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South Carolina, zweites Bürgerkriegsjahr: Drei Schwadronen des ersten US-Kavallerie-Regiments galoppierten in ein Kaff am Broad River hinein. Die Häuser lagen hingestreut zwischen Äckern und Koppeln wie Pferdeäpfel zwischen Gräbern. Keine Menschenseele war auf der Mainstreet. Die Gegend galt als Partisanenhochburg, und Billy hatte von Anfang an kein gutes Gefühl. Colonel Trump ritt zwischen den beiden Captains an der Kolonnenspitze, die schon beinahe das Ende der Hauptstraße erreicht hatte. "Will mir nicht in den Schädel, wieso Trump mit gleich drei Schwadronen in dieses gottverlassene Nest einreiten muss", sagte Dave, kurz bevor die ersten Schüsse fielen. Er und Billy hatten mit vierundzwanzig Mann die Nachhut übernommen; sie ließen gerade die ersten Gehöfte von St. Morris hinter sich. Ja, St. Morris - so hieß das Kaff. Billy sollte den Namen nie wieder vergessen.
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Seitenzahl: 148
Veröffentlichungsjahr: 2016
Cover
Impressum
Bloody Mary
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2016 by Bastei Lübbe AG, Köln
Verlagsleiter Romanhefte: Dr. Florian Marzin
Verantwortlich für den Inhalt
Titelfoto: Boada/Norma
E-Book-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln
ISBN 978-3-7325-3627-6
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
www.bastei.de
Bloody Mary
South Carolina, zweites Bürgerkriegsjahr: Drei Schwadronen des ersten US-Kavallerie-Regiments galoppierten in ein Kaff am Broad River hinein. Die Häuser lagen hingestreut zwischen Äckern und Koppeln wie Pferdeäpfel zwischen Gräbern. Keine Menschenseele war auf der Mainstreet. Die Gegend galt als Partisanenhochburg, und Billy hatte von Anfang an kein gutes Gefühl. Colonel Trump ritt zwischen den beiden Captains an der Kolonnenspitze, die schon beinahe das Ende der Hauptstraße erreicht hatte. »Will mir nicht in den Schädel, wieso Trump mit gleich drei Schwadronen in dieses gottverlassene Nest einreiten muss«, sagte Dave, kurz bevor die ersten Schüsse fielen. Er und Billy hatten mit vierundzwanzig Mann die Nachhut übernommen; sie ließen gerade die ersten Gehöfte von St. Morris hinter sich. Ja, St. Morris – so hieß das Kaff. Billy sollte den Namen nie wieder vergessen.
»Trump treibt so manches, was mir nicht in den Kopf will«, antwortete Billy und spuckte seinen Kautabak aus. Daran erinnerte er sich später genau: an seine Antwort und wie das braune Zeug gegen einen Torpfosten klatschte.
Auch daran, dass Colonel Trump an der Spitze der dritten Schwadron sich plötzlich umdrehte, erinnerte er sich bis zum Schluss. Und wie der Colonel die Männer mit ein paar Gesten nach rechts und links zu den Häusern und Stallungen schickte.
Und wie Trump selbst weiterritt und seinem Pferd sogar noch die Sporen gab.
Die Captains machten es wie der Colonel und hielten sich dicht an seiner Seite. Lieutenant Kirkpatrick und Sergeant Gull schlossen zu ihnen auf, statt an der Spitze ihrer Männer die Häuser nach Partisanen zu durchkämmen.
Billy kam nicht mehr dazu, irgendwelche Schlüsse aus dem Verhalten der Offiziere zu ziehen, denn plötzlich sah er Mündungsfeuer an mindestens fünf Fenstern gleichzeitig. Von allen Seiten heulten plötzlich Gewehrkugeln heran, auch von hinten. Die Luft dröhnte vom Schusslärm, und reihenweise kippten die Männer aus den Sätteln.
»Ein Hinterhalt!«, schrie Dave.
