Land of Stories: Das magische Land – Die Macht der Geschichten - Chris Colfer - E-Book
SONDERANGEBOT

Land of Stories: Das magische Land – Die Macht der Geschichten E-Book

Chris Colfer

0,0
12,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 16,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Das magische Land wird von allen Seiten bedroht, seit der maskierte Mann hier die Herrschaft übernommen hat. Um ihn zu besiegen stellen Conner und Alex eine Armee mit den Figuren aus Conners Geschichten zusammen. Doch können starke Piraten, mächtige Cyborgs und fürchterliche Zombies wirklich gegen die dunkle Verschwörung ankommen, die weit mehr als die Königreiche im magischen Land zu zerstören droht? Im fünften Abenteuer der Bestseller-Serie wird Conner und Alex im Kampf alles abverlangt. Zum Glück haben sie eine Waffe, mit der niemand auf der anderen Seite gerechnet hat: ihre Phantasie! Serie bei Antolin gelistet. Weitere Reihen von Chris Colfer: - »Roswell Johnson rettet die Welt«  - »Land of Stories« (6 Bände) - »Tale of Magic« (3 Bände)

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 531

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Chris Colfer

Land of Stories Das magische Land

Die Macht der Geschichten

Aus dem Amerikanischenvon Fabienne Pfeiffer

Mit Illustrationenvon Brandon Dorman

FISCHER E-Books

Inhalt

[Karte][Widmung][Motto]Prolog Der LieblingsschülerKapitel 1 Das MaskenimperiumKapitel 2 HausarrestKapitel 3 Der gestürzte KaiserKapitel 4 Ein nettes FamilienessenKapitel 5 Ein Weinen aus dem SchlossKapitel 6 Ein behexendes AngebotKapitel 7 Captain und CrewKapitel 8 Rauchsegel-Sams ZornKapitel 9 Ringelreigen um das BermudadreieckKapitel 10 StarboardiaKapitel 11 FlücheKapitel 12 Hohe Wellen im Sycamore DriveKapitel 13 Königin der GalaxisKapitel 14 Kosmisches UngezieferKapitel 15 Der Apfel trifft den StammKapitel 16 Volles Haus und volle HerzenKapitel 17 NeuformierungKapitel 18 Die Kinderklinik St. AndrewKapitel 19 Die GeschwiZZterKapitel 20 Professor Börses GeheimlaborKapitel 21 Stadt der BlitzeKapitel 22 Ein Schloss voller FragenKapitel 23 Vertraute FremdeKapitel 24 Die Abenteuer von Zeppelin-BoyKapitel 25 »Das abenteuerliche Leben von Königin Trollbella«Kapitel 26 Alex alleinKapitel 27 Friedhof der UntotenKapitel 28 Ein VorfallDanksagungAusschau auf Band 6

Für Will, der mir beim Schreiben unermüdlich meine wiederkehrenden Fragen wie »Wie buchstabiert man …?«, »Was ist witziger?« und »Versteht das ein Zehnjähriger?« beantwortet, um nur ein paar zu nennen. Danke, dass Du meine Geheimwaffe bist.

»Ein Schriftsteller ist eine Welt,

gefangen in einem Menschen.«

Victor Hugo

PrologDer Lieblingsschüler

Für die feierliche Verabschiedung einer beliebten Schulleiterin in den wohlverdienten Ruhestand scheute der Schuldistrikt von Willow Crest keine Kosten und Mühen: Der Speisesaal des Gemeindezentrums war so elegant geschmückt und eingedeckt, dass nichts mehr an die Bingorunde der Senioren vom Vorabend erinnerte. Spitzendeckchen zierten die Tische, darauf Blumenarrangements, elektrische Kerzen und an jedem Platz goldene Teller, umgeben von so viel Besteck, dass die Gäste mit der Hälfte überhaupt nichts anzufangen wussten.

Fach- und Beratungslehrer, Hausmeister, Kantinenpersonal und ehemalige Schüler waren scharenweise gekommen, um Lebewohl zu sagen und der scheidenden Schulleiterin alles Gute zu wünschen. Für alle war der Ausstand eine der elegantesten Veranstaltungen, die sie jemals besucht hatten; der Ehrengast selbst fühlte sich beim Blick in die ausnahmslos langen Gesichter der Anwesenden allerdings eher wie auf einer Beerdigung.

Der neuernannte Leiter des Schuldistrikts schlug behutsam einen Löffel gegen sein Champagnerglas, und im Saal wurde es still.

»Darf ich für einen Augenblick um Ihre Aufmerksamkeit bitten?«, fragte er in ein Mikrophon. »Guten Abend, zusammen. Mein Name ist Dr. Brian Mitchell. Wie Sie wissen, haben wir uns heute hier versammelt, um eine der großartigsten Lehrerinnen zu feiern, die der Schuldistrikt von Willow Crest je zu seinen Angestellten zählen durfte: Mrs. Evelyn Peters.«

Auf den Namen folgte eine Runde herzlichen Beifalls. Ein heller Scheinwerferstrahl wurde auf Mrs. Peters gelenkt, die weit vorn im Raum neben Dr. Mitchell saß. Sie lächelte und winkte den Gästen zu, wünschte sich dabei jedoch insgeheim, sie hätte dem ganzen Aufheben nie zugestimmt. Besondere Aufmerksamkeit und Komplimente von ihren Kollegen brachten sie stets in Verlegenheit, und der Abend hatte schließlich gerade erst begonnen.

»Ich bin gebeten worden, ein paar Worte über Mrs. Peters zu sagen – eine ungeheuer einschüchternde Aufgabe«, fuhr Dr. Mitchell fort. »Was ich von mir gebe, ist im Grunde völlig gleichgültig; ich ahne bereits, dass sie – statt sich irgendein Kompliment zu Herzen zu nehmen – meiner Rede ohnehin nur auf grammatikalische Fehler hin lauschen wird.«

Das Publikum lachte, und Mrs. Peters verbarg ein Kichern hinter ihrer Serviette. Jedem, der sie kannte, war klar, wie recht der Schuldistriktsleiter mit seiner Einschätzung hatte.

»Zu sagen, dass jemand seine Arbeit gut macht, ist leicht – aber ich kann mit Gewissheit behaupten, dass Evelyn Peters eine herausragende Lehrerin war«, sagte Dr. Mitchell. »Vor beinahe drei Jahrzehnten, lange bevor sie zur Schulleiterin befördert wurde, kam ich in ihre sechste Klasse an der Willow Crest Elementary School. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich bereits eine sehr schwierige Kindheit hinter mir: Ich war gerade zehn Jahre alt, aber meine Eltern saßen beide schon im Gefängnis, und ich wurde von einer Pflegefamilie zur nächsten geschoben. Als ich Mrs. Peters’ Klassenzimmer betrat, konnte ich kaum lesen – doch dank ihr durchschmökerte ich am Ende des Schuljahres die Wälzer von Charles Dickens und Herman Melville.«

Viele der Gäste applaudierten, was Mrs. Peters die Röte ins Gesicht trieb; die meisten der Klatschenden hatten ähnliche Geschichten selbst erlebt oder zumindest mitbekommen.

»Zu Beginn verstanden wir uns nicht besonders gut«, gab Dr. Mitchell offen zu. »Sie triezte mich härter als jemals jemanden zuvor: Ich erhielt zusätzliche Hausaufgaben und musste nach Schulschluss dableiben und ihr laut vorlesen. Einmal hatte ich diese Sonderbehandlung derart satt, dass ich drohte, ihr Haus mit Graffitis zu besprühen, wenn sie nicht damit aufhörte. Am nächsten Tag reichte sie mir eine Farbdose und ein Kärtchen mit ihrer Adresse und sagte: ›Sprühen Sie ruhig, aber achten Sie zumindest auf die korrekte Rechtschreibung.‹«

Der Saal brach in schallendes Gelächter aus, und alle Köpfe wandten sich Mrs. Peters zu, die daraufhin verlegen nickend die Geschichte bestätigte.

»Mrs. Peters hat mir so viel mehr als bloß das Lesen beigebracht«, setzte Dr. Mitchell wieder an, und seine Stimme brach beinahe. »Von ihr habe ich gelernt, wie wichtig Mitgefühl und Geduld sind. Sie war die einzige Lehrerin, die mir den Eindruck vermittelt hat, dass ich ihr ebenso am Herzen liege wie meine Noten. Sie hat meine Begeisterung für das Lernen geweckt und mich dazu inspiriert, selbst Lehrer zu werden. Wir sind traurig, sie heute zu verabschieden – aber wir alle wissen: Hätte sie sich für meine Position beworben, statt in den Ruhestand zu treten, dann hätte ich den Job niemals bekommen.«

Mrs. Peters putzte ihre Brille, um die Gäste von den Tränen abzulenken, die ihr in die Augen gestiegen waren. Ohne den Zuspruch der zahlreichen Menschen im Raum hätte sie sich selbst womöglich niemals eingestanden, wie viele junge Leben sie positiv beeinflusst hatte.

»Und nun wollen wir alle gemeinsam anstoßen«, sagte Dr. Mitchell und hob sein Glas. »Auf Evelyn Peters: Danke, dass Sie uns alle beflügelt und begleitet haben. Der Schuldistrikt von Willow Crest wird ohne Sie nicht mehr derselbe sein.«

Sämtliche Gläser im Saal wurden zu Ehren von Mrs. Peters in die Luft gereckt. Anschließend ergriff Mrs. Peters selbst das Mikrophon und erwiderte die Geste mit ihrem eigenen Glas.

»Bitte gestehen Sie nun auch mir ein paar Worte zu«, sagte sie. »Mein verstorbener Ehemann war ebenfalls Lehrer, und er hat mir den besten Rat gegeben, den ein Pädagoge dem anderen zuteilwerden lassen kann. Daher möchte ich seine weisen Worte nun gern an Sie alle weitertragen, für den Fall, dass ich heute zum letzten Mal die Gelegenheit dazu habe.«

Das Publikum rutschte gespannt bis an die Stuhlkanten nach vorn, allen voran Mrs. Peters’ Kollegen.

