glück hat der 37-Jährige mit Hipster-Bart und Männer-Dutt Dom gegen Ostseestrand getauscht und muss nun feststellen, dass Klüngeln in Norddeutschland etwas anderes ist als in Köln. Zwischen Kiel und Fehmarn wird einfach viel weniger geredet … Immerhin lernt er im neuesten Mordfall mit der Reformhausfachberaterin Jonna Ochtenhausen eine sehr sympathische Zeugin kennen.

Wencke Husmann: Die gesundheitsbewusste Fischbudenbesitzerin vergrault zwar Stammgäste mit veganen Algen-Smoothies, hat aber ein großes Herz für altersschwache Legehennen mit besonderem Spürsinn. Verheiratet ist sie mit dem ausgeglichenen Jan.

Carmen Bachmann: Die blonde Halbtagskraft einer Hamburger Werbeagentur träumt von Delfingesängen und athletischen Surfern am Strand von Brasilien und bekommt stattdessen Schafe auf dem Deich und Bollerwagenfahrer. Nicht mal eine (leere) Ferienwohnung ist in Sicht. Verheiratet ist sie mit dem zurückhaltenden Martin. Ihre Kinder heißen Carla und Cedrik.

Fynn Bartelsen: Hohwachts Hühnerbaron plant, 39.000 Hähnchen zu mästen. Ist es da ein Wunder, dass die Dorfbewohner Protestbettlaken zum Fenster heraushängen – und Schlimmeres anstellen? Seine Frau heißt Berit.

Bernd Busse: Der Bürgermeister von Hohwacht, nie ohne seine Kapitänsjacke zu sehen, ist zwar um den dörflichen Frieden bemüht, kann die Mastanlage formal aber nicht verhindern.

Heiner Dubbels: Polizist aus Lütjenburg, hilft in der Not gern mit Absperrband und Pommes frites aus. Trotz seines Senk- und Spreizfußes ist er auf Zack.

Edeltraut (sie möchte ihren Nachnamen nicht nennen): Hohwachts zuckersüße Bäckereifachverkäuferin. Ihre Rundstücke sind das Beste, was einem Mann zur Hauptappetitzeit in Schleswig-Holstein passieren kann. Bei ihr haben die Hackepeter-Brötchen noch drei Zwiebelringe, da können sich Lütjenburgs Bäcker mal eine Scheibe abschneiden!

Holger Holtermann: Der Briefträger interessiert sich nicht nur für Dorfklatsch, sondern neuerdings auch für Hühner.

Maria Bachmann: Die adrette Rentnerin aus Hamburg hat sich in den feingeistigen Strandkorbvermieter Johann-Magnus Kreyenborg verliebt und lebt seitdem in seinem Reetdachhaus an der Steilküste. Sie ist die Mutter von Carmen Bachmann.

Marlene: einst anonyme Eierproduzentin, heute in Land und Düne bekanntes Küstenhuhn. Die alte Legehenne fährt SUP-Board, sagt den Küstenbewohnern im Strandkorb die Zukunft voraus und findet schließlich ihren eigenen Weg.

Mats Meyer: politisch engagierter Begründer des Vereins »Hühner ohne Grenzen«, lebt mit den Hennen Kofi, Annan und Brain, dem Hirn, in einem Bauwagen. Die Welt könnte friedlicher nicht sein – gäbe es Bartelsen nicht.

Malgorzata Rieken: geschäftstüchtige Inhaberin einer kleinen Pension am Meer.

Axel Scheller: Der Orthopäde in Lütjenburg kümmert sich normalerweise um Okes Rückenprobleme, diesmal muss er einen unnatürlichen Tod feststellen. Er ist mit Swantje verheiratet.

Horst Wieczorek: Der neugierige Ex-Postler aus Hamburg gehört zu Hohwachts treuesten Feriengästen. Besuche gerne seinen Instagram-Account und hinterlasse viele Likes. Sonst kommt er nächstes Jahr wieder!

Prolog

Eine Frau wie ein Kerl. Den Spruch hörte sie des Öfteren. Sie hatte ein breites Kreuz und mancher Typ beneidete sie um ihre Oberarme. Swantje drückte die Schultern nach hinten und ließ erst den linken, dann den rechten Arm kreisen. Von nichts kam nichts. Nach einem kurzen Aufwärmtraining fühlte sie sich startklar. Swantje tänzelte ein wenig auf der Stelle, legte dann den Kopf zur Seite und es knackte irgendwo im Nacken. Wippend prüfte sie den Sitz ihrer Turnschuhe und den Abstand ihrer Füße zur Startlinie. Das Publikum auf den Zuschauertribünen des Sportforums johlte und pfiff erwartungsfroh.

»Neck and leg break!«, hörte sie jemanden hinter sich rufen. Sie verdrehte die Augen. Der Scheller! Sie hatte ihm bereits einen Korb gegeben, aber dieser Witzbold mit seinem albernen falschen Englisch gab nicht auf. Er war ihr sogar zur Weltmeisterschaft nachgereist. Jetzt saß der Student von der Küste zwischen den ganzen Hauptstädtern und schwenkte ein Plakat für sie – mit lauter Herzen. Irgendwie beeindruckend, seine Hartnäckigkeit. Von seiner Schuppenflechte abgesehen war Axel keine schlechte Partie. Er würde vermutlich irgendwann eine Arztpraxis in Lütjenburg eröffnen. Und mit Fynn war lange Schluss.

Während sie wartete, spürte sie ihren Herzschlag, er war ein wenig schneller als sonst. Sie fühlte sich voller Adrenalin. Heute würde sie in Berlin Gold holen – oder wenigstens Silber.

Als Kind zweier Friesen, beide Meister im Klootschießen, waren ihr Schnelligkeit, Kraft und Konzentration in die Wiege gelegt. »Kloot«, das kam vom niederdeutschen »Kluten«, dem Erdklumpen. Eine vorzeitliche Waffe, die die Friesen ihren Widersachern entgegenschleuderten. Heute benutzten die Klootschießer mit Blei ausgegossene Holzkugeln.

