Der unsterbliche Salamander - Zoe Rubaidh - E-Book
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Zoe Rubaidh

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Beschreibung

*2. Platz des tolino media Newcomerpreises 2022* Mitten in der Nacht hastet Inspektor Theodem Brigâ zu einem Tatort. Das Mordopfer wurde in einer magischen Wassersäule ertränkt. Ihm fehlen zwei Organe und auf dem Straßenpflaster stehen seltsame Zeichen aus Kreide. Für Theo und seine neue Partnerin Valerie beginnt eine aufreibende Ermittlung, die sie zu den Geheimnissen einer längst vergangenen Zeit führt. Zusammen mit dem forensischen Zauberer der Polizei und einem Historiker versuchen sie dem Täter auf die Spur zu kommen. Es wird ein Wettrennen gegen die Zeit.

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Veröffentlichungsjahr: 2022

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I.
II.
III.
IV.
V.
VI.
VII.
VIII.
IX.
X.
XI.
XII.
XIII.
XIV.
XV.
XVI.
XVII.
XVIII.
XIX.
XX.
XXI.
XXII.
XXIII.
XXIV.
XXV.
XXVI.
XXVII.
XXVIII.
XXIX.
Nachwort
Der zweite Band der Theodem-Brigâ-Reihe:
Gildenwappen
Stadtkarte
Personenregister
Magische Tiere
Impressum

 

 

 

 

 

für Filip

 

 

 

 

 

Als der große, lautlose Knall dem Dasein einen Anfang bereitete, sorgte eine kleine Abweichung dafür, dass die Welt eine andere wurde.

I.

 

