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Die schweren Torflügel fielen vor ihm mit einem Geräusch ins Schloss, das an ein niedergehendes Fallbeil erinnerte. Fast zehn Jahre waren vergangen, seit er diesen Laut zum ersten Mal vernommen hatte, doch heute stand er auf der richtigen Seite der Mauern. Auf der Seite der freien Menschen.
"Geh mit Gott, Junge. Du hast deine Schuld verbüßt. Auf Nimmerwiedersehen!", rief ihm der Wächter zu.
Christian Hellstrom sah zum Wachturm hinauf, tippte sich an eine imaginäre Hutkrempe und nickte, obwohl der Mann da oben nicht viel gesagt hatte, dem er zustimmen konnte. Er hatte aufgehört, ein Junge zu sein, als man ihn wegen Totschlags verurteilte. Und die Schuld, die ihn hinter die Gitter des County Jails gebracht hatte, trug jemand anderes.
Jemand, dem er schon bald gegenüberstehen würde.
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Seitenzahl: 153
Veröffentlichungsjahr: 2017
Cover
Impressum
Zwischen den Fronten
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelfoto: TXUS/Norma
eBook-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln
ISBN 978-3-7325-5357-0
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
www.bastei.de
Zwischen den Fronten
Die schweren Torflügel fielen vor ihm mit einem Geräusch ins Schloss, das an ein niedergehendes Fallbeil erinnerte. Fast zehn Jahre waren vergangen, seit er diesen Laut zum ersten Mal vernommen hatte, doch heute stand er auf der richtigen Seite der Mauern. Auf der Seite der freien Menschen.
»Geh mit Gott, Junge. Du hast deine Schuld verbüßt. Auf Nimmerwiedersehen!«, rief ihm der Wächter zu.
Christian Hellstrom sah zum Wachturm hinauf, tippte sich an eine imaginäre Hutkrempe und nickte, obwohl der Mann da oben nicht viel gesagt hatte, dem er zustimmen konnte. Er hatte aufgehört, ein Junge zu sein, als man ihn wegen Totschlags verurteilte. Und die Schuld, die ihn hinter die Gitter des County Jails gebracht hatte, trug jemand anderes.
Jemand, dem er schon bald gegenüberstehen würde.
Christian Hellstrom machte kehrt und ging mit festen Schritten den Hügel hinab, ohne sich noch einmal umzusehen. Die Sonne brannte heiß vom Himmel herab und das helle Licht brachte ihn zum Blinzeln, doch er hatte sich seit Ewigkeiten nicht mehr so lebendig gefühlt wie in diesem Moment.
Das alte Hemd spannte an den Schultern und über der Brust, und auch die Hose war ihm viel zu eng. Kein Wunder, schließlich war er gerade erst siebzehn gewesen, als er diese Kleider zum letzten Mal getragen hatte.
Dreitausendfünfhundertundfünfzig Tage. Diese Zahl, die ihn von dem Leben hier draußen trennte, erschien ihm nun wie eine Mauer, die bis zum Himmel reichte. Im Zuchthaus bekam man nur wenig davon mit, wie sich die Welt jenseits der hohen Mauern weiter drehte, und als er sich der kleinen Stadt unten in der Ebene näherte, stieg eine Beklommenheit in ihm auf, die seine Schritte verlangsamte.
Er zog einen zerknitterten Umschlag aus seiner Gesäßtasche und nahm die Dollarnoten heraus. Das Schreiben, das daneben steckte, musste er nicht noch einmal lesen. Er kannte die Worte fast auswendig.
Fridas Briefe waren in all den Jahren fast das einzige Bindeglied zur Außenwelt gewesen, und er hatte in jedem Monat die Tage gezählt, bis endlich wieder ein Schreiben seiner Schwester eintraf. Fast immer beteuerte sie darin, wie gern sie ihn besuchen würde, doch Mutter und sein älterer Bruder Sven ließen es nicht zu.
