Lake Paradise – Wo Herzen sich begegnen - Manuela Inusa - E-Book
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Lake Paradise – Wo Herzen sich begegnen E-Book

Manuela Inusa

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Beschreibung

Die neue Bestsellerserie von Manuela Inusa – Romane zum Wegträumen und Wohlfühlen. Für Mütter und Töchter und alle Fans der «Gilmore Girls». Savannah betreibt eine zauberhafte Pension in Lake Paradise. Für ihre Gäste tut sie alles, jeder soll sich hier wie zu Hause fühlen. Doch Savannah selbst hadert mit ihrem eigenen Heim: Die Ehe mit Gene steckt in einer Sackgasse. Wann fängt er endlich an, Verantwortung zu übernehmen? Ob er merkt, wie ernst es ihr ist, wenn sie ihre Sachen packt und in die Pension zieht? Savannah lässt es darauf ankommen. Das einzig freie Zimmer ist das neben Dylan, einem jungen Alleinreisenden, der so wunderbar Gitarre spielt. Die Musik berührt Savannahs Herz, und eines Abends klopft sie an Dylans Tür. Vielleicht nur, um zu reden, oder um ihn zu bitten, ihr ein Lied zu spielen. Vielleicht aber auch, um endlich zu erfahren, was es heißt, wirklich von einem Mann gesehen zu werden ...

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Seitenzahl: 397

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Manuela Inusa

Lake Paradise – Wo Herzen sich begegnen

Roman

 

 

 

Über dieses Buch

Eine kleine Pension am See – ein Ort für das Glück

 

Savannah betreibt eine zauberhafte Pension am Lake Paradise. Ein modernes, aber dennoch gemütliches Hotel mit zehn Zimmern und idyllischem Blick über den See. Für die Gäste tut sie alles, jeder soll sich hier wie zu Hause fühlen. Nur mit ihrem eigenen Heim hadert Savannah. Die Ehe mit Gene steckt in einer Sackgasse. Schon lange fragt er nicht mehr, wie ihr Tag war. Und dass er einmal etwas Liebevolles gesagt hat, scheint in einem anderen Leben gewesen zu sein. Ob er merkt, wie ernst es ihr ist, wenn sie ihre Sachen packt und in die Pension zieht? Erst mal nur für ein paar Tage? Savannah lässt es darauf ankommen. Das einzige freie Zimmer ist das neben Dylan, einem jungen Alleinreisenden, der so wunderbar Gitarre spielt. Und Savannah spürt, dass er ihr mit seinen Melodien direkt ins Herz schauen kann …

Vita

Manuela Inusa wurde 1981 in Hamburg geboren und ist gelernte Fremdsprachenkorrespondentin. Aber schon als Kind wollte sie Autorin werden. Nach ersten Erfolgen im Selfpublishing kam der große Durchbruch mit der «Valerie Lane»-Reihe. Auch mit den «Kalifornischen Träumen» eroberte sie die Spiegel-Bestsellerliste. Nach «Ein Zuhause für das Glück» ist dies der zweite Band der erfolgreichen «Lake Paradise»-Reihe. Manuela Inusa lebt mit ihrem Mann und zwei Kindern in ihrer Heimatstadt.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, April 2023

Copyright © 2023 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung Shutterstock

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-01139-7

www.rowohlt.de

Für Sibah, meinen Seelenverwandten

1

Es war ein wunderschöner sonniger Frühlingsmorgen in Lake Paradise, Nebraska, einem Viertausend-Einwohner-Städtchen mitten im Nirgendwo. Auf dem Stadtplatz blühten bereits die ersten Krokusse und Tulpen, Primeln und Narzissen, Hyazinthen und Stiefmütterchen. Der Rasen war satt und grün, hin und wieder hoppelte ein kleines Häschen vorbei, und der Duft nach Neubeginn lag in der Luft. Wenn man ein Stück raus Richtung See fuhr, konnte man bereits die ersten Entenküken des Jahres neben ihren Müttern auf der glatten Wasseroberfläche schwimmen sehen. Touristen wie Einheimische genossen bei einem Spaziergang die immer wärmer werdenden Sonnenstrahlen und die gute Laune, die all das mit sich brachte.

Wie an jedem Morgen um acht saßen auch an diesem Mittwochmorgen drei ältere Damen im einzigen Café der Stadt, dem Paradise Café, und tauschten sich über den neuesten Tratsch aus. Die drei waren keinesfalls gehässige Plaudertaschen, die nur darauf aus waren, die anderen Bewohner ihres Heimatortes bloßzustellen, nein, sie waren einfach gern informiert und gaben ihre Erkenntnisse an jeden weiter, der sie erfahren wollte.

«Was darf ich euch heute bringen?», fragte Nolan, der immer gut gelaunte Inhaber des Cafés. Passend zum Wetter trug er ein gelbes Hemd und eine grün-gelb gestreifte Fliege – anscheinend sein neuestes Fashion-Statement, denn er war überhaupt nie mehr ohne Fliege unterwegs.

«Bring mir bitte einen Caffè Latte und einen Marmor-Muffin, mein Guter, ja?», bat Murielle, die gerade ihre fünfjährige Enkelin in den Kindergarten gebracht hatte und später noch ein paar Stunden in der örtlichen Bibliothek aushelfen würde. Denn obwohl sie bereits das Rentenalter erreicht hatte, war das faule Herumsitzen nichts für sie, und sie brauchte immer etwas zu tun.

«Ich nehme einen Vanille-Macchiato und einen Kirsch-Muffin», sagte Sadie, die als die Jüngste der drei noch einen Ganztagsjob hatte. Sie war Inhaberin des Ice Cream Paradise, das neben köstlichem Eis auch vorzügliche Milchshakes anbot. Da sie den Laden aber täglich erst um zehn Uhr öffnete, blieb ihr glücklicherweise jeden Morgen genug Zeit, um mit ihren Freundinnen beisammenzusitzen und sich auf den neuesten Stand zu bringen, was die Bewohner und Geschehnisse von Lake Paradise anbelangte.

«Und ich hätte zu meinem Milchkaffee gerne irgendwas Frühlingshaftes», sagte Delores, die Älteste der drei und auch die Zurückhaltendste. Sie war seit Jahren im Ruhestand und einfach froh, noch am Leben teilnehmen zu dürfen. Und George, ihr ausgesprochen gutherziger Mann, bestärkte sie stets darin, morgens ins Café zu gehen, um ihre Freundinnen zu treffen, da er wusste, wie viel es ihr bedeutete. Den restlichen Tag verbrachten die beiden dann zusammen.

«Ich hätte einen Zitronen-Mohn-Muffin da, dekoriert mit einer hübschen gelben Blume aus Zuckerguss», schlug Nolan ihr vor.

«Oh ja, den nehme ich.»

«Das hört sich aber gut an, Nolan. Streich meinen Marmor-Muffin, ich nehme auch so einen», entschied Murielle sich um.

Nolan korrigierte auf seinem Block die Bestellung und sah Sadie fragend an.

«Ich bleibe bei meinem Kirsch-Muffin, danke. Heute ist Mittwoch, da esse ich immer einen Kirsch-Muffin.»