Mit schlaftrunkenem Kopf hastete Inspektor Theodem Brigâ durch die dunkle Straße, immer dem Nachtwächter und dem Schein seiner Laterne hinterher. Die Schritte auf dem Kopfsteinpflaster stachen aus der Stille heraus, zeugten von der Dringlichkeit des Anliegens. In diesem Viertel von Gelîvron lagen die hauptsächlich tagsüber und in den frühen Abendstunden frequentierten Arbeitsstätten und so waren die schmiedeeisernen und mit Öl befüllten Straßenlaternen hier schon längst erloschen. Umso stärker fiel der Lichtschein auf, der hinter einer Straßenecke aus einer Sackgasse drang und auf den der verstörte Nachtwächter zueilte. Viel hatte er Theo nicht gesagt, nur von einem Mord gestammelt, bei dem Magie eine Rolle spielte. Und wie sein Gesichtsausdruck verriet, würde er den Anblick der Leiche lange Zeit nicht vergessen können. Theo war zu müde gewesen, um weiter nachzufragen. Keine Stunde hatte er geschlafen und eigentlich konnte er seinen aktuellen Zustand auch nicht als wach bezeichnen. Er war in die Kleidung und aus der Tür gestolpert und überließ seinen Beinen die stupide Aufgabe, einfach nur zu laufen. Das Gehirn würde sicherlich in ein paar Minuten folgen. Sie bogen um die Ecke und Theo blieb abrupt stehen. Was er sah, schlug jeglichen Restschlaf aus den Fasern seines Körpers. Jetzt war er wach. In der Sackgasse, umgeben von Ziegelsteinwänden, bot sich ihm eine bizarre Szenerie. Im Schein von mehreren Laternen erhob sich eine erstarrte Wassersäule knapp drei Meter in die Höhe. Sie umschloss einen Mann, der mit aufgerissenen Augen den Tod erspäht hatte. Aus einer Wunde quer über dem Bauch schlängelten sich im Wasser ätherische Bahnen seines Blutes. Theos Blick wanderte nach unten zum Kopfsteinpflaster, wo ein schmaler, weiß schimmernder Kreis gezogen war. Ein Hexenkreis. »Hast du so etwas schon mal gesehen?« Andrens Stimme riss Theo aus seiner Starre. Der forensische Zauberer der Polizei löste sich aus dem Schatten, in dem er mit seinem Analysekoffer gestanden hatte, und trat an Theo heran. Er trug eine indigofarbene Robe mit dem eingestickten Polizeiwappen auf der Brust – ein Schwarzbär auf blauem Grund. Der zerknitterte Stoff ließ vermuten, dass er wieder über seiner Arbeit eingeschlafen war. Was auch erklärte, warum er so schnell vor Ort sein konnte. Sein Labor im Keller des Polizeihauptquartiers lag nur ein paar Straßen entfernt, anders als das Gildenhaus der Zauberer, in dem er wohnte. »Was zum Henker ist hier passiert?« Mehr brachte Theo nicht heraus. »Ein Mord, bei dem der Tod wohl nicht an erster Stelle stand.« Theo blickte zu Andren, der den Schauplatz mit der Begeisterung eines Kindes kurz vor seinem Geburtstag betrachtete und damit den für ihn typischen Mangel an Taktgefühl demonstrierte. »Wie meinst du das?«, fragte Theo und kratzte sich am Bart; er fühlte sich noch nicht in der Lage, Andrens geistigen Akrobatikkünsten zu folgen. »Das Leben ist fragil, es reicht ein schwerer Gegenstand, um es zu beenden. Wenn nur der Tod wichtig wäre, dann hätten wir hier nicht so ein überaus interessantes Arrangement vorgefunden. Siehst du den Hexenkreis?« Andren deutete auf das leuchtende Gebilde. »Er ist annähernd perfekt. Die Zeit in seinem Inneren ist fast gänzlich zum Stillstand gekommen. Welch ein raffinierter Schachzug, um den Todeszeitpunkt zu verschleiern.« Im Schlendergang näherte er sich der Wassersäule. Theo folgte ihm zögerlich; er versuchte, die Augen des Opfers zu ignorieren, doch sein Blick glitt immer wieder zu ihnen. Von Nahem wirkte der Tatort noch gespenstiger. Jenseits des Hexenkreises war der Mord gerade erst passiert und der Tod konserviert in seiner Endgültigkeit. Theo räusperte sich und machte einen mentalen Schritt in die Routine eines Inspektors, die ihn davor schützte, die Situation zu sehr an sich heranzulassen. Es war seine Aufgabe, einen klaren Kopf zu bewahren, egal was er vorfand. »Hast du eine Ahnung, woher das Wasser kommt?«, fragte er in sachlichem Ton. »Bis der Hexenkreis aufgelöst ist, kann ich es nicht mit Sicherheit sagen. Aber vermutlich handelt es sich um das Resultat von Wassermagie.« Andren nickte in Richtung eines Amulettes, das um den Hals des Opfers lag und dem Theo bisher keine Beachtung geschenkt hatte. Schmuck war in Gelîvron beliebt, unabhängig von Geschlecht oder Spezies. Bei genauerem Hinsehen offenbarte sich aber die Besonderheit dieser Kette. Die filigrane Schmiedearbeit aus angelaufenem Silber umfasste einen blau-grünen Stein mit perlmuttfarbenen Sprenkeln, der matt und kaum merklich glühte. Ein Magieträger. Dem Stein zu entnehmen, einer des Wassers. Theo musterte das Opfer. Bis auf das rote Hemd war seine Kleidung – die Hose, der Mantel und die Schuhe – in Brauntönen gehalten. Nicht gerade die bevorzugte Farbauswahl für Wassermagier. Die mit dem Titel ›Zauberer‹ trugen stolz ihre verzierten, blau-grünen Roben, die Studenten gleichfarbige Halstücher. Und selbst jene, die nicht zur Gilde gehörten, fühlten sich häufig von ähnlichen Farbnuancen angezogen. Theo beugte sich näher an die Wassersäule heran, blieb aber weit genug entfernt, damit er von dem Zeitbruch am Rand keinen Schlag bekam. Seine Aufmerksamkeit galt den Handschuhen, die am Gürtel hingen. Sie waren aus dickem Leder und, soweit er das durch das Wasser erkennen konnte, an den Fingerspitzen verbrannt. Das Opfer war ein Feuermagier. Theo richtete sich wieder auf. Das ergab keinen Sinn. Elementarmagier, zu denen auch Feuermagier zählten, konnten Magieträger überhaupt nicht benutzen. Ihnen fehlte die Fähigkeit dazu. Wenn das Amulett für die Wassersäule verantwortlich war, dann hatte sie nicht das Opfer errichtet. Nur warum hing es an dessen Hals? Hatte der Mörder es dort zurückgelassen? Diese Schmuckstücke zählten zu den teuersten der Welt. Aus welchem Grund sollte er das tun? Theo betrachtete die Wunde am Bauch. Sie musste post mortem zugefügt worden sein, denn die Blutmenge, die sich im Wasser verteilt hatte, zeugte nicht von einem noch schlagenden Herzen. »Ein sehr präziser Schnitt mit scharfen Wundrändern«, bemerkte er. »Ein Skalpell?« »Davon gehe ich aus«, erwiderte Andren im Tonfall einer Person, die sich an einem brauchbaren Gesprächspartner erfreute. »Seltsam nicht wahr? Normalerweise haben Mörder wenig Interesse an den inneren Werten ihrer Opfer.« Andren zwinkerte. »Jaa«, sagte Theo langgezogen. Aus seiner Manteltasche holte er ein mit Leder umkleidetes Notizbuch, in dem ein zu kurz geratener Bleistift klemmte. Er blätterte die alten Aufzeichnungen bis zur ersten freien Seite durch, umfasste das Stummelchen und machte sich Notizen. Innerlich schalt er sich, dass er wieder mal vergessen hatte, neue Bleistifte zu kaufen. »Ist die Tatortskizze schon fertig?«, fragte er. Andren nickte. »Ich warte jetzt eigentlich nur noch auf Fredericus.« »Ach, er hat heute Dienst.« Theo schaffte es nicht, seine Antipathie zu verbergen. Fredericus ließ seine schlechte Laune grundsätzlich an anderen aus, und die hatte er häufig. Für einen Hexer war das keine gute Voraussetzung. Seine Magie sollte Patienten helfen, indem er Heilungsprozesse einleitete und unterstützte. Dafür bedurfte es Geduld und Empathie; zwei Eigenschaften, die Fredericus beim besten Willen nicht vorweisen konnte. Also landete er bei der Polizei, wo er sich um die Erstversorgung und die Auflösung von Hexenkreisen kümmerte. Seufzend widmete sich Theo seinen Notizen und wandte sich dann dem Geschehen am Rand des Tatortes zu. Vier Nachtwächter standen eng beieinander und unterhielten sich in besorgtem Raunen. Normalerweise gingen sie zu zweit auf Streife. Aber anscheinend hatten sie nach dem Leichenfund ihre Glocke geläutet, die neben einem Schlagstock und Handschellen immer griffbereit am Gürtel hing, und damit eine weitere Patrouille angelockt. Sie trugen die dunkelblaue Uniform der Polizei und den dazugehörigen silberfarbenen Metallhelm. Der Kälte der Nacht geschuldet, waren sie zusätzlich noch in dunkelblaue Mäntel gehüllt. »Weiß jemand, wer das Opfer ist?«, fragte Theo in die Runde. Alle Polizisten erhielten eine feste Zuteilung zu einem bestimmten Stadtviertel, damit sie die dort ansässige beziehungsweise arbeitende Bevölkerung kennenlernten. Außerdem blieben sie so bei dem örtlichen Klatsch auf dem Laufenden. Es gab kaum einen besseren Informanten als das Getuschel gesprächiger Zungen. Doch keiner der Anwesenden konnte das Gesicht des Opfers zuordnen. »Wer hat die Leiche entdeckt?«, fragte Theo. Zwei Nachtwächter – eine zierliche, aber beherzte Frau und ein blasser Mann mit wässrigen Augen – hoben die Hände. Theo schrieb ihre Vornamen in sein Büchlein: Thilda und Niclaß. »Nachnamen?«, fragte er, die innerhalb des Reviers nur eine untergeordnete Rolle spielten. »Leudi«, antwortete Thilda. »Gëlstar«, schloss sich Niclaß an. »Wann seid ihr auf die Leiche gestoßen?« »Kurz nachdem die Turmuhr eins geschlagen hat.« Thilda nahm eine strammere Haltung an. »Auf unserer gewohnten Runde durchquerten wir gerade die Taugasse, als wir schnelle Schritte hörten. In diesem Viertel und zu dieser Uhrzeit bewegt sich niemand schnell.« Vor allem nicht die orientierungslosen Betrunkenen, die achtzig Prozent des nächtlichen Stadtlebens ausmachten. Schnelle Schritte deuteten auf die restlichen zwanzig Prozent hin, die einen Notfall erlebten oder einen auslösten. »Wie weit waren die Schritte von euch entfernt?« Thilda runzelte die Stirn. »Schwer zu sagen, vielleicht einen Häuserblock.« »Was meinst du Niclaß?« Der Angesprochene bekam rote Wangen. »Ich … ich habe nicht darauf geachtet.« »Wir sind den Schritten natürlich sofort gefolgt«, warf Thilda ein; offensichtlich, um Theos Aufmerksamkeit von ihrem überforderten und vermutlich nicht sehr kompetenten Partner zu lenken. »Aber wir verloren sie in der Nähe der Zuckergasse. Danach überprüften wir die Werkstätten, ob die Türen verschlossen und die Fenster unbeschädigt sind. In dieser Gegend zählen sie zu den bevorzugten Zielen von Einbrechern.« Thilda schluckte. »Und dabei entdeckten wir die Leiche.« Sie verkniff den Mund. Theo nickte und sah zu der Seitentür von der Werkstatt ›Summ & Klopf‹. Deshalb waren Thilda und Niclaß in die Sackgasse gegangen. Eigentlich führte ihre Route sie nicht hier entlang. Ob der Mörder das gewusst hatte? »Meinst du, das war der Täter, den wir gehört haben?« In Thildas Stimme lag ein Schaudern. »Unwahrscheinlich«, murmelte Theo, während er gedankenverloren seine Notizen vervollständigte. Dem Arrangement des Tatorts zufolge ging der Mörder systematisch und überlegt vor. Wäre er dann so unvorsichtig gewesen, einfach wegzulaufen und damit das Interesse der Nachtwache auf sich zu ziehen? Die Streife hatte ungefähr einen Häuserblock entfernt patrouilliert. In dieser Situation bot sich ein diskreter Rückzug viel eher an. Nein, mit ihrem ersten Impuls, nach einem Einbruch Ausschau zu halten, lagen Thilda und Niclaß mit Sicherheit richtig. Irgendjemand kam mit dieser Absicht hierher, stieß auf ein Verbrechen, mit dem er nichts zu schaffen haben wollte, und gab Fersengeld. Theo spürte die Blicke der Nachtwächter auf sich ruhen. »Trotzdem werde ich dem natürlich nachgehen«, fügte er hinzu. »Ist euch sonst noch etwas aufgefallen?« »Nein«, antwortete Thilda. »Wir läuteten sofort die Glocke. Magretha und Caspar kamen uns zu Hilfe. Dem Protokoll entsprechend rührten wir nichts an, sicherten den Tatort und meldeten den Mord im Polizeiquartier dieses Viertels.« Theo schenkte der eifrigen Thilda ein Lächeln, das sie mit Zufriedenheit registrierte. »Als ihr die Leiche entdeckt habt, in welcher Farbe leuchtete der Hexenkreis?« »Weiß.« »Wehe, es ist nicht wichtig«, hallte es unheilvoll durch die Gassen; die Nachtwächter zuckten zusammen. Fredericus versprühte seine schlechte Laune, ehe er überhaupt seinen massigen Körper um die Ecke bewegt hatte. Doch sobald er den Grund für seinen nächtlichen Einsatz erblickte, entgleisten ihm die Gesichtszüge. »Heiliges Ostiolum!«, rief er. »Was ist das denn?« »Ein Hexenkreis«, flötete Andren, während er auf und ab wippte. »Das sehe ich«, brummte Fredericus. Sichtlich verärgert über die eigene Erschrockenheit, straffte er seinen Leib und blickte sich nach den Zeugen dieses unfreiwilligen Kontrollverlustes um. Er nickte Theo und den Nachtwächtern herrisch zu und näherte sich der Wassersäule. »Wie kann man es wagen, den Hexenkreis für so einen Frevel zu verwenden«, polterte Fredericus und umschritt den Tatort. Hexenkreise wurden bei Patienten angewandt, um den Verlauf schwieriger Krankheiten zu verlangsamen und der Hexe oder dem Hexer Zeit zu geben, eine Lösung zu finden. Leider neigte die menschliche Natur viel zu häufig dazu, etwas Produktives in etwas Destruktives zu verwandeln. Trotzdem fanden Hexenkreise bei kriminellen Machenschaften in Gelîvron selten Verwendung. Manchmal stieß die Polizei nach einem Einbruch auf den Hausbesitzer oder den Wachhund, erstarrt in der Zeitlosigkeit. Aber bei Mord … das war für Theo neu. »Ich rate euch, ein paar Schritte zurückzutreten«, sagte Fredericus. Aus seiner grünen Medizintasche mit dem Wappen der Hexengilde – eine Schlange, die eine Pflanze umwand – zog er ein Band aus gelber Seide und mit eingestickten Goldfäden heraus und wickelte es sich um Unterarm und Zeigefinger. Mit ihm konnte er seine Magie kanalisieren und das war vonnöten, wenn ein Hexenkreis gezogen oder aufgelöst werden sollte. Ein schwaches Glühen durchfuhr die Goldfäden. Der schimmernde Kreis auf dem Kopfsteinpflaster schwächelte und dann brach die Wassersäule zusammen. Fredericus sprang fluchend zur Seite, doch seine hellgrüne Robe mit den dunkelgrünen Ornamenten an den Säumen wurde gründlich nass. Theo blickte zu Boden und war froh, nach seinen alten Polizeistiefeln aus dickem Leder gegriffen zu haben. Sie blieben unbeeindruckt von der Flut, die über sie hinweg schwappte. »Widerlich, ich verschwinde«, rief Fredericus. »Ihr findet mich im Badehaus.« Damit zog er von dannen. Andren hatte sich bereits über das Opfer gebeugt, um die Wunde am Bauch zu untersuchen, und kümmerte sich nicht im Geringsten um das Wasser, das gemächlich von seiner Robe aufgesogen wurde. »Ihm fehlt die Leber!«, stieß er überrascht hervor und drehte sich zu Theo um. »Die Leber?« Die Nachtwächter begannen wieder aufgeregt zu tuscheln. »Sie könnte eine Art Trophäe sein«, spekulierte Andren. Theo rümpfte die Nase. In seiner gesamten Laufbahn, angefangen als Streifenpolizist bis hin zu seiner heutigen Anstellung als Inspektor in der Abteilung für Magische Verbrechen, war ihm kein Fall begegnet, bei dem er dem Täter einen gesunden Menschenverstand absprechen musste. Die meisten Bewohner von Gelîvron waren bodenständig, selbst die kriminellen. Sie hatten einen plausiblen Grund, planten gewissenhaft und ließen sich nicht von irrationalen Aussetzern beeinflussen. Aber wie hieß es? Die Ausnahme bestätigte die Regel. Er ging an den Pfützen vorbei, die die Wassersäule auf dem Straßenpflaster gebildet hatte, und hockte sich neben Andren. Dieser wrang seine Robe in einen Glaskolben aus und holte aus dem Analysekoffer eine Flasche mit weißem Salz, mit dem magische Reaktionen nachgewiesen werden konnten. Auf dem Etikett stand: ›K+ Rhodanide‹. »Was ist das?«, fragte Theo. Dort, wo eben noch die Wassersäule gestanden hatte, zeigten sich nun verwaschene Kreidezeichen, die aber zum Teil durch das Opfer verdeckt wurden. »Sieht nach Beschwörungsformeln aus. Irgendein Mumpitz aus der Alten Zeit.« »Darf ich die Leiche bewegen?«, fragte Theo. »Ja.« »Thilda, hilfst du mir?« Die Angesprochene eilte zu ihm und zusammen hievten sie den leblosen Körper zur Seite. Zum Vorschein kamen vier Zeichen, die sich innerhalb eines Kreises anordneten. »Kennst du die Symbole?«, fragte Theo an Andren gerichtet. »Nein, in ›Geschichte der Magie‹ habe ich nicht aufgepasst.« Theo zeichnete sie in sein Notizbuch.

