Lassiter 2368 - Jack Slade - E-Book

Lassiter 2368 E-Book

Jack Slade

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Beschreibung

Nicht eine Wolke schwebte am blauen Himmel über Wichita. Auf der Mainstreet wälzte die milde Abendbrise Staubwolken vor sich her und aus den offenen Fenstern des Saloons tönten Musik, Gelächter und das Klatschen und Stampfen der Tanzenden. Kein Tag zum Sterben eigentlich.
Jimmy sprang vom Sidewalk, rannte über die Straße und nahm die Stufen zum Store mit einem einzigen Satz. Sein Vater hatte ihn losgeschickt, um Tabak zu kaufen. Eine schwarze Katze saß vor der halb geöffneten Ladentür. Jimmy hockte sich neben das Tier und streichelte es.

Jimmy Walker war zehn Jahre alt damals, und nichts, was an jenem Sommerabend geschah, sollte er jemals wieder vergessen...

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Seitenzahl: 142

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Inhalt

Cover

Impressum

Die Hure von Wichita

Vorschau

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

© 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln

Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller

Verantwortlich für den Inhalt

Titelfoto: TXUS/Norma

eBook-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln

ISBN 978-3-7325-5562-8

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

www.bastei.de

Die Hure von Wichita

Nicht eine Wolke hing am blauen Himmel über Wichita. Auf der Mainstreet wehte die milde Abendbrise Staubwolken vor sich her und aus den offenen Fenstern des Saloons tönten Musik, Gelächter und das Klatschen und Stampfen der Tanzenden. Kein Tag zum Sterben eigentlich.

Jimmy sprang vom Sidewalk, rannte über die Straße und nahm die Stufen zum Store mit einem einzigen Satz. Sein Vater hatte ihn losgeschickt, um Tabak zu kaufen. Eine schwarze Katze saß vor der halb geöffneten Ladentür. Jimmy hockte sich neben das Tier und streichelte es.

Jimmy Walker war zehn Jahre alt damals, und nichts, was an jenem Sommerabend geschah, sollte er jemals wieder vergessen.

Im Laden drinnen hörte er zwei Männer reden. »Walker ist im Saloon«, sagte die eine, »er tanzt.«

»Und Lester?«, fragte die andere.

»Sitzt an der Theke«, antwortete die erste Stimme. »In der nächsten Tanzpause geht’s los. Wie komme ich aufs Dach?«

Jimmy schlich in den Store. Seinen Familiennamen zu hören – Walker – hatte ihn stutzig gemacht. Hinter einem Regal mit Stoffballen versteckt, spähte er zur Ladentheke. Mr. Kensington – so hieß der Ladeninhaber – erklärte einem Mann den Weg aufs Dach.

Sicher, der Name Walker war nicht gerade selten. Doch weil seine Eltern sich unter die Tanzenden gemischt hatten, nachdem sein Vater ihm das Geld für den Tabak in die Hand gedrückt hatte, glaubte Jimmy, dass von ihm die Rede sein müsse. Und gleich zwei Männer namens Walker zur selben Zeit auf der derselben Tanzfläche? Das erschien ihm unwahrscheinlich.

Den Mann vor der Ladentheke hatte Jimmy Minuten zuvor aus dem Saloon gehen sehen. Er war jung, mittelgroß und hager und hatte langes schwarzes Haar. Er hatte den Saloon ohne Gewehr verlassen – jetzt hielt er eines in den Händen und lud es.

An seiner linken Hand fehlte der kleine Finger. Jimmy sah es genau, als der Mann die Kugeln in die Waffe steckte. »Bringen wir’s hinter uns«, sagte er, klemmte das Gewehr unter den Arm und verschwand durch die Hintertür.

Jimmy stand ganz still, wagte kaum zu atmen. Irgendetwas stimmte hier nicht. Er dachte an die vier Fremden, mit denen sein Vater zu Beginn des Monats auf der Veranda gestritten hatte. Es war um die Ranch gegangen. Dad wollte sie nicht verkaufen.

Jimmys Herz schlug plötzlich schneller.

Die Katze strich um seine Füße und schnurrte. Jimmy nahm sie hoch und ging zur Ladentheke. Mr. Kensington runzelte die Stirn; er schien überrascht. »Was zum Teufel hast du hier verloren?«, zischte er. Er war groß und dürr und hatte riesige Ohren. Eine Hakennase beherrschte sein langes Gesicht.