»Als Lehrer dürfen wir unsere Schüler nicht zu Menschen nach unseren eigenen Wunschvorstellungen heranziehen; stattdessen sind wir dazu verpflichtet, ihnen alles Nötige mit auf den Weg zu geben, damit aus ihnen Erwachsene gemäß ihrer eigenen Bestimmung werden können. Vergessen Sie niemals, dass die Ermutigung, die diese Schüler von uns bekommen, unter Umständen die einzige ist, die sie jemals erhalten werden – sparen Sie also nicht daran. Nach meiner fünfundzwanzigjährigen Lehrtätigkeit und der kurzen Erfahrung als Schulleiterin versichere ich Ihnen, dass mein Ehemann mit seiner Einschätzung goldrichtig lag. Und da diese Lektion die wertvollste ist, die Sie je von mir lernen könnten, sage ich hiermit zum allerletzten Mal: Der Unterricht ist beendet.«

Der Schluss ihrer Rede wurde mit stehenden Ovationen quittiert. Nach einigen Momenten des Beifalls drängte Mrs. Peters die Gäste, wieder Platz zu nehmen, woraufhin der Jubel jedoch nur nochmals anschwoll.

Die Lichter wurden gedimmt, und eine Leinwand schwebte von der Decke herab. Dr. Mitchell und Mrs. Peters setzten sich und verfolgten, wie Gruppenfotos all jener Klassen, die Mrs. Peters im Lauf ihrer Karriere betreut hatte, darauf projiziert wurden, angefangen mit ihrem allerersten sechsten Jahrgang fast dreißig Jahre zuvor. Immer wieder war während der Vorführung das Lachen der einstigen Schüler zu hören, die sich über die lächerlichen Klamotten und Frisuren, die sie als Elf- oder Zwölfjährige zur Schau getragen hatten, köstlich amüsierten. Auffällig war jedoch, wie wenig Mrs. Peters sich im Laufe der Jahre verändert hatte. Auf jedem einzelnen Bild sahen Haare, Brille und Blumenkleider der Lehrerin exakt gleich aus – beinahe so, als wäre Mrs. Peters in der Zeit eingefroren, während die Welt ringsum sich weitergedreht hatte.

Die Bildershow rührte Mrs. Peters mehr als jeder andere Beitrag des Abends. Sie hatte das Gefühl, ein Familienalbum würde vor ihren Augen durchgeblättert. Zu jedem Gesicht, das auf der Leinwand auftauchte, kannte sie noch den Namen, und mit den allermeisten Schülern stand sie nach wie vor entweder persönlich in Kontakt oder wusste doch zumindest, was aus ihnen geworden war; nur einige wenige hatte sie gänzlich aus dem Blick verloren. Es schmerzte sie, dass diese Kinder, denen sie einst so nahegestanden hatte, sich nun geradezu in Luft aufgelöst zu haben schienen.

Für Mrs. Peters, die keine weitere Familie hatte, waren ihre Schüler wie eigene Kinder, und sie hoffte inständig, dass sie allesamt glücklich und gesund waren, wohin auch immer das Leben sie geführt haben mochte. Und auch, dass die Jungen und Mädchen – nun, da sie selbst ihnen nicht mehr Pfeiler des Mitgefühls und der Orientierung im Leben sein konnte – jemand anderen gefunden hatten, der diese Rolle ausfüllte.

»Evelyn?«, flüsterte Dr. Mitchell.

Mrs. Peters war nach wie vor jedes Mal irritiert, wenn ein ehemaliger Schüler sie mit ihrem Vornamen anredete – selbst wenn es sich dabei um den Schuldistriktsleiter handelte.

»Ja, Dr. Mitchell?«, wisperte sie zurück.

»Hatten Sie jemals einen Lieblingsschüler?«, fragte er grinsend. »Ich weiß, wir sollten keine Lieblinge haben, aber gab es ein Kind, das ihnen ganz besonders ans Herz gewachsen ist? Abgesehen von mir, versteht sich.«

Darüber hatte Mrs. Peters sich noch nie Gedanken gemacht. Sie hatte in ihrer Laufbahn mehr als fünfhundert Schülerinnen und Schüler erlebt, und jede und jeder von ihnen war ihr aus anderen Gründen im Gedächtnis geblieben, doch eine Rangfolge aufzustellen, war ihr nie in den Sinn gekommen.

»Ich habe es gewiss bei einigen mehr genossen, sie zu unterrichten, aber einen einzelnen Favoriten könnte ich nicht benennen«, antwortete sie. »Dazu müsste ich über sie urteilen, und ich war schon immer der Meinung, dass ein Urteil über ein Kind zu fällen ist, als würde man über ein unfertiges Kunstwerk richten. Jedes Kind betritt ein Klassenzimmer mit seinem ganz persönlichen Päckchen an Hürden und Herausforderungen, die sich ihm in den Weg stellen werden, ob nun Verhaltensauffälligkeiten oder Lernschwächen. Die Aufgabe der Lehrkraft ist es dann, diese Probleme auszumachen und den Betroffenen dabei zu helfen, sie zu überwinden – doch niemals sollte man ihretwegen auf einen Schüler herabsehen.«

So hatte Dr. Mitchell die Angelegenheit noch nie betrachtet. Selbst als Erwachsener lernte er nach wie vor von seiner alten Lehrerin.

»Mag sein, dass ich inzwischen Schuldistriktsleiter bin, aber Ihr Schüler bleibe ich mein Leben lang«, sagte er zu Mrs. Peters.

»Ach, Dr. Mitchell«, lachte sie. »Im Klassenzimmer des Lebens sind wir alle Schüler bis zuletzt.«

Obwohl Mrs. Peters aufrichtig geglaubt hatte, keine Antwort sei die beste Antwort auf seine Frage, wurde ihr kurz darauf klar, dass sie sich irrte: Auf der Leinwand erschien nun ein drei Jahre altes Foto ihrer letzten sechsten Klasse. Sie überflog die Gesichter ihrer früheren Schützlinge und blieb an jenen der damals zwölfjährigen Zwillinge Alex und Conner Bailey hängen.

Alex’ Haar wurde ordentlich von einem pinkfarbenen Haarreif zurückgehalten, und sie presste einen Stapel Bücher regelrecht an ihr Herz. Ein breites Grinsen zog sich über ihr Gesicht, denn nirgends hatte sie sich je wohler gefühlt als in der Schule. Ihr Bruder dagegen hatte verquollene Augen, und der Mund hing ihm offen. Er wirkte, als sei er gerade erst aufgewacht und sich überhaupt nicht bewusst, dass er fotografiert wurde.

Mrs. Peters musste unwillkürlich lachen, denn genau so hatte sie die beiden in Erinnerung – und das Bild führte ihr wieder vor Augen, wie sehr sie sie vermisste.

Beide Bailey-Zwillinge hatten plötzlich und unerwartet die Schule gewechselt, ehe Mrs. Peters Gelegenheit gehabt hatte, sich von ihnen zu verabschieden. Alex war mitten im siebten Schuljahr zu ihrer Großmutter nach Vermont gezogen, und Conner hatte es ihr im folgenden Jahr nachgetan. Obwohl die Mutter der zwei noch immer in der Stadt lebte, war Mrs. Peters versichert worden, für die Kinder sei Vermont der beste Ort.

Soweit Mrs. Peters informiert war, hatte Alex’ Umzug damit zu tun gehabt, dass sie dort eine Schule mit besonderer Hochbegabtenförderung besuchen konnte. Aus welchem Grund es Conner in den Norden verschlagen hatte, war ihr jedoch nach wie vor ein Rätsel.

Im Jahr vor seinem Umzug war Conner während einer Schulexkursion nach Europa gemeinsam mit einer Klassenkameradin, Bree Campbell, durchgebrannt – eine Aktion, die zu keinem der beiden bis dato stets unauffälligen Schüler so recht zu passen schien. Wäre Conner an Mrs. Peters’ Schule geblieben, wäre er angemessen bestraft worden, so wie es Bree widerfahren war; einen Schulwechsel empfand jedoch sogar sie als ausgesprochen drastische Konsequenz.

Die gesamte Situation war Mrs. Peters höchst merkwürdig vorgekommen und wühlte sie nach wie vor auf. Gerade erst hatte Conner sein Naturtalent fürs Schreiben entdeckt gehabt und zum ersten Mal in der Schule mit herausragenden Noten glänzen können. Wo auch immer er nun sein mochte: Mrs. Peters hoffte, dass er dort jemanden gefunden hatte, der ihn weiter bestärkte und ermutigte. Nichts war in ihren Augen tragischer als verschenktes Schülerpotential.

Die Bildervorführung ging zu Ende, und im Speisesaal wurde der Nachtisch serviert, ehe der Abend nach einem weiteren Dutzend Lobesreden früherer Kollegen und Schüler schließlich ausklang.

 

Mrs. Peters verstaute stapelweise Abschiedskarten und eine ganze Armladung Blumensträuße in ihrem Auto. Sie freute sich auf eine ruhige Nacht zu Hause, um sich von dem langen und emotionalen Abend zu erholen. Beinahe unwillkürlich nahm sie auf dem Heimweg eine Route, die sie an der Willow Crest Elementary School vorbeiführte. Spontan rammte Mrs. Peters den Fuß kräftig auf die Bremse und parkte ihren Wagen. Das Gebäude erinnerte sie an einen letzten Abschied, den sie noch nehmen musste, bevor sie wirklich bereit für den Ruhestand war.

Sie durchwühlte ihre geräumige Handtasche und fand darin den Schlüssel zum Unterrichtsraum ihrer einstigen sechsten Klasse. Zu ihrem Glück waren die Schlösser zwischenzeitlich nicht getauscht worden, so dass es ihr ohne Probleme gelang, das Zimmer der ehemaligen 6B zu betreten. Sie hatte eine Welle der Rührung erwartet, doch stattdessen stellte sie lediglich fest, dass ihr der dunkle Raum fremd geworden war.

Die neue Lehrkraft hatte ihn gänzlich umgestaltet: Die Pulte standen jetzt in Gruppen statt Reihen zusammen, und entlang der Wände, die einst von Regalen mit Wörterbüchern und Lexika gesäumt gewesen waren, zogen sich nun Tablet- und Computerarbeitsplätze. Dazu hatte jemand die Poster der weltbekannten Schriftsteller und Wissenschaftler ausgetauscht, und an ihrer Stelle präsentierten nun Prominente auf mehreren Plakaten ihre Lieblingsbücher – Bücher, von denen Mrs. Peters sehr zu bezweifeln wagte, ob die Stars sie tatsächlich auch gelesen hatten.

