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Land of Stories: Das magische Land – Ein Königreich in Gefahr E-Book

Chris Colfer

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Beschreibung

Alarm im magischen Land: Der Maskierte Mann ist auf freiem Fuß und rekrutiert die dunkelsten Verbündeten, um das Märchenreich vollständig zu zerstören! Für Alex und Conner beginnt ein Wettlauf durch die phantastischen Länder ihrer liebsten Geschichten. Können die Zwillinge den Maskierten Mann einholen, oder ist er ihnen so lange einen Schritt voraus, bis alles zu spät ist? Captain Hook, die Herzkönigin und die böse Hexe des Westens: Im vierten Abenteuer der Bestseller-Serie müssen die Zwillinge weit über die Grenzen des magischen Königreichs hinausreisen und sich gegen die mächtigsten Schurken sämtlicher Geschichten stellen. Serie bei Antolin gelistet. Weitere Reihen von Chris Colfer: - »Roswell Johnson rettet die Welt«  - »Land of Stories« (6 Bände) - »Tale of Magic« (3 Bände)

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Seitenzahl: 514

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Chris Colfer

Land of Stories. Das magische Land

Ein Königreich in Gefahr

Aus dem Amerikanischen von Fabienne Pfeiffer

Mit Illustrationen von Brandon Dorman

FISCHER E-Books

Inhalt

[Karte][Widmung][Motto]Prolog Der andere SohnKapitel 1 Der HexenkesselKapitel 2 »Stimmen Sie der Kostenübernahme zu?«Kapitel 3 Die AmtsenthebungKapitel 4 Gans auf der FlatterKapitel 5 Zaubertränke und ZukunftsprognosenKapitel 6 Die bösen FeenKapitel 7 Antworten auf dem DachbodenKapitel 8 Der einzige EinwandKapitel 9 Ein Falter der ErinnerungenKapitel 10 WiedergutmachungenKapitel 11 Die HöhleKapitel 12 Der WirbelsturmKapitel 13 Der Blech-HolzfällerKapitel 14 Ärger auf dem gelben ZiegelsteinwegKapitel 15 Der Palast der HexeKapitel 16 Pech für die DarlingsKapitel 17 Abenteuer mit den verlorenen JungenKapitel 18 Die NixenlaguneKapitel 19 Durchs KaninchenlochKapitel 20 Der MärchenimbissKapitel 21 Der Zauberer und sein LehrlingKapitel 22 Die tollkühnen Gesellen aus dem Sherwood ForestKapitel 23 Verlorener RatKapitel 24 Die Jungfrau vom SeeKapitel 25 Die Hexe von PapplenickKapitel 26 Der KellerKapitel 27 Die Schwestern GrimmKapitel 28 Ein unerwarteter AbschiedKapitel 29 Ein anderer Mond, eine andere MitternachtKapitel 30 Eine Welt in GefahrDanksagungAusschau auf Band 5

Für meine Eltern, die mich immer geliebt und unterstützt haben. Kein Erziehungsratgeber der Welt hätte Euch auf meine Spleens vorbereiten können.

Es tut mir leid, dass ich damals mit meinem Ninjaschwert die Kerbe in den Wohnzimmertisch gehauen habe. Ja, das war ich.

»Bücher sind einzigartige, tragbare Magie.«

Stephen King

PrologDer andere Sohn

1845, Kopenhagen, Dänemark

Im gemütlichen Studierzimmer seines Hauses saß Hans Christian Andersen eifrig kritzelnd am Schreibtisch.

»Hoch oben in einem Baum, der höher aufragte als sämtliche Kirchtürme in aller Herren Länder, erwachte ein einsames kleines Vögelchen in seinem Nest«, las er laut den ersten Satz seiner jüngsten Geschichte, und das leise Kratzen seiner Schreibfeder hielt inne.

»Moment – wieso schläft das Vögelchen überhaupt?«, fragte er sich selbst. »Würde es nicht normalerweise bei Sonnenaufgang zusammen mit den übrigen Vögeln aufwachen? Andernfalls könnte es faul und liederlich wirken. Und ich möchte doch, dass die Leser es mögen.«

Hans knüllte das Pergament zusammen und warf es auf den Haufen früherer Entwürfe am Boden. Er griff nach einem anderen Federkiel, in der Hoffnung, dass eine längere und dunklere Feder seine Erzählung neu beleben werde.

»Hoch oben in einem Baum, der höher aufragte als sämtliche Kirchtürme in aller Herren Länder, baute ein einsames kleines Vögelchen sich ein Nest …« Erneut unterbrach er sich. »Nein, denn wenn es ein Nest baut, werden die Leser sich fragen, ob es bald Eier legen will, und dann glauben sie, die Geschichte handele von einer ledigen Mutter. Die Kirche wird mir vorwerfen, ich wollte auf etwas Unzüchtiges anspielen … wieder einmal.«

Er zerknüllte auch dieses Blatt und schnippte es auf den Haufen.

»Hoch oben in einem Baum, der höher aufragte als sämtliche Kirchtürme in aller Herren Länder, hielt ein einsames kleines Vögelchen Ausschau nach Würmern …« Hans presste sich beide Hände auf die Augen und stöhnte. »Nein, nein, nein! Was denke ich mir bloß? So kann das Märchen nicht beginnen. Sobald ich schreibe, dass der Baum über die Kirchtürme hinausragt, kommt gewiss irgendein Schwachkopf auf die Idee, ich würde den Baum mit Gott gleichsetzen, und dann gibt es nur aufs Neue unnötige Scherereien.«

Der Schriftsteller seufzte und schob auch diesen Entwurf beiseite. Als Dichter in der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts zu verkehren konnte bisweilen frustrierend sein.

Die Standuhr neben seinem Schreibtisch schlug sechs Uhr. Zum ersten Mal seit Stunden erhob Hans sich von seinem Stuhl. »Ich glaube, es wird Zeit für einen Abendspaziergang«, meinte er.

Hans nahm seinen Hut und Mantel und trat ins Freie. Auf seinem Weg die Straße hinunter erkannten ihn die anderen Fußgänger mühelos: Ein schneller Blick auf seine markante Nase und dünne Gestalt verriet ihnen ohne jeden Zweifel, dass der berühmte Schriftsteller sich unter sie gemischt hatte. Hans tippte sich an den Hut und grüßte höflich jeden, der ihn anstarrte, eilte aber stets davon, ehe die Leute Gelegenheit hatten, ihn zu behelligen.

Schließlich erreichte er die Promenade Langelinie und ließ sich auf seiner Lieblingsbank nieder. Vor ihm glitzerte das Wasser des Öresund im letzten Tageslicht. Er atmete die salzige Luft ein, und zum ersten Mal an jenem Tag kam sein Geist ein wenig zur Ruhe.

Zur Entspannung kam Hans am liebsten hierher. Wann immer ihm so viele Ideen im Kopf herumspukten, dass es ihm nicht mehr gelang, sich auf nur eine davon zu konzentrieren, oder aber sein Gehirn wie leergepustet war, machte ein simpler Spaziergang zur Promenade gleich alles besser. Wenn er Glück hatte, fand er hier an der Promenade neue Inspiration, die er mit nach Hause nehmen konnte. Und hin und wieder – an Tagen, an denen ihm das Glück wirklich hold war – fand die Inspiration sogar ihn.

»Hallo, Mr. Andersen«, vernahm er eine sanfte Stimme in seinem Rücken.

Er spähte über seine Schulter und erkannte voller Entzücken eine alte Freundin. Sie trug ein hellblaues Gewand, das funkelte wie die Sterne am Nachthimmel, und war ebenso herzlich wie warmherzig – doch außer Hans kannte sie in Dänemark niemand.

»Meine liebe gute Fee, was für eine Freude, Euch zu sehen«, begrüßte Hans sie mit breitem Grinsen.

Die gute Fee nahm neben ihm Platz. »Die Freude ist ganz meinerseits«, erwiderte sie. »Ihr wart nicht zu Hause, daher habe ich mir gedacht, dass ich Euch hier antreffen würde. Fällt Euch das Schreiben heute Abend schwer?«

»Leider ja«, bestätigte Hans. »An manchen Tagen fließen mir die Worte aus der Feder, als strömte der Nil durch meinen Körper, und an anderen bin ich so ausgetrocknet wie die Sahara. Ich fürchte, Ihr erwischt mich inmitten einer Dürre, doch ich bin zuversichtlich, dass es beizeiten wieder regnen wird.«

»Daran habe ich keinerlei Zweifel«, sagte die gute Fee. »Tatsächlich bin ich gekommen, um Euch zu beglückwünschen. Soeben ist die Neuigkeit, dass Eure Märchen nun auch in anderen Ländern veröffentlicht werden, zu uns durchgedrungen. Die übrigen Feen und ich könnten nicht glücklicher sein. Ihr leistet ganze Arbeit und seid uns eine enorme Hilfe dabei, unsere Erzählungen in aller Welt bekannt zu machen. Dafür sind wir sehr dankbar.«

»Ich bin es, der zu danken hat«, entgegnete Hans. »Bevor Ihr mich gefunden habt, damals als jungen Mann an dieser schrecklichen Schule in Elsinore, war ich kurz davor, das Schreiben ganz und gar aufzugeben. Die Geschichten, die Ihr mir zur freien Ausgestaltung anvertraut habt, haben mich ebenso sehr inspiriert wie die Kinder, für die sie gedacht waren. Wärt Ihr nicht gewesen, hätte ich nie wieder zum Erzählen zurückgefunden.«

»Ihr stellt Euer Licht unter den Scheffel«, widersprach die gute Fee. »Ihr wusstet genau, wie Ihr unsere Geschichten an die heutige Gesellschaft anpassen musstet, indem Ihr religiöse Elemente einbindet. Andernfalls wären sie womöglich nicht derart gut aufgenommen worden. ›Das hässliche Entlein‹, ›Die Schneekönigin‹, ›Die kleine Meerjungfrau‹ und viele weitere Märchen wären in Vergessenheit geraten – aber Ihr habt sie unsterblich gemacht.«

»Wo wir gerade dabei sind: Wie steht es denn um die Märchenwelt?«, fragte Hans.