Das Klootschießen hatte ihr immer Spaß gemacht. Doch das war im Vergleich zu dem hier nur Jux gewesen.

Einer der Helfer reichte ihr den Gummistiefel. Sie fasste ihn am Schaft an, nicht am Hacken. Es kam auf die Technik an. Und die beherrschte sie seit ihrem Auslandsjahr in Finnland perfekt. Sie hatte bei den Besten der besten Gummistiefelweitwerfer gelernt. Die Konkurrenz aus Schweden, Estland und Slowenien konnte einpacken.

Der Helfer gab ihr ein Zeichen und Swantje fixierte einen imaginären Punkt weit hinten im Stadion. Sie hob den Arm. Mit aller Kraft schleuderte sie den Stiefel von sich. Während des kurzen Flugs biss sie sich hart auf die Zähne, als könnte der Stiefel dadurch noch einen Meter weiter fliegen. Gummistiefel verloren im Vergleich zu anderen Wurfgeschossen sehr schnell an Geschwindigkeit, weshalb der Winkel wichtig war. Noch einen einzigen Meter, betete sie im Stillen. Der Stiefel traf auf der Grasnarbe auf.

Ein langes Maßband hinter sich herziehend rannte ein Helfer über das Feld. »34,5 Meter!«, verkündete er laut. Jubel brandete hinter ihr auf.

34,5 Meter. Sie schwankte. War sie jetzt die neue Weltmeisterin im Gummistiefelweitwurf? In dem Moment rammte sie plötzlich jemand von hinten und wirbelte sie herum, sodass sie vor Überraschung das Gleichgewicht verlor. Und dann knallte Axel Scheller auf sie. »Swantje!«, keuchte der junge Mediziner, der sie noch immer fest umklammerte. »You knock me out the socks!«

Das alles ging ihr durch den Kopf, als sie auf dem Küchentisch ihres Architektenhauses in Lütjenburg ihr Plakat beschriftete: »Keine Hähnchenmast in Hohwacht.« Axel Scheller und sie hatten vor mehr als zehn Jahren geheiratet. Sie verstand nicht, warum er sie nicht zum Marktplatz gehen lassen wollte. Er störte sich offensichtlich an dem Protest gegen den geplanten Maststall. Aber irgendjemand musste Fynn Bartelsen doch Einhalt gebieten!

Carmen

Carmen schnüffelte ein wenig an der Klebstofftube. Aber entweder war es der falsche Kleber, oder ihr Hirn reagierte einfach nicht auf Lösungsmittel. Jedenfalls fiel ihr weiterhin nichts ein. Dabei hoffte Carmen Bachmann, Halbtagskraft in einer Hamburger Werbeagentur und Mutter zweier Kinder, inständig auf einen Geistesblitz. Denn sie sollte einen Text über »Möllers« neue Trendfarbe verfassen.

Pflichtbewusst ließ sie die graue Farbkarte, die die Firma ihr zugeschickt hatte, erneut auf sich wirken. Kurze Zeit später notierte sie den Satz: »Grau ist das neue Grün.« Ergab das überhaupt einen Sinn?

Der Stift quietschte, so heftig strich sie das Geschriebene durch. Es war nicht mehr viel Platz auf dem Papier. Sie hatte bereits eine Menge Ideen verworfen. Langsam wickelte Carmen eine Haarsträhne um ihren Finger. Als ob das hülfe. »Grau, grau, grau sind alle meine Farben«, sang sie. Dann blickte sie zur Zimmerdecke und überlegte, wer von ihren Bekannten seine Wohnung in dieser tristen Kellerfarbe streichen würde. Ihr fiel niemand ein.

»Unser Grau bringt Farbe in Ihr Leben.« Nicht gut, zu ironisch. Sie ging einmal um den Schreibtisch herum zum Bürofenster und blickte hinaus. Sie sah nichts als langweilige Bürogebäude. Eines grauer als das andere: mausgrau, steingrau, grau. Sie war kurz davor loszuschreien: »Ich muss hier raus!« In ihrem Kopf meldete sich eine lästerliche Stimme: »Mach doch mal grau!« Sie zwang sich, nicht zu denken. An nichts. »Grau, grau blüht der Enzian«, sang die Stimme spöttisch.

Ihre Kollegin Nele steckte ihren roten Lockenkopf durch den Türspalt. »Du noch hier? Willst du nicht langsam nach Hause?«

Carmen sah sie deprimiert an. »Ich kann nicht. Mir fällt nichts ein. Ich bin völlig unkreativ!«, jammerte sie.

Ihre Kollegin lächelte milde. »Nicht immer schwarz-weiß-malen«, antwortete sie leichthin.

Carmen starrte sie mit offenem Mund an. »Du bist ein Genie!«

Zu Hause hatte sie just den Schlüssel ins Schloss gesteckt, als Martin die Tür von innen aufriss. »Wir fahren nach Brasilien!«, jubelte ihr Gatte.

Brasilien? Das verwirrte sie. »Echt jetzt? Haben wir im Lotto gewonnen oder so?« Eigentlich wusste sie bereits in diesem Augenblick, dass sie sich zu viele Hoffnungen machte. Sie machte sich immer zu viele Hoffnungen. Das Gleiche galt für Nudeln und Sorgen. Er grinste schief. »Das Brasilien in Südamerika meine ich nicht. Es gibt noch eins in Schleswig-Holstein.«

Sie streifte die Pumps von den Füßen. »Aha?«

Er sah sie erwartungsvoll an. »Ja, da gibt es einen Strandabschnitt, der so heißt. Freust du dich!?«

Sie hängte ihren Blazer auf einen Bügel in den Garderobenschrank, bevor sie antwortete. »Klar. Ich bin nur so unglaublich erledigt von diesem grau-samen Tag.« Die Trendfarbe schien ihr nicht aus dem Kopf zu gehen. Dass er spontan ein Ferienhaus an der Ostsee gemietet hatte, war wirklich die beste Nachricht des Tages. Die musste nur erst mal richtig zu ihr durchdringen.