Die Greenbucks knisterten verheißungsvoll zwischen seinen Fingern. Fünfzehn Dollar. Es war Frida bestimmt nicht so leichtgefallen, das Geld unbemerkt für ihn abzuzweigen, und er war heilfroh darüber, dass keiner der Wärter es eingesteckt hatte, bevor man ihm den Brief übergab.
Die Summe sollte reichen für ein paar einfache Klamotten und ein Billett für die Postkutsche nach Stockhill. Und außerdem für ein oder zwei andere Dinge, von denen er schon lange träumte.
Christian zuckte zusammen, als er ein Pfeifen hinter den Hügeln jenseits der Stadt vernahm, und seine Augen weiteten sich, denn er sah eine Qualmwolke am Himmel über den Dächern aufsteigen.
Brannte dort etwa ein Gebäude?
Er schirmte die Augen mit der Hand vor der Sonne ab und spähte zu der Hügelkette hinter dem Städtchen hinüber. Ein dumpfes Dröhnen ertönte, und er hatte unwillkürlich das Gefühl, als würde die Erde unter seinen Füßen leicht erbeben.
Kurz darauf tauchte ein metallisch glänzender Drache hinter der Hügelkuppe auf und stieß wieder diesen zischenden Pfeifton aus.
Christian blieb der Mund offenstehen, als sich die Lokomotive gemächlich über den Hügel schob und wenig später in den kleinen Bahnhof einfuhr.
Eine Eisenbahn hier mitten im Nirgendwo! Aufgeregt leckte er sich die trockenen Lippen und beschleunigte seine Schritte.
Als er das Ortsschild passierte, rannte er fast und wäre um ein Haar von einem Fuhrwerk überfahren worden, weil seine großen Augen völlig auf das Dampfross fixiert waren, das auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes hinter dem schmalen Bahnsteig zum Stehen gekommen war und immer noch eine stattliche Qualmwolke in den Mittagshimmel blies.
»Pass doch auf, Junge!«, rief ihm der Kutscher vom Bock aus wütend zu, und er hob entschuldigend die Hand, nur um dann langsam, fast ehrfürchtig die Stufen auf den Bahnsteig hinaufzugehen, bis er vor dem Ungetüm aus Stahl stand.
»Wahnsinn«, flüsterte er und rieb sich ungläubig die Stirn. Er wich einem Gepäckträger aus, der einen Rollwagen hinter sich herzog, während neben ihm die Türen des Güterwaggons geöffnet wurden. Weiter hinten traten Zuggäste aus dem Passagierwagen und ein Mann in Uniform brüllte: »Brandon Heights, letzter Halt! Rückfahrt nach Abilene in dreißig Minuten! Halten Sie Ihre Fahrscheine bereit, Ladys und Gentlemen, und Vorsicht an der Bahnsteigkante.«
Christian ließ sich auf eine Holzbank fallen und sah dem geschäftigen Treiben fasziniert zu. Im Gegensatz zu ihm schien keiner der Anwesenden besonders beeindruckt zu sein, wenn man von ein paar aufgeregt herumtollenden Kindern absah, die von dem Uniformierten streng zur Ordnung gerufen wurden, als sie der Bahnsteigkante und damit auch dem mächtigen Räderwerk der Lok zu nahe kamen. Es sah fast so aus, als wäre dieser Bahnhof inzwischen ein alltäglicher Bestandteil der Stadt geworden.
Christians jungenhaftes Lächeln verblasste, als ihm bewusst wurde, wie viel er verpasst haben musste.
Dieser Eindruck verstärkte sich noch, als er kurz darauf den Bahnhof verließ und die Mainstreet hinab schlenderte. Denn aus dem verschlafenen Nest, durch das man ihn damals gebracht hatte, war mittlerweile ein schmuckes Städtchen geworden. Es gab einen Kolonialwarenladen, einen Barbier, drei Saloons und sogar ein Geschäft, in dem ausschließlich Kleidung angeboten wurde.