Morgen würde er der Universität der zauberhaften Künste einen Besuch abstatten. Dort fand er bestimmt einen Zauberer, der ihm sagen konnte, was die Zeichen zu bedeuten hatten. »Das wird wohl ein Schneewittchen«, meinte Andren, während er den Glaskolben in seiner Hand begutachtete. Das Salz, weiß wie Schnee, löste sich im Wasser auf, färbte es rot wie Blut und dann nach einem kurzen Aufleuchten schwarz wie Ebenholz. »Das Wasser wurde eindeutig magisch aus der Luft gezogen.« Andren verschloss den Glaskolben mit einem Korken und knotete einen Zettel an ihn, auf den er ›Mag. Was. Sw‹ schrieb. »Vermutlich mit Hilfe des Magieträgers. Es sei denn, ein Wassermagier war involviert und hat ihn zurückgelassen, um uns auf eine falsche Fährte zu locken.« »Nur kann ein Wassermagier keinen Hexenkreis ziehen.« »Vielleicht suchen wir ja auch mehr als einen Täter.« Andren zog aus dem Analysekoffer einen Metallspatel, um etwas Kreide von den Pflastersteinen zu kratzen. »Das werden wir schon herausfinden.« Er lächelte Theo an, in seinen grünen Augen schimmerte Enthusiasmus. »Doch heute kannst du nichts mehr ausrichten. Geh schlafen. Die Nachtwächter werden mir helfen, den Leichnam in mein Labor zu bringen.« Theo nickte, steckte sein Notizbuch ein und begab sich auf den Weg nach Hause.

 

Ohne die Begleitung des Nachtwächters und dessen Laterne umgab ihn die Dunkelheit der Nacht, doch das machte ihm nichts aus. Seine Augen gewöhnten sich an das Licht des zunehmenden Mondes und die Schemen genügten ihm für die Orientierung. Theo war in der Stadt aufgewachsen und kannte jeden Winkel. Allein schon die Beschaffenheiten der Straßen gaben ihm Informationen über seinen Aufenthaltsort. Die viereckigen, faustgroßen Steine unter seinen Füßen gehörten zur Zankgasse, die in die Alte Minenstraße mit ihren glatten, runden Steinen überging. Auf ihr konnte man die ganze Stadt von Ost nach West durchqueren. Um diese Zeit lag sie im Schein der Straßenlaternen. An einer davon traf Theo auf die alte Betty, die Anzünderin, die in einem dicken Mantel auf einer Trittleiter stand und das Öl nachfüllte. »Ein neuer Fall?«, fragte sie ihn und stieg auf den Boden zurück. »Ja.« Sie musterte sein Gesicht. »Schlimm?« »Ziemlich.« »Da hilft nur eins«, behauptete Betty und zog aus ihrer Manteltasche einen Flachmann, der Theo wohlvertraut war. Mit einem Lächeln nahm er ihn entgegen, betrachtete das verbeulte Metall, in das die Initialen ›T.B.‹ eingraviert waren, und trank einen Schluck des billigen Fusels. Als Streifenpolizist war er in seinen Nachtschichten häufig auf Betty getroffen und hatte mit ihr in eisigen Winternächten seinen Flachmann geteilt. Dunkelheit und Kälte verband und so schenkte er ihr seinen nächtlichen Begleiter, nachdem er zum Inspektor berufen wurde. Der Alkohol wärmte. »Schön, dass du ihn in Ehren hältst«, sagte Theo und reichte Betty den Flachmann zurück. »Natürlich. Ohne ihn würde ich nicht aus der Tür gehen. Sein Inhalt hilft, wenn sich die Hüfte wieder meldet.« »Ist es schlimmer geworden?« »Nein, es ist nur das vertraute Zwicken. Nicht der Rede wert.« »Und was macht die Familie?«, erkundigte sich Theo. »Sie schafft es immer wieder, mich zu nerven. Jetzt liegen mir die Enkelinnen in den Ohren, ich solle endlich bei ihnen einziehen und mich von ihnen durchfüttern lassen. Aber sie müssten mich besser kennen. Ich gehe schon so lange meine Runden, ich könnte nachts überhaupt nicht schlafen. Und ich würde die Straße zu sehr vermissen. Sie ist ein Teil von mir und wird es bleiben, bis ich umfalle. Am liebsten direkt auf das Pflaster und fertig.« »Lass dir ja Zeit damit«, erwiderte Theo mit strengem Tonfall. Ihr runzeliges, wettergegerbtes Gesicht würde ihm schmerzlich fehlen. »Ach, jeder von uns hat nur ein gewisses Maß an Öl und dann geht das Licht aus.« Sie pustete. »Mach, dass du nach Hause kommst. Du brauchst deinen Schönheitsschlaf. Bei dir gibt es wenigstens noch etwas zu retten.« Theo schüttelte lachend den Kopf, verabschiedete sich und folgte weiter der Alten Minenstraße. Nach einer Weile bog er in die Kirschblütenallee. Sie wurde von stolzen Steinhäusern und Pflaumenbäumen gesäumt, die – wie der Straßenname vermuten ließ – nicht von Beginn an hier wuchsen. Bei einer über achthundertjährigen Stadtgeschichte war das nicht verwunderlich. Irgendwann starben die ursprünglichen Kirschbäume ab und mussten ersetzt werden. Es folgten zwei genervte Baumlieferanten im Regen, die die Adressen verwechselt hatten, und ein halbtauber Mann, der über keinerlei botanische Kenntnisse verfügte. Seitdem wuchsen hier Pflaumenbäume und niemand hielt es für notwendig, deshalb den Straßennamen zu ändern. Bei einem zweistöckigen Haus aus gelbem Sandstein passierte Theo das schmale, eiserne Tor, durchquerte einen Vorgarten, in dem jeder Grashalm seinen zugewiesenen Platz einnahm, und schloss die Eingangstür auf. Ein Hauch Lavendel wehte ihm entgegen. Seine Schultern sackten entspannt nach unten. Er war zu Hause. Im Flur zündete er eine Öllampe an, zog sich die Schuhe aus und stellte sie in das dafür vorgesehene Regal. Der Mantel fand seinen Platz an der Garderobe, aber zuvor holte er das Notizbuch heraus. Mit ihm und der Lampe in den Händen stieg er die Treppe hoch in den ersten Stock, wo er ein Zimmer gemietet hatte. Das Haus wurde von seinem Besitzer Hieronÿmus penibel gepflegt. Die Holzdielen glänzten und dufteten nach Wachs. Nirgendwo fand sich ein Staubkörnchen und die Vorhänge waren stets frisch gewaschen. Die perfekte Komposition der Ordnung endete aber an der Schwelle zu Theos Reich. Nicht, dass er unordentlich wäre, die Gegenstände in seinem Zimmer hatten nur keine festen Plätze, sie hatten Gebiete, die sich auch mal in die eine oder andere Richtung verlagern konnten. Seine Akten, die mit den laufenden Ermittlungen, lagen auf dem Schreibtisch, die mit den ungelösten Fällen, beim Ohrensessel auf dem Boden. Letztere nahm er gern in der Ruhe der Abendstunden zur Hand, wenn der nebenstehende Ofen ihn in wohlige Wärme einhüllte, um sich auf die Suche nach neuen Eingebungen zu machen. Theo bevorzugte generell eine starke Präsenz seiner Fälle innerhalb des Zimmers. Daher schmückten Zettel und Notizen die Wände sowie eine große, vergilbte Stadtkarte, die ihm half, Ereignisse aus der Vogelperspektive zu betrachten. Denn manchmal war die Lösung eines Problems nur einen anderen Blickwinkel weit entfernt. Sollte Theo trotzdem einmal Abstand von seiner Arbeit suchen, dann widmete er sich den Geschichtsbüchern, die er seit seinem zehnten Lebensjahr sammelte und die mit ihren dekorativen Umschlägen in einem Regal standen – meistens. Es half ihm, die Welt zu verstehen, wenn er las, wie die Menschen ihre Vergangenheit interpretierten, was sie heraushoben, was sie verschwiegen. Mit einem Seufzer setzte sich Theo auf sein Bett; die Aussicht auf den Schlaf stimmte ihn zufrieden. Er stellte die Öllampe auf den Nachttisch, steckte das Notizbuch in die Schublade und holte seine Dienstmarke unter dem Hemd hervor. Sie bestand aus einem kleinen, länglichen Schild aus Metall, das er an einer Kette um den Hals trug. Oben stand sein Name eingraviert, auf der rechten Seite prangte das Wappen der Polizei, auf der linken das von Gelîvron: eine brennende Fackel und eine Mistgabel. Das komplizierte Muster am Rand sollte das Fälschen des Dienstabzeichens so unbequem wie möglich machen. Theo streifte sich die Marke und das Hemd über den Kopf. Erstere legte er auf den Nachttisch, Letzteres katapultierte er in die linke Ecke des offenen Kleiderschrankes, genau in die Abteilung ›kann man noch tragen, ohne empfindliche Nasen zu stören‹. Die Hose hatte allerdings etwas vom Wasser des Tatortes abgekommen, daher warf er sie zusammen mit den Wollsocken auf den Haufen neben dem Schrank, der für die Wäscherei bestimmt war. In Unterhemd und den knielangen Unterhosen krabbelte er ins Bett und wickelte sich in die nach Lavendel riechenden Decken ein. Sie gehörten zum gestellten Inventar und wurden von Hieronÿmus einmal in der Woche gewaschen. Damit stellten sie den einzigen Fleck in diesem Zimmer dar, dem ohne triftigen Grund eine regelmäßige Pflege zuteilwurde. Alles andere erfüllte eine Funktion und solange die gewährleistet war, kümmerte sich Theo nicht darum. Das betraf auch den Staub. Da er nicht schadete, blieb er unbeachtet und hatte die Möglichkeit, sich auszubreiten und ganze Reiche und Generationen aufzubauen. Bis der Lappen des Hieronÿmus als Weltenzerstörer zuschlug. Still und heimlich verschwand auf gar nicht so mysteriöse Weise und zu willkürlichen Zeitpunkten die Patina dieser Räumlichkeit. Auch wenn Hieronÿmus bei Theos Einzug beteuert hatte, er würde sich gänzlich aus den Angelegenheiten seines vermieteten Zimmers heraushalten. Und nach fünf Jahren des Zusammenwohnens würden weder Theo noch Hieronÿmus etwas anderes behaupten. Theo reckte sich und löschte die Öllampe. Die Dunkelheit umschloss ihn schlagartig. Die Augen und die Hände hatten nichts mehr zu tun und die Gedanken wurden lauter. Sie wollten unbedingt die Eindrücke der Nacht mit ihm besprechen, auch wenn der Körper darauf hinwies, dass er eine Mütze voll Schlaf benötigte. Theo stimmte ihm vollkommen zu. Trotzig drehte er sich auf die Seite, kuschelte sich in die Kissen und gebot seinem schnatterhaften Kopf, endlich zu schweigen. Immerhin hatte er nur noch ein paar Stunden Zeit, bis der neue Tag ihn mit seiner ganzen Betriebsamkeit einforderte. Er musste zur Universität der zauberhaften Künste. Aber vorher sollte er im Revier vorbeischauen und mit Dorothea reden, der Aktenverwalterin in der Abteilung ›Auswärtige Verbrechen‹. Vielleicht hatte es in anderen Gebieten schon einmal einen ähnlichen Mord gegeben. Außerdem könnte Andren morgen bereits erste Erkenntnisse gewonnen haben. Bei dem Enthusiasmus, den er am Tatort zeigte, würde er wahrscheinlich mit den Tests beginnen, sobald die Leiche im Labor lag. Und er würde Antworten finden, das tat er immer. Mithilfe seines untrüglichen Gespürs ließ er keinen Toten ins Grab gehen, ohne ihm sämtliche Geheimnisse entlockt zu haben, und zwar nicht nur über sein Dahinscheiden, sondern auch über sein Leben. Er konnte zum Beispiel herausfinden, in welchen Regionen sich der Verstorbene länger aufgehalten hatte, welche Nahrung er bevorzugte oder welchem Beruf er nachging. Manchmal graute Theo die Vorstellung, er könnte selbst einmal auf seinem Seziertisch landen. Würde er dann aufdecken, dass er bei seiner Bewerbung bei der Polizei gelogen hatte? Die Lüge war nicht schwerwiegend, sie drückte vielmehr seinen Wunsch nach Privatsphäre aus. Er wollte seine Vergangenheit konsequent hinter sich lassen und dabei half es, wenn die Kollegen nichts von ihr wussten. Damals war Theo ein schlaksiger Kerl von achtzehn Jahren und trug stolz einen Bart, der an ein Frettchen mit Haarausfall erinnerte – irgendwie dunkelbraun und lückenhaft. Zum Glück änderte sich das mit der Zeit und seine Kinn- und Wangenbehaarung konnten sich auf ein koordiniertes und flächendeckendes Gesamtbild einigen. Wenn es um seinen Bart ging, war Theo eitel. Einmal in der Woche besuchte er den Barbier um die Ecke, um ihn stutzen und mit wohlriechenden Ölen behandeln zu lassen. Ob er morgen Zeit dafür fand? Er hatte seine Gedanken gemächlich in die Belanglosigkeit geführt und merkte, wie sein Körper schwerer wurde. Der Schlaf war zum Greifen nah – und dann tauchten die Augen des Feuermagiers vor ihm auf, die ihn aus der Wassersäule heraus anstarrten. Theo schlug die Decke zur Seite und stand auf. Die Eindrücke der Nacht hatten gewonnen. Er holte Streichhölzer aus der Schublade des Nachttisches, zündete die Öllampe wieder an und trug sie zusammen mit seinem Notizbuch zum Schreibtisch. Aus einem Ablagekasten, der von jeder Menge Zetteln belagert wurde, zog er eine leere Akte, um sie mit den Beobachtungen, Erkenntnissen und Vermutungen des neuen Falles zu bestücken. Vorn schrieb er mit Füllfederhalter das heutige Datum drauf: ›23.04.498 n.d.R‹, die Abkürzung für ›nach der Revolution‹. Die bekannte Welt hatte sich der Einfachheit halber auf gemeinsame Monate und Tage geeinigt, aber was die Jahreszahl anging, fanden sie keine Übereinstimmung. In der Nachbarstadt Cranesberg und den dazugehörigen Landstrichen erinnerte die Zahl 1799 an die Krönung des ersten Königs. Er läutete den Anfang einer eher schmückenden als herrschenden Monarchie ein. Das Königreich Dûvasâlig, das weit im Süden lag, ehrte mit der Jahreszahl 1864 die Geburt irgendeines weisen Mannes, dem auch einige Wunder zugeschrieben wurden. Aber wer konnte das heute schon mit Gewissheit sagen? Die Menschen hatten ganze eintausendachthundertundvierundsechzig Jahre Zeit, dem armen Kerl alles Mögliche unterzujubeln, und er befand sich in der misslichen Lage, als Toter nicht mehr widersprechen zu können. Für Gelîvron begann die Zeitrechnung mit der Unabhängigkeit, die ihre Bewohner ungefähr dreihundert Jahre nach der Gründung eingefordert hatten und die die Mentalität der Stadt bis heute prägte. In Gelîvron lebten freie Menschen und wenn es jemand wagte, ihnen das nehmen zu wollen, erweiterten sie diese Bezeichnung noch um das Adjektiv ›kampfeslustig‹. Es kam nicht von ungefähr, dass das Stadtwappen eine brennende Fackel und eine Mistgabel in trauter Eintracht nebeneinander zeigte. Ein mit der Historie vertrauter Mensch würde an dieser Stelle betrübt den Kopf schütteln und Beispiele aufzeigen, bei denen Schreckensherrschaften genau mit diesen Gegenständen begonnen hatten. Doch in Gelîvron gab es bei aller Bereitschaft, die eigene Freiheit mit Klauen und Zähnen zu verteidigen, immer einen mäßigenden Einfluss: ihren Pragmatismus. Wenn man es mit der Freiheit übertrieb, konnte sie ins Gegenteil umschlagen und das wollte keiner verantworten. Ab einem gewissen Punkt wurde die Fackel also nur noch als Lichtspender genutzt und mit der Heugabel das Heu gewendet. Das war das Schöne an diesen Utensilien, sie waren auch für den Frieden gemacht, im Gegensatz zu anderen Waffen.