»Sehr gut«, antwortete die gute Fee. »Wir befinden uns inzwischen in einem wahrhaft Goldenen Zeitalter. Meine liebe Aschenputtel hat Prinz Chance aus dem Königreich des Gläsernen Schuhs geheiratet, Prinzessin Dornröschen ist endlich aus dem grauenvollen Schlafzauber geweckt worden, und Schneewittchen hat ihre böse Stiefmutter als Königin des Nördlichen Königreichs abgelöst. Seit unserem endgültigen Sieg über die Drachen hat das magische Land nicht mehr solcherlei Anlass zum Feiern gehabt.«

»Aber, meine Liebe, dieselbe Frage habe ich Euch vor fast zehn Jahren gestellt, und damals habt Ihr mir die identische Antwort gegeben«, wunderte sich Hans. »Schon als Kind habe ich die gleichen Geschichten gehört. In der Märchenwelt muss die Zeit stehengeblieben sein.«

»Ach, wenn dem doch so wäre«, meinte die gute Fee und lachte. »Eure Welt dreht sich so viel schneller als unsere – aber eines Tages werden sie sich im Einklang bewegen. Ich habe keinen blassen Schimmer, wie oder weshalb, aber ich bin von dem unerschütterlichen Vertrauen erfüllt, dass es so kommen wird.«

Gemeinsam genossen die beiden einen Moment lang das friedliche Treiben auf der Promenade und nahmen all die wohltuenden Geräusche und Bilder in sich auf: Ein älteres Ehepaar spazierte gemächlich am Wassersaum entlang. Ein kleiner Hund jagte Möwen, die doppelt so groß waren wie er selbst. Ein Vater ließ mit seinen Söhnen in einem nahen Feld Drachen steigen, während die Mutter ihre neugeborene Tochter im Arm wiegte. Die Jungen kicherten, als eine Windböe ihnen das Spielzeug entriss und den Drachen immer höher und höher in den Himmel trug.

»Hans?«, sagte die gute Fee. »Erinnert Ihr Euch noch daran, was Euch als kleinen Jungen glücklich gemacht hat?«

Darüber musste er nicht lange nachdenken. »Orte wie dieser Kai«, antwortete er sofort.

»Wieso?«, wollte sie wissen.

»Weil er ein Raum unbegrenzter Möglichkeiten ist«, erklärte er. »Jeden Moment könnte irgendjemand oder irgendetwas auftauchen – eine Parade könnte durch das Feld marschieren, ein tropischer Vogelschwarm könnte am Himmel vorüberziehen, oder ein König von weit her könnte auf einem gewaltigen Schiff heransegeln. Ich schätze, alle Kinder sind stets dann am glücklichsten, wenn ihre Phantasie angeregt wird.«

»Interessant«, sinnierte die gute Fee.

Ihr Blick verriet Hans, dass etwas ihr schwer auf dem Herzen lastete. Und nach ihrer Frage zu schließen, hatte es wohl mit einem Kind zu tun.

»Verzeiht«, sagte Hans vorsichtig. »Ich kenne Euch nun bereits so lange, dass es mir beinahe etwas unangenehm ist, fragen zu müssen, aber: Habt Ihr Kinder?«

»In der Tat«, erwiderte sie, und ein Lächeln spielte um ihre Lippen. »Zwei Söhne. Beide sind sie meinem verstorbenen Ehemann wie aus dem Gesicht geschnitten. John ist der ältere – ein rundum fröhliches und abenteuerlustiges Kerlchen. In einem fort schließt er neue Freundschaften und erkundet die Gegend. Jeder zu Hause liebt ihn.« Dann aber wurde die gute Fee plötzlich still.

»Und Euer zweiter Sohn?«, fragte Hans.

Als wären ihre Gefühle mit einem Mal leckgeschlagen, schwand alle Freude aus dem Gesicht der guten Fee. Sie senkte den Blick auf ihre Hände. »Sein Name ist Lloyd; er ist einige Jahre jünger als John und vollkommen … anders.«

»Verstehe«, sagte Hans. Offenbar hatte er ein sensibles Thema angeschnitten.

»Ihr müsst mir vergeben«, bat die gute Fee seufzend. »Ich kann meine Enttäuschung nicht länger verbergen. Meine Lebensaufgabe besteht darin, den Menschen einen Schlüssel zu ihrem Glück an die Hand zu geben, doch ganz gleich, was ich tue, es gelingt mir einfach nicht, das Glück meines Sohnes freizusetzen.«

»Er macht also gerade eine schwierige Phase durch, nehme ich an?« Hans wollte nicht bohren, doch er hatte die gute Fee noch nie derart unverhohlen hilflos erlebt.

»Ja – wobei ich nicht glaube, dass es sich nur um eine Phase handelt«, antwortete sie.

Da sie nun einmal zu reden begonnen hatte, fiel es ihr schwer, sich zu bremsen, doch Hans war ein bereitwilliger Zuhörer. Er legte der guten Fee eine tröstende Hand auf die Schulter, und alle Dämme brachen.

»Das mag schrecklich klingen, wenn ich es über mein eigenes Kind sage, aber ich denke, etwas in Lloyd ist zerbrochen, als mein Ehemann starb«, gestand die gute Fee. »Beinahe so, als wäre seine Fähigkeit, glücklich zu sein, mit seinem Vater begraben worden – seit seinen Säuglingstagen habe ich ihn nicht mehr lächeln sehen. Er ist am liebsten allein und hasst Gesellschaft. Er redet kaum, und falls doch einmal, dann nie mehr als ein Wort oder zwei. Er könnte sich nicht stärker von John unterscheiden. Immerzu wirkt er so niedergedrückt, und ich befürchte allmählich, dass sich daran nie etwas ändern wird.«

Eine einsame Träne lief der guten Fee über die Wange. Sie zog ein Taschentuch aus ihrem Gewand und tupfte sich damit die Augen.

»Es muss doch etwas geben, das ihm Spaß macht«, grübelte Hans. »Hat er irgendwelche besonderen Leidenschaften?«

Die gute Fee überlegte angestrengt. »Das Lesen«, meinte sie nickend. »Er liest ohne Unterlass, vor allem Literatur aus dieser Welt. Es ist das Einzige, woran er Interesse hat; allerdings bin ich mir nicht sicher, ob es ihm wirklich Freude bereitet.«

Hans ließ sich diese Aussage durch den Kopf gehen. Er war immer gut darin gewesen, Kinder zu unterhalten; damit, sie zu heilen, kannte er sich weniger aus. Er stellte sich vor, er wäre selbst an Lloyds Stelle, und mit einem Mal fiel ihm etwas ein, das womöglich die Begeisterung des Jungen wecken könnte.

»Vielleicht genügt das bloße Lesen nicht«, befand er, und ein Grinsen trat auf sein Gesicht. »Wenn er sich für Bücher interessiert, dann lässt sich diese Vorliebe doch eventuell ausweiten.«

»Wie meint Ihr das?«

Hans erläuterte: »Als ich noch ein aufstrebender Schriftsteller war, erhielt ich vom dänischen Königshaus Fördermittel für eine Europareise. Quer durch ganz Skandinavien führte mein Weg, nach Italien, in die Schweiz, schließlich über den Ärmelkanal und von England aus wieder zurück. Wie beglückend und erhebend es war, all diese fremden Länder und Orte, die ich nur aus Büchern kannte, mit eigenen Augen zu sehen, vermag ich kaum in Worte zu fassen. Denn Worte würden nie an die Wunder heranreichen, die sich unterwegs vor mir auftaten. Jene Reise hat ein Lächeln in mein Herz geprägt.«

Die gute Fee war nicht ganz sicher, worauf er hinauswollte. »John liebt diese Welt ebenfalls, aber Lloyd weigert sich, auch nur sein Zimmer zu verlassen, wann immer ich ihn einlade, mich zu begleiten.«

Hans hob einen Finger. »Dann versucht einmal, ihn in eine Welt zu locken, die ihm bereits gefällt«, schlug er vor. »Was, wenn Ihr ihn in eine der Geschichten aus seinen Büchern brächtet? Mag sein, dass ihn das, was er liest, nur gelinde reizt – sowie er jedoch die Welten, in denen er lesend so viel Zeit verbringt, tatsächlich betreten könnte, würde er gewiss sein Lächeln wiederfinden.«

Die gute Fee ließ den Blick über das Wasser schweifen. »Aber bin ich zu solch großartiger Magie denn fähig?«, murmelte sie wie in Trance. »Ich kann zwischen Dimensionen wechseln, die bereits bestehen – doch wie sollte ich selbst neue erschaffen und das geschriebene Wort zum Leben erwecken?«

Hans spähte verstohlen in beide Richtungen die Promenade entlang, um sich zu vergewissern, dass nur die gute Fee ihn hörte. »Was, wenn ihr überhaupt nichts erschaffen müsst?«, raunte er. »Was, wenn hinter jeder Geschichte, die je erzählt worden ist, eine ganze Wirklichkeit lediglich darauf wartet, entdeckt zu werden? Was, wenn es Euch von Anfang an bestimmt war, Schlüssel nicht bloß zum Glück zu verteilen?«

Dieser Gedanke war so verlockend und aufregend, dass die gute Fee sich beinahe ein wenig vor seiner Tragweite und dem Potenzial, das er barg, fürchtete. Was, wenn es ihr wahrhaftig gelänge, in jede beliebige Geschichte ebenso mühelos zu reisen wie in die Märchenwelt oder die Anderswelt? Was, wenn sie die Macht besaß, jedes Buch in ein Portal zu verwandeln?

