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Die alte Betty, eine Laternenanzünderin, wird tot aufgefunden. Zuerst sieht alles nach einem Unfall aus, doch in Theo regen sich Zweifel. Die Nachforschungen bringen ihn und seine Partnerin Valerie auf die Spur einer neuen magischen Droge und mitten in den Kampf um Gelîvrons Unterwelt.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
I.
Irgendetwas stimmte nicht. Diese Gewissheit regte sich inmitten des Schlafes und ließ sie aufschrecken. Sie saß senkrecht im Bett und lauschte. Die zugezogenen Vorhänge schlossen die Sonnenstrahlen aus und tauchten ihr Schlafzimmer in ein schummriges Licht. Wachsam wanderte ihr Blick über den Kleiderschrank, den zugeklappten Paravent, die Frisierkommode, den Sessel in der Ecke und den Tresor zu ihrer Rechten. Alles wirkte unberührt. In der Ferne knarzte eine Treppenstufe. Cecilia schoss aus den weichen Laken, ihr Nachthemd mit den vielen Rüschen flatterte, während sie barfuß aus dem Zimmer stolperte. Sie hörte Schritte – dem Klang und dem Rhythmus entnehmend, war es ein Mann. Und er flüchtete. Im Erdgeschoss fiel eine Tür ins Schloss. Cecila rannte; auf den Stufen verlor sie fast das Gleichgewicht, doch sie bekam das Geländer zu packen und schaffte die letzten Meter, ohne der Schwerkraft zu erliegen. Unten angekommen flog ihr Blick über die Türen, die vom Flur ausgingen, und wählte jene, die ihrer Meinung nach zugeschlagen worden war. Sie stürzte in einen kleinen Salon, in dem vier Sessel, ein Kamin und eine gut bestückte Bar zu geselligen Momenten einluden. Eines der Fenster stand sperrangelweit offen. Cecilia lehnte sich nach draußen und blinzelte. Ihre grauen, zum Zopf geflochtenen Haare rutschten nach vorne und baumelten neben ihrem grimmigen Gesicht. Die Sonne hatte bereits den Zenit des Mittags erreicht. Vor dem Bordell erstreckte sich eine weitläufige Terrasse, die von einer mit Efeu überwucherten Mauer umgeben wurde. Das Eisentor, das hinunter zum Tausendsassa-Platz führte, schien wie gewohnt verschlossen zu sein. Niemand war zu sehen. Sie lauschte, doch bis auf die Geräuschkulisse eines geschäftigen Tages drang nichts an Cecilias Ohren. Wahrscheinlich hatte der Eindringling eine der Bänke auf der rechten Seite genutzt, um von dort über die Mauer zu klettern und in dem Schutz der Seitenstraße zu verschwinden. So wäre sie vorgegangen – theoretisch. Denn unter ihren Gefolgsleuten befanden sich genug Spezialisten, die jene Art der körperlichen Ertüchtigung für sie übernehmen konnten. Cecilia schnaubte und schloss das Fenster. Mit festem Schritt verließ sie den Salon, kehrte in den ersten Stock zurück und stieß die Tür direkt gegenüber der Treppe auf. »Tinka, wach auf.« Aus der Dunkelheit ertönte ein Brummen. Cecilia riss die Vorhänge auf und das Licht fiel ins Zimmer. An der Wand stand ein breites Bett aus dunklem Holz und Schnitzereien am Kopfende. Halb in eine bestickte Decke gewickelt lag eine hagere, nackte Frau. Ihre aschblonden Haare reichten ihr bis zum Kinn und waren an einer Seite wegrasiert. Verstimmt verzog sie ihr Gesicht, zwei lange Narben zeichneten ihre linke Wange. »Muss das sein?«, fragte sie mit zugekniffenen Augen. »Wir hatten einen Eindringling.« Tinka setzte sich ruckartig auf. »Was? Ein Dieb?« »Möglich.« Cecilia musterte den Mann, der neben ihrer Tochter unter der zweiten Decke lag und so fest schlief, dass ihn ihre Unterhaltung nicht geweckt hatte. »Hast du heute Morgen die Türen abgeschlossen und die Fenster kontrolliert?« »Natürlich, sobald alle Gäste gegangen waren.« Tinka warf sich ein Hemd über und stieg in die Hose, nachdem sie beides vom Boden aufgesammelt hatte. »Ist dir etwas Ungewöhnliches aufgefallen?«, fragte Cecilia. »Nein.« »Warst du in jedem Raum?« »Ich habe die übliche Runde gedreht.« Im Bordell gab es allerdings genug Verstecke und Möglichkeiten, sich Tinkas Blicken zu entziehen. »Frag die Gesellschafter und Gesellschafterinnen, ob sie den Eindringling gesehen haben, und prüfe, ob etwas gestohlen wurde.« Cecilia verließ den Raum. Aus den Augenwinkeln sah sie noch, wie Tinka ihrem nächtlichen Begleiter die Decke wegzog, um ihn zu wecken. Sie hatte sich also wieder einen neuen Geliebten angelacht. Doch es lohnte sich nicht, nach seinem Namen zu fragen. Ihre Tochter langweilte sich schnell und ihr Bett würde bald schon von jemand anderem gewärmt werden. Cecilia ging in ihr Schlafzimmer und zog sich das Nachthemd über den Kopf; darunter trug sie seidene Wäsche, die ihre üppigen Rundungen umhüllte. Wer war so risikofreudig, unerlaubt in die privaten Räumlichkeiten der Spinne vorzudringen? Ob es sich bei dem Einbruch um eine Mutprobe gehandelt hatte? Tinka würde es herausfinden, wie immer. Sie glich einer Bluthündin, die erst Ruhe gab, wenn sie die Zähne in ihre Beute grub. Ein Lächeln huschte über Cecilias schmale Lippen. Ihre Tochter machte sie stolz. Sie liebte ihren kalkulierten Irrsinn. Plötzlich und ohne Vorwarnung rastete Tinka aus. Aber dabei verlor sie nie die Kontrolle, nie ging sie zu weit. Und wenn sie erreicht hatte, was sie wollte, kehrte ihre kühle, lauernde Art zurück. Wie eine Tür, die sie nach Belieben auf und zustoßen konnte. Cecilia schlüpfte in ein dunkelgrünes Kleid mit schwarzer Spitze, öffnete die Vorhänge und nahm auf dem Samtschemel vor der Frisierkommode Platz. Nachdem sie ihre Augen mit einem Kajalstift umrandet hatte, griff sie zur Haarbürste und stockte. Neben ihr lag eine kreisrunde Holzscheibe mit einem Durchmesser von ungefähr drei Zentimetern. In ihre glatte Oberfläche war eine Burg eingraviert. Sie gehörte zu einem Strategiespiel namens ›Byfang‹, mit dem die Intellektuellen der Stadt gern ihre Gehirnwindungen trainierten. Cecilia nahm den Spielstein in die Hand; mit ihm wurde das Spiel eröffnet.
II.
Ihr Leben gehörte der Straße. Inspektor Theodem Brigâ hielt die Öllampe empor und betrachtete in ihrem Schein das runzelige, wettergegerbte Gesicht der alten Betty. Jahrzehnte hatte sie in der Stille der Nacht auf ihren festen Routen dafür gesorgt, dass die Laternen brannten. Der Sternenhimmel, Einsamkeit und Kälte waren dabei ihre Gefährten gewesen. Sie hatten Betty geformt und ihr ein herbes, aber freundliches Wesen verliehen. Theo ging in die Hocke und streichelte ihre Wange. Die trüben, grauen Augen wirkten fremd ohne den schelmischen Glanz. »Jeder von uns hat nur ein gewisses Maß an Öl und dann geht das Licht aus«, flüsterte er und pustete. »Hab eine gute Reise.« Theo lernte Betty während seiner Nachtschichten als junger Streifenpolizist kennen und freundete sich schnell mit ihr an. Besonders in kalten Nächten, in denen sie unter einer Laterne stehend den Inhalt seines Flachmanns teilten, waren es ihre Gespräche, die ihm den Dienst erleichterten. Generell zählten ihre täglichen Begegnungen zu den schönsten Erinnerungen an diese Zeit. Und auch wenn er Betty seit seiner Beförderung zum Inspektor nur noch sporadisch getroffen hatte, würde sein Leben ohne sie ärmer sein. Theo wischte sich die Augen trocken und atmete tief durch. Er musste der Aufgabe gerecht werden, wegen der er hierher gekommen war: Er würde Bettys Tod untersuchen. Also stellte er die Öllampe ab und begutachtete ihre schwieligen Hände. An der Seite entdeckte er Schürfwunden. Sie hatte noch versucht, den Sturz abzumildern, ohne Erfolg. Vorsichtig hob er ihren Kopf an. An den grauen Haaren, der Wunde und den Pflastersteinen klebte nur wenig Blut. Der Tod hatte sie schnell ereilt. Theo nahm die Öllampe und stand auf. »Könnt ihr Betty zu Andren bringen?«, fragte er die zwei Streifenpolizisten, die sich in ihren dunkelblauen Uniformen und den silbernen Helmen respektvoll in einiger Entfernung positioniert hatten. »Was sollen wir ihm sagen?« Theos Blick wanderte zu der Trittleiter, die unter der Laterne stand, und zu dem Anzünder, der unweit ihrer Hand auf dem Pflaster lag. Die Leiche wurde nicht bewegt. Weder ihre Kleidung noch das Umfeld wiesen Kampfspuren auf. Die Kopfwunde zeugte von einem schnellen und harten Aufschlag auf den Boden. Sie war unglücklich gefallen. »Vermutlich ein Unfall, trotzdem soll er sie gründlich untersuchen, damit wir eine Fremdeinwirkung ganz sicher ausschließen können.« »Also braucht er nicht hier vorbeikommen?« »Nein, aber sperrt den Unfallort ab, falls die Autopsie doch etwas ergeben sollte.« Die Streifenpolizisten hievten den Leichnam auf eine Trage. »Nehmt auch das mit.« Theo hob den Anzünder auf, legte ihn Betty auf die Brust und sah ihr nach, wie sie in die Dunkelheit getragen wurde. Ihr Leben gehörte der Straße und dort war sie gestorben, so wie sie es sich gewünscht hatte. In die Schwärze des nächtlichen Himmels mischten sich die ersten bunten Farben des Morgens. Bald würde Gelîvron erwachen. Ein neuer Tag – ohne die alte Betty.