Mrs. Peters kam sich vor wie eine Schauspielerin, die ein falsches Filmset betreten hatte. Sie war fassungslos darüber, wie sehr ein Unterrichtsraum sich in so kurzer Zeit verändern konnte – ganz so, als hätte sie selbst niemals dort gelehrt. Das Einzige, was sie wiedererkannte, war das Lehrerpult. Es befand sich noch am exakt selben Platz wie während der fünfundzwanzig Jahre ihrer eigenen Lehrtätigkeit in diesem Raum. Die Pensionärin nahm auf dem Stuhl dahinter Platz und blickte sich ein wenig wehmütig im Zimmer um.

Sie hoffte inständig, dass die Raumgestaltung lediglich den persönlichen Geschmack ihres Nachfolgers widerspiegelte, darüber hinaus jedoch auch in ihrer Abwesenheit weiterhin jene Sitten und Werte vermittelt wurden, die sie selbst einst ihren Schülern beigebracht hatte. Sie hoffte, dass die modernen technischen Hilfsmittel den Unterricht bereicherten, statt ihm seine Seele zu rauben. Und am allermeisten hoffte sie, dass dem neuen Lehrer seine Aufgabe ebenso am Herzen lag wie früher ihr.

Ehe düstere Gedanken und Sorgen sie zu erdrücken drohten, rief Mrs. Peters sich ins Gedächtnis, dass sie es gewiss als deutlich schlimmer empfunden hätte, wäre alles unverändert gewesen. Immerhin war es Lehrkräften wie ihr zu verdanken, dass die junge Generation so mühelos und trittsicher ihren Weg in die Zukunft beschritt.

Und genau wie für alle Lehrerinnen und Lehrer vor ihr war es nun für sie an der Zeit, den Stab an ihre Nachfolger zu übergeben. Sie hatte bloß nicht damit gerechnet, dass das Loslassen ihr so schwerfallen würde.

»Adieu, Klassenzimmer«, murmelte Mrs. Peters. »Die Lektionen, die wir gemeinsam gelehrt haben, werden mir fehlen – aber noch mehr werde ich die Lektionen vermissen, die wir zusammen gelernt haben.«

Sie hatte sich gerade von ihrem Stuhl erhoben und zum Gehen gewandt, als plötzlich ein Windstoß durch den Raum fuhr. Zettel wurden von den Wänden gerissen, und ein Luftstrudel bildete sich in der Mitte des Zimmers. Ein grelles Licht erleuchtete die Szene wie ein Blitzschlag, und Mrs. Peters brachte sich mit einem Hechtsprung unter dem Lehrerpult in Sicherheit.

Als sie aus ihrem Versteck hervorspähte, entdeckte sie zwei Paar Füße, die aus dem Nichts erschienen – das eine steckte in Tennisschuhen, das andere in glitzernden Schläppchen.

»Na, das schaut ja ziemlich anders aus als in unseren Sechstklässlertagen«, meinte die vertraute Stimme eines jungen Mannes. »Oh Mann, wieso kriegen die Knirpse von heute Computer? Wir hatten damals keine – sonst wäre ich garantiert nicht so oft eingeschlafen.«

»Die Zeiten ändern sich«, erklang eine zweite Stimme, die Mrs. Peters ebenfalls nur zu gut kannte. »Ich bin ziemlich sicher, dass schon in naher Zukunft überhaupt keine Schulen mehr gebaut werden. Dann setzt sich jedes Kind nur noch zu Hause vor einen Rechner oder ein Tablet und lernt von dort aus. Kannst du dir etwas Schrecklicheres vorstellen?«

»Kümmern wir uns besser um eine Krise nach der anderen«, erwiderte der junge Mann. »Du suchst bei den Computertischen, und ich durchstöbere die Aktenschränke. Irgendwo hier drin müssen meine Geschichten doch stecken.«

Die Fußpaare eilten in zwei entgegengesetzte Ecken des Raums. Mrs. Peters wusste, dass sie die dazugehörigen Stimmen bereits viele Male gehört hatte, konnte sie jedoch noch keinen konkreten Gesichtern zuordnen.

»Wenn sie nicht in ihrem alten Büro waren, wieso bist du dann so überzeugt, dass wir sie hier finden?«, fragte die junge Frau.

»Weil wir überall sonst schon nachgesehen haben«, bekam sie zur Antwort. »Lehrer sind rührselig – vielleicht hat sie sie in eine Zeitkapsel gepackt oder so? Ich möchte gern erst alle anderen Möglichkeiten ausschließen, ehe wir bei ihr einbrechen.«

Mrs. Peters hielt die Spannung nicht länger aus. Sie richtete sich langsam auf und lugte über die Tischkante. Kaum hatte sie die zwei Neuankömmlinge erkannt, schnappte sie hörbar nach Luft, was beide zusammenschrecken ließ.

»Mr. Bailey! Miss Bailey!«, rief sie. Seit ihrer letzten Begegnung waren die Zwillinge gehörig gewachsen, insbesondere Alex. Mrs. Peters schaffte es kaum, ihre Augen von der langen, wunderschönen Robe loszureißen, die sie trug: Das himmelblaue Kleid funkelte bei jeder Bewegung, als entstamme es geradewegs einem Märchen.

Alex und Conner waren ebenso baff, auf ihre frühere Lehrerin zu treffen, wie sie es über ihr Auftauchen war.

»Ähm … hi, Mrs. Peters!«, grüßte Alex und lachte nervös. »Lange nicht gesehen!«

»Mrs. Peters?«, staunte Conner. »Was machen Sie denn so spät noch hier?«

Mrs. Peters verschränkte die Arme vor der Brust und musterte ihn streng über ihre Brillengläser hinweg.

»Diese Frage wollte ich Ihnen beiden gerade stellen«, sagte sie. »Wie sind Sie ohne Schlüssel hier hereingekommen? Was hatte es mit diesem Blitz und dem Wind auf sich? Soll das eine Art Schülerstreich sein?«

Einen Augenblick lang starrten die Zwillinge einander stumm an, doch beide waren völlig ratlos, was sie ihr erzählen sollten. Da ihm absolut nichts Besseres einfiel, verlegte Conner sich darauf, mit wedelnden Armen durch das Klassenzimmer zu hüpfen.

»Mrs. Peters, Sie trääääuuuumen!«, sang er. »Das Sushi, das Sie gegessen haben, war verdorben, und jetzt suchen Ihre einstigen Schüler Sie in Albträumen heim! Verlassen Sie schnell diesen Raum, bevor wir zu gigantischen Tafelstöcken und Kartenhaltern mutieren!«

Sein grauslicher Versuch, sie zu täuschen, entlockte Mrs. Peters lediglich ein Stirnrunzeln, und so ließ Conner die Arme rasch wieder sinken.

»Seien Sie versichert: Ich bin bei vollem und klarstem Bewusstsein, Mr. Bailey«, sagte sie. »Würde mir nun bitte einer von Ihnen beiden erklären, wie Sie in diesem Klassenzimmer erschienen sind, oder muss ich die Polizei rufen?«

Inzwischen hätte es den Zwillingen leichtfallen sollen, jemandem in der Anderswelt die Sachlage zu erläutern, doch nun, da sie ihrer ehemaligen Lehrerin in ihrem ehemaligen Unterrichtsraum gegenüberstanden, fühlten sie sich mit einem Mal keinen Tag mehr älter als zwölf. Mrs. Peters konnten sie unmöglich anlügen – doch die Wahrheit würde ihre Lehrerin den Geschwistern niemals abnehmen.

»Das würden wir gern, aber es ist eine sehr, sehr lange Geschichte«, sagte Alex.

»Ich habe einen Universitätsabschluss in Amerikanischer Literatur – ich liebe lange Geschichten«, gab Mrs. Peters zurück.

Plötzlich wurden ihre strengen Züge weicher. Ihr Blick huschte beinahe ungläubig zwischen den Zwillingen hin und her; fast schien es, als sei ihr ganz von selbst die Erleuchtung gekommen und sie habe lediglich noch Schwierigkeiten, die damit verbundene Erkenntnis zu akzeptieren.

»Sekunde mal«, sagte Mrs. Peters. »Hat das Ganze hier womöglich irgendetwas mit der Märchenwelt zu tun?«

Alex und Conner fiel haargenau gleichzeitig die Kinnlade herunter. Es war das Letzte, was sie aus dem Mund ihrer früheren Lehrerin erwartet hatten, und sie fühlten sich ein wenig wie in einem Film, der abrupt eine Szene übersprungen hatte.

»Ähm … korrekt«, erwiderte Conner. »Na, das war einfach.«

Alex funkelte Conner böse an – überzeugt, dass er ihr gegenüber etwas zu erwähnen vergessen hatte.

»Du hast Mrs. Peters also schon vom magischen Land erzählt, Conner?«, fragte sie.

»Natürlich nicht!«, empörte sich Conner. »Das war vermutlich Mom! Irgendwie musste sie unsere Schulwechsel ja erklären!«

Als die Blicke der Geschwister wieder auf Mrs. Peters landeten, zog die ehemalige Schulleiterin eine Miene, wie Alex und Conner sie an ihr noch nie zuvor gesehen hatten: Ihre Augen waren groß geworden und leuchteten, und sie verbarg ein breites Lächeln hinter beiden Händen. Die Pensionärin wirkte wie ein aufgeregtes Schulmädchen.

»Oh, du meine Güte«, hauchte Mrs. Peters. »Nach all den Jahren habe ich endlich die Gewissheit, dass es wirklich wahr gewesen ist … Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie oft ich mich gefragt habe, ob es nur ein Traum oder eine Halluzination war, aber Sie beide sind haargenau so aufgetaucht wie sie damals … und haargenau so ein Kleid hat sie auch getragen …«

Die Zwillinge waren heillos verwirrt.

»Was soll wahr gewesen sein?«, erkundigte sich Conner.

»Von wem reden Sie?«, drängte Alex.

