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Der einsame Reiter krümmte den Rücken und duckte sich hinter den Hals seines Pferdes. Er blinzelte unter dem tief ins Gesicht gezogenen Hut nach vorn. Der tosende Sturm schleuderte ihm eiskalten Regen entgegen, und die hereinbrechende Dämmerung machte es schier unmöglich, mehr als ein diffuses Gemisch aus fahlem Licht und tiefen Schatten zu erkennen. Noch vor einer halben Stunde war der Himmel blau gewesen, doch in dieser Gegend war das Wetter so tückisch wie eine Klapperschlange.
Plötzlich vernahm er ein bedrohliches Knurren. Ein mächtiger Schatten sprang hinter den Büschen am Berghang hervor und direkt auf ihn zu. Der Aufprall riss das Pferd zu Boden, der Reiter wurde aus dem Sattel geschleudert und stürzte kopfüber den Hang hinab. Hart schlug er mit dem Kopf gegen einen Felsen und verlor das Bewusstsein...
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Seitenzahl: 141
Veröffentlichungsjahr: 2016
Cover
Impressum
Die Hexe von Darker Hills
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2016 by Bastei Lübbe AG, Köln
Verlagsleiter Romanhefte: Dr. Florian Marzin
Verantwortlich für den Inhalt
Titelfoto: TXUS/Norma
eBook-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln
ISBN 978-3-7325-4208-6
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
www.bastei.de
Die Hexe von Darker Hills
Der einsame Reiter krümmte den Rücken und duckte sich hinter den Hals seines Pferdes. Er blinzelte unter dem tief ins Gesicht gezogenen Hut nach vorn. Der tosende Sturm schleuderte ihm eiskalten Regen entgegen, und die hereinbrechende Dämmerung machte es schier unmöglich, mehr als ein diffuses Gemisch aus fahlem Licht und tiefen Schatten zu erkennen. Noch vor einer halben Stunde war der Himmel blau gewesen, doch in dieser Gegend war das Wetter so tückisch wie eine Klapperschlange.
Plötzlich vernahm er ein bedrohliches Knurren. Ein mächtiger Schatten sprang hinter den Büschen am Berghang hervor und direkt auf ihn zu. Der Aufprall riss das Pferd zu Boden, der Reiter wurde aus dem Sattel geschleudert und stürzte kopfüber den Hang hinab. Hart schlug er mit dem Kopf gegen einen Felsen und verlor das Bewusstsein …
Rachel Evans riss erschrocken die Augen auf, als eine dunkle Gestalt über die Hangkante hinweg flog und nur zwei Yards vor ihr auf einen Findling prallte. Oben auf dem Bergpfad erkannte sie durch den Regenschleier, wie sich ein Berglöwe in den Hals des Pferdes verbiss, das seinen Reiter aus dem Sattel geworfen hatte. Die Augen des sterbenden Gauls schienen sie anzustarren, während es zuckend unter dem Raubtier sein Leben aushauchte.
»O mein Gott«, flüsterte Rachel entsetzt. Das Geräusch splitternder Knochen zwischen den Zähnen des Berglöwen verursachte ihr Übelkeit. Sie senkte den Kopf und wandte sich rasch dem Mann zu, der vor ihr lag. Er war hart mit dem Kopf aufgeschlagen und rührte sich nicht.
Als sie vorsichtig unter seinen Nacken griff und ihn aufrichtete, fühlte sich ihre Hand klebrig an. Sie zog sie zurück und bemerkte das Blut auf ihrer Handfläche.
Viel Blut.
Rachel warf einen ängstlichen Blick den Hang hinauf, doch der Berglöwe war mit einer reichen Mahlzeit beschäftigt und nahm keine Notiz von ihr. Sie wandte sich um.
»Saul!«, zischte sie. »Saul, wo steckst du?«
Einige Augenblicke verstrichen, während Rachels Blicke zwischen dem Verletzten, den schwarzen Schatten des Waldes und dem Raubtier oben auf dem Weg hektisch hin und her flogen.
Dann endlich löste sich eine vierschrötige Gestalt aus dem Buschwerk unter ihr. Saul stapfte gemächlich den Pfad hinauf, ein Maultier am Zügel führend. Seine grotesk verzerrten Züge drückten Verwirrung und Angst aus, doch ein Fremder hätte diese Gefühle in seinem entstellten Gesicht nicht erkennen können.
»Du musst mir helfen, Saul«, sagte Rachel. Ihre Stimme war leise, aber bestimmt.