Der Duft nach Kräutern und Salben aus der Praxis war selbst in den Wohnräumen darüber zu riechen. Auf Wollsocken schlich Theo vorsichtig durch den Flur, umging die knarzenden Dielen und huschte ins Schlafzimmer. Das Licht des Morgengrauens drang durch die Vorhänge. Neben dem Bett auf dem Nachttisch stand eine mit Stoffresten ausgepolsterte Holzschachtel, in der Magnis schlief. Der Salamander hob kurz den Kopf, registrierte Theos Rückkehr und rollte sich wieder ein. Seine goldene Amphibienhaut leuchtete matt. So leise wie möglich, zog sich Theo bis auf das Unterhemd und die lange Unterhose aus, legte seine Kleidung auf dem Stuhl in der Ecke ab und schlüpfte zu Sibilla unter die warme Decke. »Du bist ganz kalt«, murmelte sie noch mit geschlossenen Augen. »Warst du draußen?« »Ja, ich wurde von zwei Streifern abgeholt.« »Ich habe gar nicht mitbekommen, dass jemand an der Tür geklopft hat.« Sonst wäre Sibilla sofort aufgestanden, in der Erwartung, dass einer ihrer Schützlinge Hilfe brauchte. In ihrer Position als Haushexe konnte das gelegentlich vorkommen. »Ich habe jedem im Polizeirevier eingeschärft, dass sie kleine Steinchen an das Fenster werfen, wenn ich hier schlafe und sie mit mir sprechen wollen.« »Sehr rücksichtsvoll.« Sie sah Theo an und streichelte zärtlich über seine Wange und den braunen, wohl gepflegten Bart. »Aber ich dachte, du hättest heute Nacht frei.« »Hatte ich auch, bis die alte Betty tot aufgefunden wurde.« »Was?« Sibilla setzte sich auf. »Der diensthabende Inspektor war geistesgegenwärtig genug, mich zu informieren. Er hat mir die Untersuchung überlassen.« »Was ist passiert?« »Sie scheint unglücklich gestürzt zu sein und war sofort tot.« »Das tut mir leid.« Sibilla schloss ihn in die Arme; er schmiegte sich an sie. Der Duft ihrer wilden Haarmähne und die Wärme ihres Körpers schenkten ihm Trost. Bei ihr schien die Welt immer ein wenig leichter zu sein. Selbst in den dunkelsten Stunden glomm in ihr ein Licht der Zuversicht. Und die brauchte er jetzt. Bald würde er ins Büro gehen und auf seinem Schreibtisch die Akte mit Bettys Daten vorfinden, darunter die Adresse ihrer Angehörigen. Auf sie wartete eine traurige Nachricht und er war der Überbringer.
Theo wollte mit seinen Gedanken allein sein. Daher wählte er auf der Route zum Polizeihauptquartier die Schleichwege. Er passierte Gassen und Seitenstraßen, in denen Mülltonnen aufgereiht standen und Wäscheleinen über seinem Kopf hingen. Nur ein paar Meter von ihm entfernt schwollen mit dem fortschreitenden Morgen die Geräusche des Alltags an. Stimmen und das Gerumpel der Ochsenkarren drangen an Theos Ohren. Auf den Hauptadern von Gelîvron ging das Leben immer weiter; dort zwischen all den Menschen, die ihren Beschäftigungen nachgingen, fiel es nicht auf, wenn jemand fehlte. Die Lücken schlossen sich, ohne dass der Strom stockte. Das war der Lauf der Dinge. Doch Theo wollte heute Morgen nicht daran teilhaben. Für ihn war Gelîvron um ein wichtiges Gesicht ärmer geworden und er brauchte etwas Abstand von dem pulsierenden Stadtleben. Der Weg vor ihm ging in die Verleihnichstraße über, die direkt hinter dem Polizeihauptquartier entlanglief. Theo blieb im Schatten der Hauswände stehen und betrachtete das stolze, rosafarbene Gebäude, das im Licht der frühen Sonnenstrahlen stand. Bevor sein heutiger Arbeitstag begann, brauchte er noch einen Moment. Er griff in seine Manteltasche, zog einen Stoffbeutel mit Haselnüssen heraus und steckte sich einige davon in den Mund. Sibillas Essgewohnheiten unterschieden sich erheblich von seinen. In ihrem arbeitsreichen Alltag fand sie morgens und abends nur Zeit für Haferbrei, Nüsse oder Obst. Zum Mittag aß sie auf dem Markt an einem der Stände eine warme Mahlzeit, meistens einen Eintopf. Ihre Devise lautete: Hauptsache satt. Wenn Theo bei ihr übernachtete, passte er sich an die schlichte Küche an. Dabei gehörte er zu den genussvollen Essern, wie die Pölsterchen an seinem Bauch vermuten ließen. Hieronÿmus, bei dem er ein Zimmer gemietet hatte, sorgte seit fast sechs Jahren dafür, dass er niemals ohne eine nahrhafte – und meist fettreiche – Mahlzeit aus dem Haus ging. Daran hatte er sich gewöhnt. Also schnürte sich Theo bei passender Gelegenheit die Schürze um und lauschte Hieronÿmus’ Anweisungen, wenn dieser ihn in die Geheimnisse des Kochens einweihte. Sein Plan sah eine schleichende Übernahme von Sibillas Küche vor, früher oder später würde er sie schon auf den Geschmack bringen. »Theo?« Er zuckte zusammen und ließ fast den Beutel mit den Haselnüssen fallen. Als er sich umdrehte, blickte er auf seine Partnerin Valerie. In Gedanken versunken hatte er ihr leichtfüßiges Näherkommen nicht bemerkt. Ihre grünen Haare fielen ihr offen über die Schultern. Um ihren Hals hing an einem Lederband ein hölzerner Talisman mit der Abbildung eines Baumes, dessen Äste und Wuzeln sich an der Seite berührten und die Verzweigungen von Vergangenheit und Gegenwart darstellten. Valerie trug es in diesem Monat, um ihrer Ahnen zu gedenken, so wie es bei den Dryaden Tradition war. »Was lungerst du denn in der Seitengasse herum?«, fragte sie. »Ich dachte schon, jemand späht das Polizeihauptquartier aus.« Natürlich dachte sie das. Theo sah in Valeries ebenes Gesicht, das die würdevollen Züge einer Marmorstatue aufwies. Sie betrachtete die Welt immer als Inspektorin. Mit wachsamen Augen suchte sie in dem Verhalten der Menschen um sich herum nach Anzeichen einer bösen Absicht. Egal wem sie begegnete, zuerst wurde seine potenzielle Bedrohung eingestuft. Verständlich, wenn man bedachte, dass dieses Vorgehen in der überwiegenden Zeit ihres Lebens existenziell war. Sie wuchs in der Stadt Huldawec auf, aus der sie vor knapp einem Jahr fliehen musste und in der ein anderes gesellschaftliches Klima herrschte als in Gelîvron. Dort gehörte das Gesetz jenen, die die Macht innehatten. Sie legten es aus und veränderten es nach ihrem Gutdünken. Für die restliche Bevölkerung gab es kein Recht, das eingefordert werden konnte. Wer überleben wollte, musste auf der Hut sein. Insbesondere Außenseiter, die wie Valerie einer anderen humanoiden Spezies angehörten als der gewöhnliche Mensch und über magische Fähigkeiten verfügten. Als Dryade und Feuermagierin zählten Schikanen zu ihrem Alltag sowie die Gefahr an Leib und Leben. »Ich brauchte nur einen Augenblick, bevor der Arbeitstag anfängt«, erklärte Theo. Valerie runzelte die Stirn. »Im Moment ist es doch ziemlich ruhig.« Ihrem Tonfall zufolge löste dieser Umstand eher gemischte Gefühle in ihr aus. Natürlich war eine niedrige Kriminalitätsrate wünschenswert, aber dann hatte sie wenig zu tun, wurde rastlos und sah sich nach Arbeit um. So wie heute auf dem Weg von ihrer Wohnung die Straße runter bis zum Polizeihauptquartier. Es musste eine Enttäuschung für sie gewesen sein, anstatt eines potentiellen Verbrechers nur Theo in der Seitengasse angetroffen zu haben. »Eine Freundin von mir ist diese Nacht tödlich verunglückt«, berichtete Theo. »Ich gehe gleich zu ihren Angehörigen.« »Oh.« Valerie blickte ihn bestürzt an, hob die Hand und klopfte ihm unbeholfen auf die Schulter. »Kann ich dir irgendwie helfen?« »Ich würde gern in Ruhe mit ihrer Familie sprechen. Könntest du allein zu unserem Termin bei Gericht gehen?« Ihr aktueller Fall betraf einen Illusionisten, der mithilfe seiner Magie Schmuck verkauft hatte, der nicht existierte, außer in den Köpfen seiner Opfer. Die Verhandlung stand in zwei Tagen an und der Ankläger hatte noch Rückfragen zu ihrer Fallakte. »Das ist kein Problem.«