»Als ganz kleines Mädchen lag ich mit einer Lungenentzündung im Krankenhaus«, berichtete Mrs. Peters. »Eines späten Abends, während die Krankenschwestern und Pfleger mit anderen Patienten beschäftigt waren, ist eine gütige Frau in exakt solch einem Kleid in meinem Zimmer erschienen. Sie hat mir die Haare gebürstet und die komplette Nacht lang Geschichten vorgelesen, um mich zu trösten. Ich habe sie damals für eine Art Engel gehalten. Bevor sie gegangen ist, habe ich sie angefleht, mir ihren Namen zu verraten – und da hat sie geantwortet, sie sei eine gute Fee und lebe in der Märchenwelt.«

Alex und Conner trauten ihren Ohren kaum. Da hatten sie Mrs. Peters jahrelang zu kennen geglaubt und doch keine Ahnung gehabt, dass ihre Lehrerin einst Bekanntschaft mit dem magischen Land gemacht hatte.

»Oha, die Welten sind klein«, murmelte Conner.

»Diese Frau war unsere Großmutter«, gestand Alex. »Sie und weitere Feen sind früher in diese Welt gereist und haben bedürftigen Kindern Märchen vorgelesen. Grandma meinte, durch die Erzählungen haben die Kinder stets neue Hoffnung geschöpft.«

Mrs. Peters ließ sich auf dem Pult nieder und presste die Hand aufs Herz.

»Tja, damit hat sie ganz recht«, sagte sie. »Sobald ich wieder gesund war, verschlang ich bis zum Ende meiner Kindheit jedes Märchen, das ich finden konnte. Tatsächlich bin ich vor allem deshalb Lehrerin geworden, weil ich dieselben Geschichten mit anderen teilen wollte.«

»Das gibt’s doch gar nicht!«, staunte Conner. »Darum haben Sie uns diese Aufsätze über Märchen schreiben lassen, als wir in Ihrer Klasse waren! Das ist ja megakrass!«

»Conner, ich hasse es, wenn du dieses Wort verwendest«, zischte Alex.

»Ich stimme Ihnen vollkommen zu, Mr. Bailey – das ist megakrass!«, lachte Mrs. Peters. »Ich kann gar nicht in Worte fassen, wie dankbar ich bin, endlich die Wahrheit erfahren zu haben. Die ganze Zeit über haben Sie beide gar nicht in einem anderen Bundesstaat gelebt – sondern bei Ihrer Großmutter in der Märchenwelt! Das erklärt die abrupten Schulwechsel, und auch, weshalb Ihre Mutter in ihrer Erklärung so vage geblieben ist – und ich nehme an, es hat auch etwas mit Mr. Baileys eigenmächtigem Ausflug während der Schulexkursion nach Europa zu tun.«

»Schuldig«, bekannte Conner verlegen. »Immerhin bin ich also in Wirklichkeit kein Krimineller!«

»Und Ihre Großmutter, lebt sie noch?«, erkundigte sich Mrs. Peters.

Sie wirkte so glücklich, dass es die Zwillinge schmerzte, ihr die traurige Nachricht beibringen zu müssen.

»Genau genommen ist sie vor etwas mehr als einem Jahr gestorben«, sagte Alex.

»Ja, kurz nachdem sie einen Drachen erlegt hatte!«, prahlte Conner. »Aber das ist eine weitere lange Geschichte, die bloß zu noch längeren Geschichten führen würde – glauben Sie mir, unser zukünftiger Biograph wird alle Hände voll zu tun haben –, und momentan fehlt uns die Zeit für ausführliche Erklärungen! Tatsächlich sind wir nämlich in einer sehr wichtigen Angelegenheit hier.«

»Ach?«, machte Mrs. Peters.

»Erinnern Sie sich noch daran, wie Sie meine Kurzgeschichten in einem Ordner gesammelt haben – damit ich Sie später für Collegebewerbungen zur Hand habe? Wissen Sie, wo dieser Ordner sich jetzt befindet?«, fragte er.

»Haben Sie denn keine eigenen Abschriften?«, stutzte Mrs. Peters.

»Nein, die Texte waren ja allesamt handschriftlich«, meinte Conner. »Ich hatte genug Mühe damit, die Originale zu schreiben – da hätte meine Hand gestreikt, wenn ich auch noch Abschriften hätte anfertigen wollen.«

»Mr. Bailey, falls Sie tatsächlich eine Karriere als Schriftsteller anstreben, müssen Sie lernen, Ihre Arbeit zu sichern –«

»Jep, das lerne ich gerade auf die harte Tour«, stellte Conner fest. »Schauen Sie, etwas Schreckliches ist im magischen Land passiert, und wir brauchen meine Geschichten, um die Märchenwelt zu retten.«

»Sie haben ganz gewiss eine Million Fragen, aber wie Conner schon sagt: Uns rinnt hier buchstäblich die Zeit durch die Finger«, fügte Alex hinzu. »Wenn Sie also wissen, wo die Texte sind, dann bitte verraten Sie es uns. Davon hängt das Schicksal einer Menge Leute ab.«

Ihr Tonfall und die flehenden Blicke beider Zwillinge verrieten Mrs. Peters, wie ernst es ihnen war, daher bedrängte sie die Geschwister nicht länger mit Fragen.

»Sie haben Glück«, sagte sie stattdessen. »Ich habe die Geschichten bei mir.«

Mrs. Peters holte ihre Handtasche unter dem Pult hervor und zog einen dicken Ordner heraus. Sie blätterte durch die abgehefteten Seiten, und die Zwillinge sahen, dass es sich dabei um Hunderte von Schüleraufsätzen, Mathearbeiten, Buchbesprechungen, Geschichtsklausuren und Kunstwerke handelte.

»Heute war mein letzter Arbeitstag vor dem Ruhestand«, erzählte Mrs. Peters. »Also habe ich meinen Schreibtisch ausgeräumt und das hier gefunden. Eine Sammlung, die ich über die Jahre angelegt habe: all jene Schülerarbeiten, die mich als Lehrerin besonders stolz gemacht haben. Wann immer ich einmal einen harten Tag hatte, habe ich diesen Ordner durchgeblättert und daraus neue Kraft und Inspiration geschöpft.«

Als sie am Ende der Zettelflut angelangt war, löste sie einen Packen davon heraus und reichte Conner den Papierstapel mit seiner schludrigen Handschrift.

»Bitte sehr, Ihre Kurzgeschichten, Mr. Bailey«, sagte sie.

Die Zwillinge seufzten vor Erleichterung. Nachdem sie so lange danach gesucht hatten, hielten sie die Texte nun beinahe in Händen. Conner fasste danach, doch Mrs. Peters’ Griff schloss sich nur fester um die Seiten.

»Ich gebe Sie Ihnen nur, wenn Sie mir im Gegenzug dafür etwas versprechen«, sagte sie.

»Er wird Ihnen alles versprechen, was Sie sich wünschen!«, beteuerte Alex verzweifelt.

Conner nickte. »Ja, auf jeden Fall!«

Mrs Peters bohrte ihren Blick in seinen. »Sobald dieses turbulente Kapitel Ihres Lebens sein Ende gefunden hat, setzen Sie Ihre Schulausbildung fort und schreiben weiter – versprochen?«, verlangte sie.

Conner hatte deutlich Schlimmeres erwartet. »Okay, klar, versprochen«, antwortete er.

»Gut«, sagte sie. »Denn die Welt braucht Schriftsteller wie Sie zur Inspiration, Mr. Bailey. Betrachten Sie Ihr Talent nicht als selbstverständlich und verschwenden Sie es nicht.«

Mrs. Peters lockerte ihre Finger, und Conner konnte seine Geschichten endlich an sich nehmen. Alex war sehr dankbar, dass der Austausch so leicht über die Bühne gegangen war – sie hatte sich innerlich bereits dafür gewappnet gehabt, Mrs. Peters im Notfall mit einem Lähmzauber belegen zu müssen.

»Ich bin froh, dass ich es in Ihren Ordner geschafft habe«, sagte Conner zu Mrs. Peters.

»Ich hätte niemals gedacht, dass ich so etwas einmal sagen würde, Mr. Bailey – aber sollte ich jemals so etwas wie einen Lieblingsschüler gehabt haben, dann waren ganz gewiss Sie es«, gestand Mrs. Peters.

»Ich?«, staunte Conner. »Aber … aber … wieso?«

»Ja – wieso?«, echote Alex, ehe es ihr gelang, sich zu beherrschen.

»Bei allem gebührenden Respekt, Miss Bailey: Wenn ich einmal alt bin und mein Gedächtnis mich im Stich lässt, dann werde ich nicht die Schüler am längsten in Erinnerung behalten, die die besten Noten oder die wenigsten Fehlstunden vorzuweisen hatten«, erklärte Mrs. Peters. »Sondern jene, die die beachtlichste Entwicklung durchlaufen haben. Und Ihr Bruder ist heute meilenweit von dem Jungen entfernt, der in meinem Unterricht immerzu eingeschlafen ist.«

»Ich glaube nicht, dass ich mehr Fortschritte gemacht habe als sonst irgendjemand«, meinte Conner schulterzuckend.

»Das liegt daran, dass es niemandem vergönnt ist, sich selbst durch die Augen eines anderen zu betrachten«, sagte Mrs. Peters und schmunzelte. »Ich habe Sie nach dem Tod Ihres Vaters leiden sehen – aber Sie haben sich selbst entschlossen aus diesem Loch wieder herausgekämpft. Statt sich Ihrer Trauer hinzugeben, haben Sie einen starken, widerstandsfähigen Sinn für Humor entwickelt. Bald schon musste ich Sie ständig für Ihre Albernheiten im Unterricht tadeln. Im darauffolgenden Jahr, nach meiner Beförderung zur Schulleiterin, entstand bei mir immer stärker der Eindruck, dass hinter Ihrer Clownerie eine beachtliche Phantasie steckte. Ich ließ mir von Ihren Lehrern Kostproben Ihrer Aufsätze geben und sah meine Vermutung bestätigt. Sie haben sich dafür entschieden, an ihrem Kummer zu wachsen – und um das zu schaffen, braucht es einen sehr starken Charakter.«

Alex bedachte ihren Bruder mit einem stolzen Lächeln. Conners ganzer Kopf glühte – er vertrug Komplimente in etwa so gut wie Mrs. Peters.