Martin hatte sich geändert, seitdem sie vor einiger Zeit eine schlimme Krise durchlitten hatten. Damals hatte er mit seinem Fotoladen tief in den roten Zahlen gesteckt und sie hatten fast nur noch gestritten. Vor allem über Geld. Nachdem sie renoviert und ein paar Veränderungen vorgenommen hatten – so boten sie jetzt auch verschiedene Fotokurse für Anfänger an –, konnten sie mehr und mehr neue Kunden gewinnen. Zu sagen, das Geschäft florierte, wäre allerdings übertrieben.

Die Option auf eine Fernreise gab es schlicht nicht. Um ehrlich zu sein, hätte sie nicht einmal damit gerechnet, dass Martin in diesem Jahr überhaupt verreisen wollte. Deshalb freute sie sich umso mehr über seine Überraschung. Zumal sie ihre Mutter wiedersehen würde. Seitdem Maria von Hamburg-Eppendorf zu ihrem Verlobten an die Hohwachter Steilküste gezogen war, waren Familientreffen selten geworden.

»Wir könnten natürlich auch bei meiner Mutter schlafen. Das würde nichts kosten«, sagte sie auf dem Weg ins Wohnzimmer, wo der Fernseher lief.

»Ja, aber …«, fing er an.

Sein Gesichtsausdruck ließ sie zurückrudern: »Du hast recht. Das Gästezimmer ist zu klein für uns vier.« Sie fläzte sich zu den Kindern aufs Sofa. Er ging in die Küche.

»Hallo, machst du uns Abendbrot?«, wurde sie von Carla begrüßt. Ihre Tochter wandte nicht einmal die Augen vom Fernseher. Sie hatte nicht mitbekommen, dass sich Martin bereits ums Essen kümmerte.

Carmen zog die Beine an und scherzte: »Och, und ich dachte, ihr massiert mir die Füße?«

Carla und ihr Bruder Cedrik schrien unisono: »Iieh! Käsemauken! Weg damit!«

Martin fuhrwerkte einige Zeit nebenan. Dann hörte sie, wie er die Backofentür öffnete und wieder zuklappte. In der Wohnung begann es aromatisch zu duften. »Die Ferienwohnung wird dir gefallen«, rief er, als er mit zwei Tellern ins Wohnzimmer kam. »Sie hat sogar einen Garten mit Hängematte. Kannst sie dir gleich mal im Internet angucken, wenn wir mit der Pizza fertig sind.«

Die Kinder jauchzten: »Oh ja, Pizza!« Die beiden kamen ihr manchmal vor wie Zwillinge.

Etwas später hatte sie eine komplette Pizza Funghi verputzt und alles über die von Martin gebuchte »Surfer-Lounge« und das schleswig-holsteinische Brasilien gegoogelt, was es zu googeln gab. Auch, wieso der kleine Ort in Norddeutschland hieß wie das Land in Südamerika: Einst hatte ein Fischer ein Wrackteil eines Schiffes mit der Aufschrift »California« am Strand gefunden und an seine Hütte genagelt. Ein missgünstiger Nachbar soll daraufhin »Brasilien« an seine Fischerhütte geschrieben haben. Inzwischen gab es sogar ein richtiges Ortsschild »Brasilien«, das bei Souvenirjägern sehr begehrt war. Der Strandabschnitt galt als der sonnenreichste Flecken in der Gemeinde Schönberg und lag genau neben »Kalifornien«. Von dieser ulkigen Geschichte abgesehen entdeckte sie, dass im nahe gelegenen Hohwacht eine große SUP-Board-Regatta stattfinden sollte.

Die Regatta wäre das Highlight für ihren nächsten Reiseblog auf der Homepage von Martins Fotogeschäft. »Das wird bestimmt ein tolles Spektakel«, schwärmte Carmen den Kindern vor und spürte echte Vorfreude. »Es gibt Monster-Boards, auf die bis zu zehn Personen passen! Manche Gruppen verkleiden sich sogar für den Wettbewerb.«

Carla sprang auf, um in der Verkleidungskiste nachzusehen, ob ihr Hexenkostüm noch passte. »Ich weiß nicht, ob Kinder bei der Regatta mitmachen dürfen«, meinte Carmen vorsichtig. »Aber wir können sicher einen Kursus buchen, das ist bestimmt nicht so teuer.«

Cedrik jammerte, dass er kein »gutes« Kostüm habe.

»Du musst dich nicht verkleiden«, beruhigte ihn Carmen schnell.

»Du weißt doch gar nicht, was das ist, Stand-up-Paddling«, stänkerte Carla, die mit einem spitzen Hut ins Zimmer stolzierte.

Als sie später nebeneinander im Bett lagen, fragte Martin: »Freust du dich wirklich auf die Ostsee?«

Sie lüpfte ihre Decke, damit er zu ihr hinüberrutschen konnte. »Klar! Wir waren doch noch nie in Brasilien.« Sie legte ihren Kopf in seine Armbeuge, nahm seinen warmen, nach Pfefferminzzahncreme riechenden Atem auf ihrem Haar wahr und schloss die Augen. Sie fühlte, wie sie müde wurde.

In Gedanken reiste sie ans Meer. Im Halbschlaf gewann sie den Eindruck, schon da zu sein. Sie spürte den pulvrigen Sand unter den Zehen. In der Ferne lockte glitzerndes Wasser. Vor ihrem geistigen Auge sah sie Surfer, die sich in die schäumenden Wellen stürzten. Das Meer rauschte in ihren Ohren. Und hin und wieder blökte leise ein Schaf vom Deich.

Oke

Der Hahn auf dem Lütjenburger Marktplatz flatterte wild mit den Flügeln, was einige Umstehende dazu veranlasste, lächelnd zur Seite zu treten. Dann schüttelte er seinen Kamm und gab ein nicht sehr tierisch klingendes »Kikeriki« von sich.

