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Die gepolsterte Tür fiel hinter seinem Besucher ins Schloss. Schweigend deutete Frederick Stevens auf einen Sessel vor dem Kamin, doch sein Gegenüber hob lächelnd die Hände. "Ich stehe lieber. Ihre Einladung hat mich zwar neugierig gemacht, aber ich glaube nicht, dass ich lange bleibe."
Stevens nickte und nahm einen Schluck vom Whiskey. "Das wäre ganz in meinem Sinne." Er fixierte den jungen Mann mit eisigem Blick. "Also machen wir es kurz: Dreitausend Dollar Cash, wenn Sie Ihre Finger von meiner Tochter lassen."
Clinton Hawkeye pfiff leise durch die Zähne. "Donnerwetter! Und was, wenn ich mich weigere? Bringen Sie mich dann um?"
Langsam schüttelte Stevens den Kopf. "Aber dann werden Sie mich bald anbetteln, es endlich zu tun."
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Seitenzahl: 145
Veröffentlichungsjahr: 2017
Cover
Impressum
Sie wollte nur Gerechtigkeit
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelfoto: Aboy/Monica Filet
eBook-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln
ISBN 978-3-7325-5563-5
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
www.bastei.de
Sie wollte nur Gerechtigkeit
Die gepolsterte Tür fiel hinter seinem Besucher ins Schloss. Schweigend deutete Frederick Stevens auf einen Sessel vor dem Kamin, doch sein Gegenüber hob lächelnd die Hände. »Ich stehe lieber. Ihre Einladung hat mich zwar neugierig gemacht, aber ich glaube nicht, dass ich lange bleibe.«
Stevens nickte und nahm einen Schluck vom Whiskey. »Das wäre ganz in meinem Sinne.« Er fixierte den jungen Mann mit eisigem Blick. »Also machen wir es kurz: Dreitausend Dollar Cash, wenn Sie Ihre Finger von meiner Tochter lassen.«
Clinton Hawkeye pfiff leise durch die Zähne. »Donnerwetter! Und was, wenn ich mich weigere? Bringen Sie mich dann um?«
Langsam schüttelte Stevens den Kopf. »Aber dann werden Sie mich bald anbetteln, es endlich zu tun.«
Clinton Hawkeyes fein geschwungene Augenbrauen wanderten ein Stück die Stirn hinauf, und in gespieltem Erschrecken fuhr seine Hand zum Mund. »Teufel auch, Frederick«, murmelte er. »Sie fahren ja richtig große Geschütze auf. Bei meiner Ehre: Ich bekomme regelrecht weiche Knie.«
Die lässige Haltung und das unverschämte Grinsen straften seine Worte Lügen, und Stevens musste an sich halten, um nicht auf den Burschen loszugehen. Hawkeye schob sich das schulterlange, in der Mitte gescheitelte schwarze Haar aus dem Gesicht und sah sich dabei wohlwollend um, als würde er darüber nachdenken, das Zimmer in Besitz zu nehmen.
»Gehört Ihnen dieser Laden hier eigentlich auch?«, fragte er, während er mit geschmeidigen Schritten an Stevens vorbei ging. Es geschah nicht ohne Absicht, dass er dabei die Schulter des Älteren streifte, bevor er an die offene Bar trat. »Ein Saloon würde zwar nicht so ganz zum blitzsauberen Image des gottesfürchtigen Geschäftsmannes passen, aber wir wissen schließlich beide, dass das ohnehin nur eine Fassade ist, nicht wahr?«
Er nahm eines der Kristallgläser vom Silbertablett, griff nach der Whiskeykaraffe und schenkte sich großzügig ein. Dabei war ein leises Glucksen zu hören, das nicht aus der Flasche kam.
Als sich Stevens umwandte, hob sein Gast das Glas und prostete ihm zu. »Auf den Schrecken brauche ich jetzt doch einen Drink«, behauptete er schmunzelnd. »Um die Gnade eines schnellen Todes betteln. Junge, Junge!«
»Sie scheinen sich für unverwundbar zu halten, Hawkeye«, sagte Stevens leise. Das schmale Lächeln, das nun seine Lippen umspielte, wirkte gefährlicher als der versteinerte Ausdruck, den er zuvor zur Schau getragen hatte, beeindruckte seinen Besucher aber keinen Deut mehr. Er schien den Nagel auf den Kopf getroffen zu haben. Hawkeye lehnte am Kamin wie ein unsterblicher Halbgott und bedachte ihn mit einem herablassenden Grinsen, ohne seine Bemerkung mit einer Antwort zu würdigen.