Interessant, dachte Nolan, das war ihm noch gar nicht aufgefallen, er würde mal darauf achten. Er fand es nämlich wichtig, immer für seine Gäste da zu sein, und in den zweieinhalb Jahren, die er das Café nun führte, glaubte er, die meisten von ihnen schon besser zu kennen, als es ein Café-Besitzer in der Großstadt je gekonnt hätte. Einige Kunden waren ein offenes Buch, und was er selbst nicht mitbekam, hörte er von anderen. In Lake Paradise war kein Geheimnis sicher, oder zumindest fast keins. Und doch mochte er diesen Ort, sehr sogar. Als er im Sommer vor drei Jahren hergekommen war, um seine kranke Großtante Alma zu besuchen, die auch erst im Jahr zuvor hergezogen war, hatte er sich sofort verliebt – und beschlossen zu bleiben. Denn wer einmal nach Lake Paradise kam, wollte nicht wieder weg. Das war eine Tatsache, genau wie die, dass die Tulpen und Narzissen auf dem Stadtplatz in jedem Frühling aufs Neue blühten. Und man konnte und sollte sich nicht dagegen wehren, denn Lake Paradise mit seinen endlosen Maisfeldern, seinem idyllischen See, seinen Festen und Paraden, seinem malerischen Stadtbild und seinen skurrilen, aber dennoch liebenswerten Menschen war nun mal die schönste Kleinstadt Nebraskas – und nach Meinung der meisten Einwohner sogar weit darüber hinaus.

2

Als die Tür geöffnet wurde, sah Savannah durch ihre Lesebrille von ihren Unterlagen auf. Mit einem Lächeln begrüßte sie die neuen Gäste, die soeben das Hotel betraten.

«Guten Tag. Sie müssen die Hoovers sein.»

«Die sind wir», antwortete die junge Mutter, die ein wenig gestresst wirkte. Sie hielt ein kleines Mädchen an der Hand und ein Baby auf dem Arm. Ihr Mann folgte ihr schwer bepackt mit einigen Koffern und Taschen und schien ziemlich aus der Puste zu sein. Sein Gesicht war knallrot angelaufen.

«Willkommen im Paradise Inn!», sagte Savannah und eilte um den Empfangstresen herum, um den Leuten etwas von ihrem Gepäck abzunehmen.

«Danke», sagten beide gleichzeitig. Mr. Hoover gab Savannah einen Koffer, und Mrs. Hoover reichte ihr den Rucksack, den sie an einem Riemen um die Schulter hängen hatte. Dann setzte die Frau das Baby auf den Tresen, was andere Hotelinhaber vielleicht nicht so prickelnd gefunden hätten, doch Savannah machte es nichts aus, ganz im Gegenteil. Sie liebte Kinder, konnte es selbst kaum erwarten, welche zu haben, und sie freute sich immer, in ihrer Nähe zu sein.

«Du bist ja ein süßer Fratz», sagte sie, nachdem sie das Gepäck neben dem Empfang abgestellt und sich zurück hinter den Tresen begeben hatte. «Wie heißt du denn?» Sie sah das Baby an, als könne es ihr antworten, doch das übernahm dann die Mutter.

«Der Kleine hier heißt Luther, und das ist Marjorie», gab Mrs. Hoover preis.

Luther und Marjorie? Savannah zuckte innerlich zusammen. Sie fragte sich immer, wie Menschen ihren Kindern heutzutage noch solche altmodischen Namen geben konnten. Wahrscheinlich waren die beiden nach ihren Groß- oder gar Urgroßeltern benannt – etwas, das Savannah ihren Kindern bestimmt nicht antun würde. Ihre Großeltern mütterlicherseits hießen Herbert und Gertrude, sie waren deutscher Herkunft. Wie so viele Einwohner von Lake Paradise hatte Savannah deutsche Wurzeln, auch wenn sie selbst noch nie in Deutschland gewesen war oder irgendwo sonst im Ausland. Als Pastorentochter war sie mit ihren Eltern so gut wie nie verreist, denn ihr Vater musste natürlich bei jedem sonntäglichen Gottesdienst anwesend sein. Mit zweiundzwanzig hatte sie dann geheiratet und gehofft, dass sie nun die Welt bereisen würde. Sie hatte von exotischen Urlauben und tollen Ausflügen zusammen mit ihrem Liebsten geträumt, doch wie mit vielem anderen war sie auch in dieser Hinsicht enttäuscht worden.

Inzwischen machte ihr das jedoch überhaupt nichts mehr aus, denn sie führte diese kleine Pension am Lake Paradise und hatte bereits Reisende aus fast allen fünfzig US-Staaten beherbergt und dazu sogar einige aus fernen Ländern. Von ihren Gästen bekam sie oft wundervolle Geschichten erzählt – über ihre Heimatstädte, über die Roadtrips, die sie machten, und über die Orte, die sie als Nächstes besuchen wollten. Ein bisschen nahm es Savannah das Fernweh, und manchmal fühlte es sich sogar an, als wäre sie dabei gewesen. Sie war dankbar für jede einzelne Story.

Manche Gäste mochten auch nichts über sich erzählen, und das war ebenfalls okay. Die Hoovers gehörten zu diesen Menschen, das spürte Savannah sofort, also stellte sie keine unnötigen Fragen, sondern versuchte ihnen lediglich einen Ort der Ruhe und Erholung zu schenken.

«Du siehst ja aus wie eine Prinzessin in deinem hübschen rosa Kleidchen», sagte sie zu der kleinen Marjorie, die nicht älter als vier sein konnte. Dann bat sie Mrs. Hoover um ihren Ausweis und ihre Kreditkarte.

«Einen Moment», sagte diese und versuchte, alles aus der Handtasche zu kramen, während sie weiterhin das Baby festhielt, damit es nicht vom Tresen fiel. Ihr Mann hatte sich erschöpft in einen der Sessel gesetzt und wischte sich mit einem Taschentuch die Stirn ab.

Savannah tippte die üblichen Angaben in den Laptop und sah anschließend wieder auf. «Vielen Dank, Mrs. Hoover. Ihr Zimmer ist gleich hier in der unteren Etage, es ist die Nummer 3.» Sie deutete zum Gang hinter den Sesseln. «Wie gewünscht, habe ich ein Gitterbettchen hineingestellt. Wenn Sie möchten, bieten wir ab siebzehn Uhr ein Abendessen an, es gibt aber auch einige sehr gute Restaurants im Ortszentrum. Waren Sie schon einmal in Lake Paradise?»

Mrs. Hoover schüttelte den Kopf und versuchte den kleinen Luther zu beruhigen, der jetzt zu quengeln begann. Schließlich nahm sie ihn vom Tresen und setzte ihn seinem Vater auf den Schoß, dann kam sie wieder zurück zu Savannah. «Nein, das ist unser erstes Mal. Mein Mann war der Meinung, wir sollten einen Roadtrip durch den Mittleren Westen machen. Mit zwei Kleinkindern!» Die Frau sah nicht sehr angetan aus.

Savannah ging nicht darauf ein, es war nicht ihre Aufgabe zu urteilen. «Ich hoffe, Sie haben einen schönen Aufenthalt. In Lake Paradise gibt es viel zu sehen und zu erleben für die Kinder. Zum Baden im See ist es noch zu kalt, aber an der Südseite liegt ein großer Spielplatz, und die Bimmelbahn wird den beiden bestimmt ebenfalls gefallen.»

«Ja, danke. Können wir jetzt aufs Zimmer? Luther muss seinen Mittagsschlaf machen.»

«Aber natürlich. Folgen Sie mir.»

Savannah nahm den Schlüssel vom Haken, schnappte sich so viel Gepäck, wie sie tragen konnte, und ging voran.