»Es wird spät«, meinte Hans in Anbetracht der hereinbrechenden Dämmerung ringsum. »Möchtet Ihr mich auf eine Tasse Tee nach Hause begleiten? Unser Gespräch erinnert mich bemerkenswert stark an eine andere Erzählung, an der ich zurzeit arbeite, ›Die Geschichte von einer Mutter‹ –«

Er wandte sich wieder der guten Fee zu, doch sie war spurlos verschwunden. Hans schmunzelte. Seine Idee musste gut gewesen sein, denn offenkundig hatte sie es kaum erwarten können, sie zu erproben.

Die folgenden Wochen wurden zu den geschäftigsten im gesamten bisherigen Leben der guten Fee. Sie schloss sich in ihren Gemächern im Feenpalast ein und arbeitete rund um die Uhr. Ganz so, als wollte sie ein neues Trankrezept erfinden, suchte sie nach Zutaten, die sie sorgsam zusammenzufügen gedachte, um Hans’ Vision in die Tat umzusetzen. Sie las sämtliche Bücher über Zaubersprüche, Tränke und Flüche in ihrem Besitz; sie vertiefte sich in dunkle Magie, weiße Magie und studierte deren jeweilige Geschichte.

Langsam nahm so ihr Werk Gestalt an, wuchs Element für Element wie eine Flickendecke, die Stoffquadrat um Stoffquadrat zusammengenäht wird. Ihre Fortschritte hielt die gute Fee in einem Tagebuch fest, das sie häufig zur Hand nahm, um etwas nachzuschlagen, damit ihr nie der gleiche Fehler zweimal unterlief. Schließlich hatte sie die korrekten Bestandteile ausgetüftelt und miteinander vermengt, und nachdem sie die Mixtur für zwei Wochen im Mondlicht hatte stehen lassen, war ihr Gebräu fertig. Sie goss es in eine winzige blaue Flasche.

Wie bei jedem Experiment brauchte die gute Fee ein geeignetes Testobjekt. Sie zog Mary Shelleys Frankenstein aus dem Bücherregal und platzierte es vor sich auf dem Fußboden. Dann schlug sie die erste Seite auf und sprenkelte behutsam drei Tropfen des Tranks auf das Papier, einen nach dem anderen.

Kaum hatte der dritte Tropfen die Seite berührt, leuchtete das Buch auf wie ein gigantischer Scheinwerfer. Ein greller Strahl weißen Lichts brach daraus hervor, und da die Räume des Feenpalasts über keine Dächer verfügten, schoss er geradewegs in den Nachthimmel empor und war meilenweit im Umkreis zu sehen.

Die gute Fee war so erpicht darauf, herauszufinden, ob ihr Gebräu funktioniert hatte, dass sie alle Vorsicht fahren ließ. Sie packte ihren Zauberstab und trat prompt mitten in die Lichtsäule. Im nächsten Moment stand sie nicht mehr im Feenpalast, sondern in einer Welt aus Worten.

Wohin sie sich auch wandte: Um sie herum wirbelte, schwebte und hüpfte geschriebener Text. In einigen der Sätze und Zeilen glaubte die gute Fee ihr vertraute Passagen des Buchs wiederzuerkennen. Staunend verfolgte sie, wie die Buchstaben und Wörter einen gänzlich neuen Raum mit ihr in der Mitte schufen. Sie verbanden sich zu Formen, bildeten die Gegenstände, die sie beschrieben, gewannen an Substanz und erweckten ihre eigene Welt zum Leben.

Nun befand sich die gute Fee in einem dunklen Wald aus spindeldürren Bäumen. Das Buch – Frankenstein – und der Lichtstrahl, den es aussandte, waren gemeinsam mit ihr in den merkwürdigen Wald gelangt. Sie beugte sich wieder hinein in die gleißende Helligkeit und erkannte auf der anderen Seite ihre Gemächer – die Säule war ein Portal! Nun blieb ihr bloß, zu hoffen, dass es sie an jenen Ort gebracht hatte, an den sie hatte reisen wollen.

Ein Blitz zuckte über den finsteren Himmel, und die gute Fee schreckte zusammen. Auf der Spitze eines nahen Hügels machte sie die Umrisse eines gewaltigen gotischen Bauwerks mit mehreren Türmen aus. Bei dem Anblick begann ihr Herz zu rasen.

»Du meine Güte«, keuchte die gute Fee. »Das ist Frankensteins Burg! Der Trank hat gewirkt! Ich bin in der Geschichte gelandet!«

Sie verließ die Welt von Frankenstein und kehrte durch den Lichtstrahl in den Feenpalast zurück. Dort schloss sie das erleuchtete Buch auf dem Boden mit dem Fuß, und der Glanz verflüchtigte sich.

Die gute Fee konnte ihre Begeisterung kaum im Zaum halten. Sie schnappte sich das Zaubertrankfläschchen und rannte den Flur hinunter zu Lloyds Zimmer, gewiss, dass auch er von ihrer neuesten Erfindung entzückt sein würde. Mit den Knöcheln pochte sie einen fröhlichen Rhythmus gegen seine Tür.

»Lloyd, mein Schatz?«, rief sie und betrat das Zimmer ihres Sohnes.

Es war düsterer als sämtliche übrigen Räume des Feenpalasts, besonders in der Nacht. Im gesamten Gebäude gab es kaum Wände, doch Lloyd hatte stattdessen riesige Laken und Decken um seinen privaten Bereich gespannt, um sich abzuschirmen, wodurch das Innere seines Reichs wie ein isoliertes Zelt wirkte.

Der Sohn der guten Fee besaß ein Regal voller Einmachgläser, in denen er kleine Nagetiere, Reptilien und Insekten hielt. Allerdings muteten sie eher wie Gefangene denn wie Haustiere an, zumal sie sich ausnahmslos verzweifelt mühten, aus ihren Behältnissen auszubrechen. Seine Mutter nahm eines der Gläser zur Hand und betrachtete bekümmert die tote Motte, die darin lag – dieselbe Motte, die ihr Sohn vor wenigen Tagen freizulassen versprochen hatte.

Lloyd kauerte auf dem Bett und las bei Kerzenlicht Der Mann in der eisernen Maske. Er war ein kleiner, dürrer Junge, mit rundlichem Gesicht und dunklem Haar. Und er schaute nicht für eine Sekunde auf, nicht einmal, als seine Mutter am Fußende des Betts Platz nahm.

»Ich habe etwas ganz Besonderes für dich erschaffen, mein Liebling«, sagte die gute Fee. »Es hat mich viel Mühe gekostet, und ich glaube, dass es dich sehr glücklich machen wird.«

Lloyds Augen wanderten weiter über die Seite, und er tat, als wäre seine Mutter unsichtbar. Sie zog ihm das Buch aus den Händen und zwang ihn so, seine Aufmerksamkeit auf sie zu richten.

»Was, wenn ich dir erzählen würde, dass es einen Weg gibt, auf dem du in deine liebsten Geschichten reisen kannst?«, neckte die gute Fee ihren Sohn und zeigte ihm das Fläschchen. »Das hier ist ein sehr mächtiger Zaubertrank, den ich soeben zusammengemischt habe. Mit ein paar wenigen Tropfen davon können wir jedes deiner Bücher in ein Portal verwandeln! Wäre das nicht wunderbar? Würde es dir nicht Freude bereiten, all deine Lieblingsorte und -figuren persönlich kennenzulernen?«

Lloyd nahm ihre Worte stumm in sich auf. Eine Sekunde lang sah die gute Fee Interesse in seinen Augen aufblitzen, während er die Flasche musterte. Ihr ging das Herz auf, da sie überzeugt war, jeden Moment werde ein Lächeln auf seinem Gesicht erblühen – doch zu ihrer Enttäuschung seufzte Lloyd lediglich.

»Reisen macht so müde, Mutter«, sagte Lloyd und griff nach seinem Buch. »Ich würde viel lieber einfach hierbleiben und lesen.«

Die hochfliegenden Hoffnungen der guten Fee krachten brutal zu Boden. Wenn sie ihn nicht einmal damit aus der Reserve locken konnte, musste sie fürchten, dass überhaupt nichts das schaffen würde.

»Natürlich, wie du möchtest«, murmelte sie und stand auf, um ihn wieder allein zu lassen. »Falls du es dir aber anders überlegst, gib mir bitte Bescheid, ja?«

Mit gebrochenem Herzen wanderte die gute Fee durch die Gänge und Flure des Feenpalasts, bis sie vor der Doppeltür der Halle der Träume stand. Sie drückte die beiden Flügel auf und trat ein in den endlosen Raum, in dem Tausende schimmernder Kugeln um sie herumschwebten. Jede einzelne verkörperte einen Traum, und sie hoffte, zumindest irgendjemandes Traum wahrmachen zu können, ehe sie zu Bett ging.

Ein vielversprechender Gedanke regte sich in ihrem Kopf, als sie sich umschaute: Womöglich hatte sie zu viel Zeit mit dem Versuch verschwendet zu erraten, was ihren Sohn glücklich machen würde. Vielleicht glitt der innigste Wunsch ihres Kindes unmittelbar hier in der Halle der Träume umher? Und sowie es ihr gelänge, einen Blick darauf zu werfen, wüsste sie auch, wie sie ihm helfen konnte.

Die gute Fee hob ihren Zauberstab und ließ ihn in der Luft kreisen. Sämtliche Kugeln in der Halle erstarrten augenblicklich in ihrer Bewegung. Nur eine große in einiger Entfernung trudelte weiter. Sie näherte sich der guten Fee und landete in ihren Händen. Die gute Fee spähte sehnsuchtsvoll hinein, begierig darauf, zu erfahren, wie der Traum ihres Sohnes aussehen mochte.

