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Die Postkutsche rollte tiefer ins Grasland hinein. Der Missouri und sein Uferwald blieben zurück, die Fassaden von Saint Joseph verschwammen bereits mit Viehkoppeln und Hügeln. Frank saß seinem Vater gegenüber am Fenster. Er blickte hinaus. Je deutlicher die Landschaft den Charakter der Prärie annahm, desto mehr beflügelte ihn ein Gefühl von Freiheit und Glück.
Unter blauem Herbsthimmel schaukelte die rote Concord nach Südwesten. Ihre Räder knarrten, die Fahrgastkabine schwankte. Draußen auf dem Kutschbock scherzten der Kutscher und der Conductor. Und Franks Vater tuschelte mit der jungen blonden Frau neben ihm. Sie war hübsch - kein Wunder, dass sein alter Herr bestens gelaunt war.
Nichts, aber auch gar nichts sprach dafür, dass der Tod längst auf der Lauer lag.
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Seitenzahl: 148
Veröffentlichungsjahr: 2017
Cover
Impressum
Der Tod fährt mit nach Sacramento
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelfoto: DelNido/Norma
eBook-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln
ISBN 978-3-7325-5425-6
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
www.bastei.de
Der Tod fährt mit nach Sacramento
Die Postkutsche rollte tiefer ins Grasland hinein. Der Missouri und sein Uferwald blieben zurück, die Fassaden von Saint Joseph verschwammen bereits mit Viehkoppeln und Hügeln. Frank saß seinem Vater gegenüber am Fenster. Er blickte hinaus. Je deutlicher die Landschaft den Charakter der Prärie annahm, desto mehr beflügelte ihn ein Gefühl von Freiheit und Glück.
Unter blauem Herbsthimmel schaukelte die rote Concord nach Südwesten. Ihre Räder knarrten, die Fahrgastkabine schwankte. Draußen auf dem Kutschbock scherzten der Kutscher und der Conductor. Und Franks Vater tuschelte mit der jungen blonden Frau neben ihm. Sie war hübsch – kein Wunder, dass sein alter Herr bestens gelaunt war.
Nichts, aber auch gar nichts sprach dafür, dass der Tod längst auf der Lauer lag.
Frank Perkinsons Blick streifte wieder seinen Vater und die Blonde. Sie trug ein elegantes moosgrünes Kleid und hielt eine Handtasche aus Krokodilleder auf ihrem Schoß fest.
Gestern Abend im Saloon hatte Dad mit ihr getanzt. Ob sie danach mit auf sein Zimmer gegangen war? Gut möglich. Er war Witwer, ein paar Jahre schon. Die weiblichen Reize der Blonden waren auch Frank nicht verborgen geblieben, doch Dad war schneller gewesen.
Die beiden Waffenhändler neben ihr und Dad plauderten über ihre guten Geschäfte, die sie in Saint Joseph gemacht hatten. Sie wollten nach Fort Bridger. Außer ihnen saß noch ein älteres Ehepaar aus Saint Joseph mit in der Kutsche.
Voller Dankbarkeit betrachtete Frank seinen Vater. Keinen einzigen Stein hatte der ihm in den Weg gelegt, nachdem Frank ihm im Sommer eröffnet hatte, dass er gehen wollte. Eine ganze Nacht lang hatte er seinem Vater erklärt, warum er weder die Plantagen am Mississippi noch das große Anwesen in Baton Rouge übernehmen werde.
»Im Westen will ich ein neues Leben anfangen, Dad«, hatte er seinem alten Herrn eröffnet. »Allein.« Sein Vater hatte keine Luftsprünge vollführt, weiß Gott nicht, doch er hatte ihm auch keine Vorhaltungen gemacht.
Dankbar dachte Frank an seine Schwester Marylou. Sie hatte ihn in seinen Plänen unterstützt und dem Vater versichert, dass sie die Heimat niemals aufgeben würde. Schon seit sie neunzehn war, half sie Dad bei der Verwaltung des Gutshofes und der Plantagen.