Billy zögerte nur einen Wimpernschlag lang: Als er merkte, dass Reiter den Rücken seiner Nachhut angriffen, wies er sofort auf die Koppel links der Mainstreet. »Rückzug!«
Kugeln pfiffen und heulten ihm dicht an der Hutkrempe vorbei, ein Wagen und ein paar Stapel Bauholz auf der Koppel verhießen etwas Deckung, und der Wald begann nur hundert Fuß hinter dem Außenzaun. Billy duckte sich tief über den Rücken seines Apfelschimmels und zischte ihm ins Ohr. Der Hengst sprang über den Koppelzaun.
Nicht allen gelang der Sprung – hinter sich hörte Billy, wie sich das Splittern berstenden Holzes in den Schusslärm mischte. Körper schlugen dumpf auf dem Boden auf, Männer schrien, Pferde wieherten in Panik, irgendwo brüllte jemand Befehle. Etwas Heißes streifte Billys rechtes Ohr, und sein Hut flog weiß der Teufel wohin.
Sie ließen sich aus den Sätteln fallen, gingen hinter dem Wagen in Deckung. Billy befahl den Männern seiner Nachhut die Flucht über den hinteren Koppelzaun und in den Wald. Er selbst, Dave und zwei Rekruten gaben ihnen Feuerschutz. Bis auf zwei schafften es alle in den Wald.
Gewehrschützen rückten ihnen auf den Leib, mindestens sechs. Billy erkannte Kerle in braunen Armeejacken der Konföderierten und in weißen Pelzmänteln, er sah schwarze Biberpelzmützen, Hutfedern und bunte Kopftücher hinter Gewehrläufen.
Nein, das war keine reguläre Truppe der Südstaatenarmee, das war kein Hinterhalt von General Lee, dem alten Fuchs: Verdammtes Partisanenpack heizte ihnen hier ein! Und die Höllenhunde veranstalteten ein derart mörderisches Feuerwerk, dass es selbst ihm, dem abgebrühtesten Sergeant im ganzen Regiment, dass es selbst Billy Carpenter angst und bange wurde.
Es heulte, donnerte, krachte und pfiff. Überall Pulverdampfschwaden, überall Mündungsfeuer, überall Geschrei. Und jetzt fing auch noch ein Maschinengewehr zu bellen an.
Jedes Mal, wenn Billy nachlud, riskierte er einen Blick in die Nachbarschaft und auf die Mainstreet. Hier wehrten sich immer weniger Blauröcke ihrer Haut, und dort galoppierten immer mehr reiterlose Armeepferde in beide Richtungen aus der Stadt.
War kein Spaß damals, der Himmel war Billys Zeuge, und am meisten erbitterte ihn, dass die Offiziere sich aus dem Staub gemacht hatten. Rechts von ihm fing ein junger Rekrut sich eine Kugel, links atmete Dave zu viel Pulverdampf ein und hustete wie ein Greis mit Schwindsucht. Nein, ein Spaß war das wirklich nicht.
Hinter der Deckung eines Ochsenkarrens näherten sich ein paar Partisanen der Koppel; auf der Ladefläche stand ein Maschinengewehr. »Wenn das verdammte Ding anfängt, Blei zu spucken, sind wir erledigt«, keuchte Dave. Billy antwortete lieber nichts.
Zum Glück behielt einer der Corporals im Wald kühlen Kopf und prügelte eine Schützenreihe zurück an den Waldrand und zwischen die Bäume. Bald heulten auch von hinten Kugeln vorbei. »Wir kriegen Feuerschutz!«, zischte Billy. »Nichts wie weg hier!«
Sie robbten zum Außenzaun der Koppel und unter ihm hindurch. Die Kugeln ihrer Männer heulten über sie hinweg, die Kugeln des Partisanenpacks pflügten rechts und links von ihnen die Erde auf. Und dann spuckte das Maschinengewehr Hölle und Tod.
Dem zweiten Rekruten schlug ein Geschoss gleich nach dem Zaun in den Schädel ein, und Dave fing sich eine tödliche Dosis Blei, als sie schon den Waldrand erreicht hatten. Billy fluchte, packte seinen alten Freund und zerrte ihn zwischen die Büsche.