Kommissar Oke Oltmanns wusste nicht, wer unter dem Vogelkostüm steckte. Doch er wusste, worum es hier ging: Seit Wochen gab es diese Demos auf dem Grünmarkt. Zu den Protestlern gehörten Swantje Scheller, die sportliche Frau des örtlichen Orthopäden, die Reformhausfachberaterin Jonna Ochtenhausen mit den grün gefärbten Haaren, der alte Musikschullehrer Heinze – dessen Haar war so dünn geworden, dass die Kopfhaut durchschimmerte – und noch ein paar andere, die meinten, dass Landwirt Fynn Bartelsen keinen Hähnchenmaststall in Hohwacht bauen dürfe.

Inzwischen war die Grüngefärbte in ihren Birkenstockschuhen ans Mikro getreten. »Wenn ein Maststall in Hohwacht gebaut wird, ist nicht nur von einer örtlichen Geruchsbelästigung auszugehen.« Die Rednerin schien ein wenig nervös zu sein. Sie holte Luft, bevor sie weitersprach: »Nein, nach jedem Mastdurchgang wird Bartelsen den Mist der Tiere entfernen müssen. Und dieser Mist ist nicht nur antibiotikabelastet. Er enthält auch multiresistente Keime.« Die Stimme der jungen Frau klang jetzt schneidend. »Überlegt, was das für Folgen für das Gemüse aus der holsteinischen Schweiz haben wird. Denkt an den Nitrateintrag in den Boden und unser Grund- und Trinkwasser! Denkt an die Gesundheit eurer Kinder! Ein Maststall in Hohwacht geht auch die Lütjenburger etwas an!«

Die Arztfrau Swantje Scheller applaudierte als Erste. Das Klatschen übertönte sogar den Beifall ihrer Mitstreiter, so begeistert schlug sie die Handinnenflächen aufeinander. Oke achtete jedoch nicht weiter auf die kleine Ansammlung. Diesen Sonnabend hatte er frei und gedachte, den Tag in seiner Werkstatt mit einem mausetoten Waschbären zu verbringen. Er wollte seiner Frau nur eben einen Nachschub an Honiggläsern liefern. Inse hatte einen Imker-Lehrgang in Kiel absolviert. Ihre »Ostholsteiner Gartenmischung« verkaufte sich sehr gut.

Eine Kundin wartete bereits darauf, dass er weitere Gläser aus dem Karton beförderte und auf den Tapeziertisch stellte. »Der Honig ist ja so dunkel«, meinte sie an Inse gewandt, »ist da etwa Tanne mit drin? Ich liebe Waldhonig!«

Inses Antwort ging in dem Sprechchor unter, der in diesem Augenblick vor dem Eierstand einsetzte: »Nein zu Tierquälerei, Nein zu Tierquälerei«, hallten einige Stimmen dünn über den Platz. Okes Augen huschten über die Gruppe. Er schätzte die Anzahl der Teilnehmer auf 15. Ein paar Demonstranten hielten Plakate hoch.

»Verschwindet!« Bartelsens Stimme kratzte wie ein Scheuerschwamm auf Porzellan. Während er darauf wartete, dass die Demonstranten das Weite suchten, lüpfte er seine Schiffermütze und wedelte damit herum. So als hätte er vor, sie wie lästige Fliegen zu verscheuchen. Doch seine Gegner verschwanden nicht. Der mannsgroße Hahn schüttelte seinen Stoff-Kamm. Sie hörten ein gedämpftes »Nö« unter dem Kostüm, was einige Passanten zum Lachen brachte. Sie hielten den Streit für ein Schauspiel.

Der Hühnerbauer machte Anstalten, hinter seinem Stand hervorzukommen. Sein Gesicht war jetzt wutverzerrt. »Ziemlich dünnes Nervenkostüm«, raunte jemand in Okes Nähe. Das war kein Geheimnis. Jeder Marktbesucher konnte sehen, dass Bartelsens Nerven blank lagen. Oke räumte gerade zwei leere Honigkartons unter Inses Tapeziertisch, als ihn ein überraschter Ausruf des Vogelmanns zu schnell hochkommen ließ und er sich den Kopf stieß. Düvel ok ne!

Bartelsen hatte dem Hahn offenbar ein Ei an den Kopf geworfen. Alarmiert rief der Kommissar über die Gurken und Dithmarschen Paradiesäpfel am Nachbarstand hinweg: »Hest du nich good slopen, Bartelsen?«

Spätestens jetzt waren die anderen Demonstranten gewarnt. Schützend hielt sich die Scheller ihr Pappschild vor die spitze Nase: »Keine Hähnchenmast in Hohwacht«, stand auf der Pappe. Bartelsen war ein guter Werfer: Das Ei landete genau in der Mitte des Buchstabens »O«. Das nächste folgte sogleich. Die Scheller trat als Erste den Rückzug an. Ihre Schuhe klapperten eilig über das historische Pflaster.

Mit dem überraschenden Eierangriff des Hühnerbarons kam Bewegung in die Gruppe der Protestteilnehmer. Sie stoben auseinander wie Hühner, auf die ein Fuchs Jagd machte. Mit wehendem Kittel flitzte die Reformhausmitarbeiterin in Richtung des Ladengeschäfts, in dem sie sonst Sanddornmarmelade und Körnerkissen verkaufte. Auf halbem Weg verlor sie fast eine ihrer weißen Sandalen. Die beiden Träger des Transparents »Bauernhöfe statt Agrarfabriken« eilten derweil zum Brunnen vor dem Färberhaus von 1576 und nutzten ihn als Deckung.

Der Rückzug der Gegner blieb am Eierstand nicht unbemerkt, aber Bartelsen war in Rage: Das nächste Ei zerschellte an der Bronze von Hein Lüth, die auf dem Brunnen thronte. Zu Lebzeiten soll der Lütjenburger Nachtwächter stets gelächelt haben. Ob das auch auf sein bronzenes Abbild zutraf, war nicht zu sehen: Den Mund der Statue überdeckten Bruchstücke von Eierschale.