 

Zehn Minuten später waren die Hoovers in ihrem Zimmer und ruhten sich aus, und Savannah stand wieder am Empfang. Sie goss sich eine selbst gemachte Limonade ein und sah aus dem großen Fenster, durch das man direkt auf den See blicken konnte. Sie liebte diesen Ort und hätte sich für ihr kleines Hotel keinen schöneren wünschen können.

Das Paradise Inn war das einzige Gästehaus der Stadt, und als Savannah vor sechseinhalb Jahren erfahren hatte, dass es zum Verkauf stand, weil die früheren Besitzer, die Mastersons, nach Florida ziehen und dort ihren Ruhestand genießen wollten, hatte sie sofort ein Angebot gemacht. Das Erbe ihrer Großeltern väterlicherseits hatte ihr wahrlich geholfen, den Rest konnte sie sich von der Bank leihen. Es hatte ein halbes Jahr gedauert und sie einiges an Schweiß gekostet, die alte Pension in ein modernes, aber dennoch gemütliches Hotel umzuwandeln, doch es hatte sich gelohnt. Mehr als das. Das Paradise Inn war zu einer Oase der Geborgenheit geworden, und in den vergangenen sechs Jahren hatten ihr schon viele Gäste gesagt, wie schön sie es hier fanden und dass sie auf jeden Fall zurückkommen würden.

Savannahs Handy klingelte. Es war Helena, ihre beste Freundin seit Grundschultagen. Helena war nach der Highschool aufs College in St. Louis gegangen, hatte dort ihre große Liebe Parker kennengelernt und war mit ihm in seine Heimatstadt Kansas City gezogen. Die beiden hatten zwei bezaubernde Kinder, ein Mädchen namens Leslie und einen Jungen namens Matthew (gute Namen, wie Savannah fand). Die vier lebten ein glückliches Familienleben. Leider sah Savannah ihre Freundin nur noch selten, denn Helena kam lediglich ein paarmal im Jahr nach Lake Paradise, um ihre Familie zu besuchen. Und Savannah schaffte es wegen des Hotels leider auch nicht sehr oft nach Kansas City, das immerhin vier Autostunden entfernt lag. Seit der Eröffnung war sie gerade zweimal dort gewesen, obwohl sie sich immer vornahm, öfter hinzufahren. Aber so war das Leben. Ihr Mann Gene hielt nichts davon, wenn sie allein wegfuhr, besonders über Nacht, und das Paradise Inn konnte nun mal auch nicht lange ohne sie auskommen. Es hatte seine Zeit gebraucht, einen engagierten und vertrauenswürdigen Mitarbeiter zu finden, dem sie ihr Hotel ruhigen Gewissens anvertrauen konnte. Doch dann hatte der Himmel ihr Miles geschickt. Miles war ein sechsunddreißigjähriger verheirateter Stadtbewohner, mit dem auch der eifersüchtige Gene einverstanden gewesen war. Er war der Sohn von Moesha, der Floristin im Ort, und hatte eine Ausbildung als Hotelfachmann in Omaha gemacht. Da er Frau und Kinder hatte, richtete Savannah sich bezüglich der Arbeitszeiten nach ihm. Meistens übernahm Miles die Nachtschicht, die von neun Uhr abends bis sechs Uhr morgens ging, damit er sich nachmittags um die drei Töchter kümmern konnte, wenn seine Frau Sonya in der Kindernotaufnahme in Hamilton arbeitete. Savannah hatte ihn schon oft gefragt, ob ihm die paar Stunden Schlaf, die er fand, wenn seine Kinder in der Schule beziehungsweise im Kindergarten waren, wirklich reichten, doch jedes Mal beteuerte er, dass ihm der wenige Schlaf nichts ausmache, solange er nur für seine Familie da sein konnte. Wenn er so etwas sagte, wurde es Savannah immer warm ums Herz, gleichzeitig war sie aber auch traurig, weil ihre Zeit voranzuschreiten schien, ohne dass sie Aussicht auf eine eigene Familie hatte. Immerhin war sie schon zweiunddreißig, die Uhr tickte. Sie wünschte nur, Gene würde das verstehen.

Savannah ging ans Handy. «Helena, wie schön, von dir zu hören.» Als sie vor die Tür trat, wehte ihr eine Frühlingsbrise entgegen, und die Sonne schien ihr ins Gesicht. Für einen Moment schloss sie die Augen.

«Hey, Savannah, wie geht es dir? Ich habe gerade eine Viertelstunde und dachte, ich ruf mal durch.»

Sie öffnete die Augen wieder und lächelte. «Das ist ja lieb. Mir geht es bestens, und wie geht es dir?»

«Ich bin im Stress, wie immer. Parker ist auf Geschäftsreise in Wichita, Leslie ist bei den Pfadfinderinnen und Mattie beim Fußballtraining.»

«Oh, und wo bist du?»

«Ich stehe am Spielfeldrand und juble meinem Jungen zu. Eine der anderen Mütter wollte mir gerade wieder ausführlich von irgendwelchen Rezepten erzählen, die sie ausprobiert hat. Als ob ich Zeit hätte, mich stundenlang in die Küche zu stellen, um einen Schmorbraten mit Kastaniensauce oder ein Soufflé mit selbst eingekochtem Himbeerkompott zuzubereiten!»

Savannah konnte Helena quasi durchs Telefon die Augen rollen sehen und musste lachen. «Aha, ich bin also nur Mittel zum Zweck, hm?»

«Nein, nein, du bist gerade der einzige Mensch, der mich nicht in den Wahnsinn treibt, und ich vermisse dich ganz schrecklich.»

«Ich vermisse dich auch. Wann kommst du denn mal wieder nach Lake Paradise?»

«Meine Mom fragt auch schon immer, und es stimmt ja, es ist wirklich schon wieder eine ganze Weile her, es muss zu Weihnachten gewesen sein. Nur leider ist es nicht immer so leicht, einfach mal nach Hause zu fahren, ich … Los, Mattie, hau ihn rein!», hörte Savannah ihre Freundin plötzlich schreien und hielt das Handy schnell einen halben Meter von sich.

«Und? Hat er ihn reingehauen?», fragte sie ihre Freundin kurz darauf.

«Nein. Pfosten. Leider.»

«Wie schade.»

«Ja. Na, wie auch immer, wo waren wir? Ach ja, Lake Paradise. Ich komme, so bald es mir möglich ist, ja?»

«Okay. Ich wollte dir auch noch was anderes vorschlagen. Wenn Parker mal nicht auf Geschäftsreise ist und du es irgendwie einrichten kannst, dann könnten wir beide doch mal ein Frauenwochenende machen. Wellness oder so, wie klingt das?»

«Oh, das klingt nach dem Himmel auf Erden. Aber ich glaube, das wird in den nächsten fünf bis zehn Jahren nichts. Die sind doch hier alle aufgeschmissen ohne mich.»

Enttäuschung machte sich in Savannah breit, es wäre zu schön gewesen.

«War nur so eine Idee …» Sie sah zwei Enten dabei zu, wie sie den Spazierweg zum See entlangwatschelten, nebeneinanderher wie jeden Tag.

«Würde denn Gene das überhaupt mitmachen?», fragte Helena misstrauisch.

«Das würde er einfach müssen», antwortete Savannah, obwohl sie wusste, dass ihre Freundin recht hatte. Es war eine dumme Idee gewesen.

«Irgendwann machen wir das bestimmt mal, ja?» Helena klang aufmunternd. «Und bis dahin versuche ich, öfter nach Lake Paradise zu kommen. Ich melde mich, wenn es konkret wird, okay?»