»Na, wenn das so ist«, meinte er. »Dann bin ich wohl tiefgründiger, als ich dachte.«

»Sie wären überrascht«, antwortete Mrs. Peters. »Ihre Texte verraten viel über Sie, vermutlich mehr, als Sie preisgeben wollten. Vielleicht erfahren Sie selbst das ein oder andere über sich, sobald Sie sie jetzt noch einmal durchsehen.«

Diese Aussage beunruhigte Conner ein wenig – wie viel von sich hatte er unwissentlich offengelegt? Beim Schreiben war er stets nur darauf bedacht, eine gute Geschichte zu erzählen; nie hatte er sich darüber den Kopf zerbrochen, welche Spuren er womöglich zwischen den Zeilen hinterließ. Mit einem Mal kam er sich vor, als stünde er unter der Dusche und hätte vergessen, die Badezimmertür abzuschließen.

»Danke, Mrs. Peters«, sagte er. »Und, ganz ehrlich: Sie waren auch immer meine Lieblingslehrerin. Ohne Sie hätte ich niemals Gefallen am Schreiben gefunden.«

 

Mrs. Peters war sehr froh, an diesem Abend unverhofft auf die Bailey-Zwillinge getroffen zu sein. Die Gewissheit, dass sie dazu beigetragen hatte, Alex und Conner zu den wunderbaren und verantwortungsbewussten jungen Erwachsenen zu machen, die sie inzwischen waren, war das größte Geschenk zu ihrer Pensionierung, das sie sich hätte erträumen können. Sie schob den Ordner zurück in ihre Tasche und warf dann einen Blick hinauf zur Wanduhr. Ernüchtert musste sie feststellen, dass die neue Lehrkraft sie mit einer scheußlichen gelben Glitzereinfassung versehen hatte, die wohl an eine Sonne erinnern sollte.

»Ich fasse es nicht: schon nach Mitternacht«, bemerkte Mrs. Peters. »Ich bin vollkommen erschöpft. Wenn Sie beide mich bitte entschuldigen würden; ich denke, ich werde dann mal –«

Mit einer neuerlichen Windböe samt Lichtblitz verschwanden die Zwillinge ins Nichts hinein. Mrs. Peters musste lachen, denn ihr rasanter Abgang bestätigte etwas, wovon sie schon lange aus tiefstem Herzen überzeugt war.

»Schüler«, seufzte sie. »Sie kommen und gehen wie im Flug.«

Kapitel 1Das Maskenimperium

In der Luft hing so dichter Rauch, dass der Himmel kaum zu sehen war. Wann immer ein starker Wind die Dunstschwaden zeitweilig vertrieb, zogen aus dem nächsten geplünderten Dorf oder vom jüngsten Waldbrand her neue heran. Tagsüber glich die Sonne einer schwachen Laterne, die durch braunes Packpapier leuchtete; nachts zeigten sich die Sterne längst ebenso selten wie eine glückbringende Sternschnuppe.

Über die Jahre hatte die Märchenwelt zahlreiche schwere Zeiten durchlebt, doch das gegenwärtige Ausmaß an Schrecken überstieg alles. Zum ersten Mal in der Geschichte schien ein glückliches Ende in unerreichbarer Ferne.

Im Verlauf einer einzigen Nacht hatte die Winkiearmee der bösen Hexe des Westens das Königreich des Gläsernen Schuhs und auch das Revier der Trobolde überfallen; ihre fliegenden Affen hatte sie ausgeschickt, um das Reich der Elfen und das Königreich an der Ecke zu terrorisieren. Derweil war die Herzkönigin mit ihren Spielkartensoldaten durch das Königreich in der Mitte marschiert, nur um anschließend das Östliche Königreich zu verwüsten. Das Wasser der Bucht der Meerjungfrauen war von Captain Hooks Piratenbande vergiftet worden, so dass ihre Bewohnerinnen gezwungen waren, weit hinaus ins offene Meer zu fliehen, und Captain Hooks fliegendes Schiff, die Jolly Roger, hatte das Königreich der Feen angegriffen und den Feenpalast in Schutt und Asche gelegt. Kurz darauf war das Nördliche Königreich von Hook im Sturm erobert worden.

Die Soldaten und Bewohner der einzelnen Reiche, die einst geschlossen die Grande Armée in die Flucht geschlagen hatten, waren diesen Eindringlingen hoffnungslos unterlegen. Ihre Häuser und Städte wurden geplündert und dem Erdboden gleichgemacht, Farmen und Ställe zerstört, dazu das Nutzvieh wie auch sämtliche Pferde geraubt.

Von den Feen wurde angenommen, dass sie allesamt tot waren oder sich versteckt hielten; die Königinnen und Könige hatten ihren jeweiligen Thron verloren, und von ihren Schlössern, Burgen und Palästen waren kaum mehr als Ruinen übrig. Ein Wald nach dem anderen wurde langsam und genüsslich abgebrannt, wodurch den Tieren und Flüchtlingen immer weniger Verstecke blieben.

Das magische Land, wie es einst einmal gewesen war, gab es nicht mehr. Die komplette Märchenwelt war zu einem einzigen großen Imperium vereinigt worden, über das der berüchtigte Maskenmann mit seiner neuformierten Schurkenarmee herrschte.

Die Elfen, Trolle, Kobolde und Menschen aus allen Teilen des Reichs wurden im Nördlichen Königreich zusammengetrieben und dort in die Grube des Schwanensees gleich neben dem schwerbeschädigten Nördlichen Palast gestoßen. Der See war zuvor von der Schurkenarmee trockengelegt worden; als tiefer, schlammiger Krater bot er nun die idealen Bedingungen, um die Bürger des magischen Landes gefangen zu halten. Bis sämtliche Menschen und Wesen darin Platz gefunden hatten, neigte die Sonne sich bereits dem westlichen Horizont entgegen. Die Schurkensoldaten lenkten die Aufmerksamkeit ihrer Gefangenen auf einen ausladenden, noch weitgehend intakten Balkon an der Fassade des Palasts.

Zwei Flügeltüren dahinter schwangen auf, und der Maskenmann trat hindurch. Sein gesamter Kopf wurde von einer Maske aus Rubinen und anderen Edelsteinen verhüllt; nur für die Augen waren zwei Schlitze ausgespart. Anstelle der einstigen zerschlissenen Lumpen trug er nun einen maßgeschneiderten Anzug, dazu einen langen schwarzen Umhang mit einem Stehkragen, der finster und bedrohlich über seinen Kopf hinausragte.

Endlich glich er auch äußerlich dem furchteinflößenden Herrscher, der er von Kindesbeinen an hatte werden wollen.

Sein Auftritt wurde mit tumultartigen Schmährufen und Pfiffen quittiert, deren Lautstärke nur noch zunahm, als die Herzkönigin, die böse Hexe des Westens und Captain Hook sich zu ihm auf den Balkon gesellten. Der Maskenmann breitete die Arme aus und badete in dem Lärm, als handelte es sich um donnernden Applaus.

»Na, na, na«, machte er. »Empfangt ihr so etwa euren neuen Kaiser?«

Diese Betitelung wurde von dem eingepferchten Publikum wenig gnädig aufgenommen. Viele der Bürger hatten Lebensmittel in ihren Kleidern verborgen, ehe sie aus ihren Häusern gejagt worden waren, und statt das Essen aufzusparen, schleuderten sie es nun zornig dem Maskenmann entgegen. Der selbsternannte Kaiser wurde mit Tomaten, Pflaumen und Salatköpfen bombardiert.

Die Umstehenden brüllten vor Lachen, und sogar die böse Hexe des Westens konnte sich angesichts der peinlichen Szene ein Kichern nicht verkneifen. Doch der Maskenmann hatte nicht vor, sich schon in seinen ersten Momenten als Kaiser lächerlich machen zu lassen.

»RUHE, ODER ICH BRINGE EUCH ALLE UM!«, brüllte er über den Krater hinweg.

Die letzten Lebensmittel fielen zu Boden, und eine angespannte Stille senkte sich über die Menge im ausgetrockneten See. Der Maskenmann hatte bereits ihre Häuser und Dörfer zerstört – abzuschätzen, wie weit er gehen würde, um sich Respekt zu verschaffen, war unmöglich. Ein geflügelter Affe brachte dem selbstgekrönten Kaiser einen Lappen, und er wischte sich die Essensreste von den Kleidern.

»Von diesem Tag an seid ihr nicht länger Einwohner eurer erbärmlichen Reiche, sondern Eigentum meines Imperiums«, verkündete er. »Jeder zukünftigen Respektlosigkeit werde ich nicht mehr mit dem gleichen Erbarmen begegnen wie eure schwachen Könige und zarten Königinnen. Jeder, der es wagt, mich zu verärgern, wird nicht nur sein eigenes Leben verlieren, sondern zunächst dabei zusehen, wie ich seine gesamte Familie ebenfalls ermorde!«

Etliche Kinder im Seekessel begannen zu weinen, und ihre Eltern drückten sie fest an sich. Es schien, als sollten die schlimmsten Tage noch vor ihnen liegen.

»Ich habe euch alle hier versammelt, damit ihr der Geburt einer neuen Ära beiwohnen könnt«, salbaderte der Maskenmann weiter. »Doch ehe wir in eine neue Zukunft voranschreiten, müssen die Sitten der Vergangenheit ausgemerzt werden – und mit ihnen auch die Anführer dieser Vergangenheit!«

Der Maskenmann gestikulierte zu einer hölzernen Plattform unter dem Balkon, auf dem Rasen zwischen dem Palast und der Grube des Sees. Ein bemerkenswert hochgewachsener Mann in langem schwarzem Umhang stieg die Stufen des bühnenartigen Aufbaus hinauf und platzierte in seiner Mitte einen großen Holzblock.

Nun zerrte ein Dutzend geflügelter Affen einen Karren hinter dem Palast hervor. Darin verbarrikadiert waren sämtliche ehemaligen Könige und Königinnen des magischen Landes: Cinderella und König Chance, Dornröschen und König Chase, Schneewittchen und König Chandler, Trollbella, Kaiserin Elvina, Rapunzel und Sir William und sogar die kleinen Prinzessinnen Hope und Ash. Sämtlichen Majestäten waren die Hände gefesselt worden, sie trugen Augenbinden und Knebel aus weißen Stoffstreifen.