»Ich soll Tabak für meinen Dad kaufen.« Ohne die Katze loszulassen, öffnete Jimmy die Faust und ließ die beiden Münzen auf die Ladentheke fallen, die sein Vater ihm mitgegeben hatte. Während er Mr. Kensington ins Gesicht schaute und ihm die Tabakmarke seines Vaters nannte, drückte er das Tier an sich, als könnte es ihn vor dem Unglück beschützen, das Jimmy nahen fühlte.

»Lass die Katze los, Junge!« Mr. Kensington legte ihm den Tabak hin. »Die hat’s nicht gern, wenn man sie rumschleppt.« Jimmy setzte die Katze ab, nahm den Tabak und lief aus dem Store. Er hatte es eilig, zurück in den Saloon zu kommen – irgendetwas stimmte nicht.

Vor der Schwingtür blieb er stehen und lauschte: Statt Pianoklänge und Gelächter, tönte jetzt Männergeschrei von drinnen. Und zu tanzen schien auch niemand mehr.

Unter den lauten Stimmen erkannte Jimmy die seines Vaters. Dad stritt sich mit jemandem. Jimmy drehte sich um und blickte zurück zum Store. Hinter dem Ladenschild auf dem Vordach tauchte ein Hut ab.

Das Geschrei aus dem Saloon näherte sich der Schwingtür, beide Flügel wurden aufgestoßen, Jimmy wich zur Seite aus. Ein gutes Dutzend Männer quollen aus dem Saloon, darunter sein Vater. Und ein großer Blonder mit aufgeplatzter Lippe.

Die meisten blieben auf dem Sidewalk stehen, oder lehnten gegen die Hausfassade. Nur sein Vater und ein zweiter Mann marschierten auf die Mainstreet – sein Vater in Richtung Store, der mit dem blutenden Mund in die andere Richtung.

»Steve!« Jimmys Mutter stürzte aus dem Saloon. Sie nahm ihn gar nicht wahr, wollte weiter auf die Mainstreet laufen. Ein sehr junger Bursche und ein drahtiger Kahlkopf mit vernarbtem Gesicht hielten sie fest. »Nicht doch, Steve!«, schrie sie. »Lass dich doch nicht provozieren, Darling!«

»Hier geblieben, Ma’am!« Der sehr junge Bursche zog sie zurück auf den Sidewalk. »Das ist Männersache.« Jimmy erkannte ihn an der Augenklappe: Er war einer der Männer, mit denen Dad zuhause auf der Veranda gestritten hatte. Auch der Kahlkopf mit den Pockennarben im Gesicht war dabei gewesen.

»Wenn Lester King meine Frau eine ›Hure‹ genannt hätte, wäre er nicht mal mehr lebend auf die Mainstreet hinaus gekommen«, sagte ein anderer. »Den hätte ich schon im Saloon mit Blei gespickt.«

Später erfuhr Jimmy, dass der Mann namens Lester King seine Mutter nicht nur als Hure bezeichnet, sondern sich bei ihr auch für »die heiße Nacht« bedankt hatte. In jenen Augenblicken vor dem Saloon jedoch begriff er nur, dass sein Dad den großen Blonden geschlagen hatte, weil der die Mutter beleidigt hatte.

Nach vielleicht zwanzig Schritten blieben beide Männer stehen und drehten sich um. Jeder ließ seine Rechte über dem Kolben seines Revolvers schweben. Jimmy wurde angst und bange – sein Vater war tatsächlich im Begriff, sich mit dem großen Blonden zu duellieren!

»Nicht doch, Steve!«, schrie seine Mutter. »Komm von der Straße! Komm schon, Darling!« Sie strampelte in den Armen des Einäugigen. »King will dich töten!«

»Hey, Baby!«, rief der große Blonde. »Ich wusste ja nicht, dass du verheiratet bist!« Das konnte nur dieser Lester sein, der Mann von dem die Männer im Store gesprochen hatten. »Tausend Dank noch mal für den heißen Fick!«

»Lügner!«, schrie Jimmys Mutter. »Verdammter Lügner!«

Sie zogen nahezu gleichzeitig. Lester King ließ sich zur Seite und in den Staub fallen, während er schoss. Und Jimmys Vater schlug mit dem Gesicht voran im Staub der Mainstreet auf.

Jimmy glaubte zu spüren, wie der Sidewalk unter seinen Sohlen bebte, und alles Geschrei drang auf einmal wie von sehr weit weg an seine Ohren. Er stand wie festgewachsen, starrte zu seinem reglos im Staub liegenden Vater hinüber. Und vergaß zu atmen. Die Zeit stand still.

Die kreischende Mutter wollte hinaus auf die Straße stürzen, doch die Männer hielten sie fest. Jemand rief nach dem Totengräber, jemand nach dem Townmarshal. Auf Jimmy achtete niemand.