Spätestens in diesem Augenblick bemerkten auch andere Marktbesucher, was vor sich ging. Die meisten hasteten schnell weiter oder verschanzten sich, so gut es ging, hinter Hausecken und Ständen. Wer auf dem Platz stehen blieb, riskierte, abgeworfen zu werden. Friseurmeister Bruno Buckmann, der seinem Kunden neben der rosenberankten Apotheke am Marktplatz die Haare stutzte, ließ den Haarschneider sinken und verriegelte eilig die Ladentür von innen.

Fynn Bartelsen legte in diesem Augenblick richtig los. »Hau ab!«, schrie er und feuerte eine neue Ladung auf den Mann im Vogelkostüm ab. Perplex registrierte Oke, wie der Hühnerbauer – zack, zack, zack – einen ganzen Eierkarton leer machte. Es nützte nichts, dass Gurken-Günther lauthals versuchte, dem Hühnerbaron Einhalt zu gebieten: »Bartelsen, lass dat na!«

Hier war zweifellos die Staatsgewalt gefragt. Dienstfrei hin oder her – dissem Höhnerkraam würde XXL-Polizist Oke ein Ende bereiten. Der tote Waschbär auf seiner Werkbank würde eben noch eine Weile warten müssen. Schade, denn Holger hatte ihm gerade mit der letzten Post die benötigten Hilfsmittel geliefert: eine Waschbärenzunge samt Gebiss. Als passionierter Hobby-Tierpräparator hätte Oke zwar gern passende Augen bestellt. Doch Waschbäraugen waren schwer zu kriegen. Kein Onlineshop führte sie. Oke hatte sich deshalb Hausschafaugen schicken lassen. Aber all das war jetzt unwichtig. Bevor er sich um das leblose Raubtier kümmern konnte, musste er den für seinen Geschmack viel zu lebendigen Bartelsen bändigen.

Verärgert trat Oke über zerbrochene Eier hinweg, während er sich in Richtung Eierstand bewegte. Bartelsen sah ihn nicht kommen. Dass der Besitzer des Hohwachter Legehennenbetriebs offensichtlich den Verstand verloren hatte, fand Oke eigentlich nicht weiter verwunderlich. Bartelsen, der mehr Hühner besaß, als das Fischerdorf Einwohner hatte, galt als meistgehasster Mann im Ort, seit er den Bau einer neuen Hähnchenfarm für 29.999 Tiere angekündigt hatte.

Schon vor Jahren – bei der Inbetriebnahme seiner Biogasanlage – waren die Nachbarn auf die Barrikaden gegangen. Und jetzt wollte Bartelsen die Abwärme dieser Biogasanlage für die Hähnchenmast nutzen und löste damit einen Sturm der Entrüstung aus. Die Hohwachter waren sich einig: »Nein zu Massentierhaltung!«, stand auf den Bettlaken, die sie zu ihren Fenstern hinaushängten. Es reichte schon, dass Bartelsen einen Legehennenbetrieb führte. Mehr Hühner brauchte Hohwacht nicht. So lautete die allgemeine Überzeugung.

Alles lief auf die nächste Ratssitzung hinaus, bei der über die Anlage entschieden werden sollte. Und so, wie Oke auf dem Revier in Lütjenburg gehört hatte, hatten die Maststallgegner bereits eine weitere Demo, dieses Mal vor dem Rathaus, angemeldet. In Lütjenburg arbeitete er neuerdings hauptsächlich – gezwungenermaßen. Dies war eine Auswirkung der desaströsen Reform, die Polizeichef Jens Hallbohm angezettelt hatte.

Direkt vor seinen Füßen ging ein weiteres Ei zu Bruch und etwas Flüssigkeit spritzte auf seinen Lederschuh. Oke Oltmanns schwoll der Kamm. »Schluss damit, Bartelsen!« Sie waren hier schließlich nicht beim ostfriesischen Eierwerfen.

Oke war jetzt nur noch zwei Schritte vom Hühnerbaron entfernt. Er wollte ihn packen, um ihn von weiterem Unsinn abzuhalten, als er aus den Augenwinkeln einen Schatten sah. Bartelsen sackte ruckartig nach hinten.

Er konnte nicht mehr verhindern, dass der Hühnerbaron auf dem Boden aufschlug. Es dauerte nicht lang, bis sich das Pflaster rot verfärbte. Aus der Eierschlacht war blutiger Ernst geworden. Tödlicher Ernst.

Jan

Jan Husmann gab der Autotür einen Schubs mit dem Knie. Die Sonne stach vom Himmel und er schleppte sich mit Salat, Möhren und Kohl ab. Sehnsüchtig warf er einen Blick auf den weiß-blau gestreiften Strandkorb, der ein schattiges Plätzchen hinter der Fischbude bot. Man konnte von hier aus sogar einen Zipfel Ostsee sehen. Auf dem Weg zur Hintertür wäre ihm fast ein Bündel Petersilie aus der Kiste gefallen. Seufzend stellte Jan die Plastikkiste ab, stopfte die grünen Stängel zurück und setzte seinen Gang zur weiß getünchten Strandhütte fort.

Durch ein offenes Fenster konnte er seine Frau bereits hören, bevor er sie sah. Mit einschmeichelnder Stimme rief sie: »Komm! Na, komm schon!« Neugierig lief Jan mit der Gemüsekiste zur Tür. Kurz bevor er die Schwelle erreichte, hörte er Wencke sagen: »Ja, komm genau hierher! Ich habe köstliche Kartoffelpelle für dich.«

Jan wich instinktiv einen Schritt zurück. Pelle? Nicht ihr Ernst! Auch wenn er als ehemaliger Smutje ziemlich abgehärtet war: Wenckes Kochexperimente jagten ihm inzwischen Angst ein.