»Du machst jetzt nicht schlapp, Corporal Higgins.« Er hielt den stöhnenden Dave in den Armen, flüsterte ihm ins Ohr und spürte, wie der Rückenteil von Daves Uniformjacke sich nach und nach in einen feuchtwarmen Lappen verwandelte. »Wenn du schlappmachst, rede ich kein Wort mehr mit dir.«
»Jetzt wissen wir, warum Trump die Schwadronen in dieses gottverlassene Kaff geführt hat«, flüsterte Dave.
»Sie haben uns an die Partisanen verkauft.« Wuttränen stiegen Billy in die Augen. »Trump, Kirkpatrick und das ganz Offizierspack – hundertfünfzig Mann haben sie in die Hölle reiten lassen!«
»Wir müssen weg hier, Sergeant!« Der Corporal tauchte neben ihm auf. »Wenn die Schweinhunde mit den anderen fertig sind, werden sie nach uns suchen. Die wollen keine Zeugen.«
»Der Himmel bleibt unser Zeuge, Corporal!«, zischte Billy. Seine Tränen vermischten sich mit seinem Rotz.
»Lass mich hier liegen, Billy.« Dave flüsterte so leise, dass Billy sein Ohr bis an die Lippen des Freundes beugen musste. »Wenn du es zurück nach Philadelphia schaffst, sage Rosemary, dass ich sie liebe … und dass sie das Kind nach meinem Vater nennen soll … falls es diesen verdammten Krieg überlebt.«
»Ich versprech’s dir, Dave.« Billy musste schluchzen. »Ich versprech’s dir …«
»Und schwör mir, dass du die Schwadronen und mich …«, Dave Higgins nestelte das Marienmedaillon aus seinem Armeehemd, »… rächen wirst …« Er drückte es gegen Billys Brust. »Bei der heiligen Jungfrau … rächen, Billy … nicht an den Partisanen, sondern an Trump und …« Seine Stimme erstarb.
»Ich schwör’s dir, Dave.« Billy heulte wie ein getretener Hund. »Ich schwör’s dir, verflucht noch mal!« Das Maschinengewehrfeuer rückte näher.
»Wir müssen, Sergeant.« Der Corporal zog ihn hoch. »Wir hauen ab, oder wir sind erledigt.«
***
Das Schiffshorn heulte, die Menschen drängten sich an der Reling, das Hafengelände von St. Joseph glitt vorüber, die Ankerketten rasselten schon. Trübe und Braun wälzten die Wassermassen sich unter dem Anlegesteg hindurch.
»Morgen um die Zeit führt der Missouri so viel Wasser, dass hier kein Raddampfer mehr anlegen kann, Ma’am«, erklärte der elegante Gentleman, der schon seit Memphis keine Gelegenheit ausließ, Rachels Nähe zu suchen.
»Ach! Wirklich?« Rachel Taylor ließ es zu, dass der blonde Gentleman auch nach ihrem Koffer griff. Er hatte sich ja weder unflätig noch irgendwie plump benommen. Ein wenig unwohl war ihr dennoch.
»Wenn ich es Ihnen sage, Ma’am! Wir kommen keinen Tag zu früh.« Der Mann sah nicht nur gut aus, er trug auch einen eleganten sandfarbenen Frack. Dazu einen dieser modernen Hüte, wie man sie in Washington inzwischen auch überall sah. Eine goldene Uhrenkette hing aus seiner roten Samtweste. Ganz arm konnte er nicht sein. Rachel schätzte ihn auf höchstens vierzig Jahre.
Zwei Matrosen schoben die Landungsbrücke auf den Steg. »Einer nach dem anderen, Ladys und Gentlemen!« Der Kapitän schwankte mit ausgefahrenen Ellenbogen durch die Menge, stellte sich neben die Brücke und verabschiedete jeden seiner Passagiere mit Handschlag. »Immer schön einer nach dem anderen. Und dass mir keiner ins Wasser fällt, ja? Will mir meine neuen Stiefel nicht nass machen.« Er roch nach Whisky.
Hinter dem blonden Gentleman her tänzelte Rachel über die Landungsbrücke. Er hieß Randolph Grant und hatte sie aufgefordert, ihn Randy zu nennen. Rachel bewegte stumm die Lippen.