Zunächst nahm sie im Innern nur Nebelschwaden wahr, als wäre alles voller Dampf oder Rauch. Sobald die Schlieren sich verzogen, entfuhr ihr ein kleiner Aufschrei. Ein Bild der Zerstörung bot sich ihr, wohin sie auch schaute. Burgen und Paläste lagen in Trümmern, Dörfer standen in Flammen. Die Erde war von Kadavern aller nur vorstellbaren Wesen bedeckt. Die Szene mutete an wie das Ende der Welt.

Und inmitten all dieses Chaos, auf einem Thron an der Spitze eines Trümmerhaufens, saß Lloyd. Er trug eine große, goldene Krone auf dem Kopf und ein schauderhaftes Lächeln im Gesicht, während er die Apokalypse ringsum begutachtete. In der Ferne erkannte die gute Fee etwas, das ihr eine Gänsehaut den Rücken hinunterjagte und sie am ganzen Körper erzittern ließ: ein frisch ausgehobenes Grab, mit einem Stein, auf dem ihr eigener Name stand.

Der guten Fee wurde speiübel. Nun begriff sie, weshalb es ihr niemals gelingen würde, ihren Sohn zufriedenzustellen; sein größter Traum war ihr größter Albtraum. Frankenstein war nicht der Einzige, der ein Monster in die Welt gesetzt hatte …

Kapitel 1Der Hexenkessel

Die Bewohner der Zwergenwälder wussten die Furt des toten Mannes in dieser Nacht zu meiden, sofern ihnen ihr Leben lieb war. Immer bei Vollmond versammelten sich dort zur Geisterstunde Hexen aus den Wäldern und angrenzenden Königreichen; zu den Treffen waren nur ihresgleichen zugelassen, und sie machten sich einen Spaß daraus, an all jenen, die sie störten, beispielhaft zu zeigen, was solche Störenfriede davon hatten.

Die Furt des toten Mannes war ein geheimnisumwitterter Ort und somit perfekt für eine Hexenzusammenkunft: Von Zeit zu Zeit – ohne jede Vorwarnung oder Erklärung – drehte die Flussrichtung, so dass das Wasser mit einem Mal hinauf in die Wälder strömte. Und wann immer dieser Wechsel eintrat, trieben Särge unerklärlicher Herkunft heran.

Die toten Körper darin wurden nie identifiziert, und niemand forschte jemals nach, wer oder was sie geschickt haben mochte – wobei sich für solch eine Untersuchung ohnehin überhaupt keine Gelegenheit bot. Stets nämlich zerpflückten die Hexen jede Leiche, die sie fanden, sofort wie die Geier und nahmen alles Brauchbare in Einmachgläsern mit, um damit ihren Vorrat an Trankzutaten aufzustocken.

Die mitternächtlichen Treffen fanden im sogenannten Hexenkessel statt, einer alten Schänke, die gänzlich aus Ästen, Stroh und Lehm bestand und in der Mitte des Bachs saß wie die Burg eines Riesenbibers. Rauch stieg aus dem einzigen Schornstein des Wirtshauses auf, verpestete die Luft mit seinem fauligen Gestank und signalisierte so den anreisenden Hexen, dass die Versammlung jeden Moment beginnen würde.

Für gewöhnlich waren die Zusammenkünfte der Hexen schlecht besucht. Nachdem jedoch seit kurzem eine ebenso unerwartete wie heftige Krise die Königreiche erschüttert hatte, wurde diesmal mit einer weitaus regeren Teilnahme gerechnet.

Einige Hexen erreichten die Furt zu Fuß oder auf Maultieren, andere flogen in Schwärmen auf Besen dem Rauchsignal der Schänke entgegen. Ein paar segelten den Bach hinunter, in Booten oder auf behelfsmäßig zusammengezimmerten Flößen. Und eine Handvoll wand sich sogar wie Wasserschlangen durch die Fluten.

Zur Mitte der Geisterstunde war es in der Gaststube voller denn je: Gut einhundert Hexen hatten auf Stühlen um den gigantischen Kessel im Zentrum des Schankraums Platz genommen; diejenigen, die zuletzt eingetroffen waren, drängten sich stehend hinter ihnen.

Dunkle Magie hinterlässt bekanntlich ihre Spuren an jenen, die von ihr Gebrauch machen, und auch in der jeweiligen Erscheinung der anwesenden Hexen zeigte sich das auf unterschiedlichste Weise. Manche hatten Warzen und vergrößerte Nasen, andere verfaulendes Fleisch oder Augäpfel, die weit aus ihren Höhlen hingen. Einige waren durch ihr bestialisches Treiben bereits so weit verunstaltet, dass sie kaum noch menschlich wirkten, sondern einer völlig fremden Spezies glichen, mit Hufen und Hörnern, Schwänzen und Federn, mitunter sogar Schnauzen und Schnäbeln.

Eine kurz gewachsene, plumpe Hexe mit steinerner Haut trat an den Kessel heran. Sie warf eine Handvoll Kiesel hinein, und die Flüssigkeit im Innern fing zu glühen an, bis das gesamte Zimmer in ein bedrohliches grünes Licht getaucht war: Die Versammlung war eröffnet.

»Willkommen, Schwestern«, grüßte die Steinhexe mit barscher Stimme in die Runde. »Ich bin Gargoylia, die steinerne Gebieterin über die Zwergenwälder. Ich nehme an, wir sind heute Nacht alle derselben Angelegenheit wegen hier, also lasst uns keine Zeit verschwenden.«

Die Hexen tauschten Blicke und nickten einander zu. So vielgestaltig ihre Gruppe auch sein mochte, so geeint waren sie doch in ihrer Sorge.

Serpentina, eine Hexe mit schuppiger grüner Haut und langer, gespaltener Zunge, ergriff das Wort.

»Wir ssssind heute zussssammengekommen, um über die vermissssten Kinder zu beratsssschlagen«, zischte sie. »Darum zzzzuallerersssst: Welche Hexe auch immer ssssie raubt, ssssie mussss auf der Sssstelle damit aufhören, ehe ssssie unssss alle anssss Messsser liefert!«

Ihr Kommentar entrüstete einen Großteil der Versammelten. Charcoaline, eine Hexe, die komplett aus Asche und Ruß zu bestehen schien, schlug so fest an die Sitzfläche ihres Stuhls, dass ein Teil ihrer Faust zu Kohlenstaub zerkrümelte.

»Wie kannst du es wagen, uns zu beschuldigen!«, fuhr sie Serpentina an.

Funken stoben ihr beim Sprechen aus dem Mund, und mit ihrer Wut wallte auch Lava in ihr auf und füllte als glühende, zähflüssige Masse die Runzeln ihrer Haut aus. »Immerzu sind wir die Ersten, auf die in Krisenzeiten jeglicher Verdacht fällt! Von jemandem aus unseren eigenen Reihen hätte ich mehr Solidarität erwartet!«

Arboris – eine Hexe mit Haar aus Zweigen, deren gesamter Körper von Baumrinde überzogen war – sprang Serpentina bei.

»Zwölf Kinder aus dem Königreich an der Ecke und ebenso viele aus dem Königreich des Gläsernen Schuhs sind spurlos verschollen«, sagte sie. »Nur eine Hexe wäre mutig und gerissen genug, um ein solches Verbrechen zu begehen, und höchstwahrscheinlich befindet sich die Verantwortliche hier unter uns!«

Tarantulene, eine hochgeschossene Hexe mit Fangzähnen und je vier haarigen Armen und Beinen, ließ sich an einem Spinnfaden, der ihr aus dem Hintern quoll, von der Decke herab. »Wenn ihr zwei euch so sicher seid, dass eine Hexe die Kinder entführt hat, dann steckt ja womöglich eine von euch beiden dahinter!«, knurrte sie und richtete alle vier Hände anklagend auf ihre Gefährtinnen.

Der Lärm im Schankraum schwoll an, als jede Hexe ihre Meinung zu der Sache kundzutun versuchte. Gargoylia warf aufs Neue eine Handvoll kleiner Steine in den Kessel, und ein blendend greller grüner Lichtblitz brachte alle zum Verstummen.

»Ruhe!«, kreischte Gargoylia. »Es ist vollkommen gleichgültig, welche Hexe die Schuld trägt – die Herrscher der Königreiche werden uns alle zur Verantwortung ziehen, wenn sie die Kinderräuberin zu fassen bekommen! Ich habe Gerüchte gehört, denen zufolge in den Dörfern schon zur Hexenjagd geblasen wird. Wir müssen uns wappnen!«

Eine Hexe im scharlachroten Gewand trat vor. »Darf ich einen Vorschlag machen?«, fragte sie ruhig. Sie nahm ihre Kapuze ab, und einige der Umstehenden schnappten nach Luft. Zum Vorschein gekommen war eine absolut gewöhnlich aussehende Frau mittleren Alters, die man sogar als hübsch hätte bezeichnen können.

»Hagetta!«, zischte Gargoylia giftig. »Nach all den Jahren beehrst du uns endlich einmal mit deiner Anwesenheit.«

»Ssssie hat hier nichtssss verloren!«, fauchte Serpentina.

»Sie ist eine Schande für alle wahren Hexen«, dröhnte Charcoaline.

In ihrer Verachtung gegenüber Hagetta waren sich die Hexen allesamt einig – doch damit hatte die Geschmähte gerechnet.

»Bloß weil ich weiße Magie praktiziere, bin ich nicht weniger eine Hexe als ihr«, sagte Hagetta. »Und ich garantiere euch, kein Mensch außerhalb dieser Schänke wird sich darum scheren, welche Art von Magie ich treibe, solange noch weitere Kinder verschwinden. Ein wütender Mob wird durch die Wälder ziehen, bis auch die letzte Hexe gefunden ist; wir werden alle aufgestöbert und auf dem Scheiterhaufen verbrannt werden. Deshalb bin ich – im Gegensatz zum Rest von euch – hier, um eine Lösung vorzutragen, die eine derartige Hexenjagd hoffentlich wird verhindern können.«

Die Hexen murmelten Verwünschungen in Hagettas Richtung. Gargoylia schleuderte erneut Kieselsteine in den Kessel, um sie zur Ruhe zu rufen.