Der große Mann auf der Plattform zog eine gewaltige silberne Axt aus seinem Umhang. Die Untertanen im ausgetrockneten See brachen in entsetzte Schreie und Rufe aus, sobald ihnen klarwurde, worauf das Spektakel hinauslaufen sollte – der Maskenmann hatte vor, alle königlichen Familien enthaupten zu lassen!

Obwohl sie nichts sehen konnten, verriet der Lärm der panischen Menge den Königinnen und Königen, was sie erwartete. Sie kämpften gegen ihre Fesseln an, doch die Seile saßen zu stramm. Verzweifelt versuchten unterdessen einzelne Bürger, aus der Grube zu klettern, um ihren Herrschern zu Hilfe zu eilen, doch sie wurden zurück in den Schlamm gestoßen. Rings um den See hatten die Spielkartensoldaten Stellung bezogen, einander untergehakt und so eine undurchdringliche Mauer gebildet.

Der Maskenmann lachte wild über all die Furcht und den Schrecken, die er verbreitete. Winkiesoldaten holten die königlichen Herrschaften unsanft aus dem Karren und schubsten sie die Stufen zur Plattform hinauf. Anschließend positionierten sie sich als Wächter entlang der Seiten der Bühne. Der Henker im langen Umhang schärfte seine Axt und wartete auf den Befehl, sein Handwerk zu verrichten.

»Fang mit den Männern an – danach sind die Frauen an der Reihe, zuletzt die Kinder«, ordnete der Maskenmann an. »Euer Majestät, ich erteile Euch das Wort …«

Die Herzkönigin trat an die Brüstung des Balkons. Mit weitaufgerissenen Augen und verschlagenem Lächeln gierte sie zu den verzweifelten Adeligen hinunter, als hätte sie einen köstlichen Snack vor sich.

»HEEEERRRRUUUNTER MIT IHREN KÖÖÖÖÖPFEN!«, röhrte sie.

In der Grube des Sees erhob sich lautstarker Protest: Die Frauen flehten verzweifelt darum, die Hinrichtung zu stoppen, während die Männer dem Maskenmann für seine Grausamkeit wüste Beschimpfungen entgegenschleuderten. Derweil drängten sich die verängstigten königlichen Familien zitternd in einer Ecke der Bühne zusammen.

Der Henker sonderte König Chance als erstes Opfer aus; er packte den einstigen Herrscher über das Nördliche Königreich am Arm und schleifte ihn hinüber zu dem Holzblock. Cinderella und Hope schrien darüber verzweifelt durch ihre Knebel hindurch.

Der Mann im dunklen Umhang zwang den König auf die Knie und drückte seinen Kopf auf das Holz. Er hob die Axt über seinen Nacken und schwang sie versuchsweise ein paarmal hin und her. Jedes Mal, wenn das Blatt sich dem Hals des Herrschers näherte, keuchten die Zuschauer auf, da sie fürchteten, es handele sich um den tödlichen Schlag. Schließlich riss der Henker sein Werkzeug höher denn je in die Luft. Die Bitten und Schreie der hilflosen Umstehenden schwollen nochmals an, und auch die übrigen Majestäten ahnten, dass es nur noch Sekundenbruchteile dauern würde, ehe der Erste aus ihren Reihen seinen Kopf verlor.

Der Henker ließ die Axt herniedersausen – doch in der Bewegung drehte er seinen Oberkörper so, dass die Klinge die Bodenplanken der Plattform statt den Hals des Königs spaltete. Urplötzlich gab die komplette Bühnenkonstruktion nach und öffnete sich zu einem gewaltigen Loch, in das der Henker und die Adelsfamilien allesamt stürzten. Im Nu waren sie aus dem Blickfeld des Publikums verschwunden. Alles geschah derart schnell und unerwartet, dass die hysterische Menge schlagartig verstummte – niemals konnte das so geplant gewesen sein.

»WAS WAR DAS EBEN?«, kreischte der Maskenmann vom Balkon herab. »HOLT SIE DA WIEDER HERAUS!«

Gerade als die Winkiesoldaten sich der Plattform näherten, um sie genauer in Augenschein zu nehmen, brachen drei stattliche Pferde daraus hervor! Hafergrütze, Inferno und Flöckchen hatten die ganze Zeit verborgen unter der Bühne auf ihren Einsatz gewartet; jetzt zogen sie einen Wagen, in dem wohlbehalten der Henker und sämtliche Majestäten saßen. Die Plattform war in Wirklichkeit eine riesige Falltür gewesen!

»NEEEIIIN!«, brüllte der Maskenmann und beugte sich so weit wie nur möglich über das Geländer, um eine bessere Sicht auf das Geschehen zu bekommen.

Zu seinem Entsetzen erkannte er im nächsten Augenblick Goldlöckchen auf Hafergrütze und Jack auf Inferno! Das Paar lenkte die Pferde samt Wagen in den Wald hinter dem Palast und rempelte auf seiner wilden Flucht Dutzende von Winkiesoldaten über den Haufen. Die Hinrichtung hatte sich direkt vor den Augen des Maskenmannes in eine Rettungsmission verwandelt!

Goldlöckchen warf über die Schulter einen Blick zurück auf die geretteten Adeligen. »Alles in Ordnung dahinten?«

Die Könige und Königinnen stöhnten durch ihre Knebel hindurch. Da ihre Augen noch immer verbunden waren, hatten sie nicht den blassesten Schimmer, was soeben geschehen war. Der Henker warf seinen Umhang ab – und zum Vorschein kam der Blech-Holzfäller!

»Keine Bange, Majestäten!«, rief er. »Bald sind wir alle in Sicherheit!«

Flink und geschickt durchtrennte er mit seiner Axt die Fesseln der Adeligen.

»In Sicherheit sind wir noch lange nicht!«, warnte Jack. »Haltet euch geduckt, alle miteinander! Das wird eine holprige Fahrt!«

In der Zwischenzeit fielen sich im Seekessel die Elfen, Trolle, Kobolde und menschlichen Bewohner des magischen Landes in die Arme und jubelten, während ihren Herrschern die Flucht gelang. Der Maskenmann dagegen war so fuchsteufelswild, dass er praktisch Feuer spuckte. Blut schoss ihm in die Augen, bis das einstige Weiß darin beinahe so rot glühte wie die Rubine seiner Maske.

»HINTERHER! VERFOLGT SIE, ALLESAMT!«, befahl er seiner Schurkenarmee. »LASST SIE NICHT ENTKOMMEN!«

Horden von Winkies und Spielkartensoldaten zu Pferd jagten den tapferen Rettungstrupp durch den Wald. Scharen fliegender Affen schwangen sich in den dunstverhangenen Himmel. Als die Könige und Königinnen schließlich ihre Augenbinden abnehmen konnten und sich umsahen, schien ihnen ein guter Ausgang ihrer Flucht undenkbar: Gegen das anrollende Schurkenheer würde ihr kleiner Wagen nicht den Hauch einer Chance haben. Zum Glück hatten Jack und Goldlöckchen jedoch noch einige Freunde mit besonderen Fähigkeiten in der Hinterhand.

Die Winkies und Kartensoldaten holten auf und verkürzten den Abstand zum Gefährt der Fliehenden immer weiter. Goldlöckchen nickte Jack zu, und er stieß einen gellenden Pfiff aus. Wie aus dem Nichts tauchten mit einem Mal Sir Grant und Sir Lampton mit Dutzenden ihrer Männer hoch zu Ross auf. Sie schlossen einen schützenden Kreis um den königlichen Wagen und schlugen die heranpreschenden Spielkartensoldaten zu Boden.

»Sir Lampton, seid Ihr das?«, fragte Cinderella.

»Hallo, Euer Majestät«, grüßte er. »Ich wünschte, wir hätten uns unter anderen Umständen wiedergetroffen, aber ich bin ausgesprochen froh, Euch lebendig zu sehen!«

Sir Grants und Sir Lamptons Männer waren nicht allein: Mit ihnen auf dem Pferderücken saßen die verlorenen Jungen aus Nimmerland. Sobald sie dem Wagen der Adeligen nah genug waren, sprangen Tootles, Nibs, Curly und die Zwillingsbuben ab und landeten inmitten der Majestäten. Sie zogen Zwillen aus ihren Taschen und fingen sofort an, Steine auf die Winkies und Spielkartensoldaten abzufeuern, die ihre Opfer mitten ins Gesicht trafen und so von den Pferden rissen.

»Was für ein Spaß!«, juchzte Tootles.

»Wer die meisten trifft, gewinnt!«, schlug Curly vor.

»Zehn Punkte für jeden von den großen eckigen Typen, und die goldenen sind fünf wert«, beschloss Nibs.

»Abgemacht!«, riefen die Zwillingsjungen.

Die zu Boden taumelnden Winkies und Spielkarten bescherten den verlorenen Jungen so heftige Kicheranfälle, dass ihnen Tränen über die rosigen Wangen strömten. Derart großartig amüsiert hatten sie sich seit ihrer Abreise aus Nimmerland nicht mehr.

Dank der Knirpse und Sir Grants und Sir Lamptons Männern war der Strom der Schurkensoldaten, die den königlichen Wagen verfolgten, bald erheblich ausgedünnt. Dennoch blieben mehr als genug Winkies und Spielkarten übrig, um den königlichen Herrschaften Sorge zu bereiten. Glücklicherweise allerdings stand das Rettungskommando kurz davor, die zweite Phase seines Plans zu zünden.

Auf ihrem weiteren rasanten Weg durch den Wald erspähte Goldlöckchen einen aus einem Baumstamm ragenden Pfeil – das verabredete Zeichen!

»Jack, da ist der Pfeil!«, rief sie. »Wir haben die tollkühnen Gesellen beinahe erreicht!«

Hafergrütze, Inferno und Flöckchen wurden allmählich müde und verlangsamten ihre Schritte, daher war Jack über diese Worte sehr erleichtert. Er stieß einen kraftvollen Pfiff aus, der hinauf in die Baumkronen schallte.

»WAR DAS DER PFIFF, AUF DEN WIR GEWARTET HABEN, ODER TRÜGEN MICH MEINE OHREN?«, dröhnte eine ausgelassene Stimme aus dem Blätterdach.

Jack verdrehte die Augen und pfiff erneut.