Der Blick ihres Bruders fiel auf den Bewusstlosen, dann schaute er den Hang hinauf und seine Augen weiteten sich. Er stieß einen gutturalen, von Panik erfüllten Laut aus.
»Schschsch!«, stieß Rachel gedämpft hervor. »Er wird uns nichts tun, wenn wir leise sind.«
Saul nickte zögernd, schien aber keinesfalls überzeugt zu sein, denn sein Blick hing nach wie vor wie hypnotisiert an dem Raubtier auf dem Weg über ihnen.
»Saul, bitte«, drängte Rachel. Obwohl die dichten Baumkronen sie größtenteils vor dem heftigen Regen schützten, war sie mittlerweile nass bis auf die Haut, und das lange dunkle Haar klebte ihr in feuchten Strähnen auf dem Gesicht. »Wir müssen den Mann auf das Maultier heben!«
Saul schob seinen unförmigen Hirtenhut in den Nacken und trat um das Maultier herum, bevor er den Mann, der vor seiner Schwester am Felsen lehnte, unschlüssig musterte. Argwohn und Neugierde kämpften in seiner Miene um die Oberhoheit, denn er hatte noch nie einen Fremden zu Gesicht bekommen.
Das Regenwasser lief in nassen Bahnen an der dunkelbraunen Hutkrempe hinab und bildete einen Vorhang aus glitzernden Wasserlinien vor seinen groben Zügen, die wie das unfertige Werk eines unbegabten Bildhauers aussahen. Er wedelte mit der linken Hand und trat nervös von einem Fuß auf den anderen, während er mit sich zu ringen schien.
»Jetzt komm schon!«, raunte Rachel und packte entschlossen die beiden Stiefel des Bewusstlosen. Sie warf ihrem Bruder einen auffordernden Blick zu, und endlich setzte der sich in Bewegung, trat um den Findling herum und griff dem Mann unter die Arme, um ihn hochzuheben.
Der hochgewachsene Fremde schien eine halbe Tonne zu wiegen, doch Saul verfügte über Bärenkräfte. Fast allein und scheinbar mühelos hob er den Bewusstlosen vom Fels herunter, doch durch die schnelle Bewegung rutschten Rachels Hände an dem glatten Leder der Stiefel ab und ihre Handflächen machten schmerzhafte Bekanntschaft mit den silbernen Sporen des Fremden. Sie biss die Zähne zusammen und packte den Mann, den Saul mit festem Griff in der Aufrechten hielt, in den Kniekehlen.
Mit vereinten Kräften gelang es ihnen schließlich, den Bewusstlosen bäuchlings auf den Rücken des Maultieres zu bugsieren, während der Regen über ihnen in den Blättern rauschte wie donnernder Applaus.
Rachel atmete erleichtert auf, doch dann stieß das Maultier plötzlich einen unwilligen Schrei aus.
Rachel fuhr herum und blickte direkt in die brennenden Augen des Berglöwen, der von seiner Beute aufsah.
»Bitte nicht!«, flüsterte sie. »Jesus, Maria und Josef, bitte nicht!«
Ein zorniges Knurren und Fauchen schwoll binnen eines Augenblicks zu einem Brüllen an.
»Raa-chel!«, rief Saul entsetzt. Durch seinen deformierten Rachen klang ihr Name wie das Gurgeln eines Ertrinkenden.
Der Berglöwe setzte seine mächtigen Tatzen auf den Kadaver des toten Pferdes und starrte Rachel mit vor Mordlust funkelnden Augen an. Ein tiefes Knurren kam aus der Kehle des Raubtiers.
»Ganz ruhig«, murmelte Rachel, ohne zu wissen, ob diese Worte dem Tier, ihrem Bruder oder ihr selbst galten, während ihre tastende Hand über den Körper des bewusstlosen Fremden fuhr und schließlich den Griff des Revolvers fand, der immer noch im Holster steckte. Langsam zog sie die Waffe hervor, ohne den Löwen dabei aus den Augen zu lassen.
Die Raubkatze taxierte Rachel, während sie langsam über das Pferd stieg. Nun kam kein Laut mehr aus der Kehle des Tieres.
»Ra-chel«, stöhnte Saul, und seine Stimme war vor Angst nur noch ein Keuchen.
Das Raubtier spannte seine kräftigen Muskeln an und schien für einen kurzen Moment innezuhalten.
Dann sprang es.