»Eine Hexenjagd will niemand von uns – wenn Hagetta also glaubt, sie sei in der Lage, uns vor einer zu bewahren, dann soll sie sprechen«, befand sie. »Aber fass dich kurz – mir gehen die Kiesel aus.«

Hagetta ließ den Blick durch den Schankraum schweifen und sah dabei so vielen ihrer Gefährtinnen wie möglich direkt in die Augen. Es würde schwer werden, doch sie wollte nicht eher wieder aufbrechen, als bis sie die anderen überzeugt hatte.

»Ich sage, genug der Schuldzuweisungen. Richten wir stattdessen unsere Energie darauf, die Täterin zu ermitteln«, forderte sie. »Seit jeher lastet die Welt unserer Gemeinschaft die Schuld für die Fehler Einzelner an. Keine von euch wäre heute Nacht hier, wenn sie für diese Taten verantwortlich zeichnen würde, also lasst uns zusammenarbeiten und diejenige aushändigen, die tatsächlich schuldig ist. Wir werden unsere Unbescholtenheit beweisen, indem wir den Königreichen bei der Lösung des Rätsels um die verschwundenen Kinder helfen.«

»Wir können keine der Unseren einfach ausliefern! Wir sind eine Schwesternschaft!«, brüllte Charcoaline.

»Viel wird von dieser Sssschwesternschaft allerdings nicht übrig bleiben, wenn wir alle tot ssssind«, lispelte Serpentina.

»Das Letzte, was die Menschen wollen, ist Unterstützung von Hexen!«, protestierte Arboris.

In der hintersten Reihe brach eine Hexe mit dickem Bauch und Karottennase in Tränen aus, und alle wandten sich zu ihr um.

»Verzeihung«, schniefte die gefühlsduselige Hexe. »Ich kann bloß so gut nachempfinden, was Hagetta beschreibt. Ich bin selbst gewiss keine Heilige, aber bereits mein ganzes Leben lang werde ich für Dinge verantwortlich gemacht, mit denen ich nichts zu tun habe.«

Sie schnäuzte die Nase in den Umhangsaum ihrer Nachbarin.

»UNSCHULDIGE HEXEN GIBT ES NICHT!«, donnerte mit einem Mal eine tiefe, unerwartete Stimme, und die Tür der Gaststube flog auf. Ein Mann mit einem Sack über dem Kopf stolzierte herein, als gehörte ihm das Wirtshaus. Ihm auf dem Fuß folgte ein Dutzend Soldaten in roten und weißen Uniformen. Alle Hexen sprangen von ihren Stühlen auf, gleichermaßen empört über die Störung.

»Entschuldigt die Unterbrechung, meine Damen – und diesen Begriff fasse ich weit«, tönte der Maskenmann mit überheblichem Lachen. »Schon den ganzen Abend lausche ich Eurer kleinen Diskussion, und ich fürchte, länger kann ich nicht an mich halten.«

»Wie könnt Ihr es wagen, uns zu behelligen!«, rief Gargoylia. »Niemand wagt das und überlebt lange genug, um anschließend seine Geschichte noch –«

Er hob eine Hand, um sie zum Schweigen zu bringen.

»Ehe Ihr uns in Mäuse verwandelt, an denen sich Eure Kolleginnen dann laben, erlaubt mir, mich vorzustellen«, sagte er. »Man nennt mich den Maskenmann – was sich wohl von selbst erklärt. Die Herren in meinem Rücken sind das, was von jener Grande Armée übrig geblieben ist, die vor annähernd fünf Monaten beinahe unsere Welt erobert hätte. Womöglich habt Ihr schon von uns gehört?«

Obwohl keine von ihnen unmittelbar an dem kürzlich zu Ende gegangenen Krieg beteiligt gewesen war, wussten die Hexen nur zu gut, welche Schrecken und welches Chaos besagte Armee angerichtet hatte.

»Dieser Mann ist ein Witz«, meldete sich Hagetta, der klar war, dass sie einschreiten musste, bevor ihre Schwestern noch neugieriger auf den Neuankömmling wurden. »Er wird euch Flausen in den Kopf setzen mit seinen vermeintlichen Heldengeschichten darüber, wie er ein Heer angeführt und einen Drachen großgezogen hat, aber am Ende ist er von einer sterbenden alten Fee in die Flucht geschlagen worden.«

Der Maskenmann blitzte sie finster an. »Somit habt zumindest Ihr bereits von mir gehört«, befand er. Er musterte Hagetta von Kopf bis Fuß – etwas an der Hexe erschien ihm höchst vertraut. Er hätte schwören können, dass ihre Wege sich in ferner Vergangenheit einmal gekreuzt hatten, verschwendete jedoch keine Zeit damit, länger darüber nachzusinnen. Er war mit einer festen Absicht in das Wirtshaus gekommen, und die Hexen würden ihm kaum lange geduldig lauschen.

»Ich bin nicht hier, um zu prahlen, sondern um eine Partnerschaft zu begründen – und Euch zu warnen«, sagte er.

»Partnerschaften mit Gesindel wie Euch haben wir nicht nötig«, entgegnete Gargoylia.

Von ihrer Widerborstigkeit ließ sich der Maskenmann in seinem Werben um die Gunst der Hexen jedoch nicht abschrecken. »Ihr habt jedes Recht und allen Grund zur Sorge«, sagte er. »Gemeinhin wird angenommen, dass eine Hexe hinter dem Verschwinden der Kinder steckt, und die Dörfer, die ihre Jüngsten verloren haben, werden diesen Verlust nicht einfach hinnehmen. Sogar ich – der ich seit Monaten im Verborgenen lebe – habe mitbekommen, dass sie Rachepläne schmieden. Es geht längst nicht mehr um eine bloße Hexenjagd – sie wollen Euch ausrotten!«

Diese Neuigkeit traf die Hexen schwer. Versuchte der Maskenmann lediglich, sie aufzuhetzen, oder war die Lage tatsächlich noch übler, als sie angenommen hatten?

»Und genau deshalb müssen wir schleunigst die verantwortliche Hexe finden, solange wir es noch können«, betonte Hagetta.

Der Maskenmann schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, Ihr seid machtlos, den Gang der Dinge zu ändern«, sagte er. »Selbst wenn Ihr die Unschuld jeder einzelnen Hexe beweisen würdet, wäre das Massaker unausweichlich. Die Menschen wollen nicht nur Gerechtigkeit für die geraubten Kinder, sondern sämtliche Verbrechen gesühnt sehen, die Eure Art je gegen sie begangen hat. Ihre entführten Sprösslinge dienen ihnen nur als Vorwand, um sich für ganze Jahrhunderte der Schandtaten zu rächen!«

Das verschlug den Hexen die Sprache. Die Beziehungen zwischen ihnen und den Menschen waren nie unproblematisch gewesen, und es war gut vorstellbar, dass die verschollenen Kinder das Fass nun zum Überlaufen gebracht hatten.

»Wo Ihr nur geht und steht, müht Ihr Euch darum, Kriege zu entfesseln«, warf Hagetta dem Maskenmann vor, in der verzweifelten Absicht, seine Warnung herunterzureden. »Wir dürfen auf diesen Mann nicht hören! Er wird erst zufrieden sein, wenn die ganze Welt in Flammen steht!«

Der Maskenmann lächelte. »Oh, es wird Kämpfe und Schlachten geben, aber Ihr haltet Euch selbst für zu wichtig, wenn Ihr glaubt, dass uns ein Krieg bevorsteht«, neckte er. »Sobald Ihr Hexen erst einmal ins Visier genommen seid, habt Ihr ohnehin nicht den Hauch einer Chance – dafür seid Ihr viel zu wenige! Bald schon wird Eure Rasse ebenso Geschichte sein wie die der Drachen!«

Die Hexe in der letzten Reihe brach aufs Neue in Tränen aus. Sie krümmte sich und übergab sich auf den Fußboden. »Verzeihung«, piepste sie. »Ich habe einen empfindlichen Magen.«

Colonel Rembert, der sich ebenfalls unter den verbliebenen Soldaten der Grande Armée befand, bedachte sie mit einem skeptischen Blick. Etwas an dieser Hexe gefiel ihm ganz und gar nicht.

»Ich denke, die Märchenunion steckt hinter den Entführungen!«, verkündete der Maskenmann. »Die Feen wollen die Hexen seit jeher loswerden, und indem sie eine riesige Vernichtungswelle lostreten, erreichen sie das mühelos! Es würde mich nicht wundern, wenn die neue gute Fee höchstpersönlich die Kleinen geraubt hätte!«

»Die gute Fee würde niemals zwei Dutzend Kinder stehlen«, meinte einer der Köpfe einer zweihäuptigen Hexe ganz hinten.

Ratten-Mary, eine unscheinbare Hexe mit buschigem, mausgrauem Haar und gewaltigen Schneidezähnen, sprang auf ihren Stuhl, um sich die Aufmerksamkeit der Runde zu sichern. »Ob die Feen nun selbst dahinterstecken oder nicht: Unterstützen werden sie eine solche Jagd auf uns allemal, da bin ich sicher!«, rief sie.

»Sie sehnen sich nach einer Welt ohne Hexerei!«, bestätigte Arboris.

»Ssssie wollen alle Magie für ssssich allein!«, zischte Serpentina.

Im Nu waren nahezu sämtliche Hexen überzeugt, dass der Fall der vermissten Kinder eine Intrige war, die die Feen nur zu ihrem Schaden ausgeheckt hatten, und sie brüllten ihren Hass auf das Feenvolk laut heraus. Der Maskenmann hatte sein Ziel beinahe erreicht.

»Es wird Zeit, dass Ihr Euch wehrt und zurückschlagt!«, stachelte er sie an.