Schlimm genug, dass sie das Wort »Backfisch« auf der Tafel gestrichen und das Fischhus zur ersten veganen Bude am Platz erklärt hatte. Aber Kartoffelpelle? Taten ihr jetzt auch schon die Kartoffeln leid, sodass sie nur noch deren Pelle essen durften? Irgendwo musste es aufhören!

Zumindest hatte er vorgesorgt und Kartoffelsalat im Zehn-Kilo-Eimer und Fertigfischbuletten gekauft. Beides lag noch versteckt hinter den Getränkekisten im Kofferraum. Wenn Wencke nicht hinschaute, verkaufte er äußerst diskret Fleisch- und Fetthaltiges unter der Ladentheke. Besondere Umstände erforderten besondere Maßnahmen. Und dass seine Frau aus der Fischbude ein Wurzelhaus gemacht hatte, war ein besonderer Umstand. Das fanden die meisten Stammgäste auch!

Argwöhnisch trat Jan in das schummrige Halbdunkel der Strandbude, gefasst auf eine neue vegane Foltermethode. Doch statt hinter der Theke stehend entdeckte er Wencke auf allen vieren unter einem der Tische. Überrascht stellte Jan die Kiste ab. »Was machst du denn da?«

Wencke stand auf. Ihr silbriges Haar schien sich stärker als sonst zu krausen. »Vielleicht kannst du mir helfen?« Sie deutete unter den Tisch. Jan beugte sich hinunter, um zu sehen, was sie meinte.

Dort hockte etwas, das er am ehesten als Nackt-Huhn beschrieben hätte. Falls es so etwas gab. Der Vogel hatte nur wenige Federn. Er sah aus, als hätte jemand begonnen, ihn zu rupfen, und dann kurz vor Schluss aufgegeben.

»Wencke, was ist das?«

Ein strafender Blick seiner Frau traf ihn. »Ein Elefant! Sieht man doch.« Ihrer gereizten Stimmung nach zu urteilen, musste Wencke schon länger versucht haben, das Huhn zu fangen. Und wenn sie das Huhn nicht fangen konnte, brauchte er eigentlich nicht anzufangen, es zu versuchen. Seine Frau war auch mit Ende 50 ein Sport-Ass.

»Wo kommt das Tier überhaupt her?«, erkundigte er sich, um Zeit zu gewinnen.

»Sie heißt Marlene! Mats Meyer hat sie von einem Legehennenbetrieb in der Nähe von Kiel«, erklärte sie. »Der Inhaber wollte seine alten Legehennen loswerden. Da hat Mats angeboten, sie und ein paar andere Hennen mitzunehmen. Er musste nicht mal bezahlen. Und weil ja die Kosten für den Schlachter wegfallen, hat der Fabrikbesitzer sogar noch Gewinn gemacht …«

Jan kapierte immer noch nicht, warum dieses bemitleidenswerte Geschöpf in ihrer Fischbude saß. »Und warum ist sie nicht bei diesem Mats?«, fragte er vorsichtig.

»Weil«, setzte Wencke an, brach dann aber ab. »Fang sie erst mal!«

Jan wusste, wo seine Grenzen lagen. Ohne Widerworte probierte er zunächst einen Überraschungsangriff. Doch Marlene war schneller. Sie flatterte auf und entfernte sich ein ganzes Stück in die hintere Ecke des Raums.

Wencke beobachtete ihn beim nächsten Versuch. Milde gestimmt berichtete sie: »Mats will einen Verein gründen, um viele Hühner zu retten. Der Verein soll die Hühner kurzzeitig aufnehmen und sie dann an Menschen wie uns kostenlos abgeben – Tierfreunde, die Hühnern ein Zuhause geben wollen.«

Jans rechte Braue schoss steil nach oben. Er konnte sich nicht erinnern, jemals den Wunsch nach Hühnerhaltung geäußert zu haben.

»Fang sie einfach!« Mit diesen Worten drehte sich Wencke um und machte sich daran, weiter auszuladen.

Jan betrachtete Marlenes Schnabel. Verglichen mit Wenckes früherem Hund Wolfgang kam ihm das Huhn relativ harmlos vor. Jan zog die Ärmel hoch und griff wieder ins Leere.

Das Huhn war zwar alt, aber verteufelt schnell. Es hatte einen ausgeprägten Fluchtinstinkt. Erneut bekam er nur Luft zu fassen. Jedes Mal, wenn er glaubte, Marlene zu haben, flog sie fort. Jan begann zu schwitzen. »Gleich dreh ich dir den Hals um!«

Briefträger Holger Holtermann pfiff anerkennend durch die Zähne. Eben hatte er den Kopf durch die Lücke im Plastikvorhang am Eingang gesteckt und von dort die Jagdszene beobachtet. »Haste dich endlich durchgesetzt, Jan? Find ich gut! Diesen ganzen Linsen-Hafer-Klumpatsch konnte kein Mensch mehr sehen! Schlachtest du es selbst?« Holtermann ließ ihn nicht zu Wort kommen: »Weißt du, worauf ich mal wieder könnte?«, fuhr er fort. »Diesen französischen Klassiker: Hähnchen Marbella oder wie das heißt …« Holgers Augen bekamen bei der Vorstellung von Hähnchenbrusthälften an Backpflaumen in einem Sud aus Weißwein einen besonderen Glanz.

»Das hier ist kein Gourmet-Restaurant, sondern eine Fischbude«, erinnerte ihn Jan und rieb sich das Bein: Beim letzten Ausfallschritt in Richtung des türmenden Huhns hatte er eine Sehne überstreckt. Jedenfalls fühlte es sich so an. »Oder wenigstens war es mal eine Fischbude – und zwar eine gute!«

Es reichte ihm jetzt wirklich mit diesem Huhn. Mit der Katzenhaftigkeit eines Manuel Neuers warf sich Jan unvermittelt auf Marlene – und landete hart auf den Bodendielen. Seine Knie brannten wie Feuer. Marlene hatte sich außer Reichweite gebracht. Sie befand sich zu diesem Zeitpunkt auf dem Rettungsring an der Wand. Sie schien kaum Halt zu finden und flatterte heftig mit den Flügeln.