»DA, EIN ZWEITER PFIFF! UNSERE ZEIT IST GEKOMMEN, TOLLKÜHNE GESELLEN! ZUM ANGRIFF!«

Wie Affen an Lianen schwangen sich Robin Hood und seine Gefährten an Seilen von den hohen Ästen herab. Little John, Alan-a-Dale und Will Scarlet bolzten in die herangaloppierenden Winkies und Karten, warfen sie zu Boden und stahlen ihre Pferde. Robin Hood selbst wirbelte durch die Luft und landete im Wagen bei den Majestäten. Er lupfte seinen Hut und verneigte sich vor den Königinnen.

»FÜRCHTET EUCH NICHT, MEINE DAMEN – DER WAHRE HELD IST NUN AN EURER SEITE!«, tönte er, zwinkerte ihnen kokett zu und küsste Rapunzels Hand, was Sir William wenig gefiel.

»Himmel, wie ich diesen Kerl hasse«, raunte Jack Goldlöckchen zu.

Robin Hood griff nach dem Bogen und dem Köcher mit Pfeilen, die quer über seinen Rücken hingen, und unterstützte die verlorenen Jungen in ihrem Beschuss der Winkies und Spielkarten. Nachdem er ein paar getroffen hatte, wurde der König der Diebe übermütig und begann, vor den Königinnen anzugeben, indem er beim Abfeuern der Pfeile alberne Posen einnahm.

»LASST EUCH NICHT EINSCHÜCHTERN, VERLORENE JUNGEN!«, schmetterte er lautstark und strubbelte Tootles über den Kopf. »EIN SOLCHES GEFECHT IST ETWAS FÜR ECHTE MÄNNER!«

Tootles ließ seine Zwille gegen Robin Hoods Hintern schnalzen, so dass dieser aufquietschte wie ein abgestochenes Ferkel.

»Tootles, spar dir das für den Feind auf!«, tadelte Goldlöckchen.

»Sorry, ist mir aus der Hand gerutscht!«, behauptete Tootles.

Inzwischen lagen die meisten Winkies und Spielkarten am Boden; alle übrigen hatten sich in den Nördlichen Palast zurückgezogen. Die Jagd allerdings war keineswegs zu Ende. Schrilles Gekreische hallte durch den Wald, als nun die fliegenden Affen auf den Rettungstrupp herabstießen.

Abermals ließ Jack einen Pfiff ertönen. »Peter, du bist dran!«, brüllte er.

Wie eine Rakete schoss Peter Pan unter dem Gefährt hervor, wo er sich versteckt gehalten hatte – so schnell, dass die königlichen Familien erschrocken zusammenzuckten. Der Junge, der niemals erwachsen werden wollte, drückte Little John und Alan-a-Dale je eine Tüte Feuerwerkskracher in die Arme und reichte Will Scarlett ein Bund Streichhölzer. Die tollkühnen Gesellen reckten Will Scarlett ihre Böller hin, und kaum hatte er sie entzündet, riss Peter sie ihm erneut aus den Händen. Dann flog er damit über die Baumwipfel hinaus und schleuderte sie den heranrauschenden Affen entgegen.

Jede Explosion schockte und verwirrte die fliegenden Schergen der bösen Hexe des Westens, und sie gingen flatternd zu Boden. Peter und die tollkühnen Gesellen setzten ihr Feuerwerksbombardement fort, bis auch der letzte Affe vom Himmel geholt war.

»Nehmt DAS, ihr übergroßen Fledermäuse!«, frohlockte Peter.

Trollbella beobachtete Peter Pan, und der Mund stand ihr vor Staunen offen. Ihr Herz klopfte so heftig, dass sie sich zu ihm hätte aufschwingen können, wäre es bloß geflügelt gewesen.

»Es fühlt sich an, als wäre ich geköpft worden und im Himmel gelandet!«, hauchte sie. »Er ist genau wie mein Butterbub – aber er schwebt und glitzert! Nie hätte ich mir träumen lassen, dass es einen so wundervollen Jungen geben kann! Stopp, Trollbella! Reiß dich zusammen! Du hast dir selbst geschworen, dich erst wieder zu verlieben, wenn die Welt in einem besseren Zustand ist!«

Nichtsdestotrotz mühte sich die Troboldkönigin, den herabrieselnden Feenstaub aufzufangen, den Peter Pan bei seinen Flugmanövern rund um den Wagen verlor.

Sobald sie die Schurkenarmee des Maskenmannes endgültig abgeschüttelt hatten, konnten Retter und Gerettete erstmals ein wenig durchatmen. Goldlöckchen und Jack griffen in die Zügel ihrer Pferde und lenkten sie scharf nach links, was die Gruppe auf direktem Weg in die Zwergenwälder führte.

»Wo fahren wir hin?«, fragte Schneewittchen.

»An einen Ort, an dem uns der Maskenmann und seine Armee niemals finden werden«, antwortete Goldlöckchen.

»Und jetzt verhaltet euch bitte alle so still wie möglich«, wies Jack seine Gefährten an. »Je weniger Aufmerksamkeit wir auf uns ziehen, desto besser.«

Die königlichen Familien nahmen sich seine Bitte zu Herzen.

Den gesamten restlichen Tag lang reiste die Rettungsmission tiefer und tiefer in die Zwergenwälder. Dabei spähten die Könige und Königinnen nervös zwischen den dichten Bäumen zu beiden Seiten des Wegs umher; die meisten von ihnen hatten diesen Teil des magischen Landes noch nie zuvor betreten. Jeden Moment rechneten sie damit, dass etwas Furchterregendes daraus hervorbrechen könnte, doch die Wälder, eigentlich dafür berüchtigt, den gefährlichsten Wesen und Tunichtguten der Märchenwelt Unterschlupf zu bieten, schienen erstaunlich leer.

Schließlich erreichten die Reisenden kurz vor Sonnenuntergang eine hügelige Gegend. Goldlöckchen brachte die Prozession vor einem gewaltigen Findling zum Stehen, der sich halb in einen Abhang hineingebohrt hatte. Sie legte beide Hände an den Mund und formte sie zu einem merkwürdig aussehenden Trichter.

»Kuck-UCK, Kuck-UCK!«, rief sie.

Der Vogelruf echote durch den Wald, und die Gruppe wartete mit angehaltenem Atem. Einen Augenblick später erklang von irgendwo hinter dem Felsen die gedämpfte Antwort.

»Kuck-uck-KA, Kuck-uck-KA.«

Langsam wurde der massige Stein von zwei monströsen schwarzen Bären zur Seite gewälzt, bis dahinter ein versteckter Tunnel zum Vorschein kam, der in die Hügelflanke hineinlief. Der Anblick der Bären verängstigte die königlichen Herrschaften; eingeschüchtert klammerten sie sich aneinander fest.

»Keine Sorge, sie gehören zu uns«, flüsterte Goldlöckchen. »Und wenn jemand im Umgang mit Bären besonders auf der Hut ist, dann wohl ich.«

Der Wagen holperte in den Gang, und die berittenen Männer folgten hinterdrein. Sowie sich die gesamte Gruppe im Innern befand, rollten die Bären den Findling wieder in Position und verbargen den Eingang. Mehrere Hundert Meter weit führte der Tunnel schnurgeradeaus, bis er schließlich in eine riesige, höhlenartige Mine mündete.

Schienen verliefen kreuz und quer über den Boden und zweigten in weitere Gänge und Stollen ab, die noch tiefer in den Hügel hineinreichten. An den Stalaktiten unter der Decke saßen Tausende von Glühwürmchen und erhellten die Dunkelheit wie natürliche Kronleuchter. Die Stalagmiten, die vom Höhlengrund emporwuchsen, waren derweil mit Dutzenden Tüchern und Decken behängt und umspannt und bildeten so etliche Zelte.

Überrascht stellten die Königsfamilien fest, dass sie mit einem Mal von Hunderten anderer Flüchtlinge umgeben waren. Menschenfamilien, Elfen, Trolle und Kobolde verteilten sich ebenso in der Höhle wie verschiedene Gruppen von Tieren: Füchse, Wölfe, Dachse, Bären und Vögel jeder Art. Selbst sie suchten in dieser grausamen Zeit Schutz – was erklärte, weshalb die Wälder derart ausgestorben gewirkt hatten.

Einige der Gesichter in der Menge waren den Neuankömmlingen vertraut: Hagetta und Bruder Tuck bereiteten gemeinsam in einem bauchigen Kessel eine Mahlzeit zu; der fliegende Händler – jener alte Scharlatan, der Jack die magischen Bohnen verkauft hatte, aus denen die berühmte Ranke emporgewachsen war – zählte gegen einen Stalagmiten gelehnt seine Sammlung Hühnerfüße durch, die er in einem kleinen Beutel aufbewahrte.

Königin Rotkäppchen saß still und einsam im hintersten Winkel der Mine. Ihre Granny hatte sich in ihrer Nähe niedergelassen und knüpfte Decken für neue Zelte. Slightly, der verlorene Junge, den Morinas Jugendtrank in ein Baby verwandelt hatte, hielt neben der alten Dame in einer Korbwiege ein Nickerchen. An seine Seite gekuschelt hatte sich der kleine fliegende Affe Blubo. Aufgrund ihrer schlechten Augen hielt Granny ihn schlicht für einen ziemlich haarigen Säugling.

Da sie als Haustiere ausgesprochen anstrengender Halterinnen ein ähnliches Schicksal teilten, hatten Claudiwuff und Lester bei ihrer Ankunft in der Höhle im Nu Freundschaft geschlossen. Auch die beiden dösten zusammen, wobei sie einander immer abwechselnd als Kissen dienten.

Rook Robins und sein Vater bildeten gemeinsam mit einer Gruppe von Leuten aus ihrem Dorf einen Kreis auf dem Boden. Nachdem er ein Jahr zuvor durch seinen Verrat beinahe den Tod sämtlicher Könige und Königinnen verschuldet hatte, bescherte ihr Auftauchen Rook nun fast unerträgliche Schuldgefühle. Er entschuldigte sich rasch aus seiner Runde und brach zu einem Spaziergang durch die Tunnel auf, um ein wenig allein zu sein.

Das Eintreffen des Rettungstrupps verursachte einigen Tumult. Alle waren überglücklich, die königlichen Familien unversehrt wiederzusehen, und ihre Jubelrufe ließen die gesamte Höhle erbeben. Die Flüchtlinge drängten sich um den Wagen und hießen ihre Anführer willkommen – am letzten Zufluchtsort, den die Märchenwelt noch zu bieten hatte.