Die Mehrheit der Hexen jubelte, doch Gargoylia schüttelte den Kopf, als einsame Stimme der Vernunft.

»Das käme einem Selbstmord gleich«, gab sie zu bedenken. »Gerade noch habt Ihr festgestellt, dass wir in der Unterzahl sind, insbesondere falls tatsächlich die Feen an dieser Sache beteiligt sind.«

Der Maskenmann rieb sich die Hände. »Nur solange Ihr nicht die richtigen Bündnisse schließt«, meinte er verächtlich. »Mit meiner Hilfe stellen wir einmal mehr eine ganze Armee auf die Beine!«

Die Hexen gackerten spöttisch. Sein Vorschlag schien ihnen lächerlich und absurd.

Flink ergriff Hagetta wieder das Wort. »Eine Armee? Woraus soll sie denn bestehen, diese Armee?« Auch sie lachte. »Ihr hattet schon einmal eine Armee, und die ist jämmerlich gescheitert. Wer würde Euch da mit der Führung einer neuen betrauen?«

Der Kopf des Maskenmannes schnellte zu ihr herum. Zweifellos hatte sie einen wunden Punkt getroffen.

»ICH BIN NIE GESCHEITERT!«, brüllte er. »Mein ganzes Leben lang arbeite ich bereits darauf hin, die Feen zu stürzen! Und bisher war ich mit jedem Schritt meines Plans erfolgreich! Die Grande Armée, der Drache und der Angriff auf den Feenpalast waren nie dazu gedacht, sie zu besiegen – sondern sollten sie bloß schwächen! Sobald sie glaubten, das Gefecht sei vorüber, habe ich mich in den Palast geschlichen und jenen Zaubertrank gestohlen, auf den ich es von Beginn an abgesehen hatte! Und nun, da er sich in meinem Besitz befindet, kann der wahre Krieg beginnen!«

Schweißperlen tränkten inzwischen den Jutesack, den der Maskenmann sich übergestülpt hatte, und er musste einige Male tief durchatmen, um sich zu beruhigen.

»Bevor ich jedoch mit der nächsten Phase meines Plans fortfahren kann, brauche ich Eure Hilfe«, sagte er. »Im Feenpalast befand sich einst noch etwas, das ich zusammen mit dem Trankfläschchen entwenden wollte – eine Sammlung, der sich die verstorbene gute Fee offenbar entledigt hat. Ihr müsst mir dabei helfen, herauszufinden, wohin sie sie geschafft hat. Sobald wir sie an uns gebracht haben und mit dem Zaubertrank kombinieren, werde ich in der Lage sein, die neue Armee zu rekrutieren.«

Gargoylia verschränkte die Arme vor der Brust. »Aber was für eine Art von Armee soll das denn sein?«, wollte sie wissen. »Wenn nicht einmal die Grande Armée und ein Drache ausgereicht haben, um die Feen auszulöschen, was könnte dann genügen?«

»Eine Armee, die Eure kühnsten Vorstellungen übersteigt!«, tönte der Maskenmann mit theatralischen Gesten. »Eine Armee, gegen die die Grande Armée wie ein Haufen Rotzlöffel erscheinen wird! Seit meiner eigenen Kindheit schmiede ich bereits diesen Traum und Plan, und mit Eurer Unterstützung wird er Wirklichkeit werden. Wir können dieses Heer gemeinsam führen, und dann wird diese Welt uns gehören!«

Die Hexen vermochten nicht zu sagen, ob der Maskenmann den Verstand verloren hatte – oder ob womöglich doch mehr hinter seinen Worten steckte.

Die rührselige Hexe schaffte es nach seiner Rede nicht mehr, ihre Emotionen länger in Schach zu halten. »Vergebt mir – aber es ist einfach so schön, einen Mann zu erleben, der solche Leidenschaft für etwas aufbringt«, schluchzte sie, und Tränen rannen ihr in Sturzbächen über die Wangen.

Colonel Rembert beäugte sie weiterhin argwöhnisch. Soeben nämlich schwemmten ihre Tränen die Karottennase davon – es handelte sich um eine Tarnung!

»Sir, ich glaube, wir sind hier nicht ausschließlich unter Hexen!«, rief Rembert dem Maskenmann zu. Rasch zog er seine Pistole aus seiner Jacke und zielte damit auf die fragwürdige Hexe.

Mit einem Mal katapultierte die sich in die Luft und schlug einen Salto auf Rembert zu, wobei sie ein langes Schwert unter ihrem Umhang hervorriss. Mühelos trennte sie damit den Lauf seiner Waffe ab, ehe sie vor seinen Füßen landete.

Die Hexe stöhnte und hielt sich den Bauch. »Dieses Herumgewirbele wird schwieriger, wenn man schwanger ist«, murmelte sie.

Der Maskenmann starrte auf die Schwindlerin hinab – sie war überhaupt keine Hexe.

»GOLDLÖCKCHEN!«, schrie er.

»Goldlöckchen, was tust du in der Schänke?«, fragte Hagetta.

»Hallo, Hagetta«, erwiderte Goldlöckchen. »Wir sind dir hierher gefolgt; uns war klar, dass der Maskenmann einem Publikum aus Hexen nicht würde widerstehen können.«

»Wir?«, wiederholte Hagetta.

Der Maskenmann ohrfeigte Rembert mit dem Handrücken.

»Idiot! Ihr habt uns geradewegs in eine Falle geführt!«, brüllte er. »Ergreift sie!«

Die Soldaten der Grande Armée drängten mit gezückten Waffen auf Goldlöckchen zu.

»JETZT!«, rief sie.

Vier Gestalten in der hinteren Reihe warfen ihre Verkleidung ab: Jack, Rotkäppchen, Froggy und das dritte kleine Schweinchen waren die gesamte Zeit unter den Hexen gewesen.

Die doppelhäuptige Hexe stürzte sich auf den Maskenmann und teilte sich dabei in zwei Personen auf – Alex und Conner Bailey. Die Zwillinge umkreisten den Maskenmann; Alex richtete ihren Kristallzauberstab auf ihn, während Conner sein Schwert hob.

»Du bist nicht der Einzige, der weiß, wie man sich maskiert, Kumpel«, fauchte Conner.

Alex blieb stumm; sie umklammerte lediglich ihren Zauberstab so fest, dass sie fürchten musste, er könnte in ihrer Hand entzweibrechen. Nach Monaten und Monaten verzweifelter Suche hatten sie den Maskenmann endlich aufgespürt. Nun würde sie ihm seinen Sack vom Kopf zerren und der Welt seine wahre Identität offenbaren.

»Es ist vorbei«, wandte Alex sich an ihn. »Und niemand geht diesmal auch nur irgendwohin!«

Alex schnippte ihren Zauberstab in Richtung sämtlicher Fenster und der Tür, und metallene Stangen legten sich davor. Die Geschwister, ihre Freunde, die Hexen, die Soldaten und der Maskenmann waren somit allesamt im Schankraum gefangen.

»Das ist die gute Fee!«, kreischte Ratten-Mary, und sofort brach in dem kleinen Zimmer ein Tumult los. Die Hexen rannten kopflos im Kreis, als stünde das Wirtshaus in Flammen, und da sie keine Möglichkeit hatten hinauszugelangen, steigerte sich ihre Panik zusehends. Den Zwillingen gelang es inmitten all der hysterischen Frauen kaum noch, die Franzosen und den Maskenmann im Blick zu behalten.

Alles war unfassbar überwältigend, und Alex spürte, wie ihr Herz schneller und schneller hämmerte. Sie durfte den Maskenmann nicht entkommen lassen – kein zweites Mal.

»GENUG!«, schrie Alex. Ihre Augen begannen zu glühen, und das Haar stand ihr wild vom Kopf ab. Ohne dass sie dafür den Zauberstab zu bemühen brauchte, schossen Ranken aus den Bohlen, schlangen sich um jede einzelne Hexe sowie sämtliche Soldaten der Grande Armée und zogen sie zu Boden.

Conner spähte nervös umher. »Alex, krieg dich wieder ein!«, flüsterte er. »Denk daran: Du musst dich konzentrieren, damit du die Kontrolle über deine Magie behältst!«

Alex schüttelte sich; einmal mehr hatte sie sich von ihren Gefühlen mitreißen lassen. Ihr Haar fiel ihr zurück auf die Schultern, und der manische Glanz in ihren Augen verblasste. In jüngster Zeit bereitete es ihr zunehmend Probleme, ihre Kräfte zu beherrschen, doch diesmal scherte sie sich nicht darum, ob sie die Schlingpflanzen bewusst oder unbewusst heraufbeschworen hatte – alles, was zählte, war, dass der Maskenmann an der Flucht gehindert wurde.

»Du bist ein mächtiges Mädchen, aber du wirst die Hexen gegen dich aufbringen, wenn du sie so behandelst«, meinte der Maskenmann und schaute sich dabei verstohlen nach einem Fluchtweg um.

»Dieses Risiko gehe ich ein«, konterte Alex.

»Na schön – ich ebenfalls!«

Der Maskenmann hechtete nach dem Kessel und stieß ihn um. Die Flüssigkeit ergoss sich über den Fußboden und nahm dabei einen matten, farblosen Ton an, so dass das Wirtshaus nicht länger von ihrem Schimmer erhellt wurde. Es wurde stockdunkel. Alex schwang ihren Zauberstab, und Fackeln erschienen entlang der Wände und spendeten neues Licht – doch der Maskenmann war bereits verschwunden.

»Alex! Sieh nur!«, rief Conner und deutete zum Kamin. »Er türmt durch den Schornstein! Er will aufs Dach!«

Alex folgte seinem Fingerzeig gerade rechtzeitig, um einen Blick auf die Füße des Maskenmannes zu erhaschen, die soeben den Schacht hinauf verschwanden.