«Okay.»

«So, das Spiel ist vorbei, ich muss leider Schluss machen. Wir hören voneinander?»

«Tun wir doch immer.» Savannah lächelte und drückte den roten Button ihres Handys. Die Stille des Sees hatte sie wieder.

3

Um kurz vor neun traf Miles ein, und Savannah konnte Feierabend machen. Sie informierte ihn über die neuen Gäste und sagte ihm wie beinahe jeden Abend, dass er sie jederzeit erreichen könne, falls es irgendein Problem geben sollte. Miles lächelte wie immer und nahm es ihr nicht übel. Sie war eben besorgt, und das bedeutete ja nicht, dass sie ihm nicht vertraute. Savannah lag nun einmal viel an ihrem Hotel, da wollte sie auf Nummer sicher gehen, dass alles in Ordnung war.

«Bis morgen früh dann», rief sie Miles noch zu, als sie schon fast zur Tür raus war.

«Hab einen schönen Abend, und entspann mal ein bisschen!»

Ja, das würde sie versuchen, auch wenn es nicht einfach war. Denn obwohl sie nur ein kleines Hotel mit zehn Zimmern führte, war sie ständig besorgt. Dass ein Gast den Schlüssel verlor und nicht ins Zimmer konnte, dass die Dusche kein Warmwasser mehr hergab, dass jemand krank wurde und man einen Arzt rufen musste. Dass ihre Köchin Alice wieder einmal vergaß, den Herd auszustellen, und die Küche abbrannte, wie es bereits zweimal beinahe geschehen war. Oder dass irgendetwas anderes passierte und sie nicht da war, weil sie zu Hause in ihrem Bett lag und seelenruhig schlief.

Am liebsten wäre Savannah rund um die Uhr im Inn geblieben, doch dass das für eine glückliche Ehe eher hinderlich war, musste sogar sie einsehen. Obwohl … In letzter Zeit wusste sie nicht einmal, ob es Gene etwas ausgemacht hätte.

Sie fuhr mit dem Fahrrad in den Ortskern und stellte es vor Howies Supermarkt ab, der sich auf der Westseite des Stadtplatzes direkt neben dem Maismuseum befand. Gegenüber auf der Ostseite gab es noch einen, der von Rupert betrieben wurde, aber schon um acht schloss. Howie hatte bis um zehn geöffnet, was Savannah oftmals eine Hilfe war, denn wenn sie Gene zum Einkaufen schickte, befand sich danach nicht viel mehr als Bier und Salami im Kühlschrank. Sie nahm sich einen Einkaufskorb und legte Eier, Käse, ein paar Bananen, Tomaten und einen Salatkopf sowie eine Packung Toastbrot, ein Glas Erdnussbutter und eine Tüte von Genes Lieblingschips hinein. An der Kasse fragte Ashleigh, ob sie alles gefunden habe, und sie nickte.

«Ja, danke.»

«Du siehst müde aus», meinte die hübsche junge Kassiererin, die zudem die aktuelle Maisprinzessin war und überhaupt nicht erschöpft aussah – ganz im Gegenteil. Ihre Wangen waren rosig, ihr braunes, zu einem Bob geschnittenes Haar glänzte, und ihre warmen dunklen Augen strahlten.

«Das liegt wohl daran, dass ich müde bin», sagte Savannah und lächelte leicht.

«Du solltest weniger arbeiten.»

«Ja, das sollte ich wohl.»

Ashleigh nickte und nannte ihr den zu zahlenden Betrag. Dann entschuldigte sie sich dafür, dass der Junge, der normalerweise die Einkäufe eintütete, bereits nach Hause gegangen war.

«Das ist kein Problem», erwiderte Savannah. Sie holte zwei Baumwollbeutel aus der Handtasche und packte die Sachen einfach selbst ein.

Dann machte sie, dass sie nach Hause kam.

 

«Hast du auch Bier geholt?», gab Gene statt einer Begrüßung von sich, als er sie mit den beiden Taschen hereinkommen sah. Er trat zu ihr, aber anstatt ihr eine abzunehmen, lugte er nur hinein und schien enttäuscht.

«Nein, ich war heute mit dem Fahrrad unterwegs, da kann ich nicht so viel aufladen.»

«Na toll, dann muss ich wohl selbst noch mal los.»

«Ist denn kein Bier mehr da? Heute Morgen standen doch noch zwei Dosen im Kühlschrank.»

Gene sah sie an, als wenn sie etwas total Unsinniges gesagt hätte. «Die sind schon alle.»

«Oh. Na, dann musst du wohl wirklich selbst noch mal los.»

Er seufzte, machte aber keine Anstalten zu gehen. Stattdessen schaute er ihr dabei zu, wie sie die Einkäufe auspackte.

«Wie war denn dein Tag?», fragte sie, in der Hoffnung auf eine vernünftige Konversation.

Gene zuckte die Achseln. Und Savannah fiel auf, dass er müffelte, was bedeutete, dass er wohl wieder einmal die Dusche hatte ausfallen lassen. Sein Haar sah fettig aus, und er hatte einen großen Ketchupfleck auf dem T-Shirt. «Wie immer», sagte er.

Wie immer. Das hieß dann wohl, er hatte sich nur halbherzig um einen neuen Job bemüht und den Rest des Tages vor dem Fernseher verbracht. Vielleicht auch in der Paradise Tavern, wo er sich gerne mit Freunden traf und ein Football- oder Baseballspiel ansah oder wo er einfach nur ein Bier nach dem anderen trank.

Savannah wartete eine Minute ab. Doch es kam nichts seinerseits. Kein «Wie war dein Tag?» oder «Ich hab dich vermisst». Auch kein «Schön, dass du da bist». Natürlich nicht. Dass Gene solche Dinge gesagt hatte, schien in einem anderen Leben gewesen zu sein.

«Willst du dich nicht nach meinem Tag erkundigen?», wagte Savannah zu fragen, obwohl sie schon ahnte, dass es nicht die beste Idee war.

Gene sah sie ein wenig genervt an. «Und wie war dein Tag?», fragte er dann aber doch.

Sie versuchte, seinen Unterton zu überhören und den Ausdruck auf seinem Gesicht zu ignorieren. «Der war schön. Ich habe heute Gäste aus Mississippi und auch welche aus Texas in Empfang genommen. Es waren ein paar wirklich süße Kinder dabei.»

Gene stöhnte. «Willst du mir jetzt wieder mit diesem Thema kommen?»

«Mit welchem Thema?»

«Das weißt du genau.»

«Kinder, meinst du?» Sie strich sich eine braune Haarsträhne hinters Ohr, die ihr beim Auspacken ins Gesicht gefallen war.

«Yep!»

«Ich habe doch nur von meinen Gästen erzählt.» Jetzt stöhnte auch Savannah, allerdings nur innerlich. «Aber wenn wir schon beim Thema sind: Ja, ich fände es gut, wenn wir endlich mal darüber reden könnten.»

«Tun wir das nicht ständig?», fragte Gene, und Savannah konnte sehen, dass nun er innerlich zu brodeln begann. Sie wusste, sie sollte das Thema beiseiteschieben, wenigstens für heute Abend, wo sie eh schon erschöpft war. Doch sie konnte einfach nicht.