»Wir wäre es, wenn wir uns eine Kutsche teilen?«, sagte Mr. Grant, der »Randy« genannt werden wollte. »Die Hotels hier in St. Joseph liegen sowieso alle an der Mainstreet.«
Rachel schluckte kurz und gab sich einen Ruck. »Das ist wirklich nett von Ihnen, Sir. Aber dann teilen wir den Fahrpreis.«
»Wie Sie wollen, Miss Taylor.« Randy Grant winkte dem Kutscher einer offenen Kutsche, verstaute die Koffer hinter dem Gepäckleder und nannte dem Mann sein Hotel. Dann lüftete er die Melone. »Darf ich Ihnen in die Kutsche helfen, Ma’am?«
Rachel nickte und bedachte zu spät, dass ein solch hilfreicher Akt nicht ohne körperliche Berührung möglich war. Mister Grants Griff um ihren Arm war kräftig, doch nicht zu fest. Und dass ein Mann derart schöne, saubere und gepflegte Hände haben konnte? Ihr stockte der Atem.
Die Kutsche fuhr an. Randy Grant steckte sich eine Zigarette in seine silberne Zigarettenspitze und Rachel bewegte schon wieder stumm die Lippen.
»Sie beten?« Erstaunt zog er die blonden Brauen hoch.
»Natürlich.« Rachel räusperte sich. »Ich danke dem Herrn für die glückliche Reise.«
Das war nur die halbe Wahrheit: Sicher hatte sie auf dem Weg zur Kutsche dem Herrn für die glückliche Reise gedankt; gerade eben jedoch hatte sie sich genügend Kraft erbeten, um der Versuchung widerstehen zu können, die der Blonde für sie zu werden drohte.
»Meine Großmutter hat auch immer gebetet – flüsternd, stumm, laut, heimlich, öffentlich.« Randy Grand lachte und seine schönen blauen Augen leuchteten.
»Dann hat sie hoffentlich auch Ihnen das Beten beigebracht, Randy.« Rachel biss sich auf die Zunge – zum ersten Mal war ihr sein Vorname herausgerutscht. »Sir?«
»Sie hat es versucht, doch.« Ein schwermütiger Zug huschte durch seinen Blick. »Stellen Sie sich vor, Rachel: Den ganzen Bürgerkrieg über hat sie jeden Tag für mich gebetet, und ich bin ohne jede Schramme aus dem Krieg nach Hause zurückgekehrt.« Seine Miene verdüsterte sich. »Ohne sichtbare Schramme jedenfalls.« Passanten wichen der Kutsche aus; der Kutscher trieb das Gespann aus dem Hafengelände in die Mainstreet hinauf.
»Danket dem Herrn«, sagte Rachel, »denn seine Güte währet ewiglich.« Sie sagte das ein wenig zögernd und leise, denn was Randy da eben nebenbei über sich selbst offenbart hatte, verblüffte sie. »Und Sie haben dem Herrn Jesus Christus dennoch nicht ihr Herz geöffnet?« Rachel merkte kaum, wie sie ihm ein Stück näher rückte.