Der löste sich endlich aus seiner Starre und stelzte vom Sidewalk auf die Mainstreet. Nur wenige Schritte trennten ihn noch von seinem Vater, als zwei Männer sich über den Toten beugten. Die hoben ihn aus dem Staub, um ihn auf einen heranrollenden Wagen zu werfen.

Ein Blutfleck, schon größer als Jimmys Hand, prangte auf Dads Rücken. Im Straßenstaub, da wo Dad zuletzt gelegen hatte, sah Jimmy kein Blut. Er drehte sich um und spähte zum Vordach des Stores hinüber.

Ein paar Wochen danach wurde Jimmys Mutter sehr krank. So krank, dass sie sich nie wieder richtig erholte. Sechs Monate später verkaufte sie die Ranch und ging mit Jimmy nach Denver. Und nicht ganz zwanzig Jahre später stand Jimmy den Mördern seines Vaters gegenüber.

***

Der Arzt hieß Henderson, war Colonel der US-Kavallerie und empfing Lassiter in einem Sprechzimmer des Militärlazaretts von Kansas City. Henderson war Mittelsmann der Brigade Sieben.

Sein Sprechzimmer war mit alten weißen Möbeln ausgestattet – Schreibtisch, Stühle, Liege, Waschtisch, Schränke mit Glastüren – alles weiß und abgestoßen. An der Wand über dem Schreibtisch hing ein riesiges Ölgemälde – eine Prärielandschaft mit Büffeln und indianischen Jägern. Eine schmutzige Glühbirne flackerte unter der Decke.

Wirklich schön an diesem Sprechzimmer war nur eines: die junge Frau, die vor Henderson am Boden kniete und ihm den Fuß verband. Sie hatte energische Gesichtszüge und einen großen Mund mit vollen Lippen. Das kastanienrote Haar trug sie zu einem Dutt geflochten.

»Verfluchte Gicht.« Schmerzen verzerrten das Gesicht des Colonels. »Eine Kugel im Knie ist eine Wohltat dagegen. Nehmen Sie Platz Lassiter.« Er wies auf einen Stuhl vor dem Schreibtisch.

Lassiter setzte sich. Es roch nach Schnaps und Jod. Wahrscheinlich hatte die Frau dem Doc irgendeine Salbe auf seine gichtigen Zehengelenke geschmiert. Jetzt schnürte sie ihm eine Art Sandale unter den verbundenen Fuß.

»Am Arkansas draußen tun sich Dinge, die uns nicht gefallen können«, sagte Henderson. »Ein Townmarshal wird aus dem Hinterhalt erschossen, brave Farmer geben scheinbar grundlos Haus und Hof auf, ein halbes Dutzend Männer findet man mit einer Kugel im Kopf, und hin und wieder brennt eine Ranch ab.«

»Wo genau, Sir?« Lassiter betrachtete den schlanken Hals der Schönen. Sie hatte schneeweiße Haut.

»In der Gegend von Wichita.« Der Colonel entkorkte eine halbvolle Whiskyflasche. »Unsere gemeinsamen Freunde in Washington wollen, dass ein erfahrener Mann sich dort mal umschaut. Hinter den Vorfällen scheint System zu stecken, und wir wüssten gern, wer hinter dem System steckt.«

Die Frau stand auf, ging zum Waschtisch und wusch sich die Hände. »Danke, Meryl.« Henderson goss Whisky in zwei Gläser und schob Lassiter eines über den Schreibtisch. »Tut nur noch halb so weh. Das muss an Ihren göttlichen Fingern liegen, Meryl.« Wohlgefällig betrachtete er die Rückenansicht der Frau.

Die Frau antwortete nicht. Überhaupt kam sie Lassiter eigenartig schweigsam und verschlossen vor. Das machte sie noch interessanter. Kaum konnte er seine Blicke von ihrer schlanken Gestalt lösen.

Sie trug eine weiße Schürze über ihrem schwarzen Kleid. Das war nicht direkt eng geschnitten, doch auch nicht weit genug, um die geschwungenen Linien ihres Körpers zu verbergen. Lassiter war ziemlich angetan.

»Alles, was man aus Wichita hört, klingt ganz so, als wollte sich dort jemand Land unter den Nagel reißen.« Der Militärarzt riss sich vom Anblick der schönen Frau los. »Und das nicht erst seit gestern.« Henderson griff nach seinem Glas und prostete Lassiter zu.