«Ja, vielleicht tun wir das. Trotzdem habe ich nicht das Gefühl, als ob wir irgendwie weiterkommen würden.» Sie drehte sich zu ihm um. «Gene, du weißt, wie sehr ich mir Kinder wünsche.» Und sie hatte es satt, ihren Mann ständig daran erinnern zu müssen, was er ihr versprochen hatte. Nämlich dass sie eine Familie gründen und ein glückliches Leben führen würden, mit Kindern, ein paar Haustieren vielleicht und einem hübschen Garten, in dem sie alle zusammen Zeit verbringen konnten. Das hatte er ihr am Tag ihrer Hochzeit vor zehn Jahren versprochen, allerdings schien er seine Meinung diesbezüglich komplett geändert zu haben. Anscheinend wollte er sie nicht mehr glücklich machen, ihr ihre Wünsche nicht mehr erfüllen. Nicht der Mann sein, den sie damals in ihm gesehen hatte.

«Ich habe gerade keine Arbeit, Savannah! Das ist ja wohl der bescheuertste Zeitpunkt überhaupt, oder?»

«Dann such dir doch endlich Arbeit!», sagte sie lauter als beabsichtigt. «Du sitzt seit sechs Monaten auf deinem faulen Hintern herum und tust absolut überhaupt nichts für unsere Familie.»

«Welche Familie denn? Da sind doch nur du und ich, und du bist überhaupt nie da!»

«Ist das dein Ernst, Gene?», erwiderte sie aufgebracht. Wenn sie nicht so viel arbeiten würde, würden sie überhaupt nicht über die Runden kommen. Nur dank ihr konnte Gene sich all das verdammte Bier kaufen!

«’ne tolle Mutter wärst du. Den ganzen Tag abwesend, weil dir dein Hotel wichtiger ist als alles andere», fauchte er gehässig.

Ihr traten Tränen in die Augen. «Dann überleg doch mal, warum ich lieber im Hotel bin als hier bei dir», entgegnete sie, jetzt vollkommen ruhig. Aber auch tief verletzt.

Gene nahm die Packung Toastbrot, die noch auf dem Tisch lag, und warf sie wütend auf den Boden.

«Du kannst mich mal, Savannah. Ich muss mir das echt nicht geben. Ich geh Bier holen.» Und mit diesen Worten war er raus aus dem Haus.

Savannah blieb traurig und allein in der Küche zurück.

4

«Sie haben wieder ganz fürchterlich gestritten, hab ich gehört», sagte Murielle am nächsten Morgen im Paradise Café und sah Sadie gespannt an. Denn Sadie war immerhin Savannahs Tante und musste doch sicher mehr zu dem Thema wissen.

Die nickte auch schon. «Ja, es war schlimm. Diesmal haben sie einander sogar richtig beleidigt, und dann ist Gene wütend aus dem Haus gestürmt.» Das hatte Sadie von ihrer Schwester Teresa erfahren, nachdem Savannah diese noch am Abend angerufen und sich ausgeweint hatte.

«Wieso bleibt sie nur bei einem Kerl wie dem?», fragte Murielle und schüttelte verständnislos den Kopf. «Der kann ihr doch gar nicht das Wasser reichen.»

«Sie muss ihn wirklich lieben», meinte Delores. «Und wahrer Liebe versucht man immer noch eine Chance zu geben.»

«Wahre Liebe, pah!» Murielle rührte so doll in ihrem Kaffee, dass ein wenig davon überschwappte. Schnell nahm sie eine Serviette und wischte die verschüttete Flüssigkeit weg. «Die Kleine kann nicht mehr rational denken. Ich würde den Teufel tun, mit so einem Mann zusammenzubleiben.»

«Ja, du lebst lieber ganz ohne Kerl», sagte Sadie, die zwar ebenfalls allein lebte, aber nur, weil ihr Mann bereits von ihr gegangen war, und nicht, weil sie es sich so ausgesucht hatte.

Murielle ließ die nasse Serviette neben ihren halb aufgegessenen Bagel fallen, schob den Teller von sich und faltete die Hände. «Na, ihr seht ja, dass das manchmal die schlauere Wahl ist. Männer bringen nur Probleme mit sich.»

«Also, mein George macht mir nie welche, er ist ein Engel auf Erden», widersprach Delores, die, wie jeder wusste, ihren Ehemann über alles liebte.

«Ja, da hast du recht. Dein Göttergatte ist aber einer von tausend, mit ihm hast du echt Glück gehabt», musste Murielle eingestehen.

«Ja, das hab ich.» Delores lächelte vor sich hin.

«Können wir bitte wieder zum Thema Savannah zurückkommen?», bat Sadie. «Ich mache mir nämlich wirklich Sorgen um sie.» Das war nur zu verständlich, da Savannah ihre einzige Nichte war. Ihre Tochter Lucy war noch vor ihrem Highschoolabschluss aus Lake Paradise weggegangen, und Sadie hörte nur sehr selten von ihr – umso mehr hatte sie Savannah ins Herz geschlossen, die immer für alle da war.

«Ja, natürlich. Kein Wunder, dass du dir Sorgen machst», sagte Delores und zupfte mit den Händen ihr Haar zurecht. Im vergangenen Herbst hatte sie sich für den Bob entschieden, nachdem sie einige Jahrzehnte ihr langes, inzwischen weißes Haar zu einem Dutt gebunden getragen hatte. Für sie war die Frisur immer noch gewöhnungsbedürftig, ihr George allerdings war ganz begeistert. Er sagte, sie sehe damit aus wie Helen Mirren, und auch wenn Delores natürlich wusste, dass sie einige Pfunde mehr draufhatte als die Lieblingsschauspielerin ihres Mannes, freute sie sich über dieses Kompliment.

«Was sagt denn Teresa zu alldem?», erkundigte sich Murielle. Die Pastorenfrau Teresa Jones war Sadies jüngere Schwester und Savannahs Mutter.

«Ihr geht es wie mir. Sie ist ebenfalls sehr bekümmert, immerhin ist Savannah ihr einziges Kind. Und natürlich will sie nur das Beste für ihre Tochter. Sie hat schon so oft versucht, mit ihr zu reden. Hat ihr vorgeschlagen, dass Savannah doch mit Gene zusammen zur Eheberatung gehen könnte. Doch Savannah sagt, dass Gene da nie und nimmer mitmachen würde. Er ist so ein Sturkopf.»

«Und er trinkt zu viel», stellte Murielle fest. «Ich habe ihn in den letzten Wochen oft in die Tavern gehen oder dort herauskommen sehen, und immer wirkte er, als hätte er ein Bier zu viel gekippt.»

Sadie nickte. «Ja, so ist es wohl. Er war noch nie der unbeschwerte Typ Mann, aber seit er seine Arbeit in der Maisfabrik verloren hat, scheint er deprimierter denn je zu sein.»

«Warum sucht er sich nicht einfach eine neue Stelle? Es gibt in der Umgebung doch Maisfabriken wie Sand am Meer», fragte Delores.

«Ich glaube ja, er will gar nicht arbeiten», vermutete Sadie. «Vielleicht denkt er sich, dass sie durch das Hotel genügend Einnahmen haben und er sich deshalb ruhig mal eine Auszeit nehmen und auf der faulen Haut liegen kann.»

Murielle stimmte ihr zu. «Ja, ein bisschen kommt es mir auch so vor.»

In dem Moment bimmelte es über der Ladentür, und Buddy betrat das Café. Er war der selbst ernannte Stadtpoet von Lake Paradise, ein untersetzter Fünfzigjähriger, der noch bei seiner Mutter wohnte. Jeden Abend verfasste er ein kleines Gedicht über ein aktuelles, stadtbezogenes Thema und schrieb es auf einen gelben Zettel. Das Ganze kopierte er einige Hundert Male und verteilte es am nächsten Morgen auf dem Stadtplatz und in den angrenzenden Geschäften.