Er brauchte eine Viertelstunde, bevor er den Mut aufbrachte, den Laden zu betreten, und als er sah, wie der elegant gekleidete Mann hinter dem Tresen ihn taxierte, hätte er fast sofort wieder kehrtgemacht.
»Was kann ich für Sie tun, Sir?« Der überraschend freundliche Tonfall des Ladenbesitzers ließ ihn innehalten, und er bemühte sich um ein Lächeln.
»Ich bräuchte ein … nun, ein Hemd, eine Hose, also …«
Der Ladenbesitzer trat um den Tresen herum und musterte ihn von oben bis unten. »Das ist in der Tat nicht zu übersehen. Was möchten Sie denn investieren?«
Christian verzog die Lippen. Er hatte keine Ahnung. »Was nötig ist, damit ich nicht wie ein Tramp aussehe«, brachte er schließlich zögernd hervor, und sein Gegenüber lachte.
»Schon in Ordnung, junger Mann. Wir finden etwas Passendes, das Sie nicht gleich in den Ruin treiben wird.«
Er legte Chris vertraulich die Hand auf die Schulter und schob ihn an einer Auslage mit Hüten und ein paar Kleiderständern vorbei, an dem teuer aussehende Gehröcke hingen. Chris sah sich um, als wäre er in einem Kuriositätenkabinett gelandet, während er in den hinteren Bereich des Ladens geführt wurde.
Nach ein paar Minuten hatte der Mann ihm ein halbes Dutzend Hemden und zwei Paar Hosen aus den mannshohen Regalen herausgesucht und deutete auf eine Kabine hinter sich, an der ein Vorhang zurückgezogen war.
»Probieren Sie die Sache doch einfach mal an. Ich glaube, sie müssten passen«, sagte der Mann und nestelte an seinem Hemdkragen herum.
Chris musterte ihn kurz, dann ging ihm ein Licht auf. Er warf einen kurzen Blick auf die Auswahl des Ladenbesitzers, dann nahm er zwei der Hemden und eine schlichte dunkle Denimhose in die Hände und fragte: »Was sollen diese Sachen kosten?«
»Für Sie … drei Dollar.« Der Mann strich sich das Haar aus der Stirn und zwinkerte vielsagend. »Aber ich könnte Sie Ihnen auch für zwei Bucks überlassen und noch Unterwäsche drauflegen. Wenn Sie vielleicht einfach mal …«
Chris zog drei Banknoten aus der Tasche, drückte sie dem Mann in die Hand und presste sich die frisch duftenden Kleidungsstücke an die Brust.
»Herzlichen Dank. Man sieht sich«, murmelte er und hoffte das Gegenteil. Mit schnellen Schritten rannte er an den Regalen und Ständern vorbei zum Ausgang zurück.
»So warten Sie doch, Junge!«, rief ihm der Ladenbesitzer nach, doch er winkte nur über die Schulter und sprang im nächsten Moment zur Tür hinaus.
Er hastete über den Sidewalk und sah sich erst um, als er am benachbarten Drugstore vorbei war. Doch der Herrenausstatter schien sein Ansinnen aufgegeben zu haben und ließ sich nicht blicken.
Gegenüber befand sich die Station der Wells Fargo und wartete mit einer weiteren Überraschung auf. Denn vom Dachgiebel aus spannten sich tatsächlich Telegrafendrähte über die Straße, die über etwa fünfzehn Fuß hohe Masten zum Bahnhof und von dort aus am Rande der Bahnstrecke gen Norden verliefen.
Er trat an den Verkaufsschalter und beugte sich zu dem hageren Männchen hinab, das hinter dem offenen Fenster an einem schmalen Pult hockte.
»Wann geht die nächste Kutsche nach Stockhill?«, fragte er.
Das Männchen blinzelte ihn durch bleistiftdicke Brillengläser an und zuckte die Achseln. »Erst morgen früh, junger Mann. Die Letzte ist gerade erst aus der Stadt vor einer halben Stunde.«
Chris hob bedauernd die Augenbrauen. Andererseits gab ihm dieser Umstand die Gelegenheit, sich noch ein wenig an die neue Welt zu gewöhnen, bevor er heimkehrte.