»De is achtern un vörn beslaan«, stellte Holger trocken fest.

Jan fuhr wütend herum: »Schnack nicht! Hilf mir lieber!« Er schüttelte den Kopf über den Briefträger. War der jetzt etwa auch Experte für Geflügel? Jan wusste selbst, dass das Huhn hinten und vorne beschlagen, also verdammt clever war.

»Wahrscheinlich will die Ärmste nicht zurück in die Transportkiste. Sie ist vermutlich vollkommen traumatisiert«, überlegte Wencke laut. Sie schleppte gerade von draußen eine weitere Obst- und Gemüsekiste in Hohwachts neues Veganismus-Zentrum. »Wisst ihr, wie viel Platz die Hühner in diesen Legebatterien haben?«

Jan konnte nicht antworten. Er hatte sie – beinahe.

Auf dem Bauch liegend sah er in Marlenes furchtsame gelbe Augen. Sie befand sich nur wenige Zentimeter von ihm entfernt. Jan hielt die Luft an. Im Zeitlupentempo näherten sich seine Hände unaufhaltsam dem Zielobjekt. Da klingelte Holtermanns Handy – und Marlene wetzte in einem Affenzahn unter den nächsten Barhocker.

Seine bessere Hälfte tauchte vorübergehend in seinem Gesichtsfeld auf. »So wird das sowieso nichts. Wir müssen da psychologischer rangehen.«

Jan wusste, wie man ein Schiff durch die Nacht navigierte, er war sich im Klaren darüber, wie man Fischbuletten scharf anbriet, und er konnte Kaffee wie Teer brühen. Nur mit einer Sache kannte er sich definitiv nicht aus: mit dem Seelenleben eines altersschwachen Haushuhns.

Langsam stand er auf und wischte sich die Hände an seiner Lieblingsjeansshorts ab. Dabei warf er dem wenig dienlichen, weil noch telefonierenden, Besucher Holtermann einen bösen Blick zu. »Wie, psychologischer?«, fauchte er.

Wencke setzte ihre verständnisvolle Miene auf. »Das Rumgehampel macht Marlene mental zu viel Stress. Wir müssen den Druck vom Kessel nehmen! Sie braucht ihren Freiraum! Das müssen wir akzeptieren.«

Sie vernahmen ein leises Kratzen der Krallen auf den Holzdielen. Als hätte das Tier die Worte verstanden, kam es unter dem Stuhl hervor. »Gack«, machte Marlene.

»Du hast gesagt, ich soll sie einfangen«, erinnerte Jan seine Frau.

»Ja, aber das geht nicht. Hühner haben ihren eigenen Kopf.« Sie dachte einen Moment nach. »Hühner ohne Grenzen – das wäre der richtige Name für Mats’ Verein. Vielleicht werde ich zweite Vorsitzende …«

Bevor Jan etwas dazu sagen konnte, fiel sein Blick auf Holger. Der Briefträger hatte mittlerweile aufgelegt und starrte mit unnatürlich geweiteten Pupillen zum Fenster hinaus. »Das eben war meine Schwester«, setzte er mit belegter Stimme an und schluckte dann. »Ich soll sie sofort vom Lütjenburger Marktplatz abholen. Da gab es wohl gerade einen Unfall. Ich habe es nicht richtig verstanden. Sie war ganz durcheinander.« Holtermann schluckte wieder. »Jedenfalls soll der Hühnerbaron tot sein …«

Oke

Oke beugte sich so tief über Bartelsen, dass er dessen Blut riechen konnte. Die Haut war an einer Stelle zwischen dem Rand der blauen Seemannsmütze und den ausgeprägten Brauen aufgeplatzt. Blut trat aus der fransigen Wunde hervor. Oke rüttelte für seine Verhältnisse sehr sanft an Bartelsens Schulter. »Bartelsen!?« Doch der Hühnerbaron rührte sich nicht. Sein Blick ging leer in den blauen Himmel über Lütjenburg.

Der Kommissar richtete sich auf, hielt sich das schmerzende Kreuz und sah sich auf dem Marktplatz um. Die Lage war chaotisch. Da half ihm auch seine Körpergröße nicht, die ihm gemeinhin einen guten Überblick verschaffte. Zwischen Schildern, die achtlos zu Boden geworfen worden waren, kaputten Eiern und erschrockenen Gesichtern erkannte er seine Ehefrau. »Sagst du den Kollegen Bescheid?« Schließlich konnte er den Leichnam nicht allein lassen – bei dem Auflauf! Inse erfasste die Situation glücklicherweise auch ohne weitere Erklärungen: Sofort suchte sie nach ihrem Handy in der Handtasche.

Aus einiger Entfernung hörte er den örtlichen Orthopäden lamentieren: »It walks me icecold the back down!« Wo kam der denn jetzt her? Egal, jede Hilfe war ihm recht. Sogar von diesem albernen Knochenbrecher. Während Dr. Axel Scheller Bartelsens Vitalzeichen prüfte, versuchte Oke sich zu erinnern, wen er wo zuletzt wahrgenommen hatte. Dann wandte er sich den Umstehenden zu.

»Hat jemand etwas gesehen?« Die Veränderung der Stimmung kam so schlagartig wie ein Wetterumschwung auf der Ostsee: Die Menschen, die eben noch einen erschrockenen Eindruck gemacht hatten, drehten schnell die Köpfe weg. Niemand wollte als Zeuge aussagen. Typisch: Wenn es darauf ankam, hatte keiner etwas mitbekommen. »Dor warrt de Hund in de Pann verrückt«, knurrte Oke.