Gespannt sahen die drei Tratschtanten ihn an.

«Ich frage mich, worum es wohl heute geht», meinte Delores, während Murielle die Hand ausstreckte und dankend einen der gelben Zettel entgegennahm. Sie las laut vor:

Oh, du schöner Frühlingstag

Bescherst uns alles, was ich mag

Tulpen, Primeln und Narzissen

Spargel, Rhabarber und Melissen

Den Frühlingseintopf meiner Mutter

Und niedliche Häschen mit Butter

Sonne am Morgen

Vertreibt alle Sorgen

Der Frühling ist so wunderbar

Er schenkt uns Glück in jedem Jahr

«Niedliche Häschen mit Butter?», fragte Delores ein wenig erschrocken.

Alle drei sahen sich nach Buddy um, der das Café schon wieder verlassen hatte und draußen auf dem Stadtplatz stand.

«Ich hoffe doch sehr, er meint damit das Hefegebäck in Häschenform aus der Biobäckerei», sagte Sadie dann, und Delores atmete erleichtert auf.

«Oh, ja, du hast recht. Das wird er meinen. Und die Hefe-Häschen sind ja auch wirklich lecker.»

«Das stimmt», sagte Murielle. «Ich würde nun aber gerne noch mal auf Savannah und Gene zurückkommen. Ich habe nämlich die Befürchtung, dass die beiden ihren Frühling längst hinter sich haben und im düstersten Winter feststecken.»

«Ich würde eher sagen, sie befinden sich mitten in der Hurrikansaison», kam es von Sadie.

«Ach, ich glaube, ganz so schlimm ist es nicht», sagte Delores, denn das hoffte sie zumindest. «Bestimmt werden die beiden einen Weg finden und am Ende doch noch glücklich sein.»

«Na, dein Wort in Gottes Ohr», sagte Murielle und rettete noch schnell den halben Bagel, bevor Nolan oder die Kellnerin Rhonda die Teller abräumen konnten.

Sadie hingegen glaubte nicht mehr an ein Happy End. Viel zu lange hatte sie sich das Drama mit angesehen, und es würde sie nicht wundern, wenn Savannah schon heute oder morgen einen Schlussstrich unter die Beziehung ziehen würde. Denn so konnte es ja nicht weitergehen, und sie nahm nicht an, dass die Ehe der beiden noch zu retten war.

5

Als Savannah am nächsten Morgen erwachte, lag Gene neben ihr im Bett und schlummerte friedlich vor sich hin. Wie jemand, der überhaupt keine Sorgen hatte.

Wenn sie ehrlich sein sollte, machte sie das wütend, denn sie selbst hatte die halbe Nacht nicht geschlafen, sondern darüber nachgegrübelt, wie es bloß weitergehen sollte. Gene dagegen war irgendwann gegen ein Uhr morgens ins Schlafzimmer getaumelt, nachdem er den Streit mit ein paar Bier weggekippt hatte, und war, ohne sich weitere Gedanken zu machen, eingepennt.

Savannah war oft sauer in letzter Zeit. Immer auf Gene. Und manchmal auch auf sich selbst. Weil sie nicht härter durchgreifen konnte. Weil sie sich alles gefallen ließ. Weil inzwischen die ganze Stadt wusste, dass es Probleme in ihrer Ehe gab, und bereits mehrere Nachbarn sie auf die spätabendlichen Streitereien angesprochen hatten. Ja, weil sogar der Sheriff ein paarmal an der Tür geklingelt hatte, um zu fragen, ob alles in Ordnung sei.

Sie wusste, so konnte es nicht weitergehen, und so wollte sie auch nicht weiterleben. Denn mit einem hatte Gene recht: In letzter Zeit war Savannah tatsächlich sehr oft abwesend, und das aus dem einen Grund, dass sie ihrem Mann aus dem Weg gehen wollte. Weil es ja doch immer nur auf das eine hinauslief. Sie zankten sich, sie waren sich uneinig, sie verstanden sich nicht. Ihre Tante Sadie hatte ihr schon vor einer Weile gesagt, dass kein Mann es wert war, so unglücklich zu sein. Und erst letzte Woche hatte sogar ihre Mom sie beiseitegenommen und ihr versichert, sie und ihr Dad würden es verstehen, wenn Savannah sich von Gene trennen würde – und das kam von einem Pastor und seiner Frau! Alle sahen, wie sehr sie litt, nur Gene sah es nicht. Und das war es, was sie am wütendsten machte.

Sie betrachtete ihn einen Moment. Gene mit seinem Ein-Wochen-Bart, der in Jeans und T-Shirt, ja sogar mit Turnschuhen im Bett lag. Tränen traten ihr in die Augen. Dieser Mann war nicht mehr der, den sie geheiratet hatte, und sie wusste nicht, ob ihre Ehe noch zu retten war. Doch sie wusste auch, dass sie es weiterhin versuchen wollte, denn sie war nie jemand gewesen, der leicht aufgab. Sie würde sich etwas überlegen, vielleicht gab es ja doch noch eine Chance, alles zum Guten zu wenden.

 

Savannah stand auf, machte sich fertig und entschied sich für das dunkelgrüne Kleid – und dann dafür, heute wieder mit dem Fahrrad zu fahren, da sie es mochte, wenn der kühle Morgenwind ihr ins Gesicht wehte. Wie jeden Tag waren viele Leute mit dem Rad unterwegs, und die meisten von ihnen winkten ihr zu oder grüßten sie.

Lake Paradise war ihre Heimat. Ein Ort, wie sie ihn sich wünschte. Nach der Highschool war sie zwar aufs College nach Omaha gegangen, was circa zwei Autostunden entfernt lag. Bereits nach drei Semestern war sie allerdings zurückgekehrt, weil sie Lake Paradise, ihre Freunde und Familie so vermisste. Sie wollte einfach nicht weit entfernt von ihnen leben. Also suchte sie sich einen Job, fand einen als Kellnerin im gerade eröffneten Food Paradise und sammelte erste Erfahrungen in der Gastronomie. Schon immer hatte es ihr Spaß gemacht, mit Menschen zu arbeiten, und sie hatte sich früh vorstellen können, eines Tages ein eigenes Restaurant zu eröffnen.

Gene kannte sie aus der Schule, er war zwei Jahrgänge über ihr gewesen und hatte sie damals nicht einmal wahrgenommen. Jetzt kam er jedoch ständig ins Food Paradise, wenn sie gerade arbeitete, und er setzte sich immer an einen ihrer Tische. Sie begannen, sich hin und wieder zu unterhalten, er schenkte ihr stets ein großzügiges Trinkgeld und dazu ein umwerfendes Lächeln, und irgendwann bat er sie um ein Date. Und obwohl Gene mit seinen kurz geschorenen Haaren und dem eher stämmigen Körper eigentlich gar nicht Savannahs Typ entsprach, sagte sie zu, denn wer hätte diesem Charme widerstehen können? Sie fuhren ins Autokino, und sie warf ihre Regel, niemals einen Jungen beim ersten Date zu küssen, über Bord. Zehn Monate später machte Gene ihr einen Antrag, nachdem er zuvor ihren Vater um ihre Hand gebeten hatte. Und weitere sieben Monate später gaben sie sich das Jawort. Da war Savannah gerade mal zweiundzwanzig, doch sie konnte es kaum erwarten, eine eigene Familie zu gründen.