Theo blickte auf das eiserne Tor, das in den Innenhof eines Komplexes aus zwei Häusern führte. An die sandfarbene Mauer waren mit dunkler Farbe die Nummern 56 und 57 aufgepinselt worden. Theo zog einen Zettel aus seiner Manteltasche, auf dem er im Büro schnell die Adresse notiert hatte, und warf einen Blick darauf. Ja, hier wohnten Bettys Enkelinnen und deren Männer und Kinder. Mit einem tiefen Atemzug setzte sich Theo in Bewegung und passierte das Tor. Am Rand des Innenhofes verliefen schmale Blumenbeete, in denen Ringelblumen, Astern und Herbstanemonen ihre späten Blüten präsentierten. Theo wählte eine der beiden Haustüren aus und betätigte den Klopfer. Ein Kind öffnete die Tür. »Hallo.« Theo ging in die Hocke und zog an seiner Halskette, sodass eine Dienstmarke unter dem Hemd zum Vorschein kam. »Ich bin Inspektor Theodem Brigâ.« Mit großen Augen betrachtete das Kind das kleine, längliche Schild mit dem komplizierten Muster am Rand. Oben stand Theos Name eingraviert, in der Mitte rechts prangte das Polizeiwappen mit dem Schwarzbären und links das Wappen von Gelîvron, auf dem eine brennende Fackel und eine Mistgabel zu sehen waren. »Bist du Uromas Polizist?«, fragte es. »Ich denke schon.« Theo lächelte. Sofort drehte sich das Kind um, rannte fort und rief. »Mama, da ist Besuch für Uroma an der Tür.« Eine Frau erschien im Flur. Sie hatte ihre blonden Haare zu einem Zopf geflochten und sich ein blaues Tuch um den Kopf gebunden. Die Ähnlichkeit mit Betty war unverkennbar. Sie hatten die gleichen Wangenknochen, auch die schmalen Lippen und die gerade Nase ähnelten sich stark genug, um die Verwandtschaft zu erkennen. Doch anders als ihre Oma, hatte diese Frau ein sonniges Gemüt. In ihren Augen stand nicht der Schalk, sondern Herzlichkeit. Bettys Erzählungen zufolge musste das Rhea sein, ihr jüngstes Enkelkind. »Tut mir leid«, meinte diese. »Betty kommt erst heute Nachmittag vorbei.« Der Kloß in Theos Hals wurde größer, er richtete sich wieder auf. »Ist deine Schwester in der Nähe?«, fragte er und deutete auf das andere Haus. »Ja«, erwiderte Rhea mit einem Anflug von Irritation. »Ich würde mit euch gern allein sprechen.« Rheas Blick blieb an der Dienstmarke hängen, die auf seinem Hemd lag, und ein Schatten fiel über ihr Gesicht. Sie schluckte, nickte und eilte an ihm vorbei ins Freie. Zehn Minuten später saß Theo mit den zwei Schwestern in der Küche am Tisch. Bettys andere Enkelin, Emely, war gröber gebaut, hatte braune Locken, die ihr bis zu den Ohren reichten und dunkle Augen, in denen Tränen funkelten. »Ich versteh das nicht«, murmelte sie. »Gestürzt?« »Danach sieht es aus. Hatte sie in der letzten Zeit irgendwelche gesundheitlichen Probleme? Schwindelanfälle oder Ähnliches?« Emely schüttelte den Kopf. »Sie war robust wie immer.« »Vielleicht hat sie ein wenig mehr getrunken«, fügte Rhea zögerlich hinzu. »Aber nicht übermäßig.« »Nein, trotzdem ist es mir aufgefallen.« Emely drehte sich harsch zu ihrer Schwester. »Aus dem Grund weigerte sie sich auch, zu uns zu ziehen. Wegen deiner spitzen Bemerkungen.« Wieder an Theo gerichtet, fügte sie hinzu: »Sie trank gern, doch sie wusste, wann es reichte. Ich habe sie mein Lebtag nicht torkeln gesehen.« Rhea kniff die Lippen zusammen, anscheinend war sie anderer Meinung, wollte aber keinen Streit mit ihrer großen Schwester riskieren. Einen Moment herrschte Stille. Emely stand auf, ging zum Herd, der eine angenehme Wärme verbreitete, und setzte Teewasser auf. Sie trug eine Latzhose aus dickem, braunem Stoff, an der Sägespäne hafteten. In der hauseigenen Werkstatt drechselte sie kunstvolle Tischbeine, Pfostenköpfe und andere Zierteile, die Rhea an Händler und auf Märkten verkaufte. »Wo ist sie jetzt?«, fragte Emely, während sie auf den Kessel starrte. »Im Polizeihauptquartier. Unser forensischer Zauberer untersucht sie und gibt sie dann zur Beerdigung frei. Sobald das geschehen ist, werden euch ihre Sachen und der offizielle Schein für den Haushexer ausgehändigt.« Rhea nickte und sah ihre Schwester an. »Wir sollten möglichst schnell unsere Verwandten im Ausland anschreiben. Sonst schaffen sie es nicht, bis zur Beerdigung anzureisen.« »Ja.« Emely lehnte sich an die Wand und stieß gedankenverloren mit der Spitze ihres Stiefels auf den Holzboden. »Weißt du, ob Oma ihren letzten Willen aufgeschrieben hat?« »Keine Ahnung.« Emely verschränkte die Arme, angespannt drückte sie die Schultern nach hinten. Offensichtlich behagte ihr diese Unterhaltung nicht. »Ich glaube, sie wollte eine Wasserbestattung«, murmelte Rhea mit abwesendem Blick. Diese Überlegung war nicht an Emely gerichtet, doch sie bewirkte, dass sich Ärger in deren Miene mischte. »Oma ist tot, gib mir einen Moment Zeit, um das zu begreifen.« »Was soviel heißt, du ziehst dich zurück und überlässt mir die Vorbereitung.« Es schien nicht die erste Beerdigung zu sein, für die sie beide die Verantwortung trugen. »Nicht jeder kann seine Trauer einfach zur Seite schieben.« »Darum geht es doch gar nicht. Es geht um Oma und ihren letzten Weg und der sollte im Mittelpunkt stehen, nicht unsere Gemütslage.« »Wunderbar.« Emely warf die Hände in die Höhe. »Was für ein Segen, dass sich Oma auf dich verlassen kann. Ich bin in der Werkstatt.« Damit verließ sie die Küche. Rhea seufzte und schenkte Theo ein verlegenes Lächeln. »Solche Situationen behagen ihr nicht besonders.« »Betty ist bis zur Beerdigung gut bei uns aufgehoben«, erwiderte Theo. »Lasst euch die Zeit, die ihr braucht.« »Danke.« Der Wasserkessel pfiff. Rhea stand auf und schob ihn von der Platte. »Oma hat viel von dir gesprochen«, bemerkte sie. »In den Gruselgeschichten, die sie unseren Kindern erzählt hat, spieltest du immer den unerschrockenen Ermittler.« »Ich fühle mich geehrt.« Rhea hing ein kleines Sieb in eine Tasse, füllte es mit getrockneten Blättern aus einer Blechdose und übergoss sie mit heißem Wasser. »Kann ich dir auch einen Tee anbieten?« »Ein anderes Mal gern, aber ich muss zum Revier zurück.« Theo erhob sich von seinem Stuhl. »Dürfen wir dich bei der Beerdigung erwarten?«, fragte Rhea, während sie ihn mit der Teetasse in der Hand zur Tür begleitete. »Natürlich.« Sie verabschiedeten sich. Rhea ging zu ihrer Schwester in die Werkstatt und Theo kehrte zum Polizeihauptquartier zurück.