Frank blickte wieder zum Fenster hinaus. Immer seltener sah man inzwischen Koppeln mit Vieh oder die Gebäude einer Ranch vorbeigleiten. Die Kutsche drang tiefer und tiefer in die endlose Ebene zwischen Missouri, Mississippi und den Rocky Mountains ein. Gut so.
In Saint Joseph hatten sie die notwendigen Bankgeschäfte erledigt, damit sein Vater ihm sein Erbe auszahlen konnte. Wells, Fargo & Company hatten den Kutscher und den Conductor als die besten Männer empfohlen, die für das Unternehmen arbeiteten. Die beiden würden sie nun nach Sacramento bringen. Tief sog Frank den Duft des Grases ein. Den Duft der Freiheit.
Schon als sie vor ein paar Tagen an Bord der Natchez gegangen waren, hatte ihn die Freude auf den bevorstehenden Neuanfang gepackt. Und danach, während der Fahrt den Mississippi hinauf bis nach Saint Louis, nicht mehr losgelassen. Wie hatte er die Reise genossen: die herbstlichen Uferwälder, die Hausboote, Fähren und Fischerkähne voller winkender Menschen und die Schwärme der Wildgänse, die dem Schaufelraddampfer entgegen gerauscht waren.
Ein wenig bange war ihm schon wegen des weiten Weges durch die Prärie, über die Rocky Mountains und über Salt Lake City bis nach Sacramento. Frank hoffte, noch vor dem Wintereinbruch anzukommen.
Die ältere Lady aus Saint Joseph hüstelte. »Machen Sie um Gottes willen endlich Ihre Zigarre aus, Sir!«, rief sie.
»Ich blase den Rauch doch zum Fenster hinaus, Ma’am«, erklärte Vater Perkinson in der ihm eigenen Freundlichkeit.
»Ich vertrage keinen Zigarrenrauch!« Ein Hustenanfall schüttelte die Lady, und nun bat auch ihr Gatte Franks Vater darum, die Zigarre auszumachen. Mit wehmütiger Miene drückte Perkinson senior seine glühende Tabakrolle an der Innenwand aus.
Frank lächelte. Nie war er seinem Vater so nahe gewesen wie in den vergangenen Wochen. Er rechnete es ihm hoch an, dass er trotz seines Alters die lange Reise nach Sacramento auf sich nahm, um ihn zu begleiten und zu beraten. Frank wollte Grundstücke und eine Orangenplantage von dem Geld kaufen, das sein Vater ihm ausbezahlt hatte. Er selbst war unerfahren in finanziellen Dingen.
Etwas krachte außerhalb der Kutsche. Ein Stein unter dem Kutschenboden? Donner? Frank blinzelte hinaus. War denn ein Gewitter aufgezogen? Plötzlich pfiff eine Kugel dicht an ihm vorbei. Schnell zog er den Kopf wieder ein. Die Kutsche nahm Fahrt auf, dennoch donnerte Hufschlag heran, Kugeln schlugen im Gepäckschrank ein.
»Überfall!«, brüllte draußen der Kutscher. »Festhalten!«
Franks Vater zog seinen Revolver unter dem Frack heraus. Glas splitterte zu beiden Seiten der Kutsche. Einer der Waffenhändler schrie getroffen auf und rutschte mit blutender Stirn in den Fußraum. Die alte Lady schrie und ihr Mann betete laut.
Frank feuerte aus seinem fabrikneuen Colt durch das Fenster, wo er zwei Reiter zu erkennen glaubte. Leider war er ein noch schlechterer Schütze als sein Vater. Schüsse explodierten nun schon dicht hinter der Kutsche und schlugen in den Holzwänden ein.
Draußen hörte Frank den Kutscher die Pferde anbrüllen und den Conductor fluchen. Der zweite Waffenhändler beugte sich weit aus dem Fenster und schoss aus einem Karabiner auf die Verfolger. Der Hufschlag rückte näher und näher.