Die Hexen rangen unterdessen nach wie vor mit den Ranken, die sie festhielten. Serpentina, Tarantulene, Ratten-Mary und Charcoaline gelang es, sich zu befreien, und gemeinsam gingen sie auf Conner und seine Gefährten los.

»In unserer eigenen Schänke lassen wir uns nicht gängeln!«, kreischte Ratten-Mary. Sie streckte die Finger aus, und ein Besenstiel flog ihr in die Hand. Prompt hüpfte sie darauf und flog im Kreis um Conners Kopf herum, wobei sie nach ihm schlug und kratzte.

»AU!«, brüllte Conner. »Machen Sie mal halblang, Rattenlady!«

Er packte das Ende ihres Besens, wurde mitgerissen, und im nächsten Moment trudelten die beiden gemeinsam durch das Zimmer und stießen gegen Wände und die Decke wie Flipperkugeln.

Serpentina kroch derweil eidechsengleich am Geäst des Mauerwerks empor und wollte sich mit einem Sprung auf Goldlöckchen werfen. Die werdende Mutter ließ ihr Schwert durch die Luft sausen und hieb der Hexe den linken Arm ab. Als sie den Arm dann zu ihren Füßen erblickte, brach sie jedoch in Tränen aus.

»Es tut mir so leid!«, schluchzte sie – nur um sich eine Sekunde später wieder zu fangen. »Halt, nein, das tut es nicht! Verdammte Hormone!«

Es war ihr Glück, dass sie ihre Fassung so rasch zurückgewonnen hatte – denn Serpentinas Arm war beinahe sofort nachgewachsen. Die Zunge der Hexe schoss ihr aus dem Mund und schnalzte um Goldlöckchen wie eine schleimige rote Peitsche. Sie wand sich um ihren Knöchel und riss die Schwangere von den Beinen.

Jack sprintete los, um seiner Frau zu helfen, doch Arboris stellte sich ihm in den Weg. Hunderte von Insekten krochen aus der Borkenhaut der Hexe und bissen und stachen in jeden Zentimeter seiner Haut, den sie erreichen konnten. Er stürzte zu Boden und rollte sich herum, während er hektisch versuchte, sie abzustreifen.

Tarantulene hatte unterdessen Froggy ins Visier genommen: Sie jagte ihn durch die Wirtsstube und feuerte in einem fort Netzfäden auf ihn ab.

»Ich hasse Spinnen! Ich hasse Spinnen!«, schrie Froggy und hüpfte in großen Sätzen vor ihr her. »Unfassbar, dass ich mich zu dieser Aktion heute Nacht habe breitschlagen lassen! Ich trage die Verantwortung für ein ganzes Königreich!«

Statt ihren Freunden zu Hilfe zu eilen, suchte sich Rotkäppchen zusammen mit dem dritten kleinen Schweinchen einen ruhigen Winkel und holte einen dicken Ordner hervor.

»Da alle anderen ja ohnehin beschäftigt sind, denke ich, wir sollten die Gunst der Stunde nutzen, um die letzten Details meiner Hochzeit zu besprechen«, befand sie fröhlich und blätterte durch die Seiten.

»Selbstverständlich, Euer ehemalige und zukünftige Majestät«, erwiderte das dritte kleine Schweinchen.

»Liebling! Ich halte das für keinen guten Zeitpunkt, um Hochzeitspläne zu schmieden!«, keuchte Froggy und entging nur knapp einem von Tarantulenes Netzschüssen.

»Uns bleiben nur noch Tage bis zur Trauung, Charlie!«, entgegnete Rotkäppchen. »Wir haben so viel Zeit darauf verwendet, den Zwillingen bei der Suche nach dem Maskenmann zur Hand zu gehen, dass ich bislang kaum Gelegenheit hatte, überhaupt irgendetwas in die Wege zu leiten! Also, mal schauen … o ja, zunächst brauche ich den passenden Stoff für die Tischläufer …«

Sie nahm drei rote Stoffmuster heraus, die ordentlich in einen Hefter geklemmt waren.

»Was meinst du, Schatz? Sollen wir lieber Rubinstein, Apfelbäckchen oder Blutblüte den Vorzug geben?«, fragte sie und hielt die Streifen in die Höhe, damit er sie sehen konnte.

Ein verirrter Faden schnellte auf Rotkäppchen zu, schlug ihr eine der Stoffproben aus der Hand und heftete sie an die Wand.

»Oh, gute Wahl!«, frohlockte Rotkäppchen. »Dann also Rubinstein!«

»Jawohl, Madam«, bestätigte das dritte kleine Schweinchen und machte sich in einem kleinen Notizbuch einen entsprechenden Vermerk.

Conner schaffte es nicht, sich noch länger an den Besen zu klammern. Er ließ los und wurde von Ratten-Mary fortgeschleudert, Ratten-Mary selbst krachte in Serpentina, als diese gerade Goldlöckchen an die Gurgel gehen wollte, und beide Hexen kugelten zu Boden.

Conner landete auf Charcoaline, die aufheulte und am ganzen Körper zu glühen begann, während Lava in ihr aufstieg. Sie öffnete den Mund, und ein feuriger Schwall brach daraus hervor wie bei einem leibhaftigen Drachen. Conner tauchte seitlich hinter den Kessel, wo er um Haaresbreite dem Inferno entging.

»Ich könnte hier drüben ein wenig Hilfe gebrauchen! Es wird heiß!«, schrie er zu seinen Freunden hinüber.

Hagetta presste eine Handfläche flach auf die Bohlen, schloss konzentriert die Augen und schickte ein Rumpeln aus, das sich von ihr direkt zu Charcoaline bewegte. Im nächsten Augenblick spien die Planken direkt unter der glimmenden Hexe eine Wasserfontäne in die Höhe, die Charcoaline zur gegenüberliegenden Rückwand der Stube beförderte. Hagetta lenkte ihre Energie um, und ein zweiter Geysir brach unter Arboris aus dem Boden und schleuderte sie ebenfalls durch den Raum.

Goldlöckchen rannte an Jacks Seite und machte sich daran, ebenfalls Insekten von seinem Körper zu wischen. Plötzlich allerdings krümmte sie sich vor Schmerzen.

»Goldie, ist alles in Ordnung mit dir?«, fragte Jack.

»Das Baby«, keuchte sie. »Ich glaube, es will auch mitkämpfen. Ob Junge oder Mädchen: Auf jeden Fall hat es einen kräftigen Tritt.«

»Genau wie seine Mutter«, meinte Jack schmunzelnd.

Einige Meter entfernt verlor Rotkäppchen allmählich die Geduld mit Froggy.

»Und was verwenden wir als Herzstück der Tischdekoration?«, wollte sie wissen. »Kerzen oder Blumen?«

Sie erhielt keine Antwort. Froggy hüpfte immer noch verzweifelt durch die Schankstube, um Tarantulene zu entfliehen. Er japste und wurde immer langsamer. Jeder Netzschuss, den die Hexe auf ihn abfeuerte, verpasste ihn knapper als der vorige.

»Charlie, wieso kommt es mir vor, als wäre ich die Einzige, der diese Hochzeit am Herzen liegt?«, fragte sie. »Wenigstens eine Antwort könntest du mir geben.«

Sie warf einen Blick über die Schulter und bemerkte, dass Froggy – hoffnungslos verknäuelt in Tarantulenes klebrigem Netz – an der Wand hing. Die Spinnenhexe stakste mit entblößten Fangzähnen auf ihn zu. Froggys Gesichtsfarbe verblasste zu einem kränklichen Hellgrün.

»Ich schmecke ganz scheußlich!«, rief er.

»Netter Versuch, aber Frosch ist meine Leibspeise!«, knurrte Tarantulene.

Gerade als sie ihre Fänge in ihn schlagen wollte, zog Rotkäppchen ihr einen Stuhl über den Kopf. Die Hexe ging zu Boden und rührte sich nicht mehr.

»Gut gemacht, Liebling!«, jubelte Froggy.

Rotkäppchen schleifte den Stuhl dicht an ihn heran und nahm darauf Platz. »Charlie, da du mir nun einmal für den Moment nicht entkommen kannst, denke ich, jetzt wäre ein guter Zeitpunkt, um unsere Gästeliste durchzusprechen.«

Froggy seufzte. Diesmal blieb ihm tatsächlich keine Ausflucht.

Unterdessen turnte der Maskenmann durch die Öffnung des Schornsteins und trat auf das Dach hinaus. Er rannte an der Traufe entlang, auf der Suche nach einer Möglichkeit hinunterzugelangen. Alex war direkt hinter ihm, doch bei ihrem Versuch, sich ebenfalls durch den Schlot zu quetschen, blieb sie mit den Armen stecken, so dass sie nicht mehr an ihren Zauberstab heranreichte.

Der Maskenmann ließ sich auf Hände und Knie nieder und machte Anstalten abwärtszuklettern.

»DIESMAL ENTKOMMST DU NICHT!«, brüllte Alex. Wie schon zuvor begannen ihre Augen zu glühen, und ihr Haar tanzte wild um ihren Kopf. Mit einem Mal lief ein Beben durch die gesamte Schänke. Die Hütte schwankte vor und zurück, löste sich dann gänzlich aus der Furt und stieg in die Höhe wie ein gigantischer Heißluftballon.

»Alex! Ich hoffe, du hattest genau das beabsichtigt!«, schrie Conner durch den Schornsteinschacht und kraxelte seiner Schwester eilig hinterher.

Höher und höher schwebte das Wirtshaus, flog bald über die Baumkronen der Zwergenwälder dahin und hinauf in die Wolken. Der Schornstein um Alex bröckelte Ziegel um Ziegel weg, bis sie schließlich frei war. Nun gab es für den Maskenmann wirklich keinen Fluchtweg mehr. Endlich bot sich Alex die Chance, ihm jene Frage zu stellen, die sie seit Monaten umtrieb.