Der Mann von der Brigade Sieben nippte nur an seinem Whisky. »Und die Toten? Ein Townmarshal also, habe ich verstanden. Und wer waren die anderen Männer?«

»Ein Vorarbeiter einer kleinen Ranch, ein Hilfs-Townmarshal, ein Pferdezüchter. Steht alles in den Unterlagen. Meryl wird sie Ihnen aushändigen.«

Lassiter zog die Brauen hoch. »Mehr haben Sie mir nicht zu sagen, Sir?«

»Mehr weiß ich nicht.« Der Colonel machte eine Geste des Bedauerns. »Keiner weiß mehr. In den Unterlagen finden Sie zwar ein paar Namen von Viehzüchtern am Arkansas in der Gegend von Wichita, doch sonst nur ausführliche Informationen über die Toten. Schauen Sie halt, was Sie damit anfangen können.«

»Und wie genau lautet mein Auftrag?« Lassiter fühlte sich ein wenig abgefertigt.

»Finden Sie raus, wer für die Morde verantwortlich ist.« Henderson leerte sein Glas. »Am besten fangen sie dort an zu suchen, wo einer in den letzten Jahren verdächtig viel Land dazu gekauft hat.« Er riss eine Schublade auf und stellte sein Glas hinein. »Viel Glück, Lassiter. Trinken Sie schon aus und geben Sie mir Ihr Glas. Meine Patienten warten.«

Lassiter stellte das halbvolle Glas auf den weißen Schreibtisch und verabschiedete sich. An der Tür wartete bereits die Frau namens Meryl. Mit einem kurzen Nicken bedeutete sie dem Mann von der Brigade Sieben, ihr zu folgen.

Hinter ihr her ging Lassiter über eine Zimmerflucht. Bei der Betrachtung ihrer wiegenden Hüften wurde ihm ganz heiß. Was für ein prachtvolles Geschöpf!

Er fragte sich, in welcher Beziehung sie zu Henderson stehen mochte. Seine Tochter vielleicht? Der Militärarzt musste großes Vertrauen zu ihr haben, dass er vor ihren Ohren über Lassiters Auftrag sprach.

In einem Seitengang blieb sie vor einer Tür stehen und schloss auf. »Sind Sie Doc Hendersons Krankenschwester, Meryl?«, fragte er.

»Krankenschwester, Sekretärin, Privatköchin, Gesprächspartnerin.« Zum ersten Mal sah Lassiter sie lächeln. »Was er gerade braucht. Ich bin schon als sehr junges Mädchen in seinen Haushalt gekommen. Da lebte Mrs. Henderson noch.«

An sich vorbei winkte sie ihn in ein Zimmer. Lassiter Blick flog über Tisch, Bett, Sekretär, Kleiderschrank und eine offene Tür, die in ein Bad führte. »Ihr Zimmer, Meryl?«

Sie nickte, schloss den Sekretär auf und holte ein Kuvert heraus. »Hier drin finden Sie alles, was Ihnen von Nutzen sein könnte – Dossiers der wichtigsten Leute in Wichita, eine Liste der Townmarshals der letzten zehn Jahre, eine Karte von der Umgebung Wichitas mit den größten Ranchs, und so weiter.«

Lassiter sah ihr in die Augen, als er ihr das Kuvert abnahm. Ganz kurz berührten sich ihre Hände. Ein feuchter Schleier lag in Meryls Blick, ihre Lippen waren ein wenig geöffnet. Täuschte er sich, oder ging ihr Atem schneller als eben noch?

Er riss das Kuvert auf, zog die Unterlagen heraus. Ein Bündel Banknoten fiel auf den Tisch auf den Boden. »Verlieren Sie bloß Ihre Spesen nicht, Lassiter!« Beinahe zeitgleich gingen sie in die Hocke, um das Geld aufzuheben. Ihre Knie berührten sich und Lassiters Blick fiel auf die prallen Wölbungen unter dem schwarzen Stoff ihres Kleides. »Sie werden sie sonst noch vermissen«, flüsterte sie.

»Im Augenblick vermisse ich nur eines«, flüsterte er, und nahm ihr Gesicht zwischen die Hände. Sie ließ es geschehen. »Einen Kuss von dir.«

Als hätte sie auf genau diese Ansage gewartet, schlang sie die Arme um ihn und saugte sich an seinen Lippen fest.

***

Vielstimmiger Gesang erfüllte die kleine lutherische Kirche von Denver. »Großer Gott, wir loben dich«, tönte es von allen Kirchenbänken. Reverend Walker schlug seine Bibel zu und stieg von der Kanzel. Ausgerechnet an diesem Tag hatte er über Vergebung und Versöhnung gepredigt.