Frida wusste, dass er heute entlassen worden war, doch sie hatte ihm in ihrem letzten Brief versprochen, an jedem Tag in Stockhill auf ihn zu warten, bis er eintreffen würde.
»Also gut«, murmelte er. »Was kostet die Fahrkarte?«
»Achtzig Cents«, antwortete der Clerk, und Chris schob ihm eine Dollarnote zu, dann kam ihm ein Gedanke.
»Der Zug fährt nicht nach Stockhill, oder?«, fragte er, die Hand auf den Greenbuck gelegt.
Der Clerk sah zu ihm auf und kniff die Augen zusammen, bevor er ein schiefes Grinsen aufsetzte. »Du kommst vom Hügel oben, nicht wahr?«
Chris erwiderte seinen Blick, ohne eine Miene zu verziehen, und das Männchen lachte leise. »Tut mir leid, Junge. Du wirst mit der Kutsche vorliebnehmen müssen. Die Railway endet hier und fährt zurück nach Abilene. Also, willst du die Fahrkarte oder nicht?«
Chris zog seine Hand zurück, und der Clerk nahm die Banknote und schob ihm dafür ein Billett und sein Wechselgeld zu. »Abfahrt ist um acht Uhr dreißig. Sei besser pünktlich, die Wells Fargo ist es auch.«
Er verstaute Fahrschein und Münzen in seiner Hosentasche, als er noch einen Einfall hatte. »Könnte ich denn ein Telegramm nach Stockhill schicken?«, fragte er.
Der Clerk nickte. »Selbstverständlich«, brummte er und griff nach einem Bleistift und einem Notizblock.
Christian diktierte ihm die Nachricht und wurde um einen weiteren halben Dollar ärmer, doch er hatte ein besseres Gefühl, als er daraufhin die Straße hinunterging, seine neuen Klamotten vor die Brust gedrückt. Frida sollte sich keine unnötigen Sorgen machen.
Unschlüssig sah er sich um.
Der Tall Inn auf der anderen Straßenseite wirkte einladend auf ihn, weil er durch die Fenster erkennen konnte, dass dort nicht allzu viel Betrieb herrschte. Schon das Gewusel auf der Straße machte ihn nervös. All diese Stimmen und Blicke von unbekannten Menschen. Es kam ihm vor, als würden die Passanten ihn argwöhnisch taxieren und auf Anhieb erkennen, woher er kam. Fast sehnte er sich nach der Einsamkeit seiner Zelle zurück.
Er stieß die Schwingtüren zum Schankraum auf und warf dem Mann hinter dem Tresen ein freundliches Lächeln zu, das nicht erwidert wurde. Unsicher nahm er an einem kleinen Tisch in der dunklen Ecke neben der Theke Platz und legte Hemden und Hose auf dem Stuhl neben sich ab. Als er den Blick hob, sah er in die argwöhnischen Augen des vierschrötigen Barkeepers, der mit einem schmutzigen Lappen ein Glas polierte und dabei den Eindruck erweckte, ihm gleich an die Gurgel gehen zu wollen.
»Ein großes Bier, bitte. Sir«, sagte er und wunderte sich selbst darüber, wie fremd seine eigene Stimme klang. Das musste daran liegen, dass er eine derartige Bestellung zum ersten Mal in seinem Leben vorbrachte.
»Kannst du das denn auch bezahlen, Bursche?«, knurrte der Barkeeper und starrte ihn misstrauisch an.
»Natürlich«, gab Chris zurück. Als ihn der Mann hinter dem Tresen nur schweigend anglotzte, zog er das Wechselgeld aus seiner Tasche und ließ zwanzig Cents auf die Tischplatte fallen.
Der Bartender zuckte die Achseln und wandte sich dem Bierfass zu. Kurz darauf knallte er den Krug vor sich auf den Tresen.