»Nein. Der Krieg hat mir den letzten Funken Glauben ausgetrieben, Rachel. Doch davon abgesehen konnte ich schon vor dem Krieg nicht viel anfangen mit dem salbungsvollen Gerede unseres Reverends – Gnade, Vergebung der Sünden, ewiges Leben und so weiter. Hab’s einfach nicht begriffen.«
»Aber Randy, das ist doch ganz einfach!« Die ganze Dampferfahrt über hatte sie versucht, das Gespräch auf die wirklich wesentlichen Dinge zu lenken, und jetzt ergab es sich wie von selbst. »Jesus, der Sohn Gottes, ist am Kreuz gestorben, um Sie und mich mit seinem Blut von unseren Sünden reinzuwaschen.«
Der Blonde feixte bitter. »Da hätte er das Blut von hundert Männern haben müssen, um alle meine Sünden abzuwaschen.« Rachel blieb das Wort im Hals stecken, und Randy zündete sich eine Zigarette an. »Sie kommen aus Washington, haben Sie gesagt?«
»Ja, Sir. Und Sie?«
»Zuletzt aus Memphis.« Er blies den Rauch in die Luft. »Davor aus Baton Rouge, New Orleans, Houston, Dallas und San Antonio. Und davor?« Er zuckte mit den Schultern und lächelte. »Habe ich vergessen.«
»Sie haben gar kein Zuhause, Randy?« Eine Welle des Mitleids ließ Rachels Herz schwellen. »Ist das wirklich wahr?«
»Kann man so nicht sagen, Rachel. Führen Sie mich in einen Saloon, setzen Sie mich an einen Spieltisch, geben Sie mir ein Deck Karten – und schon fühle ich mich zuhause.«
»Wie?« Rachel begriff überhaupt nichts. »Ein Deck Karten? Wie meinen Sie das, Randy?« Sie blinzelte ihn verwirrt an. »Und was wollen sie hier in St. Joseph? Hier gibt es doch nur Cowboys, Pferdezüchter, Flussschiffer und Eisenbahner.« Der Blick ihrer grünen Augen schweifte über seinen Frack und seine Weste. »Sie sehen nicht aus, als würden Sie zu solchen Leuten passen, Randy.«
»Danke, Ma’am.« Er zog die braune Melone und deutete eine Verneigung an. »Zum Glück gibt es hier vor allem Cowboys, Pferdezüchter, Flussschiffer und Eisenbahner. Alles Männer, die gern einmal eine Partie Poker spielen.« An ihr vorbei betrachtete er das Getümmel auf der Mainstreet. »Und gern auch mal eine zu viel.«
Mit offenem Mund starrte sie ihn an. »Soll das heißen …?«
»Korrekt, Rachel. Das heißt, dass ich mein Geld am Spieltisch verdiene. Ich bin Spieler, völlig korrekt.« Er lachte sie aus, wahrscheinlich wegen ihres perplexen Gesichtsausdrucks. »Warum gucken Sie mich so an, Rachel? Gibt’s bei euch in Washington etwa keine Berufsspieler?«
»Doch … nein …« Sie schluckte, rief innerlich den Herrn an und räusperte sich. »Aber das ist doch Sünde, Randy!«
»Dann müssen Sie also künftig auch für mich beten, Rachel.« Er lachte laut. »Da kommt der Green Water Billard Room, dort werde ich wohnen.« Er beugte sich zum Kutscher vor und steckte ihm eine Banknote in die Brusttasche. »Und danach bring die Lady ins Missouri Hotel, verstanden?« Der Kutscher zog den Geldschein aus Tasche, betrachtete ihn und nickte.
»Jeder tut das, was er am besten kann, so ist es doch, Rachel?« Randy wandte sich ihr wieder zu, und Rachel wurde es ganz warm ums Herz. »Und was machen Sie? Beruflich, meine ich.«
»Ich unterrichte als Sonntagsschullehrerin in der Methodistengemeinde von Washington.« Sie räusperte sich. »Und ich führe meinem Vater den Haushalt. Er ist der Reverend der Methodistenkirche von Washington.«
»Und den ganzen Weg von Washington bis hierher hat er Sie allein fahren lassen?« Randy runzelte missbilligend die blonden Brauen. »Das nenne ich eine Sünde!«
»Nun ja, er wollte nicht …« Rachel räusperte sich und sprach mit festerer Stimme weiter. »Ehrlich gesagt: Ich bin gegen seinen Willen gefahren.«
»Gegen den Willen Ihres Vaters besuchen Sie Ihre Schwester? Das kann ich kaum glauben.« Die Kutsche hielt, Randy blieb sitzen. »Hat ihre Schwester denn einen anderen Vater als Sie? Ich meine: Ist der Reverend vielleicht ihr Stiefvater?«
»Aber nein! Mary und ich haben denselben Dad.«
»Ihre Schwester muss ja ganz üble Dinge treiben, dass ihr eigener Vater sie nicht besuchen will.« Beiläufig legte Randy seinen Arm hinter ihr auf die Banklehne. »Was hat sie denn angestellt?«
»Schlimme Sachen.« Rachel spürte, dass sie errötete. »Ganz schlimme Sachen.« Sie spürte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen. »Mary lebt in furchtbarer Sünde.«
***
Der Saloon hieß Waterhouse. Hinter den offenen Fenstern ging es laut zu: Gläser klirrten, Frauen kicherten, Würfel klapperten, Männer fluchten und lachten. Die Karren und Gäule vor dem Hitchrack sahen heruntergekommen aus.