Nach all den Geschichten, die Betty über ihre Enkelinnen erzählt hatte, war es schön, nun die Gesichter hinter den Namen zu kennen, auch wenn ihn ein trauriger Anlass zu ihnen geführt hatte. Theo ging die Treppe runter in den Keller des Polizeihauptquartiers, wo er von einem Geruch empfangen wurde, der an Schwefel und ranziges Fett erinnerte. In dem dunklen Bruchsteingewölbe brannten Öllampen an den Wänden. Kälte kroch aus den Leichenkammern, die auf beiden Seiten des Ganges lagen. In ihnen wuchsen Frostpilze, die Andren liebevoll pflegte und ihm halfen, den Verfall der Verstorbenen bis zur Beisetzung zu bremsen. Theo zog seinen Mantel etwas enger und beschleunigte seine Schritte hin zu einer alten, knarzenden Eichentür. Ihm war es ein Rätsel, wie man hier tagein, tagaus arbeiten konnte. Er betrat das Labor, aus dem der unangenehme Geruch strömte. Theo sah zum Seziertisch in der Mitte des Raumes und stellte mit Erleichterung fest, dass er sauber geputzt und leer war. Generell behagte ihm die Leichenschau nicht, aber den Anblick von Bettys geöffnetem Körper hätte er nur schwer ertragen. So schritt er schon sehr viel beschwingter die kurze Treppe hinunter und musterte den Experimentiertisch. Andren hatte dort einen kleinen Ofen aufgebaut, in dem eine Flamme tanzte. Der Rauchabzug führte zu einem der darüberliegenden schmalen, schmutzigen Kellerfenster, das ein Stück offen stand. In dem Topf auf der Platte blubberte eine weiße, zähe Masse. »Dein Mittagessen?«, fragte Theo und drehte sich zu Andren, der in einer dunklen Ecke in Holzkästen herumkramte. »Weit gefehlt«, antwortete er enthusiastisch und bewies damit mal wieder, dass er kein Ohr für Sarkasmus hatte. Er trat an den Experimentiertisch heran und stellte eine braune Flasche neben dem Ofen ab. Er trug über seiner dunkelblauen Robe, die ihn als forensischen Zauberer der Polizei kennzeichnete, eine Lederschürze, auf der einige Brandflecken zu sehen waren. »Das wird ein revolutionäres Verfahren für die Herstellung von falschem Kautschuk.« In seinen grünen Augen funkelte Begeisterung. Seit kurzem ließ er sich einen Bart wachsen, bei dem sich die Haare nicht auf eine einheitliche Länge einigen konnten. »Es besteht hauptsächlich aus dem Saft des Tian-Shan-Löwenzahns, den ich mit den Fasern des wollblättrigen Pfeilkrauts mische, die eine enorme Elastizität vorweisen.« »Aha.« Mit der zweiten Pflanze hatte Theo keine guten Erfahrungen gemacht. Sie wuchs in den felsigen Regionen des Schöntaugebirges, das sich im Osten von Gelîvron erstreckte, und gehörte zu jenen Arten, die im Laufe ihrer Evolution Magieteilchen im Organismus integriert hatten. Um genauer zu sein, die der Luftmagie. Mit ihr war das Pfeilkraut in der Lage, seine dornigen Auswüchse bei der leisesten Bewegung im nahen Umfeld abzufeuern. Nach einem unbedarften Schritt hatte Theo ein ganzes Dutzend dieser garstigen Dinger im Bein stecken gehabt. »Siehst du, wie fein die Masse Fäden zieht?« Andren hatte ein Holzstäbchen in den Topf getunkt und es wieder nach oben gezogen. »Mit dem Material werde ich eine neue Art von Handschuhen für die Spurensicherung entwickeln.« »Das ist schön. Ähm. Ich habe dir gestern einen Leichnam geschickt. Betty Strât.« »Ach ja, der Unfall.« »Hast du die Autopsie schon abgeschlossen?« »Sicher, vor einer Stunde.« »Und?« »Für ihr Alter hatte sie eine solide Gesundheit, abgesehen von der etwas angegriffenen Leber. Nichts Ernstes, aber ein Anzeichen für den stetigen Konsum von Alkohol. Und von dem hatte sie eine Menge im Blut.« »Die Todesursache?« »Mit hoher Wahrscheinlichkeit die Kopfwunde. So wie es aussieht, war es ein Fehltritt im Rauschzustand. Ein typischer Lapsuslazulie.« Theo nickte. »Wo sind ihre Sachen?« Andren bückte sich und holte einen Pappkarton unter dem Experimentiertisch hervor. Mit Bleistift waren Bettys Name und ihre Aktennummer darauf vermerkt. Während Andren sich wieder dem Experiment widmete und in einem Büchlein seine Notizen festhielt, sichtete Theo Bettys Sachen: ein Mantel, ein Schal, eine Wollmütze, fingerlose Handschuhe und ein großer, brauner Umschlag in dem ihre Wertsachen steckten. Theo verteilte sie auf dem Tisch: der Schlüsselbund, ihre Geldbörse, eine bronzene Brosche, ein breiter schlichter Ring aus angelaufenem Silber und eine Kette mit einer Goldmünze daran – ihre Reserve. Theo runzelte die Stirn. »Wo ist ihr Flachmann?« »Sie hatte keinen dabei.« »Sie ging nie ohne ihn aus dem Haus. Er ist verbeult und hat die Initialen ›T.B.‹ eingraviert.« Andren sah auf. »Wie Theodem Brigâ?« »Ja, als ich zum Inspektor berufen wurde, habe ich ihr meinen geschenkt. Seit diesem Tag trug sie ihn immer bei sich.« Einen Moment betrachte Andren ihn aufmerksam. »Hast du dich vor Ort umgesehen? Vielleicht ist er ihr beim Sturz aus der Hand gefallen und irgendwohin geschlittert.« Theo setzte sich in Bewegung und eilte die Treppe hoch. »Das muss ich klären, gib ihren Leichnam nicht frei, bevor ich es dir sage.«
III.
Dort, wo die Streifenpolizisten Betty gefunden hatten, steckten Stahlstäbe zwischen den Steinen des Bürgersteigs. Ein rotes Stoffband war um sie gewickelt und bildete einen mehr oder weniger gleichmäßigen Kreis, der die Laterne, die Klappleiter und die Flecken aus getrocknetem Blut umschloss. Die Straße endete bei der ›Breiten Brücke‹, die über den ›Vararîk‹ in das Zaubererviertel führte. Um diese Zeit wurde sie nur sporadisch von Passanten genutzt. Erst in den Abendstunden würde sich das ändern, wenn die Bars rund um die Universität der zauberhaften Künste öffneten. Theo umrundete die Absperrung, blickte in jede Ecke, suchte in der nahen Seitengasse und schritt den Rinnstein auf und ab. Der Flachmann war nicht da. Theo blieb stehen und starrte ins Leere. Ein Passant könnte ihn gefunden haben. Vielleicht tauchte er in ein paar Tagen im Büro für Fundsachen auf oder wurde vom Finder schlichtweg behalten. Das musste nichts bedeuten. Rhea hatte angedeutet, dass Betty in letzter Zeit stärker als sonst dem Alkohol zugeneigt war. Was Andrens Untersuchung bestätigt hatte. Sein Blick wanderte noch einmal zur Absperrung. Auch im Tageslicht konnte er dort beim besten Willen keinen Tatort sehen. Theo rieb sich über das Gesicht. Vielleicht sorgte der Schmerz über ihren Verlust einfach nur dafür, dass er Gespenstern nachjagte. Ein verschwundener Flachmann war kein Indiz für ein Verbrechen. Die Autopsie hatte weder Gifte noch etwas anderes Ungewöhnliches zutage gebracht und darüber sollte er froh sein. Immerhin konnte er seine Freundin zu Grabe tragen mit dem Wissen, dass ihr Ende nicht durch einen Akt der Gewalt herbeigeführt worden war.
Als Theo ins Polizeihauptquartier zurückkehrte, winkte ihm Marvin zu, der in der Eingangshalle an der Information saß. »Ursa hat nach dir gesucht«, rief er. »Ist sie im Büro?« »Ja.« Theo bog ab, klopfte an die Tür zu seiner Rechten und trat ein. Seine Chefin Ursa saß konzentriert am Schreibtisch; vor ihr lagen eine Reihe von Akten ausgebreitet. Ihre grau-braun-melierten Haare umrahmten ihr rundes Gesicht und fielen auf das Wolltuch, das sie um ihre Schulter gewickelt hatte. Sie neigte zum Frieren. »Guten Morgen«, wünschte Theo. Ursa sah auf. »Morgen.« »Du wolltest mich sprechen?« »Ja.« Sie stand auf und ging zu einem Klemmbrett, das neben einer großen Karte von Gelîvron an der Wand hing. Wie gewohnt trug sie ihre Alltagskleidung; heute fiel ihre Wahl auf ein langes, blaues Hemd aus grobem Stoff und eine dunkle Hose. Ihre Uniform nahm sie lediglich für offizielle Anlässe und dienstliche Termine aus dem Schrank. Genauso handhabten es auch Theo und die anderen Inspektoren. Nur die Streifenpolizisten waren verpflichtet, sich uniformiert zu präsentieren. Ursas Blick huschte über das Klemmbrett. »Du hast gestern Nacht in der Strammstraße eine Absperrung abstecken lassen. Kann sie wieder entfernt werden?« »Ja, Andrens Autopsie zufolge liegt ein Lapsuslazulie vor.« Ursa nickte. »Du warst mit der Anzünderin befreundet?« »Ja.« »Dein Verlust tut mir leid.« »Danke.« Beklommenheit machte sich in Theo breit, das Gespräch über Betty behagte ihm nicht. Sein Blick wanderte zur Tür. »Wäre das alles?« »Ja.« »Dann bin ich in meinem Büro.« Theo verließ den Raum und steuerte die Treppe mit dem grünen Läufer an, die in die erste Etage und in die ›Abteilung für Magische Verbrechen‹ führte. Am Fuße blieb er zögernd stehen. Irgendetwas störte ihn bei Bettys Tod, ob gerechtfertigt oder nicht. Er musste dem nachgehen. Also kehrte er in den Keller zurück.