»Macht fünfzig Cents«, brummte er.
»Was soll der Scheiß, Barney«, ließ sich eine rauchige Stimme vom Ende der Theke vernehmen, und Chris lehnte sich überrascht nach vorn, um deren Besitzer zu entdecken.
Es war eine Besitzerin, die er im Halbdunkel des Schankraums beim Eintreten übersehen hatte.
Die leicht bekleidete Frau erhob sich von ihrem Barhocker und schlenderte mit gekonntem Hüftschwung am Tresen entlang. Sie griff sich den Bierkrug und stellte ihn vor Chris auf dem Tisch ab.
Er sah zu ihr auf und blickte in freundliche braune Augen. Sie nahm eine der beiden Zehn-Cent-Münzen, drehte sich um und beugte sich zum Barkeeper herüber, bevor sie das Geldstück auf die Theke fallen ließ. Chris starrte auf ihren prallen Hintern unter dem knappen Rock und musste schlucken.
»Seit wann nimmst du denn das Fünffache für deine abgestandene Plörre, Dicker?«, fragte sie, und der korpulente Bartender warf Chris einen feindseligen Blick zu.
»Der Bursche kommt vom Hügel, Rita. Das sieht man doch sofort.«
»Na und?« Sie hob die Hand und wandte sich zu Chris um, um ihm zuzuzwinkern. »Er ist frei und hat bezahlt für das, was er verbrochen hat. Genau so wie für sein Bier.«
Sie setzte sich auf den Stuhl ihm gegenüber, und Chris spürte, wie er unter ihrem forschenden Blick errötete. Das mochte auch an dem großzügigen Einblick auf ihr üppiges Dekolleté liegen, den Rita ihm bot, als sie sich vorbeugte.
Zögernd riss er sich davon los, weil sie mit einem rot lackierten Finger auf die Kleidung neben ihm deutete. »Ein paar hübsche neue Sachen hast du dir zugelegt. Aber deine Stiefel sind auch nicht mehr präsentabel, weißt du?«
Chris lehnte sich unwillkürlich zurück und starrte nach unten. Sie hatte zweifellos recht.
Als er wieder hochsah, lächelte Rita breit. »Du erinnerst mich an jemanden, Kleiner«, murmelte sie, und dabei trat ein Hauch von Wehmut in ihre Züge.
Er lächelte nervös und trank einen Schluck aus seinem Bierkrug. Es war kalt und schmeckte besser, als er erwartet hatte.
»Tatsächlich. An wen denn?«, fragte er, um einfach etwas zu sagen. Der schwere Duft ihres Parfüms stieg ihm in die Nase und er spürte, wie sein Puls sich beschleunigte.
Rita hob die Hand und bewegte ihre Finger, als würde sie auf einer unsichtbaren Flöte spielen. »Jemand, der mir das Herz gebrochen hat«, sagte sie leise, und ihr Lächeln wirkte bitter.
»Das tut mir leid, Ma’am«, entgegnete er und brachte sie damit zum Lachen.
»Mir auch.« Sie streckte ihre Hand aus und wischte ihm den Schaum von den Lippen. »Wie heißt du, Süßer?«
»Christian. Christian Hellstrom.«
»Okay, Chris. Und was hast du heute noch vor?«
Aus den Augenwinkeln bemerkte Chris, wie Barney mit den Augen rollte.
»Ich … nichts Besonderes. Meine Postkutsche nach Hause fährt erst morgen früh.«
Rita nickte, als hätte sie diese Antwort erwartet. Sie ergriff seine Hand und drückte sie sanft. »Komm doch einfach mit. Ich habe oben ein paar Stiefel, die dir passen müssten.«
Er stand zögernd auf. »Ich bin mir nicht sicher, ob …«
»Papperlapapp!« Sie legte ihm den Finger auf die Lippen, bevor sie sich Barney zuwandte. »Schlag ein paar Eier in die Pfanne! Der Junge wird hungrig sein.« Sie hob die Augenbrauen. »Aber erst in einer Stunde …«
***
Die Jahre waren an Rita nicht spurlos vorübergegangen, doch in Christians Augen wirkten ihre üppigen Rundungen und das stark geschminkte Gesicht wie ein Ausblick auf das Paradies.