II.

 

Der Morgen kitzelte Theo an der Nase, aber geweckt wurde er von den klappernden Geräuschen aus der Küche im Erdgeschoss. Die Tür stand wohl offen und die Akustik der Frühstücksvorbereitung drang durch das ganze Haus. Theo hob blinzelnd seinen Kopf. Ein anhängliches Blatt Papier klebte an seiner Wange, unterwarf sich der Schwerkraft und segelte zurück auf den Schreibtisch. Auf seiner Haut hinterließ es Abdrücke der schwarzen Tinte, die noch feucht gewesen war, als er nur mal kurz die Augen ausruhen wollte. Irgendwann forderte der Schlaf immer seinen Tribut. Theo nahm das Blatt und die dazugehörigen Seiten, auf denen er die ersten Überlegungen zu dem Täter oder den Tätern zusammengefasst hatte, und überflog die Zeilen:

›Die Kombination von Wasser- und Hexenmagie am Tatort wirkte wie aus einem Guss.Was eher auf einen Einzeltäter hinweist. Denn Magiern fällt es schwer, sich auf die Kräfte eines Kollegen einzulassen, und sollte es ihnen doch gelingen, bedarf es einer langen und kontinuierlichen Trainingszeit, um ein halbwegs funktionierendes Zusammenspiel zu erzeugen.

 

Wenn es ein Einzeltäter war, kommen dafür zwei Gruppen infrage: 1. Hexen sowie Dimensions- und Lichtmagier, die weitere Fähigkeiten mithilfe von Magieträgern ausbilden können. (Selten) 2. Nichtmagier mit einem Zugang zu mehreren Magieträgern. (Noch seltener)

 

Das Problem ist: Der Hexenkreis kann nur mit einer entsprechenden Ausbildung gezeichnet werden. Das spricht für ein Mitglied der Hexengilde. Doch um so viel Wasser aus der Luft zu ziehen und zu einer Säule zu formen, muss ein routinierter Umgang mit einem Magieträger gegeben sein, der ausschließlich in der Universität der zauberhaften Künste vermittelt wird. Nur gibt es zurzeit keine Person, die Mitglied in beiden Gilden ist. Also, wie konnte der Täter seine Magie so perfektionieren?‹