Andren stand am Experimentiertisch und tauchte eine Hand aus Holz in den Kessel mit dem falschen Kautschuk. »Hast du ihn gefunden?«, fragte er, ohne aufzusehen. »Nein.« Stille. Andren stellte die mit einer weißen Schicht überzogene Holzhand auf eine alte Ausgabe des Papierfliegers – der offiziellen Zeitung von Gelîvron – und betrachtete Theo eine Weile. »Du vermutest, der Flachmann wurde absichtlich entfernt?«, fragte er schließlich. »Ich weiß es nicht, aber die Sache lässt mich nicht los.« Andren nickte. »Wie ein Jucken, das man nicht kratzen kann.« Damit hatte er Erfahrung; ein Großteil seiner Genialität verdankte er seiner Detailversessenheit und der Unfähigkeit eine Ungereimtheit einfach abzutun. »Angenommen«, Andren lehnte sich an den Experimentiertisch, verschränkte die Arme und blickte nachdenklich in die Luft, »jemand wollte nicht, dass wir ihn in die Hände bekommen. Der naheliegendste Grund dafür wäre, dass wir im Flachmann etwas finden würden. Eine Substanz.« »Hättest du die nicht in Bettys Blut ausmachen können?« »Nicht zwangsläufig. Leichen haben ihre Eigenheiten. In dem Moment, in dem die Organe versagen und das Gehirn stirbt, werden komplexe Prozesse in Gang gesetzt. Besonders instabile Stoffe zerfallen dann und sind nicht mehr nachweisbar.« »Gar nicht?« »Na ja, es gibt da einen Trick.« Andren ging zum Seziertisch und holte aus einem Fach darunter eine zusammengerollte Ledermappe, die er auf der Metallplatte ausbreitete. Zum Vorschein kamen die Werkzeuge, die er für die Autopsie benötigte: Unter anderem Sägen, Skalpelle, Scheren, Pinzetten und Spritzen mit unterschiedlich langen und breiten Nadeln. Von Letzteren nahm er ein Exemplar heraus. »In der Flüssigkeit des Augapfels könnten wir noch fündig werden.« Er trat vor. »Sollen wir?« Theo musste viel Selbstbeherrschung aufbringen, um nicht angeekelt das Gesicht zu verziehen. Stattdessen rang er sich ein Lächeln ab und meinte: »Fang schon mal an. Ich sage Valerie Bescheid, wo ich bin.« Schnellen Fußes verließ er das Labor, doch sobald er die Eingangshalle erreicht hatte, wurde er schlagartig langsamer. Unter keinen Umständen würde er Andren bei dieser Prozedur assistieren. Er ging die Treppe hoch und bog in die Abteilung für Magische Verbrechen, die direkt gegenüber der Abteilung für Kapitalverbrechen lag. Ein Flur mit einem Mosaikboden und großen Fenstern erstreckte sich vor ihm. Von den acht Türen, die zu den Büros der Inspektoren führten, wählte er die erste und betrat einen engen Raum, in dessen Mitte sich zwei Schreibtische gegenüberstanden. An einem davon saß Valerie, die eine Akte durchging und an einigen Stellen Anmerkungen mit einem Füllfederhalter setzte. Als Theo eintrat, sah sie auf. »Alles in Ordnung?« »Ja.« Theos Blick wanderte zu seiner Topfpflanze, die auf der Fensterbank stand und sich in einem kräftig grünen Blätterkleid präsentierte. Er hatte sie von seinem vorherigen Partner geschenkt bekommen, der wegen eines Unfalls frühzeitig in den Ruhestand gehen musste. Wenn er allein im Büro saß und keine Zuhörer zu befürchten hatte, erzählte er ihr von besonders kniffligen Fällen und war fest davon überzeugt, dass ihm das den einen oder anderen Geistesblitz beschert hatte. Valerie folgte Theos Blick und zog den richtigen Schluss: »Dich beschäftigt doch irgendetwas.« »Es geht um meine Freundin, von der ich dir heute Morgen erzählt habe.« Er ging zu seiner Pflanze, prüfte die Erde und empfand sie für feucht genug, sodass die Wasserkaraffe daneben unberührt blieb. »Ihr Flachmann fehlt und den trug sie immer bei sich. Es muss nichts bedeuten, aber«, Theo machte eine Pause, »es stört mich.« »Was sagt denn Andren dazu?« »Er führt gerade weitere Tests durch.« »Willst du nicht dabei sein?« »Er entnimmt Flüssigkeit aus ihrem Augapfel.« »Und du versteckst dich vor ihm, weil er nicht verstehen würde, dass das völlig unangebracht wäre, wenn du als Angehöriger bei der Prozedur zusehen müsstest?« Theo tippte mit dem Zeigefinger auf seine Nase, um ihre Vermutung zu bestätigen, und setzte sich ihr gegenüber an den Schreibtisch. »Wie war der Termin bei Gericht?«, fragte er. »Unspektakulär. Der Ankläger hatte ein paar Anmerkungen zur Fallakte. Einige Formulierungen waren ihm zu unpräzise. Ich habe sie ergänzt.« Aus einer ihrer Schreibtischschubladen holte sie einen großen Umschlag und steckte die Akte hinein. »Oder möchtest du sie dir noch einmal ansehen?« »Nein, nein, ich fand die erste Fassung schon detailliert genug. Ich weiß nicht, was es daran auszusetzen gab. Wer hat denn die Anklage übernommen?« »Ein Neuer, der gerade seine letzte Prüfung absolviert hat.« »Ach, das erklärt es.« Theo beobachtete Valerie, wie sie die unterste Schublade aufschloss und das Siegel der Polizei mitsamt rotem Siegelwachs vor sich ablegte. Sie griff in ihre bestickte Umhängetasche, die am Stuhl baumelte, und holte daraus einen dicken Lederhandschuh, der sie vor ihrer Feuermagie schützte. Sie zog ihn an, schnippte mit den Fingern und ließ eine kleine Flamme aufflackern. Mit der freien Hand hielt sie das Siegelwachs hinein, bis es weich genug war, um es mit dem Siegel auf die Klappe des Umschlages zu drücken. »Was meinst du, wie lange dauerte es, Flüssigkeit aus einem Augapfel zu entnehmen?«, fragte Theo. »Ich glaube, Andren bekommt das schnell hin.« Valerie stand auf. »Und wenn nicht, dann halte ich dir das Händchen.« »Halt mir lieber die Augen zu.« »Oder so.« Zusammen verließen sie das Büro.
»Hörst du etwas?«, fragte Theo, als sie an den geschlossenen Leichenkammern entlang gingen. »Nein, wahrscheinlich hat er die Augenflüssigkeit schon entnommen.« »Hoffentlich«, murmelte Theo und betrat das Labor, in dem sie Andren am Experimentiertisch vorfanden. Neben dem Ofen, auf dem der falsche Kautschuk vor sich hin köchelte, hatte er sechs Reagenzgläser in einen Halter gestellt, die alle zur Hälfte mit einer transparenten Flüssigkeit gefüllt waren. Zu seiner Linken standen verschiedene Flaschen mit Chemikalien aufgereiht. Aus einer davon holte er mit einem Spachtel ein rotes Pulver und ließ es in das erste Reagenzglas rieseln. »Ihr kommt gerade zur rechten Zeit«, meinte er und nahm eine Pipette zur Hand. »Die Probe ist bereits im destillierten Wasser. Noch ein paar Arbeitsschritte und wir können die Ergebnisse ablesen.« Theo und Valerie stellten sich neben Andren, während dieser die Vorbereitungen abschloss. Sie warteten, doch eine Reaktion blieb aus. »Tja, wie es aussieht …« Andren hielt inne, als sich im letzten Reagenzglas eine rote Trübung abzeichnete. »Was ist das denn?« Er trat näher heran und sah zu, wie sich kleine schwarze Kristalle bildeten und zu Boden sanken. Theo nahm die Flasche mit weißem Salz, das Andren für den Test verwendet hatte. Auf dem Etikett stand: ›K+ Rhodanide‹. Mit der Chemikalie wurden magische Reaktionen nachgewiesen. »Normalerweise sieht das aber anderes aus«, stellte er mit dem Blick auf die rote, trübe Flüssigkeit fest, die kurz aufleuchtete und dann eine schwarze Färbung annahm. »Das stimmt. Trotzdem ist der Test positiv ausgefallen«, erwiderte Andren. »Betty hatte definitiv Ferrum magicum im Organismus.« Diese Form des Eisens bildete sich in allen Lebewesen, die magische Fähigkeiten besaßen, egal ob bei Menschen, Tieren oder Pflanzen. Es konnte bei Nichtmagiern sogar nach einer Heilanwendung durch eine Hexe oder einen Hexer nachgewiesen werden, allerdings nur für ein paar Sekunden, danach zerfiel es. Bei der Einnahme von Pflanzen, deren Magie die verschiedensten Rauschzustände und Halluzinationen auslösten, blieb das Ferrum magicum hingegen weitaus länger im Organismus erhalten. So wie bei Betty. »Eine magische Droge?«, fragte Theo. »Anzunehmen, aber keine, die ich kenne. Dass der Test Kristalle ausbildet, habe ich noch nie gesehen.« Andren nahm das Reagenzglas und schwenkte es im Kreis. »Würdet ihr mir einen Gefallen tun?« »Sicher.« Theo nickte. »Die botanischen Hexen und Hexer der Kräuterhäuser könnten uns weiterhelfen, aber sie sind recht pingelig, wenn es darum geht, ihre Forschungsergebnisse mit mir zu teilen.« Die alte Fehde zwischen Zauberern und Hexen. »Vielleicht werden sie kooperativer, sobald ihr mit euren Marken auftaucht.« »Und was sollen wir sie fragen?« »Ob sie eine Substanz kennen, die bei dem Test auf diese Weise reagiert.« Andren stellte ein Becherglas vor sich auf den Tisch, setzte ein Filter oben auf die Öffnung und goss den Inhalt des Reagenzglases hindurch, sodass die Kristalle von der Flüssigkeit getrennt wurden. »Gebt mir eine halbe Stunde, dann verfasse ich euch einen Bericht, den ihr in den Kräuterhäusern vorzeigen könnt.«
IV.