Die ersten paar Jahre wohnten sie im Anbau bei Genes Eltern in der Paradise Lane. Doch sie arbeiteten beide hart und konnten sich schon bald ein eigenes Haus finanzieren. Dieses fanden sie am Paradise Place, einer kleinen Straße, die gleich neben der Tavern vom Paradise Boulevard abging und in der sich die Polizeiwache und die Feuerwehr befanden. Direkte Nachbarn von ihnen waren Zac aus der Autowerkstatt und Trish aus dem Tiersalon mit ihrer Familie. Kurz nach ihrem Einzug geschah jedoch ein großes Unglück: Trishs Eltern kamen bei einem Flugzeugabsturz um. Fortan lebte die junge Frau mit ihren jüngeren Schwestern Becky und Annie allein in dem Nachbarhaus, und obwohl sich Halle, ihre Tante, um sie kümmerte und sogar kurzzeitig bei ihnen einzog, half Savannah ihnen ebenfalls, so gut sie konnte. Sie brachte manchmal etwas zu essen vorbei, passte hin und wieder auf die jüngeren Geschwister auf oder lud die drei auf einen Filmabend ein. Alles, was Ablenkung verschaffte, war gut. Trish wurde zu einer guten Freundin, und da sie zudem die beste Freundin von Helenas Schwester Lexi war, unternahmen sie auch öfter mal etwas zu viert.

Das Leben ging weiter. Und während Trish alles super meisterte, begannen bei Savannah die Probleme. Probleme, die sie nicht vorhergesehen hatte.

 

«Guten Morgen, Savannah!», rief ihr Murielle zu, die gerade aus dem Paradise Café kam. Wie beinahe immer trug sie einen samtenen Jogginganzug – sie schien die Dinger in jeder nur erdenklichen Farbe zu besitzen. Der heutige war lila.

«Guten Morgen», rief sie zurück, hielt aber nicht an, da Murielle bestimmt schon von ihrem gestrigen Streit gehört hatte. Ohnehin schmierte die ältere Dame ihr gerne aufs Brot, was sie von Gene hielt, und so etwas wollte sie an diesem Morgen nun wirklich nicht hören.

Während Savannah weiterradelte, dachte sie über ihr Leben nach. Sie fragte sich, was wäre, wenn Gene weiterhin keinen Job fand. Und was, wenn er und sie für immer kinderlos blieben? Für Savannah war das überhaupt keine Option, doch wie sah es mit Gene aus? Das musste sie dringend herausfinden, und dafür bedurfte es einfach mal eines klärenden Gesprächs. Ihre drängendste Aufgabe war nun, ihren Mann irgendwie dazu zu bewegen.

Nachdem sie das Rathaus und die Kirche passiert hatte, konnte Savannah den Paradise Parkway bis zum See entlangfahren, wo sich ein Stück hinter dem Seniorenheim auf der Nordseite das Paradise Inn befand. Doch obwohl es schon beinahe neun Uhr und sie für ihre Verhältnisse bereits spät dran war, entschied sie sich dafür, den langen Weg auf der anderen Seite des Sees zu nehmen, und bog rechts ab. Auf diese Weise konnte sie ihre Gedanken noch ein wenig sammeln und sich überlegen, wie sie ein konstruktives Gespräch mit Gene angehen sollte. Falls er dazu überhaupt bereit war. Denn eins hatte sie in ihren zweiunddreißig Lebensjahren gelernt: Man konnte niemanden ändern, der sich nicht selbst ändern wollte.

Sie passierte den Spielplatz und die Bootsanlegestelle. Als sie an den hübschen Häusern im Townhouse-Stil an der Ostseite des Lake Paradise vorbeifuhr, hörte sie jemanden ihren Namen rufen und wurde langsamer.

«Savannah!», erklang es erneut.

Sie hielt das Fahrrad an und blickte sich suchend um.

«Hier oben, Savannah!»

Sie sah hoch zu dem hübschen grünen Haus, das erst vor gut zehn Jahren gebaut worden war, und entdeckte dort am Fenster im zweiten Stock ihren Bekannten Gregory, der sie immer ein wenig an Elton John erinnerte. Er ging auf die sechzig zu, war alleinstehend und hatte das Haus vor ein paar Jahren gekauft. Als einer der wenigen wohnte er ganzjährig am See. Die meisten anderen Häuser dienten als Feriendomizile, die entweder vermietet oder nur in den Ferien von ihren Eigentümern bewohnt wurden.

«Guten Morgen, Gregory», rief sie zurück. «Wie geht es dir?»

«Gut, gut. Ich wollte dich was fragen. Bleibst du kurz stehen? Ich komme runter!» Und schon wurde das Fenster geschlossen, und er war nicht mehr zu sehen.

Wenig später kam ein etwas abgehetzter Gregory durch die Haustür gelaufen. Ihm stand bereits von den paar Treppen der Schweiß auf der Stirn. «Ein Glück, dass ich hier auf dich treffe, Savannah. Ich hab es schon im Hotel probiert.»

«Oje. Was ist denn los?», fragte sie besorgt, denn ihr Gegenüber wirkte ein wenig neben der Spur.

Gregory ließ einen langen Seufzer heraus. «Ich muss noch heute zu meiner Mutter fahren. Sie hat sich den Fuß gebrochen und kann sich nicht mehr rühren.»

«Die Arme, das ist ja blöd. Deine Mutter lebt in New Orleans, oder?»

«Ja, genau. Sie wohnt dort ganz allein und braucht nun dringend meine Hilfe.»

«Das verstehe ich natürlich. Aber wie kann ich dir denn behilflich sein?», fragte sie ein wenig verwirrt.

«Ich wollte dich bitten, ob du dich während meiner Abwesenheit um meine Pflanzen kümmerst. Besonders um meine Orchideen.»

«Ach so. Ja, klar, das mache ich sehr gerne, Gregory.» Sich um ein paar Orchideen zu kümmern, bedeutete ja nicht viel Aufwand, die goss man doch nur wenig, höchstens einmal die Woche, oder? Das dachte Savannah zumindest, doch Gregory hatte da eine andere Vorstellung.

«Oh, ich bin dir unendlich dankbar. Denn meine Orchideen sind mir das Liebste auf der Welt – neben meiner Mutter natürlich. Ich nehme mit ihnen an Wettbewerben teil, wusstest du das?»

«Nein, das wusste ich noch nicht», erwiderte Savannah, und plötzlich war sie sich ihrer Sache gar nicht mehr so sicher. «Was genau bedeutet das für mich, Gregory? Welcher Pflege bedürfen sie denn?»

«Sie müssen spätestens alle zwei Tage mit meinem Spezialspray eingesprüht, alle vier Tage gegossen und alle zwei Wochen gedüngt werden.»

Herrje.

«Okay. Ich hoffe, das werde ich hinbekommen», sagte sie. Denn falls nicht, wären am Ende wohl nicht nur die Pflanzen hinüber, sondern sie auch einen Kopf kürzer. «Was glaubst du, wie lange du weg sein wirst?»

«Kann ich noch nicht sagen. Anfang Juni muss ich auf jeden Fall zurück sein, weil da eine der größten Blumenausstellungen im Mittleren Westen stattfindet. Die Wesley Flower Show in Oklahoma City. Ich will dort mit meiner Paphiopedilum victoria-regina antreten, einer äußerst seltenen und vom Aussterben bedrohten Art.»