Hier endete Theos Ausführung; über dieser Frage war er eingeschlafen. Und er hatte noch weitere, die ihn umtrieben. Wofür brauchte der Täter eine Leber? Warum arrangierte er den Tatort auf diese Weise? Es musste unglaublich kompliziert gewesen sein, das Opfer in der Wassersäule zu halten, während er den Hexenkreis zog. Also wofür betrieb er diesen Aufwand? Nachdenklich starrte Theo auf seine Schreibarbeit der letzten Nacht. Die Ermittlungen versprachen arbeitsintensiv zu werden. Allein schon den ersten Indizien zu folgen, würde viel Zeit in Anspruch nehmen. Zum Glück konnte er seine anderen offenen Fälle getrost an die Kollegen abtreten. Die Auseinandersetzung zweier Feuermagier mit schweren Körperverletzungen bei unbeteiligten Dritten musste nur noch für das Gericht dokumentiert werden. Der Einbruch in die Universität der zauberhaften Künste war so gut wie aufgeklärt, da sich der Verdächtige bereits um Kopf und Kragen geredet hatte. Die zwei Fälle von Sachbeschädigung durch Magieanwendung konnten auch die Gerichtshelfer zu Ende führen. Der einzige aufwendige Fall, um den sich Theo kümmern musste, beschäftigte sich mit magisch aufgewerteten Drogen, die vor kurzem in der Stadt aufgetaucht waren. Da der Stadtrat die Ermittlungen aber mit Interesse verfolgte, würde sein Kollege Lenhard sie sicherlich mit Freude übernehmen. Er witterte stets eine Gelegenheit, sich selbst gut in Szene zu setzen und an Prestige zu gewinnen. Dann könnte sich Theo gänzlich auf den Mord der letzten Nacht konzentrieren. Bei dem Gedanken keimte Unbehagen in ihm auf. Er ging zur Waschkommode, schüttete das Wasser in die Schale und wusch sich das Gesicht. Schwierige Fälle versetzten ihn normalerweise ins Jagdfieber, diesmal überwog die Vorsicht. Die Handschrift des Täters hatte etwas an sich, vor dem er instinktiv zurückschreckte. Natürlich stand ihm die Möglichkeit offen, die laufenden Fälle zu behalten und den neuen abzugeben, aber wenn er erst einmal anfing, sich zu drücken, wo würde das dann enden? Ängste wurden groß, sobald man sie fütterte. Apropos füttern, der Duft von gebratenen Eiern und geröstetem Brot drang ihm in die Nase. Schnell beendete Theo die Morgenwäsche, zog sich an und streifte die Dienstmarke über seinen Kopf. Von seinem knurrenden Magen angetrieben eilte er die Treppe runter in die Küche. Hieronÿmus stand mit einer Schürze am Eisenherd und legte ein paar Holzscheite nach. Der hochgewachsene, hagere Mann in den späten Sechzigern wies wie immer ein tadelloses Erscheinungsbild auf. Seine Kleidung war sorgsam gebügelt. Die Schuhe glänzten mit der Küche und den goldenen Manschettenknöpfen am weißen Hemd um die Wette. Bei seinen grauen Haaren rebellierte kein einziges Exemplar und die Gesichtsbehaarung bekam durch die morgendliche Rasur nicht einmal die Gelegenheit, aus der Reihe zu tanzen. »Ich wollte dich gerade holen.« Hieronÿmus schloss die Ofenklappe und trat an die Küchenspüle heran, um sich die Hände zu waschen. »Dein Essen ist dir zuvorgekommen«, bemerkte Theo und setzte sich an den Tisch, auf dem Hieronÿmus das Frühstück aufgetragen hatte. »Es duftet köstlich.« Seine glänzenden Augen wanderten über das gebratene Rührei, die gerösteten Weißbrotscheiben und die Käseplatte. Theo zählte zu den genussvollen Essern, was auch für die kleinen Polster an der Hüfte und dem Bauch verantwortlich war. »Hast du einen neuen Fall?«, fragte Hieronÿmus, der gestern Nacht dem wild klopfenden Polizisten die Tür geöffnet hatte. »Ja.« Theo legte zwei Scheiben Weißbrot auf seinen Teller, überhäufte sie mit Rührei und ließ frisch gehackte Küchenkräuter auf den weiß-gelben Berg niederrieseln. Hieronÿmus kannte Theo gut genug, um seine Stimmlage und Mimik richtig zu deuten: Er wollte sich von den Einzelheiten des nächtlichen Einsatzes nicht den Appetit rauben lassen. Beim Schlaf war er verhandlungsbereit, beim Essen nicht. So setzte sich Hieronÿmus zu Theo an den Tisch und unterhielt sich mit ihm während des Frühstücks lediglich über Nebensächlichkeiten. Heute würde die Gärtnerin vorbeikommen, die Hieronÿmus mit seinen Marotten regelmäßig zur Verzweiflung brachte. Der schlimmste Streit zwischen ihnen brach vor einem halben Jahr aus, als sie mit dem Zollstock beweisen musste, dass die Buchsbaumhecke hinter dem Haus überall exakt gleich hoch war. Am Ende gewann Hieronÿmus’ Augenmaß.

 

Nach dem Frühstück sortierte Theo die Unterlagen der offenen Fälle. Dafür nahm er Blätter von den Wänden, ordnete die Papiere auf dem Schreibtisch und steckte sie in die Akten, die er stapelte und mit einer Kordel verschnürte. Er trug sie zusammen mit seinem Notizbuch und der Mappe des neuen Falls in den Flur, wo die Standuhr gerade fünf nach neun anzeigte. Er war spät dran. Hastig schlüpfte er in Stiefel und Mantel, stopfte sein Notizbuch in die Tasche und verließ mit den Akten unter dem Arm das Haus. Mit schnellen Schritten eilte er durch die Stadt. Auf der Alten Minenstraße herrschte die gewohnte Betriebsamkeit. Beladene Ochsenkarren schoben sich über das Steinpflaster, sicherten den Warentransport von Gelîvron und die Arbeit der Straßenreiniger, die mit Schaufeln und abgehärteten Nasen den zukünftigen Dünger einsammelten. Kutschen machten nur einen geringen Teil der städtischen Mobilität aus. Einige wohlbetuchte Bürger, Oberhäupter der Gilden oder Ratsmitglieder leisteten sie sich aus Gründen der Bequemlichkeit und der Privatsphäre. Auf Kosten der Schnelligkeit, denn durch die engen Seitenstraßen und das Getümmel auf den Hauptstraßen dauerte eine Fahrt mit der Kutsche in der Regel recht lange. Die meisten Menschen gingen ihren alltäglichen Beschäftigungen daher zu Fuß nach. Wenn der Begriff ›Menschen‹ fiel, sollte immer im Hinterkopf behalten werden, dass er alle humanoiden Formen mit einschloss. Die Evolution war dank der Magie überaus einfallsreich. Nur der Homo simplex, der einfache Mensch, hatte sich ausschließlich mit genetischer Mutation aus der Ursuppe zu einer aufrechtgehenden Lebensform entwickelt. Er wies ein paar Variationen bei der Haut- und Haarpigmentierung auf, bildete ein großes Gehirn aus, dessen Kapazität er selten ausschöpfte, und machte einen Schub in die Höhe, um an die tief hängenden Früchte von Apfelbäumen heranzukommen. Das war es schon. Von dieser gemächlich durch die Zeit schlurfenden Spezies zweigten sich gelegentlich weitere humanoide Formen ab, die durch magische Mutation beeinflusst worden waren. Die menschlichen Gene hatten sich mit Mineralien, Tieren oder Pflanzen vermischt und das Erscheinungsbild nachhaltig verändert. Aber in Gelîvron galt ein einfaches Prinzip: Gleiches Herz bewies die Verwandtschaft. Natürlich im übertragenen Sinne, keiner verlangte eine anatomische Prüfung. Damit gehörte Gelîvron zu den wenigen Städten, in denen humanoide Formen jeglicher Art unbehelligt leben konnten. Auch Magier. Das war nicht selbstverständlich. In einigen Ländern wurden sie geächtet, verfolgt und manchmal sogar umgebracht. Theo fand das absurd. Magie vererbte sich rezessiv. Das bedeutete, selbst in Familien, zu deren Ahnen keine Magier zählten, konnte es passieren, dass ein Kind mit Fähigkeiten geboren wurde. Und dann? Wollte man in einer Welt leben, in der das eigene Kind nicht sicher war? Die für die Magie verantwortlichen Magieteilchen verschmolzen schon früh mit den Genen des Homo simplex’ und tauchten in allen humanoiden Spezies auf. Sie gehörten zum menschlichen Dasein, auch wenn nicht jeder über sie verfügte. Theo erreichte den Klimperplatz, auf dem zahlreiche Buden ihre Waren feilboten, schlängelte sich durch die plappernden Massen und bog am Rathaus in die Schlupfwinkelgasse ab, eine Abkürzung zur Traggutstraße, wo das Polizeihauptquartier stand. Das ehrwürdige Gebäude hatte schon ein paar Jahrhunderte auf dem Buckel. Vor der Revolution gehörte es einem Adeligen, der ein Gespür dafür hatte, wann es an der Zeit war, den eigenen Status infrage zu stellen. Er wollte lieber in der wütenden Menge treiben, als von ihr gejagt zu werden. Also übertrug er das Gebäude als Zeichen des guten Willens an die Stadt und begnügte sich mit einer weniger protzigen, sprich mit einer ungefährlicheren Bleibe. So wurde das rosa Haus mit der kunstvollen Fassade zum ersten Stützpunkt der Schutzbürger, dem Vorläufer der heutigen Polizei. Theo erklomm ein paar Stufen, öffnete die Eingangstür, über der das Polizeiwappen hing, und grüßte im Vorbeigehen Marvin, der an der Information in der Eingangshalle saß. Eine breite Holztreppe mit grünem Läufer führte ihn in die Abteilung für Magische Verbrechen, die der Abteilung für Kapitalverbrechen direkt gegenüber lag. Im Flur mit Mosaikboden und großen Fenstern zu seiner Linken gingen acht Türen zu den Büros der Inspektoren ab. Hinter der ersten befand sich Theos Büro. Es war ein beengter Raum, der zwei gegenüberstehende Schreibtische, zwei Stühle und eine Zimmerpflanze beinhaltete, die mit ihren kräftig grünen Blättern gegen die lieblose Atmosphäre ankämpfte. Theo kümmerte sich hingebungsvoll um ihr leibliches Wohl und hatte sich angewöhnt, seine Gedankengänge mit ihr zu teilen. Vor allem, wenn er in einem Fall mal nicht weiterkam. Es war nicht auszuschließen, dass sie ihm den einen oder anderen Geistesblitz in den Kopf setzte. Sobald Theo an diesem Morgen ins Büro kam, legte er die Akten auf dem Schreibtisch ab und prüfte die Erde im Pflanzentopf. Er empfand sie als zu trocken und griff nach der nebenstehenden Wasserkaraffe, um sie damit zu gießen. Es klopfte an der Tür und Lenhard betrat mit einem schiefen Lächeln den Raum. »Ich habe gehört, deine Stiefel stecken im Schlamm eines großen Falls.« Seine flinken, grauen Augen huschten zum Aktenstapel. Dieser Bluthund; er konnte eins und eins zusammenzählen. Wortlos löste Theo die Kordel und reichte ihm den ersehnten Drogenfall. Lenhard nahm ihn zufrieden in Empfang. »Ich werde mich gut um ihn kümmern.« »Da bin ich mir sicher.« Lenhard wollte schon wieder gehen, als ihn Theo mit einem kurzen Pfiff davon abhielt. »Den Fall darfst du behalten, aber für die anderen«, Theo legte ihm die restlichen Akten in den Arm, »suchst du auch ein schönes Zuhause.« »Klar«, brummte Lenhard und zog von dannen. Jetzt musste Theo wenigstens nicht mehr alle Büros abklappern. Er kontrollierte die Postablage, ob es neue Nachrichten für ihn gab. Doch da waren nur noch alte, die sich bereits erledigt hatten. Bis auf einen Zettel, der von ihm selbst stammte: ›Denk endlich daran, zum Krämer zu gehen und Bleistifte zu kaufen‹. Er steckte ihn in seine Manteltasche. Jetzt hätte er sich eigentlich in die Arbeit stürzen können, wenn da nicht dieses Gefühl wäre, dass er irgendetwas vergessen hatte. Er sah noch mal in der Postablage nach und kramte in seinen Erinnerungen, doch ihm kam keine Eingebung. Ungeduldig gab er die Bemühung auf – es würde ihm schon wieder einfallen – und eilte aus dem Büro.