»Setz dich, Schätzchen«, wies sie ihn an und deutete auf einen Lehnstuhl, der neben einem Tisch vor dem Fenster stand. Er sah ihr nach, als sie durch eine offene Tür in den Nebenraum ging.
»Dieser Barney scheint mich nicht besonders zu mögen«, stellte er fest und sah sich im Zimmer um. Es war geschmackvoll und gemütlich eingerichtet und sah ganz und gar nicht so aus, wie er sich den Arbeitsraum einer Prostituierten vorgestellt hatte.
»Barney mag niemanden, also lass dir deshalb keine grauen Haare wachsen«, kam es von nebenan zurück.
»Er wusste sofort, dass ich aus dem Gefängnis komme«, brummte Christian. »Ich frage mich, warum. Ich habe doch kein Kainsmal auf der Stirn, oder?«
Ein amüsiertes Glucksen kam aus dem Nebenzimmer. »Das nicht. Aber du trägst weder einen Hut noch eine Waffe, dafür Klamotten, die dir zu eng sind und neue Sachen unter dem Arm statt in einer Tasche, wie es sich für anständige Leute gehört.«
Ritas Kopf erschien im Türrahmen, und ihre Augen zwinkerten belustigt. Dann tauchte auch ihre Hand auf und winkte mit einem Paar etwas ramponiert aussehender Cowboystiefel, bevor sie in das Zimmer trat.
»Gefunden«, bemerkte sie überflüssigerweise und stellte die Stiefel zu seinen Füßen ab. »Schau doch mal, ob sie passen.«
Es kostete ihn einige Mühe, sich seine löchrigen und viel zu engen Schuhe auszuziehen. Rita nahm seinen linken Fuß und zog ihm den Stiefel darüber. Er passte wie angegossen. Sie wiederholte die Prozedur mit dem rechten und hob auffordernd die Hände. »Probier’s mal aus.«
Gehorsam wanderte er bis zur Tür, machte auf dem Absatz kehrt und ging zum Stuhl zurück. »Sie sind fantastisch, M … Rita«, sagte er und lächelte.
Über ihr Gesicht ging ein Strahlen, das der Sonne hinter dem Fenster Konkurrenz machte. Sie setzte sich auf die Bettkante und sah ihm dabei zu, wie er sich fast tänzerisch vor dem Stuhl auf und ab bewegte. Als er ihr schließlich unsicher in die Augen sah, hob sie fragend die Augenbrauen.
»Ich habe nicht viel Geld, Rita. Ich meine, ich weiß nicht, wie viel ich dafür bezahlen muss, was wir gleich tun werden, und dann noch die Stiefel …«
»Was tun wir denn gleich, Schätzchen?«, fragte sie ihn, und unter ihrem durchdringenden Blick spürte er, wie ihm die Röte vom Hals zum Kopf stieg.
»Ähm … also …« Sein unsteter Blick wanderte zur Decke, und er wäre am liebsten im Boden versunken. Hatte er das ganze Geplänkel missverstanden? Warum hatte er sich überhaupt darauf eingelassen, mit dieser Frau auf ihr Zimmer zu gehen?
»Mach dir keine Gedanken um das bisschen Geld in deiner Tasche, Christian«, sagte sie leise und erhob sich. Als sie ihm die Arme um die Schultern legte, hatte er das Gefühl, dass seine Beine sich in Gelee verwandelten.
»Barney wird doch Geld haben wollen. Er ist schließlich Ihr Boss! Aber ich kann bezahlen, ich habe Geld!«
Rita lachte kehlig auf. »Barney? Du verwechselst da etwas, mein Kleiner. Der Laden hier gehört mir. Also entspann dich einfach.«