Wieder splitterte Glas. Der betende Gentleman bäumte sich auf und presste seine Hände auf die blutende Brust. Die Blonde kramte eine kleine Waffe aus der Handtasche. Franks Colt machte nur noch Klick. Mit zitternden Fingern tastete er nach seinem Patronengurt.
Die Blonde zielte auf den Waffenhändler und schoss. Dem Mann glitt sein Karabiner aus den Händen. Stöhnend sackte er in den Fußraum. Die Blonde aber bohrte ihre Waffe in Dads Rücken. »Weg mit den Bleispritzen.« Mit einer knappen Kopfbewegung deutete sie zu Frank. »Du auch. Sonst erschieße ich deinen Vater.«
Vater und Sohn Perkinson ließen ihre Revolver fallen und hoben die Hände. Ein Schatten flog dicht neben dem Fenster an der Kutsche vorbei; Frank meinte, das Gesicht des Conductors zu erkennen. Der Körper des Mannes scheuerte an der Außenseite der Kutsche entlang und prallte ins Gras.
»Genug!«, brüllte Franks Vater. »Wir müssen uns ergeben!« Frank dachte an das viele Bargeld, das er bei sich trug. »Halten Sie an, Kutscher!«, forderte Vater Perkinson zum zweiten Mal. »Wir müssen verhandeln!«
»Das ist die Bristolbande!«, brüllte der Kutscher. »Die verhandelt nicht!« Kugeln schlugen wieder ein. Frank zog die Schultern hoch und beobachtete die Blonde. Ihr Blick war eiskalt. Er verachtete sie.
»Anhalten, sage ich!« Dad gab nicht auf. »Lieber verliere ich Geld und Gepäck als mein Leben!«
»Die Bristolband nimmt Ihnen beides weg!«
Nur einen Wimpernschlag später schrie der Kutscher auf. Frank sah ihn ins Gras stürzen.
Die Kutsche fuhr langsamer, der Schusslärm verstummte, die Kutsche rollte aus und stand still. Es war vorbei. Frank glaubte, an dem Kloß in seinem Hals zu ersticken.
»Aussteigen!«, zischte die Blonde. Mit zitternden Fingern versuchte Dad, die Kutschentür zu öffnen. Vergeblich. Er war leichenblass.
Draußen verebbte der letzte Hufschlag, Gras raschelte, Schritte näherten sich. Jemand riss von außen die Tür auf. Frank blickte ins stoppelbärige Gesicht eines strohblonden Mannes. Dessen leicht aus den Höhlen tretenden Augen fielen ihm auf. Der Strohblonde zielte mit einem Gewehr in die Kutsche. Neben ihm tauchte ein Kahlkopf auf, der fuchtelte mit einem Revolver herum.
»Lassen Sie uns reden.« Dad streckte die Hände höher, und Frank dachte an die vielen Dollars in seinem Koffer, mit denen er in Sacramento ein neues Leben anfangen wollte.
Ein Mann mit grauen Locken erschien im hohen Gras und hinter ihm ein großer Mexikaner mit goldenen Ohrringen und langem Schwarzhaar. Frank prägte sich jede Einzelheit ihrer Erscheinung ein – für später, für den Steckbrief.
Mit erhobenen Händen stieg sein Vater als Erster aus. »Wer immer Sie sind, Gentlemen, die sie sich hier am Eigentum hart arbeitender, amerikanischer Bürger vergreifen …«
Ein Schuss krachte, sein Vater verstummte und kippte vom Trittbrett ins Gras. Der Kahlkopf hob den rauchenden Revolver, und Frank begriff, dass er niemals ein neues Leben beginnen würde. Nirgendwo.
***
Vier Monate später ritt ein Mann auf einem schwarzen Pferd die Mainstreet von Saint Joseph hinunter. Er trug einen hellen Stetson und eine schwarze Wildlederjacke. Und er sah aus, als hätte er einen langen Weg hinter sich.