Rachel riss mit beiden Händen den Remington empor und blinzelte. Sie hielt den Atem an und zog den Abzugsbügel durch. Der Rückschlag der großkalibrigen Waffe fuhr wie eine Schockwelle durch ihre Arme. Sie taumelte rückwärts und prallte gegen die Flanke des Maultiers, das mit einem unwilligen Laut zur Seite wich.
Das Fauchen der Raubkatze vermischte sich mit dem Prasseln des Regens auf den Baumwipfeln, und der mächtige Körper des Tieres schien immer größer und größer zu werden, während er direkt auf Rachel zuflog. Sie hörte Sauls entsetzte Schreie hinter sich und sprach ein stummes Gebet, während sie den Abzug des Revolvers wieder und wieder durchzog.
Das bluttriefende Maul des Berglöwen schien in Sekundenbruchteilen fast ihr ganzes Gesichtsfeld einzunehmen, als nur eine Armlänge vor dem Lauf des Revolvers der Kopf des Tieres explodierte.
Geistesgegenwärtig warf sich Rachel zur Seite, während ein blutiger Regen über ihr Gesicht und ihre Schultern spritzte. Sie landete im nassen Moos des Waldbodens und die Raubkatze schlug hart auf dem Felsen auf, an dem noch vor Minuten der unbekannte Fremde gelegen hatte.
Das Maultier wich erschrocken zurück, blähte die Nüstern und wieherte. Saul schrie und keuchte.
Rachel spürte nichts außer dem pochenden Herzen in ihrer Brust und eisiger, nasser Kälte auf ihrer Haut, während sie sich zögernd von dem toten Berglöwen zurückzog. Nur ein vages Gefühl von Schmerz bewog sie dazu, den Remington fallen zu lassen und den Blick zu senken.
Ihre Hände waren blutüberströmt von den Wunden, die die Sporen des Fremden hinterlassen hatten. Mit wackligen Knien stand sie auf und schwankte, weil sie einige Sekunden lang Sterne vor ihren Augen tanzen sah. Saul sprang ihr bei und nahm sie in seine kräftigen Arme. Er strich ihr über das nasse Haar und brummte erleichtert: »Löwes toot, Ra-chel. Du has uns geret-ett.«
Rachel schloss die Augen und ließ sich eine Zeit lang von ihrem Bruder halten, bis sie spürte, dass ihre Beine ihr wieder gehorchten. Dann löste sie sich aus Sauls Armen und warf einen letzten Blick auf die tote Bestie zu ihren Füßen. Ein Schauder ließ sie erbeben. Sie schlug sieben Mal das Kreuz und küsste das Amulett, das sie um den Hals trug. »Gepriesen sei der Herr, das Tal der Einsamkeit und unser Führer Reginald Godknight«, murmelte sie in tiefer Dankbarkeit, dem tödlichen Schicksal mit knapper Not entronnen zu sein.
Sie zerriss einen Baumwollbeutel, der für Kräuter gedacht gewesen war, die sie hier oben hatten sammeln wollen, als sie vom Unwetter überrascht worden waren, und verband damit notdürftig ihre malträtierten Hände. Der Schrecken und die Todesangst steckten ihr immer noch in den Gliedern, doch es war der Fremde, dem nun ihre ganze Sorge galt.
»Wir müssen runter ins Dorf, Saul«, sagte sie und deutete auf den schmalen, abwärts führenden Pfad vor sich. »Geh du voran, schnell. Der Mann ist schwer verletzt, wir müssen uns sputen.«
Saul musterte seine Schwester besorgt, doch dann nickte er und griff nach den Zügeln des Lasttiers.
Während des Weges hinunter ins Dorf zog sich der Sturm so schnell zurück, wie er gekommen war, fast als hätte die hereinbrechende Nacht ihn in die Flucht geschlagen. Als sie den Wald verließen und von Samuel, dem weißhaarigen Torwächter, am Eingang von Darker Hills empfangen wurden, spannte sich ein prächtiger Sternenhimmel über das Tal.
»Wer da?«, rief Samuel laut, und Rachel rollte mit den Augen. Der alte Sam nahm seine Aufgabe äußerst ernst, obwohl der jungen Frau jegliches Verständnis dafür abging, welchen Zweck ein Torwächter in einem Tal erfüllte, in das sich seit Ewigkeiten niemand mehr verirrt hatte.
Es war ihr ein Rätsel, was den unbekannten Mann hierher verschlagen hatte, denn der schmale Bergpfad, auf dem der Fremde geritten war, befand sich meilenweit entfernt von den befestigten Poststraßen, die durch die ohnehin schon dünn besiedelte Region der Rocky Mountains führten. Rachel hatte in den zwanzig Jahren, die sie nun auf Gottes Boden wandeln durfte, nur zweimal Menschen gesehen, die nicht aus Darker Hills stammten.