 

Seine erste Station an diesem Tag war die Abteilung für Auswärtige Verbrechen. Sie lag im Dachgeschoss des Polizeihauptquartiers und bestand aus einem langgestreckten Raum gefüllt mit Regalen, die wiederum mit Akten vollgestopft waren. Keiner verstand das Ablagesystem, nur Dorothea, die sich in den Reihen bewegte, als ob sie in ihrem eigenen Gehirn spazieren ging. Die Aktenberge dokumentierten Verbrechen außerhalb von Gelîvron. Entweder zeichneten sie sich durch ihre Ungewöhnlichkeit aus oder deuteten auf eine überregionale Beteiligung hin. Viele Kriminelle, vor allem die ambitionierten, pflegten Verbindungen in die entlegensten Winkel der Welt und dirigierten Verbrechen aus weiter Ferne. Sie waren gut organisiert und um ihnen gewachsen zu sein, musste die Polizei verschiedenster Städte und Länder kooperieren. Fahrende Polizisten reisten die meiste Zeit von einem Ort zum nächsten, um einen Eindruck von den hiesigen Straftaten zu bekommen. Per Post schickten sie interessante Akten zu ihren Heimatrevieren oder brachten sie direkt von den Reisen mit. In Gelîvron landeten all diese Unterlagen in Dorotheas Händen. Sie sichtete jeden Fall und fügte ihn in ihr Herrschaftsgebiet ein. Für ihre Arbeit stand ihr Jacobus, eine Schreibkraft, zur Seite, der zwar nicht der Schnellste war, aber intelligent genug, um Dorotheas komplexen Anweisungen Folge zu leisten. Als Theo heute die Abteilung betrat, saß nur er an seinem Schreibtisch, von Dorothea fehlte jede Spur. »Guten Morgen.« Theo nickte Jacobus zu. »Ist Dorothea in der Nähe?« »Nein.« »Wann kommt sie wieder?« »Das sagte sie nicht.« Und Jacobus hätte es nie für notwendig erachtet nachzufragen. Bei seiner Arbeit war er detailverliebt, aber beim Umgang mit Menschen zeigte er einen ausgeprägten Minimalismus. Er behandelte Wörter, als ob sie etwas kosten würden, und wenn jemand wegging, ging er halt weg, bis er wiederkam. Mit solchen irrelevanten Kleinigkeiten hielt er sich nicht auf. Als Augenzeuge oder Informant wäre er ein Albtraum. »Kannst du ihr eine Nachricht übermitteln?« Jacobus sah ihn erwartungsvoll an und sparte sich damit eine Antwort. »Ich suche nach Morden, bei denen mehrere Magiearten eine Rolle spielten. Keine Verbrechen im Affekt, sondern geplante. Sagen wir mal – der letzten fünf Jahre. Meinst du, Dorothea könnte mir die Akten bis heute Abend nach Hause schicken?« Jacobus nickte und wandte sich wieder seiner Arbeit zu. Theo zögerte einen Moment, doch da von Jacobus keine weitere Regung ausging, verließ er die Abteilung.

 