»Dem Himmel sei Dank, es geht euch gut!«, sagte Hagetta.

»All unsere Gebete sind erhört worden!«, rief Bruder Tuck.

Jack schwang sich von Infernos Rücken und half dann umsichtig Goldlöckchen von Hafergrütze herunter – was sich zunehmend schwierig gestaltete, da ihr Schwangerschaftsbauch von Tag zu Tag wuchs. Es war nur noch eine Frage von Tagen, bis sie ihr erstes Kind auf die Welt bringen würde. Bei aller Freude hätten beide Eltern sich von Herzen gewünscht, dass es eine bessere Welt wäre, die ihr Baby erwartete.

Robin Hood und die tollkühnen Gesellen halfen eifrig den Königinnen aus dem Wagen und küssten ihnen dabei die Hände, was die jeweiligen Ehemänner immens verärgerte.

»Wo sind wir hier?«, wollte Dornröschen wissen.

»Wir befinden uns in einer verlassenen Zwergenmine in den Westlichen Hügeln der Zwergenwälder«, erklärte Goldlöckchen. »Nicht unbedingt so nobel, wie ihr es gewohnt seid, aber immerhin sind wir in Sicherheit. Nur sehr wenige wissen überhaupt, dass die Mine existiert, und sie ist meilenweit von jenen Teilen der Wälder entfernt, die die Schurkenarmee gerade niederbrennt.«

»Ursprünglich hatten wir uns in einer kleinen Höhle in den Nördlichen Bergen versteckt, aber wie ihr seht, werden wir immer mehr«, ergänzte Jack.

»Woher kommen all diese Menschen und Wesen?«, erkundigte sich König Chase.

»Aus allen Ecken des magischen Landes«, antwortete Goldlöckchen. »Sie sind die wenigen, denen es gelungen ist, der Armee des Maskenmannes zu entkommen. Genau wie ihr haben auch sie alles verloren.«

Die Adeligen fühlten mit ihren Untertanen ringsum, hatten jedoch offenkundig Bedenken, sich die Mine mit den Geschöpfen der Wälder teilen zu müssen.

»Ich garantiere euch, nichts und niemand in dieser Höhle stellt eine Gefahr dar«, beteuerte Sir Lampton. »Wir sind alle in unserem Kampf gegen denselben Feind vereint – und so muss es bleiben, wenn wir unsere Welt zurückerobern wollen.«

Die königlichen Familien tauschten Blicke und nickten dann.

»Keiner von uns wird diese Einheit stören«, ergriff Kaiserin Elvina für alle das Wort. »Wir müssen unsere Streitigkeiten der Vergangenheit überwinden, sonst gibt es keinerlei Hoffnung für die Zukunft.«

Da gerade die Elfen für lange Zeit von den anderen Herrschern ausgegrenzt und geächtet worden waren, hatte die Aussage ihrer Kaiserin umso mehr Gewicht. Sie hatten bereits so viel eingebüßt; Einheit war etwas, das zu opfern sie sich nicht leisten konnten.

»Wo sind all die Feen?«, fragte Rapunzel.

»Hoffentlich irgendwo gut versteckt«, meinte Goldlöckchen.

»Ist es wahr, dass der Rat der Feen zu Stein verwandelt worden ist?«, erkundigte sich Trollbella.

»Das wissen wir nicht«, sagte Jack mit einem langen Seufzer. »Kurz nach der Attacke gegen sämtliche Reiche sind Alex und Conner ins Königreich der Feen aufgebrochen, um den Rat zu suchen und um Hilfe zu bitten, doch von dieser Mission sind sie nie zurückgekehrt.«

Alle Umstehenden senkten die Blicke; Sorge stahl sich in ihre Augen, und die Herzen wurden ihnen schwer. Diese Neuigkeit erschütterte sie zutiefst. Wie sollten sie ohne den Rat der Feen oder die Bailey-Zwillinge jemals den Maskenmann und seine Schurkenarmee besiegen? Schlagartig schien ihnen die Zukunft noch finsterer als nur Augenblicke zuvor.

»Alex hatte recht«, murmelte Cinderella. »Der Rat der Feen hätte auf sie hören sollen. Hätten die Ratsmitglieder dem Maskenmann nachgestellt, wie sie es verlangt hatte, wäre nichts von all dem je passiert!«

»Und was ist mit Charlie und dieser Bestie, die ihn geraubt hat?«, mischte sich König Chandler ein. »Hat irgendjemand ihre Spur aufnehmen können?«

Aller Augen schwenkten zu Rotkäppchen, doch die Königin blieb stumm. Ihr fehlte die Kraft, die traumatischen Ereignisse ein weiteres Mal zu schildern.

»Rot und die verlorenen Jungen haben ihn in Morinas Haus gefunden«, sagte Goldlöckchen. »Die Hexe hat ihn in einen magischen Spiegel gesperrt. In ihrem Keller befinden sich auch die vermissten Kinder aus dem Königreich an der Ecke und dem des Gläsernen Schuhs – offenbar liegt eine Art Fluch auf ihnen, der ihnen nach und nach ihre Jugend abzapft.«

Über all den anderen Geschehnissen hatten die Adeligen das Rätsel um die verschwundenen Kinder beinahe vergessen gehabt.

»Können wir nicht auch zu ihnen eine Rettungsmannschaft schicken?«, erkundigte sich Rapunzel.

»Sie stehen derzeit unter der Wirkung von sehr dunkler Magie«, erläuterte Hagetta. »Wenn wir sie nun aus ihren Betten holen, raubt ihnen das vielleicht die letzten Funken Lebenskraft.«

»Und was wird aus Charlie?«, drängte König Chandler. »Wie bekommen wir ihn aus diesem Spiegel heraus?«

»Gar nicht«, flüsterte Rotkäppchen schwach. »Sobald jemand einmal in einem magischen Spiegel feststeckt, ist es beinahe unmöglich, ihn wieder daraus zu befreien. Schon um ihn hineinzubannen, bedarf es starker Magie, und nur ein noch stärkerer Zauber könnte den Fluch aufheben.«

»Sie hat recht«, sagte Schneewittchen. »Meine Stiefmutter hatte ihr ganzes Leben dem Versuch verschrieben, ihren Geliebten aus ihrem eigenen Spiegel zu eisen. Sie war die willensstärkste und fähigste Frau, die ich kannte, und sogar ihr ist es nur mit Hilfe des Wunschzaubers geglückt.«

Die Märchenbrüder wollten diese Wahrheit nicht glauben, doch es war zwecklos, die Tatsachen zu leugnen. In dieser Angelegenheit gab es keinen Silberstreif am Horizont – ebenso wenig wie im Hinblick auf all ihre eigenen Sorgen.

»Solange wir wissen, wo die Kinder sind, gelten sie immerhin nicht länger als vermisst«, meldete sich Cinderella zu Wort. »Wir müssen uns an jeden noch so kleinen Trost halten, den wir finden können, sonst werden wir von unseren Ängsten und Problemen erstickt. Sofern uns alle guten Mächte gewogen sind, werden auch Charlie und die Kinder zu all dem zählen, was wir in den kommenden Monaten zurückgewinnen.«

»Ja, aber wie und wo sollen wir damit anfangen, auch nur irgendetwas zu retten?«, fragte Sir William. »Hatten wir es je mit einer Bedrohung zu tun, der wir so chancenlos unterlegen waren?«

Es war ihnen, als fördere jede Frage nur neue schreckliche Erkenntnisse zutage, daher verstummten die Versammelten gänzlich. Niemand wollte die Niederlage eingestehen, doch die letzten Hoffnungsschimmer, die sie sich in ihren Herzen bewahrt hatten, verglommen rasch. Wenn sich nicht bald etwas tat, wäre die Märchenwelt, wie sie sie kannten, für immer Geschichte.

Der fliegende Händler war es, der die angespannte Stille schließlich durchbrach; bis zu diesem Moment hatte er sich mit Mühe zurückgehalten.

»Chrmm-chrmm«, räusperte er sich.

Sämtliche Flüchtlinge in der Höhle verdrehten die Augen über den alten Spinner. Zweifellos war er bei den Überlebenden wenig beliebt. Als niemand ihm das Wort erteilte, versuchte der alte Mann abermals, sich die Aufmerksamkeit zu sichern.

»Chrmm-CHRMM!« Er hüstelte noch lauter als zuvor.

Hagetta war die Einzige, die die Geduld aufbrachte, ihn anzuhören. »Ja, bitte – was gibt es, alter Mann?«, fragte sie.

»Dürfte ich einen Vorschlag machen?«, erkundigte sich der fliegende Händler.

Auf seine Frage folgten sofort laute Seufzer. Wann immer der Händler den Mund öffnete, füllte er die Köpfe seiner Leidensgenossen bloß mit Unsinn. Um ihn jedoch nicht zu Unrecht vorzuverurteilen, hob Jack die Hände und brachte die entnervte Menge zum Schweigen.

»Solange niemand anders eine zündende Idee hat, die er oder sie vorbringen möchte, wüsste ich keinen Grund, seine von vornherein abzuschmettern«, sagte er.

Rotkäppchen schnaubte theatralisch. »Alle die Ohren zuhalten«, murrte sie. »Verrücktheit soll auf kleinem Raum ja ansteckend sein.«

Trotz der wenig freundlichen Gesinnung, die ihm von den Umstehenden entgegenschlug, begab sich der fliegende Händler gut sichtbar in die Mitte der Mine und setzte zum Sprechen an:

»Vielleicht betrachten wir alle die gegenwärtige Lage aus dem falschen Blickwinkel. In derart beunruhigenden Zeiten sollten wir uns nicht länger mit Ungewissheiten quälen, auf die wir keine Antworten haben – lasst uns stattdessen die Steine befragen!«

Er sagte es so selbstverständlich, als müsste jedem ringsum klar sein, wovon die Rede war.

»DIESTEINEBEFRAGEN?«, echote Robin Hood. »TOLLKÜHNE GESELLEN, ICH GLAUBE, BEI DIESEM ALTEN MANN SITZEN EIN PAARSTEINCHENLOCKER!«