Die Kräuterhäuser lagen im Schöntaugebirge auf dem Grünen Plateau. Eine gut befestigte Straße aus Kopfsteinpflaster führte nach oben und endete auf einem Gelände voller Kräutergärten. Zu dieser Jahreszeit waren die meisten davon abgeerntet. Nur bei einigen wenigen bewegten sich die botanischen Hexen und Hexer zwischen den Beeten entlang und schnitten Pflanzen ab, die sie in ihre Umhängetücher legten. Verschiedene Wege führten zu einer Reihe von Backsteinhäusern und dem riesigen Gewächshaus. »Werden hier die Medikamente für die Häuser der Heilung hergestellt?«, fragte Valerie. »Nicht nur, sie beliefern auch die Apotheken.« Sie steuerten das hohe zweiflügelige Tor des mittleren Gebäudes an. Dort läutete Theo die Messingglocke, die neben ihnen an der Wand hing. Einen Moment später öffnete sich eine kleinere Tür innerhalb des einen Flügels und ein Mann erschien. Er trug einen hellgrünen Kittel über der gleichfarbigen Hexerrobe, die mit dunkelgrünen Ornamenten an den Säumen verziert war. »Wie kann ich euch helfen?«, fragte er. Theo zückte seine Dienstmarke. »Ich bin Inspektor Theodem Brigâ und das ist Inspektorin Valerie Drappensprong. Bei einer unserer forensischen Untersuchungen wurde eine Substanz nachgewiesen, die wir nicht einordnen können. Sie ist wahrscheinlich Bestandteil einer magischen Pflanze. Könntet ihr uns bei den Ermittlungen weiterhelfen?« Theo deutete auf die Akte, die er unter den Arm geklemmt hatte und in der Andrens Abhandlung über den Test sowie der Autopsiebericht von Betty lagen. »Ihr solltet mit Aylinn sprechen, unserer obersten Forscherin. Kommt mit, ich führe euch zu ihr.« Sie passierten die Tür und traten in eine große Halle. Der Boden bestand aus bunten Fliesen; hinten an der Wand reihten sich Dutzende gefüllte Leinensäcke an- und hintereinander; ein Ochsenkarren stand in der Ecke. Entweder war eine frische Lieferung Heilpflanzen eingetroffen oder die nicht verarbeiteten Überschüsse des Jahres würden in Kürze exportiert werden. Der botanische Hexer führte sie durch einen langen Flur, von dem nummerierte Türen abgingen. »Das sind die Labore, in denen wir neue Medikamente entwickeln«, erklärte er, als ihm Valeries fragender Blick auffiel. Sie erreichten eine hohe, gläserne Tür, die sperrangelweit offen stand. Die Luft, die ihnen entgegenschlug, war durch Feuchtigkeit und Gerüche nach Pflanzen und Erde gesättigt. Sie tauchten in das grüne Reich des Gewächshauses ein und folgten dem Weg vorbei an Hochbeeten. Sie waren durch Mauerwerk begrenzt, an dem in regelmäßigen Abständen Schilder mit chemischen Zeichen hingen. Theo konnte mit ihnen nichts anfangen, wohl aber jemand, der sich mit Geologie auskannte. Sein Blick wanderte umher und blieb an Valerie hängen, die neben ihm herging. Die ganzen Gewächse um sie herum zauberten einen Glanz in ihr Gesicht, den er an ihr so noch nie gesehen hatte. Auch ihre Körperspannung wurde sanfter, ihr Gang fließender. Sie fühlte sich sichtlich wohl. »Aylinn ist in der Abteilung für magische Pflanzen«, verkündete der botanische Hexer und führte sie durch eine Tür in einen Bereich, der durch Glaswände abgetrennt wurde. Beim Eintreten regte sich in Theo augenblicklich Wachsamkeit. Die Pflanzen, die um ihn herum in Beeten und Töpfen wuchsen, die auf dem Boden standen oder von der Decke hingen, erweckten auf den ersten Blick den Eindruck vollkommener Harmlosigkeit. Doch sie fühlten sich ›lebendiger‹ an als ihre unmagischen Artgenossen. Anders konnte Theo es nicht beschreiben. Er sah sich um und entdeckte das von ihm verhasste Pfeilkraut. Die Pflanze hatte eine Größe von ungefähr zwanzig Zentimetern. Die lappigen, gräulich-grünen Blätter saßen nur oben an der Spitze. Darunter waren die Stile mit Dornen versehen, die nach dem Abfeuern innerhalb von zwei Tagen nachwachsen konnten. Beruhigenderweise umgab ein Glaskasten das wehrhafte Kraut, was Theo veranlasste, näher heranzugehen. »Na du Fiesling«, flüsterte er und klopfte leicht an den Kasten. Sofort prallten Dornen am Glas ab. »Diesmal nicht.« Mit dem Fuß rieb er geistesgegenwärtig über die Wade. Die Erinnerung an den Schmerz war noch überaus lebendig. »Sieh mal«, stieß Valerie entzückt aus. Theo drehte sich um. »Das sind Glühpflänzchen.« Sie stand vor einem verwitterten Holzstamm, der auf dem Boden lag und in den Dutzende zarte Gewächse ihre Wurzeln geschlagen hatten. Jedes einzelne Pflänzchen wuchs aus einer tropfenförmigen Knolle und bildete nur ein Laubblatt aus, das auf der Oberseite dunkelgrün und auf der Unterseite lilafarben war. Der zehn Zentimeter lange Stil trug eine einzige blassrosafarbene Blüte. Oben beugten sich die Kron- und Kelchblätter wie ein Dach über eine für Orchideen typische Lippe. Dazwischen lag wie eine Perle aus zartgrünem Gewebe der Leuchtpunkt, in dem sie mithilfe von Magie Licht erzeugte. In der Dunkelheit zog sie so Motten für die Bestäubung an. »Calypso lumen«, meldete sich der botanische Hexer zu Wort und stellte sich neben Valerie. »Sie gehört zu der Familie der Orchideengewächse und entwickelte sich wohl durch magische Mutation aus der Norne, der Calypso bulbosa.« »In meiner Kindheit habe ich sie oft im Wald gesehen. Wenn die ersten Blätter sich bunt färbten«, erzählte Valerie. »Überall waren kleine Lichter zwischen den Wurzeln der Bäume. An manchen Stellen sah es so aus, als ob sich ein Teil des Sternenhimmels an den Boden schmiegte.« Mit einem verträumten Blick verweilte sie in einer fernen Erinnerung. »Das muss ein wunderschöner Anblick gewesen sein«, erklang eine Stimme. Sie drehten sich um. Eine Frau kam aus dem hinteren Bereich der Abteilung. Wie ihr Kollege trug sie einen Kittel über der Hexenrobe. Ihre schwarzen Haare hatte sie zu einem langen Zopf geflochten, ein paar Strähnen umspielten ihr dunkles Gesicht. Freundliche Augen lagen hinter runden Brillengläsern. Am linken Handgelenk entdeckte Theo ein Stoffband mit bunten Stickereien, ein Talisman. Das deutete darauf hin, dass sie oder ihre Vorfahren aus dem wirtschaftlich mit Gelîvron eng verbundenen Dûvasâlig stammten oder zumindest, dass sie mit den dort herrschenden Gepflogenheiten vertraut war. »Ja.« Valerie nickte. »Ich bin Aylinn.« Die oberste Forscherin reichte ihnen die Hand. »Valerie.« »Theo.« »Was kann ich für euch tun?« Theo zeigte seine Dienstmarke. »Im Zuge unserer Ermittlungen sind wir auf eine fremde Substanz gestoßen. Wir wollten fragen, ob sie dir bekannt ist.« Er übergab ihr die Akte. »Mmh.« Aylinn überflog mit gerunzelter Stirn Andrens Bericht und vertiefte sich dann in einzelne Textpassagen. Während Theo wartete, machte er plötzlich eine Bewegung im peripheren Sichtfeld aus. Er blickte zu einem der Hochbeete, in dem vereinzelt kleine Grasbüschel in sandigem Grund wuchsen. Er dachte schon, er habe es sich nur eingebildet, doch es passierte wieder. Die Pflanzen bewegten sich mit dem Sand, der sie in kaum sichtbaren Wellen forttrug. »Agrostis viator.« Der botanische Hexer flüsterte, wohl um Aylinn nicht in ihrer Konzentration zu stören. »Das Wander- oder Koboldgras. Mithilfe von Magie nutzt es die Erde, um den Platz zu wechseln. Sie benötigen die Bewegung, um ihren Stoffwechsel anzutreiben, und folgen dabei festen Routen.« Valerie trat neugierig näher. »Kannst du bitte Warin holen?«, wandte sich Aylinn plötzlich an ihren Mitarbeiter. »Es ist dringend.« Der botanische Hexer – sichtlich irritiert von der Aufregung in ihrer Stimme – nickte und eilte davon. »Was ist los?«, fragte Theo. »Ich versteh das nicht. Die Substanz, die ihr bei der Autopsie gefunden habt, gehört zu einem Medikament, das noch gar nicht zugelassen wurde.« »Ihr habt es entwickelt?« »Wir stellen es aus einer Pflanze mit dem Namen Petula veneficus her, die wir eigenhändig gezüchtet haben und die im Labor unter Verschluss steht.« »Was bewirkt das Medikament?«, meldete sich Valerie zu Wort. »Das kommt auf den Organismus an. Auf Hexen und Hexer hat es nicht die geringste Wirkung, bei allen anderen Magiern verstärkt es kurzfristig die Fähigkeiten, bei Nichtmagiern setzt ein massiver Rauschzustand ein.« »Glaubst du, der war für Bettys Sturz verantwortlich?«, fragte Theo und zückte sein Notizbuch. »Davon gehe ich aus, und wenn der nicht tödlich gewesen wäre, dann hätte sie kurze Zeit später einen Herzinfarkt erlitten. Nichtmagier dürfen das Medikament auf keinen Fall zusammen mit Alkohol zu sich nehmen, da dieser die Wirkung um ein Vielfaches verstärkt. Unter den Voraussetzungen hätte Betty keine halbe Stunde überlebt.