Über das seitliche Treppenhaus gelangte Theo direkt runter in den Keller, wo eine gewöhnungsbedürftige Atmosphäre herrschte. Grundsätzlich war es in den Gewölben aus Bruchstein kälter als im restlichen Gebäude. Im schummrigen Licht der Öllampen konnte man den Gedanken an die Leichenkammern rechts und links schlecht aus dem Bewusstsein verbannen. Hinzu kam dieser seltsame Geruch, der sich von Tag zu Tag änderte. Heute empfing Theo eine Variante, die nach verfaulten Eiern roch und ihm in der Nase kribbelte. Mit Widerwillen ging er den Gang entlang auf Andrens Labor und die Quelle der olfaktorischen Belästigung zu. Die Tür knarzte, als er sie öffnete. Andren blickte von seinem Experimentiertisch auf. »Theo, auf dich habe ich gewartet.« Durch die schmutzigen Kellerfenster drang das Licht nur zaghaft. Die Dunkelheit ließ sich kaum von ihm beeindrucken; sie lungerte in den Ecken herum und löste im Kleinhirn eines jeden Besuchers existenzielle Vorsicht aus. Zwei Orte, die mit Öllampen erhellt wurden, stachen aus den Schatten heraus: der Experimentier- und der Seziertisch. Letzterer erregte sofort Theos Aufmerksamkeit. Das entkleidete Opfer aus dem Hexenkreis lag auf der metallenen Oberfläche. Eine besonders große Öllampe hing über ihm und durch bewegliche Spiegel konnte das Licht auf einen bestimmten Fleck gerichtet werden. Um genauer zu sein, auf die breite Bauchwunde, die Andren mit kleinen Haken auseinandergezogen hatte. Ein flaues Gefühl rührte sich in Theos Magen. Während seiner Polizeilaufbahn hatte er zahlreiche Leichen gesehen; mit oder ohne Larven, durch Wasser aufgeschwemmt, skelettiert und einmal gänzlich mumifiziert. Damit kam er zurecht, das war die Natur der Dinge. Doch an die Leichenschau konnte er sich nicht gewöhnen. In seinen ersten zwei Jahren als Polizist besuchte er sie nie ohne einen Eimer. Zwar hatte er mittlerweile seinen Brechreiz unter Kontrolle, zuzusehen, wie jemand in den Innereien einer aufgeschnittenen Leiche herumstöberte, ekelte ihn trotzdem an. »Was hast du herausgefunden?«, fragte Theo und ging eine kurze Treppe runter ins Labor. Andren wusch seine Hände an einem Waschbecken, trocknete sie ab und stellte sich an den Seziertisch. »Wie ich gestern schon gesagt habe, fehlt dem Opfer die Leber.« Er deutete auf den Bereich, wo das Organ eigentlich zu finden war. Theo trat an den Tisch heran. Mit gerunzelter Stirn nickte er sachkundig, vermied aber, allzu genau hinzusehen. »Wenn ich den Magen etwas zur Seite schiebe –« Theo presste die Lippen zusammen und widerstand dem Versuch, seinen Blick abzuwenden. »Dann kannst du erkennen, dass die Milz ebenfalls entwendet wurde.« »Jetzt sind es schon zwei Organe?« »Und dabei ist er gezielt vorgegangen. Seine Wahl war sicherlich nicht willkürlich.« »Demnach besitzt er medizinische Kenntnisse.« »Auf jeden Fall anatomische, medizinische bezweifle ich. Seine Schnitte waren unsicher, er wollte die Organe, wusste aber nicht, wo genau er das Skalpell ansetzen sollte. Bei der Pfortader, die zur Leber führt, hat er zwei unvollständige Schnitte hinterlassen, bevor er sie endgültig durchtrennte. Als er die Milz entnahm, setzte er bei dem ›Ligamentum gastrolienale‹ zu viel Kraft ein und verletzte das umliegende Gewebe.« Andren deutete auf eine kleine Furche. »Keine Hexe, kein Hexer würde so stümperhaft vorgehen.« »Vielleicht ist der Täter noch in der Ausbildung.« »Selbst wenn, in der Hexengilde wird der Auszubildende erst nach dem erfolgreichen Abschluss des Anatomiekurses in das Geheimnis des Hexenkreises eingeweiht. Und der am Tatort wurde von einem Experten gezogen.« »Also ausgehend von seiner stümperhaften Organentnahme, sollte er den Hexenkreis eigentlich nicht beherrschen. Oder umgekehrt, wenn wir den nahezu perfekten Hexenkreis berücksichtigen, müssten seine medizinischen Fertigkeiten weitaus besser sein.« »Dann bleibt noch die Möglichkeit, dass wir mindestens zwei Täter suchen, von denen einer aus der Hexengilde stammt«, schlussfolgerte Andren. »Aber warum sollte ein Mittäter die Organe unbeholfen entnehmen, während jemand mit medizinischen Kenntnissen daneben steht? Das ergibt alles keinen Sinn.« Andren grinste. »Zum Glück muss ich nur die Einzelteile liefern, es ist deine Aufgabe, sie zusammenzusetzen.« Seufzend zog Theo sein Notizbuch aus der Manteltasche und begann mit dem kurzen Bleistift die ersten Wörter zu schreiben. »Das kann man ja nicht mit ansehen«, meinte Andren. Schnell wusch er sich das Blut von den Händen und ging zum Experimentiertisch, wo er einen neuen Bleistift aus einem Becher nahm. »Oh, danke.« Theo reichte ihm im Gegenzug seinen. »Was soll ich denn mit dem?« »Keine Ahnung.« Andren warf das fragwürdige Geschenk in den Mülleimer neben dem Seziertisch; Theo ließ ihm den Zettel folgen, auf dem er sich selbst erinnert hatte, zum Krämer zu gehen. Punkt abgehakt. Er fügte in sein Notizbuch ein paar Zeilen hinzu und fragte: »Hast du sonst noch etwas herausgefunden?« »Es gibt keine Anzeichen für eine körperliche Auseinandersetzung. Das Opfer ist nicht einmal dazu gekommen, Magie anzuwenden.« Andren hob die Hand des Toten hoch. »Seine Schutzhandschuhe hingen am Gürtel, hätte er Feuer gebildet, dann würden wir hier Verbrennungen finden.« »Er wurde überrumpelt«, stellte Theo fest. »Hast du schon ein Bild von seinem Gesicht angefertigt?« »Ja.« Andren nickte Richtung Experimentiertisch, auf dem eine Zeichnung lag. Theo nahm sie; sein Blick blieb an einem Glaskasten hängen, der direkt daneben stand. Sein Holzdeckel hatte Luftlöcher. Der Boden war mit Rindenstücken bedeckt, zwischen denen eine Schale mit Wasser und einige Steine herausragten. »Was ist das hier?« »Das zeitweilige Domizil einer Tarnkappenechse«, antwortete Andren und gesellte sich zu ihm. Theo ging mit dem Gesicht näher heran und jetzt konnte er auf einem der Steine ein leichtes Flimmern in der Luft erkennen – in Form einer Echse. Die Magie hatte sich in der menschlichen Biologie als wankelmütige Erscheinung etabliert. Bei manchen setzte sie sich durch, bei den meisten nicht. Im Tierreich gehörte sie aber bei schätzungsweise vier Prozent zum festen Bauplan. Die Stummelhummel besaß zum Beispiel so kurze Flügel, dass sie Windmagie benötigte, um überhaupt fliegen zu können. Der Kruppenkäfer, der in besonders kargen Landstrichen lebte, entzog mit seinem Hintern Wasser aus der Luft. Vor allem kleinere Tiere verfügten über stabil vererbbare Magie. Bei den Säugetieren war es unter anderem der Kugelmull, ein Maulwurf, der sich bei Gefahr einrollte und Erde aus der Umgebung anzog. Innerhalb von Sekunden steckte er in einer festen Erdkugel, die kein Raubtiergebiss aufknacken konnte. Magische Tiere mit einer größeren Körpermasse kamen hingegen selten vor. Zu den beeindruckendsten Vertretern gehörte die Methusalemschildkröte. Sie lebte in den kalten Gewässern des Nordens, maß an die zehn Meter und erreichte ein Alter von über eintausend Jahren. Zoologische Zauberer hatten herausgefunden, dass Heilmagie auf noch unbekanntem Wege ihren Alterungsprozess verlangsamte. Doch die Methusalemschildkröte war nicht das größte magische Lebewesen. Das war der Frostpilz, dessen Hyphen sich bis zu dreihundert Quadratkilometer weit ausbreiten und die Temperatur der Region drastisch abkühlen konnten. Andren setzte Kulturen von ihm bei der Konservierung der Leichen ein. »Das ist Luke«, stellte Andren die Tarnkappenechse vor. »Er war ein blinder Passagier in einer Obstkiste aus Genanda. Unser Hausverwalter bekam sie gestern geliefert und stammelte etwas von Geistern in der Küche.« »Dann hat der kleine Kerl aber eine weite Reise hinter sich.« »Ja, ich werde mich bei Gelegenheit um eine Rückreisemöglichkeit kümmern und bis dahin habe ich ein Labormaskottchen.« Andren lächelte. »Wusstest du, dass er gerade unsere Wahrnehmung manipuliert, damit wir ihn nicht sehen?« »Das dachte ich mir. Illusionisten hinterlassen auch so ein Flimmern in der Luft.« Theo deutete auf die entsprechende Stelle über dem Stein. »Ein aufmerksames Auge. Interessanterweise ist das gleiche Magieteilchen für die Fähigkeiten der Illusionisten und der Tarnkappenechsen verantwortlich.« Um genauer zu sein, das Ostiolum mens. Doch während es einen Illusionisten befähigte, komplexe Visionen im Gehirn seines Gegenübers aufkommen zu lassen, konnte die Tarnkappenechse nur sein Verschwinden vortäuschen. Wie weit ein Magieteilchen wirkte, hing also von dem zugehörigen Organismus ab. Wie viele Magieteilchen existierten, vermochte selbst der gelehrteste Zauberer nicht zu bestimmen. Die Welt war groß und vielfältig. Bei den Menschen wurden bis jetzt acht Ostiola bestimmt, die für kontrollierbare Magie verantwortlich waren. Sie machten ihre Träger zu Erd-, Luft-, Feuer-, Wasser-, Licht- und Dimensionsmagiern sowie zu Hexen und Illusionisten. Andere Ostiola schienen mit dem menschlichen Organismus nicht kompatibel zu sein. »Gibst du Luke genug zu essen?«, fragte Theo, der wusste, dass Illusionisten doppelt so viel Nahrung zu sich nehmen mussten, wenn sie Magie wirkten. »Ich habe heute Morgen schon zwei Orangen an ihn verfüttert.« Mit Bedauern in der Stimme fügte er hinzu: »Sollte das so weitergehen, eliminiert er meinen ganzen Vorrat. Und Orangen sind doch so schwer zu bekommen.« Theo klopfte Andren auf die Schulter. »Das nennt man Gastfreundschaft, da musst du durch.« Er blickte auf die Zeichnung des Opfers in seiner Hand, neben der Andren Eckdaten aufgelistet hatte: männlich, 1,73m, braune Haare, braune Augen, 2cm lange Narbe am rechten Handballen. »Dann frage ich die Streifenpolizisten, ob sie den Mann schon mal gesehen haben.« »Ich kann deine Suche einschränken«, meinte Andren und löste seinen Blick von dem Glaskasten und dem unsichtbaren Luke. »Die Ergebnisse der Haaranalyse zeigen, dass er erst seit ungefähr einem halben Jahr hier in Gelîvron lebte. Länger auf keinen Fall.« Theo sah zum Experimentiertisch, auf dem jede Menge Laborutensilien, Chemikalien und Proben standen. Er hatte einmal den Fehler begangen, Andren zu fragen, wie er all das wissen konnte. Dreißig Minuten später, erfand er einen dringenden Termin, um vor dem nicht enden wollenden Monolog zu flüchten. Seitdem respektierte er einfach, dass Andren sein Handwerk beherrschte. »Gut, das ist hilfreich.« Theo faltete die Zeichnung zusammen und steckte sie in sein Notizbuch. Dann würde er zuerst die Streifenpolizisten fragen, die rund um den Hafen patrouillierten. In diesem Viertel wohnten vor allem Wanderarbeiter oder Menschen, die auf die Bestätigung ihrer Stadtbürgerschaft warteten. Die Wahrscheinlichkeit, dass das Opfer dort gelebt hatte, war also hoch. »Ich wünsche dir eine erfolgreiche Jagd.« »Danke.« Theo nickte Andren zu und verließ das Labor.

 

»Theo!« Die Zeitungsschreiberin Magdalena Schnutz wartete auf der Treppe zum Polizeihauptquartier und konnte nicht übersehen werden. Sie liebte Rot und so waren die Tunika, die Hose und der Mantel in dieser auffälligen Farbe gehalten. Selbst bei ihrem üppigen Schmuck bevorzugte sie Granatsteine. »Ich glaub’s ja nicht.« Theo blieb mit einem schiefen Lächeln stehen. »Woher hast du es gehört?« Magdalenas Miene bekam schalkhafte Züge. Ihre Eckzähne blitzten auf, die bei ihr als Homo lupus, als Wolfsmensch, besonders stark ausgeprägt waren. Das tierische Erbe hatte ihr einen breiten Brustkorb und eine große Lunge verliehen, die für Ausdauer und Schnelligkeit sorgten. Individuelle Musterungen, bestehend aus einem Millimeter langen Haaren, zierten ihre gesamte Haut. In Magdalenas Fall waren sie blond genauso wie ihr Haupthaar, das sie mit Spangen zu einer strengen Hochsteckfrisur arrangiert hatte. »Von einem kleinen Vögelchen«, erwiderte sie mit zuckersüßer Stimme. »Ich wäre dir sehr verbunden, wenn du seine Aussagen bestätigen oder widerlegen könntest.« »Dann gib mal her.« Theo streckte die Hand aus und nahm Magdalenas Klemmbrett entgegen. Rasch überflog er ihre Notizen, in denen sie stichpunktartig von einer männlichen Leiche in einer Wassersäule und einem Hexenkreis berichtete. Von den fehlenden Organen schien sie nichts zu wissen. Was gut war. Immerhin sollten ein paar Details nicht allgemein bekannt sein. »Kann ich bestätigen«, sagte Theo. Er nahm Magdalenas Bleistift und setzte sein Kürzel hinter jedem Unterpunkt. »Lass mich raten, du berufst dich auf einen Augenzeugen, der schnell laufen kann.« »Auf einen sehr betrunkenen Augenzeugen, der die halbe Kneipe über sein verstörendes Erlebnis aufgeklärt hat.« Magdalena nahm das Klemmbrett wieder an sich. »Die Sieben Flaschen?« »Der Launische Fuchs.« Theo nickte. Magdalena hatte jeden Abend eine feste Route durch die verschiedensten Kneipen, wo sie den Ausführungen der alkoholgelösten Zungen lauschte. Es war keine leichte Aufgabe, in dem Gemisch aus Prahlereien, Vermutungen und Gerüchten die kostbaren Informationen mit Substanz zu finden. Doch Magdalenas Gespür ließ sich nicht täuschen und sie arbeitete gewissenhaft. Nie reichte ihr eine Quelle, sie sicherte sich ab und alles, was sie schrieb, hatte sie vorher gut recherchiert. Das wurde in Gelîvron geschätzt. Denn den Klatsch der Straße konnte man mit einer vertrauenswürdigen Zeitung im Hintergrund viel besser genießen. »Hast du einen Namen?« »Der ehrliche Ed.« Theo verdrehte die Augen. Damit bestätigte sich seine Theorie; die Schwestern Summ & Klopf hätten gestern Nacht beinahe einen unerwünschten Besucher in ihrem Betrieb gehabt. Wenn er nicht von der Leiche in der Sackgasse verscheucht worden wäre. Theo fügte seiner heutigen Planung noch einen Unterpunkt hinzu: ›ein Feierabendbier im Launischen Fuchs trinken‹, wo Ed für gewöhnlich auftauchte. »Hast du bei dem Fall schon neue Erkenntnisse gewonnen?«, fragte Magdalena. »Keine handfesten. Ich sage dir Bescheid, sobald es etwas zu berichten gibt.« »Vor der Abendausgabe?« Sie grinste. »Pff.« Theo winkte ab. »Danach sieht es nicht aus. Du wirst dich gedulden müssen. Mach’s gut.« Er setzte sich in Bewegung, angetrieben von den ganzen Dingen, die er noch zu erledigen hatte.