»Sag mir einfach, warum!«, flehte sie. »Warum hast du uns angelogen? Wieso hast du getan, als wärst du tot?«

»Was wäre das Leben doch langweilig, wenn wir alle Antworten hätten«, gab der Maskenmann zurück und äugte zum Erdboden hinab, der mittlerweile kaum noch zu erahnen war.

»Wie konntest du das deiner eigenen Familie antun?«, fragte Alex völlig aufgelöst. »Wir haben dich geliebt!«

Der Maskenmann lachte. »Du lernst es jetzt auf die harte Tour, genauso schmerzhaft, wie ich es einst gelernt habe«, sagte er. »So einen Unsinn wie Liebe gibt es nicht. Familien sind bloß Fremde, durch deren Adern das gleiche Blut fließt. Sie behaupten, dich bedingungslos zu lieben, doch am Ende sind sie es, die den übelsten Verrat an dir begehen. Diese Lektion hat meine Mutter mich gelehrt, und nun gebe ich sie an dich weiter.«

Alex schüttelte den Kopf. »Du bist krank«, sagte sie. »Ich habe keine Ahnung, wie es dazu gekommen ist, aber Conner und ich können dir helfen!« Sie streckte ihm die offene Hand entgegen, doch der Maskenmann starrte nur finster darauf hinunter.

Conner krabbelte durch den kaputten Kamin und trat umsichtig neben seine Schwester.

»Alex, willst du uns auf den Mond bringen?«, fragte er.

Inzwischen befanden sie sich Hunderte von Metern über dem Erdboden, höher als die höchsten Wolken. Alex war überhaupt nicht aufgefallen, wie weit die Schänke emporgestiegen war, doch es scherte sie auch nicht.

»Sieh es doch ein, du hast keine Wahl«, wandte sie sich erneut an den Maskenmann. »Es gibt nur einen Weg nach unten, und du kommst mit uns!«

Der Maskenmann langte in seine Jackentasche und zog ein kleines Büchlein mit goldenem Einband hervor, dazu ein blaues Trankfläschchen. Alex erkannte die winzige Phiole sofort: Es handelte sich um jenen Zaubertrank, den er aus dem Feenpalast gestohlen hatte.

»Da täuschst du dich«, erwiderte der Maskenmann sanft. »Eine Wahl hat man immer.«

Der Maskenmann rollte sich vom Dach und stürzte in die Tiefe. Die Zwillinge schrien auf und hechteten an die Kante, um nach unten zu spähen; sie erhaschten einen letzten Blick auf ihn, ehe er durch die Wolken brach und aus ihrem Sichtfeld verschwand.

»Ich fasse es nicht!«, keuchte Conner. »Er hat sich umgebracht!«

Alex schüttelte ungläubig den Kopf. »Nein!«, sagte sie. »So sollte es nicht enden! Wir wollten ihm helfen!«

Eintausend unterschiedliche Empfindungen wirbelten durch ihren Körper wie ein Gefühlstornado. Sie war derart überwältigt, dass es ihr kaum gelang, sich auf auch nur irgendetwas zu konzentrieren. Ihr Haar fiel nach unten, und ihre Augen nahmen ihre gewöhnliche Färbung an.

Ruckartig sackte das Wirtshaus gen Boden. Die Geschwister sowie alle im Innern kreischten wie am Spieß; Conner klammerte sich mit einer Hand an die Reste des Schornsteins und hielt mit der anderen seine Schwester fest, damit sie nicht vom Dach gerissen wurden.

Im Trudeln lösten sich Teile der Schänke: Eine große Partie des Dachs flog davon, so dass Alex und Conner ihre Freunde im Gastraum erkannten, die sich ebenfalls panisch an irgendetwas krallten.

»Ich würde gern in einem Stück heiraten, bitte!«, brüllte Rotkäppchen.

»Alex! Tu was!«, schrie Conner sie an.

Alex hatte Schwierigkeiten, beim Fallen ihren Stab richtig zu fassen zu bekommen. Sowie es ihr gelungen war, hob sie ihn über den Kopf und ließ ihn kurz vor dem Aufprall niedersausen wie eine Peitsche. Als hinge die Taverne mit einem Mal an einem unsichtbaren Bungee-Seil, schnalzte sie wieder nach oben und krachte dann am Ufer des Baches auf die Erde – wo sie in einen Haufen Stöcke zerbarst.

»Sind alle am Leben?«, fragte Conner, während er und Alex sich Staub und Aststücke von den Kleidern bürsteten.

Ihre Freunde, die Soldaten und sämtliche Hexen stöhnten – allesamt waren sie vom Schutt des ehemaligen Wirtshauses übersät. Goldlöckchen setzte sich auf und übergab sich im nächsten Moment erneut.

»War dafür nun das Baby oder der Sturz verantwortlich?«, fragte Jack.

»Da bin ich mir nicht sicher«, meinte Goldlöckchen.

Gargoylia, die noch immer mit einigen um ihre Glieder geschlungenen Ranken kämpfte, raste vor Wut. »Ihr habt unsere Schänke zerstört!«, brüllte sie. »Dafür werdet ihr bezahlen!«

»Schreiben Sie uns eine Rechnung«, meinte Conner und half seiner Schwester und seinen Gefährten auf die Füße.

»Was ist aus dem Maskenmann geworden?«, erkundigte sich Froggy.

Conner schielte zu Alex hinüber, doch sie brachte es nicht über sich, die Worte auszusprechen. Ihre Freunde hatten Monate ihres Lebens dafür geopfert, sie bei der Suche nach ihm zu unterstützen, bloß um am Ende mit leeren Händen dazustehen. Diese Schuld war ihr unerträglich, und Alex’ Leben schien ihr in diesem Augenblick ebenso hoffnungslos in Trümmern zu liegen wie das Gasthaus.

»Er ist weg«, erklärte Conner den anderen. »Ins Nichts verschwunden.«

 

Weniger als eine Stunde später hatten sich Sir Lampton und eine kleine Truppe Soldaten aus dem Königreich des Gläsernen Schuhs zu den Gefährten an die zerstörte Taverne gesellt. Sie waren in den nahen Wäldern stationiert gewesen, für den Fall, dass die Zwillinge Verstärkung nötig hätten. Nun nahmen sie die verbliebenen Männer der Grande Armée und auch die Hexen fest und legten allesamt in Fesseln.

Alex saß derweil auf einem Felsblock am Ufer des Baches und versuchte, nach den Ereignissen der Nacht einen klaren Kopf zurückzugewinnen. Conner ging zu ihr hinüber und legte ihr eine Hand auf die Schulter.

»Etwas Positives hat uns diese Aktion immerhin beschert: Wir haben jetzt die Gewissheit, dass keine dieser Hexen hinter den Kindesentführungen steckt«, tröstete er sie.

Obwohl Alex es niemals zugegeben hätte, waren die verschollenen Kinder vorübergehend das Letzte, woran sie dachte.

»Ich hätte nie erwartet, dass er sich lieber selbst umbringen würde, als uns gegenüberzutreten«, murmelte sie. »Wenn ich geahnt hätte, dass er springt, hätte ich die Schänke um nichts in der Welt aufsteigen lassen!«

»Aber … hast tatsächlich du sie aufsteigen lassen – oder ist das einfach so passiert?«, vergewisserte sich Conner. »In letzter Zeit sind nämlich eine Menge Dinge schlicht passiert.«

Alex verdrehte die Augen, stand auf und kehrte ihrem Bruder den Rücken zu, doch als sie davoneilen wollte, folgte er ihr.

»Seit du den Maskenmann dazu bewegt hast, sein Gesicht zu entblößen, bereitet es dir Probleme, deine Kräfte zu kontrollieren«, sagte er. »Ich meine ja bloß, dass du da aufpassen solltest –«

»Wieso nennst du ihn immer noch den Maskenmann?«, schrie Alex ihren Bruder an. »Er ist unser Vater, Conner! Ich weiß doch, was ich gesehen habe! Warum glaubst du mir nicht?«

»Ich hätte nicht die letzten fünf Monate damit zugebracht, gemeinsam mit dir nach ihm zu suchen, wenn ich nicht überzeugt wäre, dass du … etwas … gesehen hast«, erwiderte er. »Ich bin bloß nicht bereit, unumstößlich zu akzeptieren, dass er unser Vater ist, bis ich mich mit eigenen Augen davon überzeugt habe.«

Alex seufzte. »Tja, jetzt ist er tot, somit braucht keiner von uns sich je wieder Gedanken um ihn zu machen«, sagte sie. »Ich wünschte nur, ich wäre rechtzeitig zur Stelle gewesen, um ihm zu helfen – ihn zurückzuverwandeln in jenen Mann, den wir gekannt haben.«

Conner nickte. »Dafür kannst du nun all deine Kraft darauf verwenden, dich selbst wieder in Ordnung zu bringen.«

Er war nicht annähernd so aufgewühlt wie seine Schwester, denn er hatte in Wirklichkeit nie geglaubt, dass es sich bei dem Maskenmann tatsächlich um ihren Vater handelte. Ganz gleich, wie oft Alex ihm die Szene schilderte: Conner war klar, dass ihr Dad der Märchenwelt nie in seinem Leben das hätte antun können, was der Maskenmann verbrochen hatte. Das wiederum seiner Schwester zu gestehen, wagte er jedoch auch nicht.

»Was sollen wir mit der Grande Armée und den Hexen anstellen?«, rief Sir Lampton zu den Zwillingen hinüber.

»Bringt die Franzosen ins Pinocchio-Kittchen«, wies Alex ihn an, »aber lasst die Hexen laufen – ich möchte ohne jeden Zweifel deutlich machen, dass ich nichts gegen sie habe.«

»Jawohl, gute Fee«, salutierte Sir Lampton.

Ein Soldat aus dem Königreich des Gläsernen Schuhs brach aus den nahen Bäumen und rannte an Sir Lamptons Seite.