« »Ohne den Alkohol schon?« »Wahrscheinlich. Das Medikament ist für Nichtmagier nicht per se tödlich, aber das Risiko ist hoch, sobald bestimmte Substanzen zusätzlich eingenommen werden. Weshalb wir es nach dem Abschluss unserer Studien auch nur an Hexen und Hexern ausliefern werden und nicht an die Apotheken.« Theo drückte den Stift beim Schreiben etwas fester auf das Papier, während er sich innerlich dazu ermahnte, keine voreiligen Schlüsse zu ziehen. Angesichts Bettys vermehrtem Alkoholkonsum konnte nicht ausgeschlossen werden, dass sie auf der Suche nach einem stärkeren Rausch die Droge selbst zu sich genommen hatte, ohne die Wechselwirkungen zu kennen. Auch musste der verschwundene Flachmann nicht zwangsläufig im Zusammenhang mit ihrem Tod stehen. Die Möglichkeit eines Unfalls konnte er nicht einfach abtun. Trotzdem formierte sich ein Bild, das weitere Ermittlungen dringend nahelegte. Allein schon, da die Gefahr bestand, dass die Stadt bald mit einer neuen magischen Droge konfrontiert werden könnte. »Und das Medikament stammt mit Sicherheit aus eurem Labor?«, fragte er. »Die Pflanze, aus der wir es gewinnen, ist sehr selten und ohne die Züchtung würde der Effekt nicht so ausgeprägt sein. Also wüsste ich nicht, wo es sonst herkommen sollte.« Die Glastür zur Abteilung schwang auf und ein gedrungener Hexer kam herein. Er hatte einen Bart und lange Haare, die sich auf dem Kopf bereits lichteten. Sorge lag in seiner Miene. »Was ist passiert?« »Sind Hämlogentabletten verschwunden?« »Nein, wieso?« »Nichts fehlt? Bist du dir sicher?« Warin wirkte verwirrt. »Außer die zwei Pflanzen, die du mitgenommen hast.« »Was?« »Vor vier Wochen. Auf dem Tisch lag eine Notiz, darin stand, du müsstest noch ein paar Test überprüfen.« »Die stammte nicht von mir.« »Aber sie war in deiner Handschrift verfasst und trug deine Unterschrift.« Einen kurzen Augenblick schwiegen sie, dann setzten sich Aylinn und Warin fast gleichzeitig in Bewegung und eilten fort. »Wer hat Zugang zu den Pflanzen?«, fragte Theo, der sich mit Valerie an ihre Fersen geheftet hatte. »Niemand darf sich ohne Warins oder meine Aufsicht dort aufhalten und wir sind die Einzigen die Schlüssel zu diesem Teil des Gewächshauses haben.« Sie folgten einem Weg, vorbei an einer Reihe von leeren Hochbeeten und erreichten drei Ziegelwände, die einen abgetrennten Bereich bildeten und hoch bis an das Glasdach reichten. Fenster und eine dicke Holztür durchbrachen das Mauerwerk. Aylinn überreichte Valerie die Akte mit Andrens Unterlagen, holte einen Schlüsselbund aus der Tasche ihres Kittels und schloss auf. Mit hastigen Schritten betrat sie den Raum und steuerte auf die Pflanzen zu, die in nummerierten Keramiktöpfen auf einem Holztisch standen. Sie maßen keine dreißig Zentimeter. Die ovalen, dunklen Blätter wiesen eine rote Äderung auf und saßen auf schlanken Stängeln, die sich grundständig dicht beieinander drängten. »Nummer neun und zwölf fehlen«, stellte Aylinn nach einer kurzen Überprüfung fest. Währenddessen war Warin zu den Arbeitsplätzen gegenüber dem Eingang geeilt, auf denen Laborgerätschaften auf ihren Einsatz warteten, darunter Mikroskope, Messbecher, Waagen und Reagenzgläser in Haltern. Aus einer der Schubladen zog er einen Zettel heraus und überreichte ihn Aylinn. »Das ist tatsächlich meine Handschrift«, stellte sie mit gerunzelter Stirn fest. »Aber ich habe das nicht geschrieben.« Theo trat an sie heran. »Vermutlich gefälscht, um möglichst lange zu verschleiern, dass die Pflanzen gestohlen wurden.« »Mit Erfolg«, meinte Aylinn. »Ich bin seit Wochen in anderen Projekten involviert. Hättet ihr mich nicht mit dem Autopsiebericht konfrontiert, wäre uns ihr Fehlen wohl nicht so bald aufgefallen.« »Ich würde euch raten, eine Anzeige gegen Unbekannt aufzugeben«, sagte Theo und klappte sein Notizbuch wieder auf. Aylinn und Warin warfen sich einen unsicheren Blick zu. Die Kräuterhäuser sowie die Häuser der Heilung gehörten zu der Hexengilde. Wenn Probleme auftauchten – egal welcher Art –, dann war sie die erste Adresse, nicht die Polizei. »Korbinian würde einen Alleingang nicht gutheißen«, raunte Warin. Mit dieser Einschätzung lag er richtig. Als ihr Oberhaupt gehörte es zu Korbinians Aufgaben, die Interessen der Hexen und Hexer in der Öffentlichkeit und gegenüber anderen Gilden und Institutionen zu vertreten. Er reagierte empfindlich darauf, wenn er sich übergangen fühlte, und wachte eifersüchtig darüber, dass ihm der Respekt entgegengebracht wurde, den er glaubte, aufgrund seiner Position zu verdienen. Dementsprechend war Theo daran interessiert, ihn solange wie möglich aus der Angelegenheit herauszuhalten. Er würde alles komplizierter machen. »Die Pflanzen sind schon vier Wochen weg und eine Substanz, die auf sie zurückzuführen ist, wurde in einer Leiche gefunden«, gab Theo daher zu bedenken. »Ich würde euch dringend raten, schnell zu handeln. Wenn euer Medikament als magische Droge eingesetzt wird – und das liegt nahe –, dann wird es ohne fachkundige Anleitung in der Stadt verfügbar sein. Und ich glaube, niemand hier möchte das, oder?« Aylinn nickte und zeigte Warin mit der Hand an, dass ihre Entscheidung getroffen war und seine Einwände auf taube Ohren stießen. »Wie können wir euch helfen?«, fragte sie. »Die Spurensicherung braucht Zugang zum Labor. Außerdem würden wir euch bitten, euch umzuhören. Vielleicht ist jemandem in der Zeit rund um den Diebstahl etwas Ungewöhnliches aufgefallen.« »Ist es für eine nicht autorisierte Person schwer, das Gewächshaus zu betreten?«, meldete sich Valerie zu Wort. »Nein«, erwiderte Aylinn. »Auf der Rückseite gibt es eine Tür, die wir seit einem halben Jahr nicht mehr richtig abschließen können. Ich muss bedauerlicherweise gestehen, dass die Reparatur von uns nicht priorisiert wurde. Wir haben uns auf den Schutz der gesicherten Bereiche verlassen.« »Also ist die Person, die hier eingebrochen ist, erst an dieser Tür auf ein Hindernis gestoßen?« Valerie steckte die Akte mit Andrens Unterlagen in ihre Umhängetasche und ging zum Eingang des Labors. »Ja.« »Dir ist vor vier Wochen das Fehlen der Pflanzen aufgefallen«, sagte Theo an Warin gerichtet. »Zu welcher Tageszeit?« »Bei meiner morgendlichen Runde; am Abend zuvor waren sie noch vollständig.« »Dann ist der Einbruch also nachts geschehen«, schlussfolgerte Theo und schrieb in sein Notizbuch. »Ich erkenne hier einen ganz leichten Kratzer am Schloss, der nicht von einem Schlüssel stammen kann«, verkündete Valerie. Sie war an der Tür in die Hocke gegangen. »Ein Spanner wurde gegen das Metall gedrückt, um anschließend die Kernstifte mit einem Dietrich nach unten zu drücken.« Theo betrachtete das Schloss mit zusammengekniffenen Augen, doch er hatte nicht die feinen Sinne einer Dryade. Er konnte nichts erkennen, war sich aber sicher, dass ein Mikroskop ihren Fund bestätigen würde. Manchmal, wenn sie gemeinsam durch die Stadt schlenderten, spielten sie ›Ich sehe was, was du nicht siehst‹. Valerie gewann jedes Mal. Es faszinierte ihn, was ihr scharfes Auge alles erspähen konnte. »Wer auch immer hier eingebrochen ist, wusste, welcher Mechanismus sich hinter dem Schloss verbirgt«, fuhr Valerie fort. »Der Spanner wurde nicht mehrmals angesetzt oder gewechselt, weil eine falsche Größe ausgewählt wurde. Dabei handelt es sich um ein sehr schwer zu knackendes Modell.« »Habt ihr eure Forschung über das Medikament bereits allgemein bekannt gemacht?«, fragte Theo an Warin und Aylinn gerichtet. Letztere erwiderte: »Ja, wir haben schon mehrere Artikel veröffentlicht. Der erste wurde vor einem Jahr abgedruckt und der aktuellste vor ungefähr zwei Monaten.« »Kannst du mir kurz zusammenfassen, worum es in den Artikeln geht?« »Wir haben die Pflanze vorgestellt, die einzelnen Inhaltsstoffe beschrieben und unsere Forschungsergebnisse zu der Wirkung und der Dosierung aufgezeigt.« »Ich nehme an, über die Herstellung habt ihr aber Stillschweigen bewahrt.« »Natürlich. Das bleibt ein Geheimnis der Kräuterhäuser.« »Hat sich jemand speziell für eure Forschung interessiert?«, fragte Valerie. »Nein.