Vom Altar aus sprach er die üblichen Gebete, verlas die Neuigkeiten und die Termine der neuen Woche, die seine Gemeinde betrafen, sprach den Segen und stimmte das Schlusslied an. Während noch der letzte Jammerlaut des Harmoniums verklang, standen die Leute auf und drängten plaudernd zum Ausgang.

Einzelne Schritte lösten sich aus dem Scharren, Murmeln und Gelächter, und wie üblich nach einem Gottesdienst, kamen Männer und Frauen zu Reverend Walker, die um ein persönliches Gespräch baten.

Jimmy Walker traf Verabredungen für die kommende Woche, sprach hier ein Wort des Trostes, gab dort einen Rat. Auf einmal tauchte Bob Perlman vor ihm auf. Er war Jimmys Trainer im Boxclub von Denver und zugleich der Assistent des Townmarshals. »Kannst du mal eben ins Office kommen, Jimmy?«

»Was gibt’s denn?«

»Der Gunman, der morgen an den Galgen geht, verlangt nach einem Geistlichen.« Perlman zuckte mit den Schultern. »Wahrscheinlich will er der Mördergrube seines Herzens ein bisschen Luft machen, bevor er zur Hölle fährt.«

»Ray Emerson?« Der Sternträger nickte.

Reverend Walker hatte den Prozess gegen den Emerson nicht verfolgt, wusste nur aus der Zeitung dem Stadtgespräch, dass er oben bei der Kupfermiene einen Mann erschossen und einen zweiten durch eine Kugel schwer verletzt hatte.

»Ich komme nach dem Mittagessen, Bobby«, sagte Reverend Walker, und ahnte nicht, dass Gott oder das Schicksal oder der Zufall soeben eine entscheidende Weiche in seinem Leben gestellt hatte. Nach seinem Besuch im Office würde nichts mehr so sein, wie es bisher gewesen war.

Jimmy Walker zählte die Kollekte, trug die Summe in das Kollektenbuch ein, ging zu seiner Mutter und aß zu Mittag. Danach machte er sich auf den Weg ins Office des Townmarshals.

Die Walkers lebten zu diesem Zeitpunkt seit neunzehn Jahren in Denver. Seit achtzehn Jahren boxte Jimmy im Boxclub der Stadt, seit etwa sieben Jahren betreute er die lutherische Gemeinde der Stadt als Reverend. Er hatte keine Geschwister und war damals weder verlobt noch verheiratet.

»Der Kerl macht sich in die Hosen vor Angst«, sagte Perlman, als Jimmy die Officetür hinter sich schloss. Der Sternträger öffnete die Tür zum Zellentrakt. »Sterben ist nichts für Feiglinge, was Reverend?« Feixend führte er Jimmy Walker zu der Zelle des Todeskandidaten. »Besuch für dich, Emerson.«

Der Mann in der Zelle erhob sich schwerfällig von seiner Pritsche und schlurfte zu ihnen an die Gittertür. Sein Kopf war kahl, sein Bart weiß und sein Gesicht von der Sonne verbrannt und von Pockennarben verwüstet. Vielleicht war er sechzig Jahre alt, vielleicht erst fünfzig. Jimmy erkannte ihn jedenfalls sofort wieder.

»Lass uns allein, Bobby«, sagte er. Der Sternträger zog ab und warf die Zellentrakttür hinter sich zu.

»Danke, dass Sie gekommen sind, Reverend.« Die Stimme des Mannes klang so heiser, als wollte sie jeden Moment brechen. In seinem Blick flackerte die nackte Angst.

Jimmy sah ihm ins verwüstete Gesicht, und plötzlich fühlte er sich um knapp zwanzig Jahre zurückversetzt. Er stand wieder auf dem Sidewalk vor jenem Saloon in Wichita. Er sah seinen Vater auf die Mainstreet marschieren, hörte seine Mutter schreien und sah, wie sie versuchte, sich von den beiden Männern loszumachen, die sie festhielten.

Einer stand jetzt, neunzehn Jahre später, wieder vor ihm, und nur das Gitter der Zellentür trennte Jimmy von ihm.

»Was kann ich für Sie tun, Mr. Emerson?« Er unterdrückte die aufsteigende Bitterkeit.

»Mit mir beten«, sagte der Kahlkopf. »Und mir zuhören.«

Der Mann gefiel Jimmy nicht, er widerte ihn sogar an. Dennoch nickte er, holte sich einen Hocker ans Gitter und setzte sich. Er war schließlich Reverend der lutherischen Kirche. »Fangen Sie an, Mr. Emerson. Ich höre.«