Es war ein frühlingswarmer Samstagabend, und Reiter und Fuhrwerke verstopften die Straße. Auf dem Sidewalk drängten sich Fußgänger. Aufmerksam betrachtete der Mann die Fassaden der vielen Saloons und Hotels und las die Namen auf den Vordächern über dem Sidewalk. Er suchte einen ganz bestimmten Laden.
Der Mann hieß Lassiter und war nicht zum Spaß nach St. Joseph gekommen. Endlich erspähte er den Namen auf einem Vordachschild, den ihm sein Auftraggeber aus Washington nach Kansas City telegrafiert hatte. Das Hotel sah ziemlich teuer aus.
Es hieß Golden Meadow. Im Hinterhof übergab er seinen Rappen dem Pferdejungen. »Pass gut auf ihn auf.« Lassiter tätschelte dem Hengst den Hals. Er drückte dem Jungen einen Schein in die Hand. Dem fielen beinahe die Augen aus dem Kopf.
Im Saloon drängten sich die Leute, von irgendwoher klimperte ein Piano. Lassiter ergatterte den letzten Barhocker an der Theke, mietete ein Zimmer und orderte gebratenen Missourihecht und wilde Kartoffeln. Dazu Kaffee und Whisky.
Die Spesen von der Brigade Sieben waren besonders fett ausgefallen diesmal. Er würde das Geld gut gebrauchen können, schätzte er, doch zunächst einmal knurrte sein Magen.
Lassiter blickte sich um. Den meisten Männern im Saloon sah man an der Kleidung an, was sie die ganze Woche über getrieben hatten: Lederchaps über blauen Nietenhosen, gespornte staubige Stiefel, karierte Baumwollhemden unter schweißfleckigen, oftmals fransigen Jacken.
Cowboys, die ihre Dollars auf den umliegenden Farmen verdienten und jetzt hier waren, um ihren Wochenlohn zu verspielen oder zu versaufen oder beides. Sie trugen ausnahmslos Waffen.
Am anderen Ende der Theke fiel ihm ein großer, vollbärtiger Mann mit sehr breiten Schultern und in einem Bärenfellmantel auf. Über den Rand seines Glases hinweg blickte er zu Lassiter herüber. Fell schmückte auch seinen schwarzen Stetson, und über seiner breiten Brust kreuzten sich zwei Patronengurte.
So ähnlich hatte das Telegramm aus Washington den Mann beschrieben, den er hier treffen sollte. Lassiter nickte ihm zu und lüftete seinen Stetson. Das war das Zeichen. War der Kerl im Bärenfellmantel sein Mittelsmann, würde er bald zu ihm kommen und ihn ansprechen.
Die Theke war lang wie eine Kegelbahn, die Männer plauderten und hielten sich an ihren Whiskygläsern fest. An den meisten Tischen wurde gewürfelt oder gepokert. An einigen wenigen hockten ein paar herausgeputzte Herrschaften und speisten. Vermutlich die Viehzüchter der Gegend. Manche hatten ihre Frauen und Kinder mitgebracht.
Das Piano stand an der Stirnseite des langgestreckten Raumes. Der Pianist – ein dürrer Bursche in abgetragenem Frack und mit speckigem Zylinder – klimperte vor sich hin. Ab und zu griff er nach der Schnapsflasche über sich auf dem Klavier. Noch tanzte niemand. An den meisten Tischen wurde gewürfelt oder gepokert.
Lassiter lauschte den Pianoklängen und dachte an die Männer und Frauen, von denen die Unterlagen aus Washington berichteten. Einige von ihnen hatten hier in diesem Hotel zur Musik dieses Pianisten getanzt; vielleicht hatten sie auch hier, an dieser Theke, gesessen oder an einem der vielen Tische getrunken und gegessen.
Und am nächsten Morgen waren sie in die Kutsche nach Sacramento gestiegen und in den Tod gefahren.
Der Salooner stellte Kaffeebecher und Whiskyglas vor ihm ab, Lassiter verlangte Zucker. Ein langhaariger Mann in fransiger Jacke und fransigen Wildlederhosen nahm sein Glas, stieß sich von der Theke ab und drängte sich durch die Menschenmenge zu einem Tisch, an dem ganz allein eine elegant gekleidete Frau saß.