Savannah schluckte. «Oh Gott, bist du sicher, dass du sie mir anvertrauen willst? Vielleicht solltest du sie lieber mit zu deiner Mutter nehmen?»

«Aber auf gar keinen Fall!» Gregory sah sie schockiert an. «In der Wohnung meiner Mutter gibt es kein einziges Fenster mit passender Sonneneinstrahlung. Was glaubst du, warum ich direkt am Lake Paradise wohne?»

«Äh … weil es hier die passende Sonneneinstrahlung gibt?», versuchte sie es.

«Weil hier einfach alles stimmt: Die Fenster liegen Richtung Westen, das Klima ist nicht zu trocken, und die Temperaturen gehen fast niemals über achtundzwanzig Grad. Die idealen Voraussetzungen für meine Lieblinge.»

Wow!, dachte sie. Sie hatte ja schon viele Gründe gehört, weshalb es Leute nach Lake Paradise verschlagen hatte, aber das war neu.

«Wie wäre es denn, wenn du deine Mutter stattdessen hierherholst?», schlug sie vor.

«Wir werden sehen. Vielleicht in ein paar Wochen, wenn sie ein wenig mobiler ist. Meine Mutter ist immerhin schon achtundsiebzig.»

Savannah seufzte innerlich und stellte ihr Rad ab. «Na gut, dann stell mir deine Orchideen aber bitte mal vor und zeig mir, was genau ich machen muss.»

Zufrieden nickte Gregory und führte sie ins Haus.

Wenigstens hatte er sie von ihren Sorgen mit Gene abgelenkt, dachte Savannah. Und wenn auch nur das.

6

Dylan stand in der Fußgängerzone von Denver, Colorado, und spielte ein paar Songs. Ab und an blieb jemand stehen und hörte zu. Hin und wieder warf jemand ein, zwei Münzen in seinen Gitarrenkoffer, doch die meisten Menschen gingen einfach an ihm vorbei, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Niemand erwartete etwas von ihm, niemand wusste, wer er war. Und genau das war es ja, was er wollte. Deshalb hatte er sich vor zehn Monaten auf den Weg gemacht. Weil er einfach alles hinter sich lassen und unsichtbar sein wollte.

«Echt cool», hörte er einen Mann mit Cowboyhut sagen, nachdem er die letzten Klänge von Kings Of Leons Use Somebody gespielt hatte, und zwar in einer Country-Version. «Du solltest das professionell machen, du hast Talent.»

«Danke», antwortete Dylan. Er würde dem Mann nicht sagen, dass er das schon probiert und dass es sein ganzes Leben kaputtgemacht hatte. Es ging ihn nichts an, es ging niemanden etwas an.

Der Mann schien ihn noch immer zu mustern, wahrscheinlich erwartete er, dass sie jetzt beide ein Gespräch über Musik führen würden, bevor Dylan seinen nächsten Song anstimmte. Aber Dylan wollte auf keinen Fall erkannt werden, und deshalb deutete er jetzt eine Verbeugung an, nahm die insgesamt siebenundzwanzig Dollar und achtzig Cent aus dem offenen Gitarrenkoffer und steckte sie in seine Jeanstasche. Dann packte er seine Gibson ein und nickte dem Mann noch einmal zu, bevor er verschwand.

Weil Verschwinden in den letzten Monaten zu seiner Hauptbeschäftigung geworden war.

 

Zurück in seinem billigen Motel, nahm Dylan die Landkarte in die Hand. Hätte er sein Handy dabei, hätte er auch einfach Google Maps aufrufen können, doch er hatte es, zusammen mit dem Rest seines früheren Lebens, in Nashville zurückgelassen. Seit zehn Monaten kam er nun ohne Handy aus, ohne Social Media, ohne die nervigen Anrufe seines Managers Bill und ohne all die gut gemeinten Nachrichten von Freunden und solchen, die sich für welche hielten. Alle paar Wochen suchte er mal ein Internetcafé auf und checkte seine E-Mails, nur um sicherzugehen, dass er nichts Lebenswichtiges versäumte, ansonsten genoss er die Stille und die Einsamkeit.

Es war nicht so, dass er nicht von sich hören ließ. Denn das, was er am wenigsten wollte, war, dass seine Eltern sich auch noch um ihn Sorgen machen mussten. Deshalb schickte er von jedem Ort, den er für längere Zeit besuchte, eine Postkarte, ganz altmodisch, und er hoffte, sie würden sich darüber freuen.

Da Dylan weder ein Handy noch eine Kamera dabeihatte, kaufte er sich selbst auch jedes Mal eine Karte, quasi als Souvenir. Andere Erinnerungsstücke wären zu schwer gewesen. Schließlich hatte er neben seinem Gitarrenkoffer nur einen Rucksack dabei, einen riesigen zwar, doch auch den konnte er nur begrenzt vollstopfen.

Neben einem Kamm, seinen Zahnputzsachen und einem Deo hatte er noch Unterwäsche und Socken für eine Woche dabei, eine Ersatzjeans, eine Jogginghose, ein paar T-Shirts und Pullis. Wenn etwas schmutzig wurde, wusch er es im Hotelbadezimmer aus, wenn etwas nicht mehr zu retten oder kaputt war, warf er es weg und kaufte was Neues. An Geld mangelte es ihm nicht, hatte es zumindest bisher nicht, auch wenn es ihm nun langsam doch ausging. Zehn Monate lang in Hotels und Motels zu wohnen, von A nach B zu kommen, Sehenswürdigkeiten zu besichtigen und fast immer außer Haus zu essen, selbst wenn es oftmals nur ein Sandwich oder ein Burrito war – seine Ersparnisse würden nun bald aufgebraucht sein. Doch für zwei Monate würde es noch reichen, da war er sich sicher. Und wenn er halt ein paarmal mehr in der Fußgängerzone spielen würde. Bisher hatte Dylan das nie wegen des Geldes getan, sondern einfach, um nicht ganz das Gefühl für die Musik zu verlieren. Meistens spielte er jedoch nur für sich allein, vor allem dann, wenn die Stille nicht mehr zu ertragen war oder wenn die Bilder von Ronny zu vehement in seinem Kopf verharrten.

Langsam fuhr er mit dem Finger die Straßen der Landkarte entlang. Er hatte es von Nashville bis ganz an die Westküste geschafft. War ab und zu getrampt, hatte den Bus oder auch mal den Zug genommen. Wo es ihm gefiel, hatte er eine Pause eingelegt und war eine Weile geblieben. In Kalifornien hatte er sich ganze drei Monate aufgehalten, weil es ihm dort besonders gut gefiel. Er hatte sich all die Städte angesehen, die er bis dahin nur aus dem Fernsehen kannte, wie Los Angeles, San Francisco oder San Diego. Er hatte aber auch Orte aufgesucht, die weniger bekannt waren – und dabei wahre Traumplätze und einiges an Inspiration gefunden. Auf einer Treppe in Old Town Sacramento waren ihm, während die Pferdekutschen an ihm vorbeifuhren, sogar die Zeilen für einen komplett neuen Songtext gekommen. In Riverside und Lodi wiederum hatte er den «Alten Westen» gespürt und gleich zig Ideen für neue Lieder gehabt. Die richtige Atmosphäre war manchmal alles, das wusste er inzwischen. An manchen Orten gefiel es ihm sogar so gut, dass er sich dort am liebsten niedergelassen hätte und nie wieder fortgegangen wäre.