Und es war in beiden Fällen keine erfreuliche Begegnung gewesen.
»Wir sind es, Sam«, antwortete sie mit müder Stimme. »Rachel und Saul.« Nach kurzem Zögern fügte sie hinzu: »Wir haben einen Mann gefunden. Er ist verletzt und benötigt Hilfe.«
Samuel Wannamaker legte seine altertümliche Flinte beiseite und nahm stattdessen die Laterne vom Sims neben dem Tor, bevor er durch den vom Regen aufgeweichten Boden auf sie zu stapfte.
»Rachel, Gott sei gepriesen!«, lamentierte er. »Ich hatte mir schon Sorgen um euch beide gemacht.«
Er trat um das Maultier herum, verzog die Lippen und wackelte skeptisch mit den Augenbrauen, während er dem Bewusstlosen auf dem Rücken des Maultiers ins Gesicht leuchtete. »Hmmm«, brummte er. »Ein Fremder …«
»Ganz offensichtlich, Sam«, entgegnete Rachel und unterdrückte ein Seufzen. »Und er ist schwer verletzt. Wir müssen ihn sofort zum Doktor bringen.« Sie blinzelte dem alten Torwächter ungeduldig entgegen, doch der schien nicht in der Lage zu sein, die Signale der jungen Frau zu verstehen.
»Hmmhmm«, grunzte Sam und strich dem Bewusstlosen vorsichtig über den Hinterkopf, als würde er ein gefährliches Tier berühren.
Er starrte auf seine blutbefleckten Finger und musterte Rachel und Saul, bevor er sich die Hand gedankenverloren an der Hose abwischte. »Frag mich, was der Kerl hier verloren hat«, murmelte er leise, als würde er mit sich selbst reden.
»Das kann er uns erzählen, wenn es ihm wieder besser geht. Jetzt lass uns in Gottes Namen …«
Sam hob den Finger und seine Miene verdüsterte sich. »Rachel, benutze den Namen des Herrn nie im Zorn!«
»Ich bin nicht zornig, Sam«, erwiderte Rachel, um einen ruhigen Ton bemüht, obwohl sie ihre Ungeduld nur schwer im Zaum halten konnte. »Aber du siehst doch selbst, wie es um den armen Mann bestellt ist. Wir müssen uns beeilen.«
Samuel wackelte zweifelnd mit dem Kopf, doch dann nickte er. »Also gut. Aber ich werde dem Reverend Meldung machen müssen. Ein Fremder, das ist ernst.« Er schüttelte den Kopf, als ob er damit Ordnung in seinem Kopf schaffen wollte. »Das ist eine ernste Angelegenheit«, wiederholte er.
»Natürlich, Sam«, entgegnete Rachel, dann überlegte sie kurz, bevor sich ein kleines Lächeln auf ihre Lippen stahl. »Nur – wer bewacht dann das Tor?«
Wannamaker riss die Augen auf, und seine Miene verriet, dass diese Frage ihn ordentlich aus der Fassung brachte.
»Ich …« Er starrte auf seine Laterne. »… also, ich …«
Saul trat auf den alten Mann zu und nahm ihm kurzerhand die Laterne ab. »Pass schon auf«, nuschelte er und klopfte Sam auf die hängende Schulter. Die Geste war freundlich und sanft, doch der Weißhaarige schien darunter fast in die Knie zu gehen. Nach kurzem Zögern nickte er. »Also gut, Saul. Ich bin bald zurück.« Er wandte sich Rachel zu. »Lass uns gehen, Mädchen.«
***
Als Lassiter erwachte, begannen zahlreiche winzige Wesen in seinem Kopf sofort damit, ihn mit Spitzhacken und Schmiedehämmern zu bearbeiten. Seine Zunge war geschwollen und schien wie ein toter Aal den gesamten Mund bis in den Schlund hinunter auszufüllen, sodass er kaum in der Lage war, mehr als ein leises Stöhnen von sich zu geben. Er versuchte zu schlucken, aber dafür war nicht genügend Feuchtigkeit in seinem Hals vorhanden.
Es kostete ihn alle Willenskraft, um die Augen zu schmalen Schlitzen zu öffnen, doch außer fahlem Licht und unscharfen Schatten konnte er nichts erkennen. Langsam und zögerlich kehrte das Bewusstsein zurück, und mit ihm die Schmerzen.