Lassiter rührte seinen Kaffee um. Rauch stieg über der Theke zu den Petroleumlampen hinauf. Die Cowboys neben ihm, lauter junge Kerle, schauten feixend dem Langhaarigen hinterher.
Aus dem Augenwinkel beobachtete Lassiter, wie der sich vor der Frau verbeugte und sein Glas auf ihren Tisch stellte. Lassiter spähte zu dem Bärtigen im Bärenfellmantel. Auch der beobachtete die Szene.
Ohne zu fragen, zog sich der Langhaarige in den Fransenkleidern nun einen Stuhl heran, setzte sich zu der eleganten Frau und plauderte drauflos. Die Lady fühlte sich bedrängt, das sah man ihr an, und Lassiter beobachtete das Treiben des Fransenmannes mit wachsendem Unwillen.
Irgendwann griff der unverschämte Bursche nach dem Arm der Frau und berührte ihre Wange.
Höchste Zeit einzugreifen. Lassiter stellte sein Glas ab.
***
Ein Gespann von acht Pferden zog die Kutsche durchs Grasland. Außer Rachel und Eddy saßen noch fünf Männer und zwei Frauen in der schaukelnden Fahrgastkabine. Nur ein grauhaariger Gentleman und seine junge Begleiterin hatten dasselbe Ziel wie das frischgebackene Ehepaar: Sacramento.
Mit neun Passagieren war die gelbe Concord voll, und wer die Beine ausstrecken wollte, musste sich mit seinem Gegenüber abwechseln. Rachel hockte zum Glück am Fenster. Sie lehnte den Kopf gegen Eddys Schulter. Der Soldat ihr gegenüber schnarchte ungeniert. Grashügel und Flussufer flogen vorbei. Rachel guckte sich die Augen müde. Hintern und Rücken taten ihr weh vom langen Sitzen.
»Wie weit noch bis zur nächsten Poststation?«, fragte Eddy. Er zog seine goldene Taschenuhr aus der Westentasche und klappte sie auf. Rachel spähte aufs Ziffernblatt. Es war kurz vor zwölf.
»Dreißig Meilen, schätze ich«, antwortete der grauhaarige Gentleman und zuckte mit den Schultern. »Fünf Stunden noch, höchstens sechs.«
Die junge Blonde neben ihm verdrehte die Augen und seufzte. Sie trug ein moosgrünes Kleid, das ziemlich teuer aussah. Ihre beneidenswert schöne Handtasche war aus Krokodilleder. Sie hatte noch kein Wort gesprochen, seit die Concord gestern Nachmittag in Saint Joseph losgefahren war. Rachel mochte die Frau nicht.
Eddy versenkte seine Taschenuhr wieder in der Weste. Einer der vier Soldaten, ein kleiner, drahtiger Offizier, redete ununterbrochen. Rachel ertrug ihn tapfer, immerhin hatte er Eddy bereits vier Stunden lang gut unterhalten. Ihr Gatte wusste jetzt Dinge über die Ostküste der Vereinigten Staaten, die man in seiner Heimat noch nie gehört hatte.
Eddy legte den Arm um sie und lächelte. Er hatte ein breites, freundliches Gesicht, blauschwarze Locken und einen dichten, schwarzen Vollbart. Seine blauen Augen leuchteten. Gott, wie sie ihn liebte! Sie drückte sich näher an ihn und genoss es, die Wärme seines Körpers zu spüren. Ihre Brustwarzen richteten sich auf.
»Ist mir ein Rätsel, wie man in so einer schaukelnden Kiste schlafen kann«, sagte der Grauschopf. Er betrachtete den schlafenden Soldaten und schnalzte wie tadelnd mit der Zunge.