Seine Augen suchten den verkleideten Vogelmann. Doch der Kerl musste sich im Kuddelmuddel verdünnisiert haben. Oke wurmte, dass er ihn vorhin nicht gleich auf das Vermummungsverbot hingewiesen hatte. Dann wüsste er jetzt wenigstens, wen er suchen musste. Da hatte er einmal einen freien Tag, und dann passierte so etwas …

Der ältliche Musikpädagoge Heinze lehnte erschöpft an Inses Honigstand, aber den breiten Rücken von Schellers Frau entdeckte Oke inzwischen nirgends mehr. »Düvel ok ne!«, schnauzte er. »Alle bleiben jetzt genau da, wo sie sind. Und zwar so lange, bis alle Befragungen durchgeführt und die Personalien aufgenommen sind.« Offensichtlich traute sich niemand, sich zu rühren. Von der Apotheke wehte ein Luftzug einen schwachen Rosenduft herüber. Die roséfarbenen Blütenbälle überzogen bald die gesamte Hauswand des Backsteingebäudes. Oke sah, dass der Apotheker ihn durch seine Schaufensterscheibe beobachtete. Bruno, der Friseur, stand hinter seiner Ladentür. Offensichtlich unentschlossen, ob er sie entriegeln sollte. Vor dem Bioladen hatten sich einige aufgebrachte Kunden zusammengefunden. Auch sie stierten tatenlos herüber. Es war, als befände sich der Marktplatz in einer Art Schockstarre. Wo eben noch alles in Bewegung gewesen war, blieb jetzt alles still.

Okes Blick ging wieder zu Bartelsen am Boden. Der Arzt stand auf und schüttelte mit ernster Miene den Kopf. Oke erwartete fast einen Spruch, aber dem Facharzt schien der Spaß vergangen zu sein. »Er ist tot.« Mit diesem Satz beendete er seine flüchtige Untersuchung.

Der Kommissar strich über die blonden Stoppeln auf seinem riesenhaften Schädel und seufzte. Bartelsen tot – und das an seinem freien Tag! Mit Bedauern dachte Oke, dass er in nächster Zeit sicher nicht dazu kommen würde, beim Waschbären die Hausschafaugen auszuprobieren.

In der Ferne vernahm er Sirenen. In Kürze würden seine Kollegen eintreffen. Mitarbeiter der Beweissicherung mussten am Tatort Spuren nehmen, dann würden die Kollegen eine Strafanzeige schreiben und Untersuchungsanträge an das Landeskriminalamt stellen. Absprachen mit der Staatsanwaltschaft und dem Gericht mussten getroffen werden. Der ganze große Polizei-Zauber würde über die Beteiligten hereinbrechen. Irgendwer musste die Ladenbesitzer befragen und die Reformhausmitarbeiterin ausfindig machen, fiel ihm ein. Er rief den Arzt zurück: »Und wo ist Ihre Frau?«

Scheller zuckte die Achseln. »Die suche ich auch.«

Oke seufzte. »Wenn sie auftaucht, sagen Sie ihr, sie soll sich auf dem Revier melden. Wir brauchen ihre Zeugenaussage. Vielleicht hat sie etwas gesehen.«

Scheller sah unglücklich drein. Er litt unter einer Schuppenflechte, denn er kratzte sich einen roten Flecken am Nacken wund. »Ich habe ihr noch gesagt, sie soll nicht herkommen … Diese Demos – was bringt das? Doch nur Unfrieden. Und jetzt sieht man ja, was passiert ist.«

Der Rettungswagen legte eine Vollbremsung vor dem Gemüsestand hin.

Der Kommissar atmete ein weiteres Mal mit klagendem Ton aus. Diesmal vor allem dessentwegen, was auf ihn zukam. Sobald er hier fertig war, würde die Ermittlungsakte an eines der Fachkommissariate abgegeben werden. Und dieses würde dann weitergehende Ermittlungen anstellen. So lief es in seiner neuen Dienststelle in Lütjenburg. In Hohwacht hatte er mehr Freiheiten gehabt. Als Dorfsheriff hatte er sich nirgends reinschnacken lassen.

»Morje!« Das klang nach Vincent Gott. Geschmeidig bewegte sich der Kölner in seinem engsitzenden Designerjackett auf ihn und die Leiche zu. »Schfreumisch!«, frohlockte Gott und Oke überlegte, ob sich Gott tatsächlich darüber freute, ihn zu sehen, oder ob er doch den toten Bartelsen meinte. Letzteres erschien ihm unwahrscheinlich. Sein Kollege aus dem Rheinland war ein geselliger Typ. Und der tote Bartelsen, man konnte über ihn sagen, was man wollte: In seinem derzeitigen Zustand war er noch wortkarger als Oke Oltmanns.

Sie standen nun nebeneinander vor den groben Arbeitsschuhen des Landwirts und blickten auf den leblosen Körper hinab. »Dem dun de Knoche nit mieh wieh«, kommentierte Gott.

»Ne, dem tut nix mehr weh«, bestätigte Oke. Weder die Knochen noch sonst etwas.

In Bartelsens Gesicht lag ein überraschter Ausdruck. Oke fragte sich, ob der Hühnerbauer gesehen hatte, wer seinem Leben das vorschnelle Ende bereitet hatte.

Der Lütjenburger Kollege Heiner Dubbels kam mit dem Absperrband. Hier, auf dem Marktplatz in Lütjenburg, fühlte er sich nun beinahe überflüssig. Immerhin hatte er jetzt die Gelegenheit, schon mal nach der Tatwaffe Ausschau zu halten. Langsam entfernte er sich von Gott, Heiner und der Leiche.

Die Kriminaltechniker würden, sobald sie eingetroffen waren, die Spuren sichern, es würden Fotos vom Tatort gemacht und die Tatwaffe, wenn möglich, der Tatortgruppe übergeben werden. Aber er wollte selbst wissen, was Bartelsen am Kopf getroffen hatte. War er nun »en Schandarm« oder nicht?

Mit gesenktem Kopf umrundete Oke den Eierstand und drückte sich auf der Suche nach Hinweisen an einer Kartoffelkiste vorbei. Gurken-Günther musterte ihn argwöhnisch, sagte aber kein Wort.