« Warin schüttelte den Kopf. »Das Projekt steht nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit. Mit dem Medikament erhoffen wir das Heck-Syndrom zu lindern. Das ist eine Krankheit, die besonders Elementarmagier betrifft und bei der die molekulare Verbindung zwischen den Magieteilchen und dem Eisenmolekül schwächelt. Die Konsequenz ist: Das Magieteilchen löst sich, das Eisenmolekül zerfällt und die Betroffenen leiden unter einer schweren Anämie. Doch diese Krankheit kann auch mit Hilfe von regelmäßigen Magieanwendungen durch eine Fachhexe oder -hexer gemildert werden. Unsere Forschung ist eine Ergänzung zu den bereits bestehenden Behandlungsmethoden und keine sehnsüchtig erwartete medizinische Sensation.« »Ist es schwierig, das Medikament aus der Pflanze zu gewinnen?«, fragte Theo, der eifrig in sein Büchlein schrieb. »Wenn man weiß, wie es geht, nein«, antwortete Aylinn. »Aber es gibt ein Verfahren, das eingehalten werden muss. Es reicht nicht, einfach die Blätter zu zerkauen oder als Tee einzunehmen. Einer der wichtigsten Inhaltsstoffe reagiert nicht mit dem menschlichen Organismus. Dafür bedarf es einer speziellen Behandlung. Aus der Pflanze wird ein wässriger Auszug hergestellt und eine Chemikalie zugeführt. Nach einer gewissen Zeit, bei konstanter Temperatur bilden sich dann gummiartige Schlieren, die zu Tabletten gerollt werden.« »Lösen sie sich schnell in Alkohol auf?« »Äußerst schnell.« »Könnte man sie unbemerkt in Speisen oder Getränke mischen?« »Theoretisch schon, sie besitzen keinen auffälligen Eigengeschmack.« Theo nickte. Also wäre es möglich gewesen, das Medikament in den Flachmann zu schmuggeln, ohne dass Betty es bemerkt hätte. »Sind eure Forschungsunterlagen noch vollständig?«, fragte er. »Ja.« Warin ging zu einem Aktenschrank, der in der Ecke stand und öffnete ihn. Anscheinend wurde er nicht abgeschlossen. Er nahm eine Akte heraus, klappte sie auf und zeigte sie den beiden Inspektoren. Er blätterte zu schnell, als dass sie den Inhalt näher betrachten konnten. Was sie sahen, waren Dutzende von beschriebenen Seiten, auf denen Tabellen und Diagramme abgebildet worden waren. Unten in der Fußzeile standen immer die Namen des Medikaments: ›Hämlogen‹ und der Pflanze: ›Petula veneficus‹. »Seht ihr?«, sagte Warin. »Jede Seite ist nummeriert und alle sind noch da.« »Werden die Labore nachts zusätzlich gesichert, zum Beispiel durch einen Wächter?«, fragte Valerie. »Nein.« Warin schüttelte den Kopf. »Also wäre genug Zeit gewesen, die wichtigen Passagen der Akte abzuschreiben, ohne dass jemand das mitbekommt.« Sie sah zu den Arbeitsplätzen hinüber, über denen Öllampen hingen und ideale Plätze für dieses Unterfangen boten. »Ich befürchte, ja«, gab Aylinn zu. Theo wandte sich zu ihr und meinte: »Am Anfang des Gesprächs sagtest du, das Medikament verstärkt kurzfristig die magischen Fähigkeiten. Was verstehst du unter kurzfristig?« »Zehn Minuten nach der Einnahme wird die Bindung zwischen Magieteilchen und Eisenmolekül aktiv stabilisiert, was zu einer Steigerung der Fähigkeiten führt. Diese Phase dauert ungefähr eine Stunde an. Plus, minus fünf Minuten. Danach ebbt die spürbare Wirkung ab. Der molekulare Zusammenhalt bleibt aber ein bis zwei Wochen stabil und lindert damit die Auswirkungen des Heck-Syndroms.« »Abgesehen von den Komplikationen bei Nichtmagiern, kann das Medikament bei Magiern überdosiert werden?«, fragte Theo. »Zwischen den Einnahmen von zwei Tabletten sollten mindestens zehn Stunden liegen«, antwortete Warin. »Sonst kommt es zum Erbrechen und einer nervlichen Überreizung. Das sind vorübergehende Symptome, die ohne Behandlung wieder abklingen. Ein längerer Missbrauch kann aber durchaus zu Folgeschäden führen. Unsere Studien sind noch nicht abgeschlossen, deuten allerdings darauf hin, dass das Medikament auch von Menschen mit magischen Fähigkeiten nicht unkontrolliert genutzt werden darf.« »Angenommen, das Medikament soll im größeren Stil hergestellt werden«, sagte Valerie. »Wie kann man die Pflanze vermehren?« »Ausschließlich mit Samen«, antwortete Aylinn. »Aber sie wurden dieses Jahr schon abgeerntet.« »Nichtsdestotrotz ist die Züchtung sehr effizient«, fügte Warin hinzu. »Die zwei gestohlenen Pflanzen reichen aus, um mehrere Kilogramm des Medikaments herzustellen.« Theo zog die Augenbrauen nach oben. Das waren eine Menge potenziell tödlicher Tabletten. Und wer auch immer hier eingestiegen war, hatte vier Wochen Vorsprung. Er führte seine Notizen zu Ende und sagte dann: »Die Spurensicherung trifft hier voraussichtlich in zwei bis drei Stunden ein. Sie wird die Akte über das Medikament und die gefälschte Nachricht für eine Analyse mitnehmen.« »Aber nicht die Blätter, auf denen das Herstellungsverfahren aufgeführt wird«, protestierte Warin. »Ohne richterlichen Beschluss sind wir nicht verpflichtet, Gildengeheimnisse zu lüften.« »Und das respektieren wir«, beschwichtigte Theo. »Wir wollen nur prüfen, ob der Dieb Fingerabdrücke hinterlassen hat.« »Wer hatte Zugang zu den Dokumenten?«, fragte Valerie. »Warin, ein paar Mitarbeiter und ich«, antwortete Aylinn. »Um euch bei der Analyse ausschließen zu können, benötigen wir eure Fingerabdrücke als Referenz.« Theo bemerkte, wie Warin die Lippen zusammenpresste und kurz davor stand, erneut seinen Unmut Luft zu machen. Also fügte er schnell hinzu: »Der Vorschrift entsprechend, werden wir sie selbstverständlich nach der Untersuchung vernichten. Sie werden in keinen anderen Ermittlungen rechtliche Relevanz haben.« »Wir sprechen mit den fraglichen Mitarbeitern«, versicherte Aylinn und warf Warin einen Blick zu, der ihm nahelegte, sich zurückzuhalten. »Danke.« Theo steckte sein Notizbuch zurück in die Manteltasche. »Bevor wir gehen, könnten wir uns noch den Hintereingang des Gewächshauses ansehen?« »Natürlich«, Aylinn wandte sich an Warin. »Ich begleite sie, bitte höre dich in der Zeit schon einmal bei unseren Mitarbeitern um. Vielleicht hat jemand etwas bemerkt.« So trennten sich ihre Wege. Aylinn führte Theo und Valerie durch das Gewächshaus und als Warin außer Hörweite war, sagte sie: »Auch wenn ich die Leitung über die Kräuterhäuser innehabe und euch hier uneingeschränkten Zugang gewähren kann, steht Korbinian im Rang immer noch über mir. Früher oder später wird Warin eine Gelegenheit finden, ihm von den Vorkommnissen hier zu berichten. Das sieht er als seine Pflicht an. An eurer Stelle würde ich mich daher mit der Spurensicherung beeilen, sonst könnte sie sich unnötig in die Länge ziehen.« »Wirst du Schwierigkeiten bekommen«, fragte Valerie. »Nein.« Aylinn lächelte. »Aber er kann meine Entscheidung blockieren und die Frage an den Hexenrat weitergeben, der ihm mit Sicherheit bei allem zustimmen wird. Und dann hängt es von seiner Laune ab, wie hilfreich er bei euren Ermittlungen sein wird.« Die Gilden hatten in Gelîvron das Recht, bei Straftaten innerhalb ihrer Gemeinschaft zuerst selbst Untersuchungen anzustellen. In vielen Fällen half diese Regelung bei der Aufklärung, da die Gilden ein besseres Gespür für ihre Mitglieder hatten und auch vertrauter mit ihnen sprechen konnten als Außenstehende. Zwar waren sie verpflichtet all ihre Erkenntnisse danach mit der Polizei oder dem Gericht zu teilen, doch die Gefahr bestand, dass sie dabei nicht immer ehrlich waren, um ihre eigenen Interessen zu schützen. Bei Theos und Valeries letztem großen Fall rund um die Hexenkreismörderin hatte Korbinian sogar versucht, seine internen Untersuchungen ganz für sich zu behalten. Bei der Beziehung zwischen Polizei und Hexengilde konnte dadurch ein neuer Tiefpunkt verzeichnen werden. Aylinn, Theo und Valerie erreichten den Hintereingang des Gewächshauses, eine dicke Holztür, deren Rahmen fest mit der Glaswand verbunden war. Theo drückte dagegen; der anfängliche Widerstand löste sich schnell und das eingerastete Schloss sprang auf. Das verbogene Schließblech bot dem Riegel keinen ausreichenden Halt. Theo sah nach draußen. Ein gepflasterter Pfad führte rechts zu den Kräutergärten und geradeaus in den Wald. Er war nicht mit Straßenlaternen gesäumt, wie der Weg zum Haupteingang. In der Nacht konnte man sich also dem Gewächshaus nähern, ohne ein nennenswertes Risiko einzugehen, zufällig entdeckt zu werden. Ein idealer Zugang für einen Einbruch. »Wird dieser Eingang häufig genutzt?«, fragte Theo. »Ja, ein großer Teil der abgeernteten Pflanzen aus den Kräutergärten wird hierdurch ins Lager oder zur Arzneimittelherstellung in die Labore gebracht.