»Ich wollte, ich könnte es«, sagte Rachel. Obwohl es schon zwei Wochen her war, dass sie und Eddy in Baltimore von Bord eines Dampfers gegangen waren, nagte noch immer die Müdigkeit an ihren Nerven. Die schier unendliche Schifffahrt steckte ihr noch tief in den Knochen. Dabei war es ihre Hochzeitsreise gewesen. Sie hatten in Eddys Heimat geheiratet, in Sydney.
Rachel dachte an die Nächte an Bord, und die Erinnerung an Eddys Hände und Lippen auf ihrer Haut erregte sie. Die Vorfreude auf die Rast in der nächsten Poststation und auf die Nacht in einem halbwegs brauchbaren Bett verdrängte ihre Müdigkeit ein wenig.
Die ledernen Traggurte unter der Passagierkabine ächzten und knarrten, die Kutschenräder donnerten über harten Boden. Das unsägliche Geschaukel und Geholper hielt Rachel wach. Sie wusste, was es bedeutete, tagelang in einer Kutsche zu sitzen. Nur um Eddys willen hatte sie sich auf die Fahrt in der Concord eingelassen.
Er wollte um jeden Preis mit einer Postkutsche und nicht mit dem Zug in den Westen fahren. Und dort auch nicht irgendwo hin, sondern nach Sacramento. Von den Städten an der Westküste kannte er bisher nur San Francisco.
Die junge Frau neben dem Grauschopf belauerte Rachel. Das gefiel ihr nicht. Sie glaubte, genau zu wissen, was die andere nach Sacramento trieb. Sie hatte die Blonde sogar in Verdacht, ihre Dollars auf ähnliche Weise zu verdienen, wie sie selbst es getan hatte, bevor sie Eddy kennenlernte.
»Ich geb’ mal einen Tipp ab«, wandte der grauhaarige Gentleman sich an Eddy. »Sie sind nicht auf Gottes eigenem Kontinent geboren.« Er trug einen dieser modernen Hüte, die man Melonen nannte, und eine blauweiße Seidenweste unter einem schwarzen Frack. Die Soldaten wirkten unrasiert und schmutzig im Vergleich mit ihm.
»O doch«, verkündete Eddy. »Genau da bin ich geboren – in Gottes eigenem Kontinent! In Australien.« Der Gentleman grinste, die Antwort gefiel ihm offensichtlich.
»Jesus hilf«, sagte die dritte Frau in der Kutsche plötzlich, die Gattin des Offiziers. Schon die ganze Zeit betete sie leise vor sich hin, doch jetzt wurde sie laut und fummelte eine Tüte aus ihrer Handtasche. »Jesus hilf.« Rachel begriff, dass der Frau übel war und sie mit Brechreiz kämpfte.
»Kotz nach links, wenn du dich nicht mehr beherrschen kannst«, sagte ihr Mann, deutete auf den schlafenden Soldaten neben ihr und lachte laut. Die anderen Männer lachten ebenfalls. Sie wussten ja nicht, dass sie kaum noch zwei Stunden zu leben hatten.
Nur die Miene der Blonden blieb verschlossen und kühl. Verbissen hielt sie sich an ihrer Handtasche fest. Rachel fragte sich, ob der grauhaarige Gentleman ihr vorübergehender Liebhaber oder ihr Zuhälter war. Vermutlich beides.
»Und was treibt Sie über den Pazifik zu uns herüber?«, fragte der Grauschopf.
»In Australien hört man so allerhand vom Wilden Westen der schönen neuen Welt«, antwortete Eddy, »und da ich ein neugieriger Mann bin, wollte ich wissen, was dran ist an all den Gerüchten.«
»Ich mag neugierige Menschen«, sagte der Grauschopf, »aber ist das nicht ein verdammt weiter Weg, nur um seine Neugierde zu stillen?«
»Man lebt nur einmal, Sir«, erklärte Eddy und lächelte.
»Wie recht sie haben!« Der Grauschopf lachte.
»Mein Mann erzählt nur die halbe Wahrheit«, sagte Rachel. »Zum einen reist er bereits zum zweiten Mal Richtung Westküste, zum anderen ist er diesmal in die Vereinigten Staaten gekommen, weil ich es so will.«