Lassiter wunderte sich, dass sein Mittelsmann ihn ausgerechnet in dieser Spelunke am Hafen treffen wollte – genauer: seine Mittelsfrau. Wahrhaftig: Eine Lady würde ihm heute Abend seinen neuen Auftrag von der Brigade Sieben erklären. Er hatte nichts dagegen einzuwenden. Lassiter stieg vom Pferd und machte es am Hitchrack fest.
Eine Lady als Mittelsmann – das kam selten genug vor, und der Mann von der Brigade Sieben hatte sich am Vormittag beim besten Barber in Kansas City rasieren und scheren lassen. Und einen neuen Stetson und eine Jacke aus Elchleder hatte er sich auch gekauft. Beides nicht ganz billig gewesen.
Lassiter stieg zum Sidewalk hinauf und trat in den Saloon. Stimmenlärm und von Parfümduft gesättigter Tabakrauch schlugen ihm entgegen. Der Schankraum hatte die Form einer gigantischen Whiskyflasche, lang und schmal, und da, wo an der Flasche der Hals saß, führte eine Treppe ins Obergeschoss.
Ein gutes Dutzend Frauen und etwa dreimal so viele Männer belagerten die Tische und die unfassbar lange Theke. Lärmende, aufgekratzte Männer: Flussschiffer, Kutscher, Fischer und viele Texaner. Es war die Jahreszeit, in der texanische Cowboys Tausende Longhornrinder aus dem Süden nach Dodge City, Abilene und Wichita herauftrieben. Oder eben hierher, nach Kansas City.
Lassiter drängte sich zwischen die Cowboys und Flussschiffer an die Theke und bestellte einen Kaffee. Er blickte sich um, betrachtete die Mädchen. Lauter Prärieschwalben und keine, die nicht mindestens ein halbes Pfund Rouge, Lippenstift und Lidschatten im Gesicht trug.
Etliche posierten keck und lächelten ihm zu, eine zwinkerte. Lassiter nickte in ihre Richtung und tippte sich an den Hut. Wusste man denn, ob der Abend noch etwas Besseres bringen würde?
Eine wirkliche Lady, wie das Telegramm aus Washington eine angekündigt hatte, entdeckte er nicht unter diesen Mädchen.
Ein paar Minuten später schob ihm der Salooner den Becher mit dem dampfenden Gebräu über den Tresen. »Wollt mich mit ’ner Bekannten hier treffen«, sagte Lassiter. »Hat jemand nach Lassiter gefragt?«
»Schon möglich.« Der Salooner, ein fülliger Bursche von etwa fünfzig Jahren und mit bärtigem Vollmondgesicht, knurrte mehr, als dass er sprach. Seine glatten Gesichtszüge, die wulstigen Lippen und die großen, ruhigen Augen ließen Lassiter an ein sattes Kind denken. Misstrauisch musterte er Lassiter. Offenbar wollte er mehr hören.
»Nun ja, die Lady – wie soll ich sagen …« Lassiter räusperte sich, beugte sich über den Tresen und senkte die Stimme. »Die Lady sucht ihr Schaf.«
Es klang komisch, und selbst der knurrige Salooner musste feixen, doch so hatte es im Telegramm aus Washington gestanden: Fragen Sie nach einer Frau, die ihr Schaf sucht.
»Wartet im Obergeschoss.« Der Salooner deutete zur Treppe. »Vierte Tür links.«
Lassiter legte zwei Münzen auf den Tresen, nahm seinen Kaffeebecher und drängte sich durch die Menge der Männer und Mädchen. Ein paar Schritte vor der Treppe schob sich eine an ihn heran und hakte sich bei ihm unter. »Ganz allein nach oben?« Es war die Frau, die ihm zugezwinkert hatte. »Seit wann das denn?« Sie schnalzte tadelnd mit der Zunge.