III.

 

Die Universität der zauberhaften Künste blickte auf eine fast 450-jährige Geschichte zurück und genoss einen herausragenden Ruf. Magier aus aller Welt zog es nach Gelîvron, um ihre Fähigkeiten auszubilden oder zu verfeinern. Der Campus umfasste Übungsplätze, Parkanlagen, zahlreiche Gebäude, darunter Wohnheime, und den Astronomieturm, der nur von Schwindelfreien erklommen werden konnte. Drumherum etablierte sich ein durch die Universität geprägtes Stadtviertel. Es lag im Osten von Gelîvron in einem Gebiet zwischen den bewaldeten Ausläufern des Schöntaugebirges. Auf den Straßen tummelten sich Magier aller Art. Jene, die bereits den Titel eines Zauberers erworben hatten, trugen die reich verzierten Roben in der Farbe ihrer jeweiligen Disziplin, die Studenten entsprechende Halstücher. Und was wäre ein Universitätsviertel ohne das dazugehörige Nachtleben? Es gab so viele Kneipen, dass die Magier ihre liebe Not hatten, sich zu entscheiden. Der berühmte, leider bereits verstorbene Zauberer Ortei uf Gedank, stellte aufgrund dieser Gegebenheit ein philosophisches Gleichnis auf: Wenn ein durstiger Magier zwei Kneipen besuchen konnte, die beide für seine Zwecke genug Alkohol anboten, müsste er nüchtern nach Hause gehen. Es sei denn, eine der Kneipen war schöner, lag näher am Wohnort oder besaß eine bessere Getränkekarte. Diese philosophische Anregung nahmen sich die Kneipenbesitzer zu Herzen. Sie sorgten für ein abwechslungsreiches Angebot an alkoholischen Getränken, schmückten ihre Gaststuben, machten mit Laternen vor der Tür auf ihre Existenz aufmerksam und schreckten nicht davor zurück, ihre Kellner mit Bauchläden auf die Straße zu schicken. Ältere und erfahrenere Zauberer ließen sich von dem Wirbel nicht beeindrucken. Sie folgten der Philosophie, die besagte: Eine Entscheidung, die mehr als einmal gefällt wurde, war eine schlechte. Sprich, sie suchten sich eine Stammkneipe, die zuverlässig und ohne Schnickschnack für ihren Rausch sorgte, und blieben ihr treu. Diese Kategorie von Zauberern fand man vor allem in der ›Alten Mine‹, in der ältesten Kneipe des Viertels, die allein schon durch ihre Architektur ins Auge fiel. Sie lag in dem vorderen Bereich eines stillgelegten Stollens. Die Rückwand bestand aus Bruchstein, die Front aus einer viereckigen Fachwerkstruktur mit zwei Fenstern, einer antiken Eichentür und einem Dachvorsprung. Innen herrschte eine gemütliche Atmosphäre. An den Felswänden hingen Bildteppiche, in einem aus dem Stein geschlagenen Kamin brannte ein wärmendes Feuer und Ohrensessel aus rotem Samt luden zum Verweilen ein. Die Bar und die dazugehörigen Hocker waren mit eingeschnitzten Fabelwesen überzogen. Ein Feingeist mochte diese Einrichtungsstücke als geschmacklos bezeichnen, doch wenn er betrunken auf dem Boden lag, schätzte er die hölzernen Gesichter, die stumm seinen Ausführungen lauschten, genauso wie alle anderen auch. Nun saß auf einem der Barhocker ein verzweifelter Zauberer. Die violette Robe mit den kupferfarbenen Applikationen und der lange Stab gaben ihn als Erdmagier zu erkennen. Zu dieser Tageszeit – die nahe Turmuhr hatte gerade elf geschlagen – war Tobaya der einzige Kunde in der Alten Mine. Seine zittrigen Finger umklammerten ein Glas mit Cognac. Er hätte die Besuche bei seiner Frau nicht so schleifen lassen sollen. Aber die Vorlesungen und Seminare, die er hielt, nahmen ihn in letzter Zeit sehr in Beschlag. Wer rechnete denn damit, dass jemand in das Haus einer Toten einbrach und sie bestahl? Als er heute Morgen mit Blumen in der Hand die Gruft erreichte, war die Tür aufgebrochen, der Sarkophag aus Stein aufgestemmt und an dem mumifizierten Hals seiner Frau fehlte die Kette. Tobaya trank und bestellte ein zweites Glas. Der Alkohol wärmte die Eingeweide und seine Gedanken drifteten zu der Zeit, als seine Frau noch gelebt hatte. Griselda besaß die wunderschönsten blauen Augen und ein Lächeln zum Niederknien. Wenn sie ihm im Vorbeigehen einen Klaps auf den Po gab, fühlte er sich wie der glücklichste Mann auf Erden. Wie sehr er das vermisste. Griselda war als Nichtmagierin auf die Welt gekommen. Erst mit neunzehn Jahren stellte sich heraus, dass sie zu Magieträgern der Luft eine Verbindung aufbauen konnte. Und was für eine. Sie galt als Wunderkind und machte in der Universität der zauberhaften Künste schnell auf sich aufmerksam. Wenn sie mit flatternden Haaren den Wind bändigte, erfüllte sie selbst talentierte Zauberer mit Neid und Tobaya mit Stolz. Er war ein grüblerischer Erdmagier, sie eine aufgeweckte Luftmagierin. Sie liebten sich von Anbeginn und teilten ein Leben voller Freude. Tobaya starrte in die goldgelbe Flüssigkeit, die er im Glas hin und her schwenkte. Griselda wollte mit ihrem Magieträger beerdigt werden, ihn auch im Tode bei sich tragen. Als Ursprung ihrer Magie gehörte er untrennbar zu ihr. Der Dieb hätte ihr genauso gut einen Arm klauen können. Mit einem Zug leerte Tobaya sein Glas. Er musste die Kette unbedingt zurückholen, Griselda würde es ihm sonst nicht verzeihen.

IV.

 

Theo schritt über die Wege des Universitätscampus, vorbei an schwatzenden Studenten, die von einem Termin zum nächsten schlenderten. Schnurstracks steuerte er auf das Hauptgebäude zu, dessen dunkelblaue Fassade mit goldenen Sternbildern verziert war. Eine Marmortreppe führte zum Eingang. In der sich anschließenden Empfangshalle hatte der Architekt des Gebäudes einen eindeutigen Fokus auf die Zeit gelegt. An der ganzen Decke bewegten sich Zahnräder und Federn, die ein riesiges Ziffernblatt im Zentrum antrieben. Das monotone Ticken hallte an den Wänden wider und vermittelte Theo den Eindruck, sich im Inneren einer Uhr zu bewegen. Müsste er tagein, tagaus am Empfangstresen sitzen, der in der Mitte des Raumes stand, würde er mit Sicherheit irgendwann ausrasten. Doch die Rezeptionistin schien sich nicht an der Akustik ihres Umfeldes zu stören. Mit eingerasteter Denkerfalte und geschürzter Unterlippe sah sie Akten durch, die sie mit einem Stempel absegnete. Er sauste auf das Papier – bam. »Guten Morgen.« Theo musste sich auf die Zehenspitzen stellen, um mit der Rezeptionistin auf Augenhöhe zu sein. Seine Arbeit führte ihn regelmäßig in dieses Gebäude, doch ihr Gesicht war ihm unbekannt. Er blickte auf das Namensschild, das auf der Rezeption stand. Hedda Lai. »Entschuldigung?« Die Angesprochene reagierte nicht. Bam. »Es geht um eine polizeiliche Ermittlung«, erklärte Theo und zog seine Dienstmarke unter dem Hemd hervor. Hedda studierte sie kurz und fragte: »Theodem Brigâ?« »Ja.« »Einen Moment.« Sie stand auf und ging davon, ehe Theo ihr sein Anliegen vortragen konnte. Eine ganze Weile blieb er mit dem Ticken der Deckenuhr allein, dann kehrte Hedda zu ihrem Posten zurück. »Der Senat wird sich zusammenfinden«, teilte sie ihm mit und nahm wieder Platz. »Du kannst hier warten.« Sie deutete auf eine Holzbank, die an der Wand stand. »Es war nicht meine Absicht, mit dem Senat zu sprechen«, erwiderte Theo. »Ich suche einen Experten für die Geschichte der Magie, der mir die Symbole an einem Tatort erklären kann.« »Bitte warten.« Hedda lächelte halbherzig.