Denn nicht nur der Kopf fühlte sich an, als sei er in eine ausgewachsene Stampede geraten; auch um seine Brust und den linken Arm schien es nicht gut bestellt zu sein. Hart und fordernd schlug ihm das Herz gegen die schmerzenden Rippen.
»Nicht bewegen«, drang eine sanfte Stimme an sein Ohr. »Sie sind schwer verletzt.«
Diese Information war bereits angekommen. Aber was zur Hölle war geschehen?
Er registrierte, dass er in einem warmen weichen Bett lag, und roch frisch duftende Bettwäsche und das betäubende Aroma von Kampfer. Vage fühlte er einen straffen Verband um seine Brust. Er war verletzt, aber in Sicherheit. Ein gutes Gefühl. Er versuchte sich zu entspannen.
Eine Hand hob vorsichtig seinen Kopf an, dann spürte er etwas Warmes an seinen Lippen, ein Becher oder eine Tasse. Er öffnete den Mund.
Gierig trank er, was man ihm reichte. Die warme Flüssigkeit schmeckte seltsam, aber nicht übel, wie Tee, Brühe oder eine Mischung aus beidem. Er verschluckte sich und musste husten, was sein Kopf mit wütenden Schmerzwellen ahndete.
»Nicht so hastig«, ließ sich die Stimme wieder vernehmen. Sie gehörte offensichtlich einer Frau, und der Tonfall war ebenso besorgt wie mitfühlend. Lassiter beschloss, ihr nicht zu widersprechen, aber ihm lagen ein paar Fragen auf dem Herzen.
»Was …«, krächzte Lassiter, »… was ist passiert?«
»Ein Berglöwe. Er hat Sie angegriffen, und dabei sind Sie den Hang hinabgestürzt. Sie sind ziemlich mitgenommen«, kam die sanfte Antwort der unbekannten Frau, doch Lassiters getrübte Wahrnehmung hatte Mühe, den Sinn der Worte zu verstehen.
»Ich … der Sturm …«, murmelte er und hustete, bevor er angestrengt fortfuhr: »Muss vom Weg abgekommen sein … weiß nicht, wie das passieren konnte. Plötzlich …«
Er blinzelte und versuchte seine Umgebung zu erkennen, doch seine Augen versagten ihm immer noch weitestgehend den Dienst – mehr als unscharfe Konturen und die vage Silhouette einer Gestalt, die sich über ihn beugte, konnte er nicht erkennen. Also schloss er die Augen, auch, weil seine Lider Tonnen zu wiegen schienen. Er versuchte die Hände zu heben, doch er spürte nicht einmal die Arme, die zu ihnen führten.
»Sie sollten wirklich nicht so viel reden«, ermahnte ihn die Frau – sein Engel. »Sie müssen jetzt schlafen. Ihr Körper braucht Ruhe, dann wird Gottes Hand ihn heilen.«
Lassiter hatte in diesem Moment seine Zweifel daran, dass der Herrgott ihn beschützen und sein Leben retten würde. Er war noch nie ein Gläubiger gewesen, und wenn es dort oben jemanden gab, der in der Lage war, Menschenleben zu retten, wäre er wohl nicht der Erste, um den man sich kümmern würde.
Sein Hinterkopf fühlte sich an, als hätte dort jemand eine glühende Eisenkugel von der Größe einer Mörsergranate eingesetzt.
»Mein Kopf …«, stöhnte er.
»Nur eine Platzwunde und eine große Beule, vermutlich auch eine Gehirnerschütterung. Aber kein Grund zur Sorge«, ließ sich die Frau wieder vernehmen. »Sie haben einen wirklich harten Schädel, Mister.« Die Stimme klang, als würde sie lächeln. »Zwei Rippen sind angebrochen und ihre Schulter war ausgerenkt. Aber das ist alles nichts, was der Herrgott nicht wieder in Ordnung brächte. Er hat in seiner endlosen Güte beschlossen, Rachel und Saul zu Ihnen zu schicken, und dies war ein Zeichen dafür, dass Sie leben sollen.«
»Okay, Ma’am. Aber ich …«
»Schlafen Sie jetzt. Ich werde für Sie beten.«
Lassiter wollte widersprechen, doch allmählich senkte sich bleierne Müdigkeit über ihn und er fiel zurück in eine tiefe Bewusstlosigkeit.
***
Das Licht zweier Öllampen warf geisterhafte Schatten auf die nackten Backsteinwände des kleinen Raumes, den die Bewohner des Tals Die Kammer der Reue