Stevens musste anerkennen, dass Hawkeye ein attraktiver Mann war, wenn auch auf eine etwas feminine Art, die dem alten Haudegen persönlich eher zuwider war. Hoch aufgeschossen und auf geschmeidige Art athletisch, mit schulterlangen, schwarz glänzenden Haaren, die ein Gesicht umrahmten, dessen hohe Wangenknochen und bronzefarbene Haut verrieten, dass ein guter Teil indianisches Blut in seinen Adern floss. Doch die Physiognomie seines Gegenübers konnte auch nicht verbergen, dass er ein Halbblut war – eine gerade Stirn mit spitz zulaufendem Haaransatz, volle Lippen, die schmale Nase und nicht zuletzt die strahlend blauen Augen verliehen Clinton Hawkeye jene exotische Attraktivität, die ihn zum Schwarm aller Frauen von Richmond machte. Es war eine Mischung aus schalkhaftem Charme und fast animalischer Virilität, die von Hawkeye ausging und jedes Frauenherz zum Schmelzen brachte.
Das von Stevens’ Tochter eingeschlossen, was der Grund dieses Treffens war. Auch seiner Gwendolyn hatte Hawkeye gründlich den Kopf verdreht, und er war nicht bereit, dem weiter tatenlos zuzusehen. Doch wenn dieses selbstgefällige Arschloch auf sein großzügiges Angebot nicht eingehen wollte … mehr als eine Chance, ungeschoren davonzukommen, würde er Hawkeye nicht einzuräumen.
»Arroganz und Todessehnsucht – Torheiten, die ich Ihrer Jugend zuschreibe. Aber glauben Sie mir: Der Deal steht Ihnen so lange offen, bis Sie diesen Raum verlassen. Sollten Sie ihn ausschlagen, werden Sie Ihre Entscheidung schneller bereuen, als Sie denken.«
Clinton Hawkeye starrte den Mann in dem eleganten, steingrauen Dreiteiler sekundenlang an, bevor er langsam nickte und an seinem Drink nippte. »Wissen Sie, Frederick – Ihre Tochter kennt Sie wirklich gut. Gerade gestern haben wir noch über Sie geredet, und nun, wo wir beide hier stehen und ein Gespräch unter Männern führen, fällt es mir auf, wie präzise Gwendolyn Sie beschrieben hat. Es ist wirklich erstaunlich. Schade nur, dass diese tiefe Empathie nicht auf Gegenseitigkeit beruht, denn Sie haben nicht die geringste Ahnung, was im Kopf Ihrer Tochter vor sich geht.«
Stevens presste die Lippen zusammen, und auf seiner Stirn erschien eine steile Falte. »Was soll dieses Geschwätz, Hawkeye? Es interessiert mich einen Dreck, was Sie mit Gwendolyn über mich reden! Nehmen Sie das Geld und verlassen Sie Richmond, solange ich es Ihnen noch gestatte.«
Hawkeye hob die Hand mit dem Glas und deutete damit auf sein Gegenüber. »Sehen Sie, das ist es, was ich meine. Oder was Gwen meint, wenn sie Sie – Entschuldigung, das ist ein Zitat – einen herzlosen alten Mistkerl nennt, der glaubt, mit seinen Dollars wirklich alles kaufen zu können. Sie denken tatsächlich, Ihr Reichtum würde Ihnen die Liebe Ihrer Tochter zurückbringen.«
»Liebe?!« Stevens spuckte das Wort mit einem verächtlichen Schnaufen aus. »Sie wollen mir doch wohl nicht ernsthaft weismachen, dass Sie solche Gefühle für meine Tochter hegen? Sie haben Gwendolyn mit Ihren aufgeblasenen Tiraden vom Sozialismus und den Rechten der Armen den Kopf verdreht, aber dabei geht es Ihnen doch nur um sich selbst! Meine Tochter ist nichts als eine Trophäe für Sie, mit der Sie mir – dem verhassten Kapitalisten – auf noch perfidere Art ins Gesicht spucken können. Sie lieben Sie nicht, Sie benutzen Sie nur!«
Stevens’ Hand ballte sich um sein Whiskeyglas. »Wenn Sie wenigstens einen Funken Ehre im Leib hätten, würden Sie das Geld nehmen und meine Tochter gehen lassen. Doch in der Hinsicht habe ich Sie wohl überschätzt.«
Hawkeye lächelte schmal. »Ehre, in Dollar gemessen – gefällt mir, Ihre Philosophie. Was Sie über mich denken, ist mir völlig egal, Freddy. Aber wenn man Ihnen dabei zuhören muss, wie Sie über Ihre Tochter reden, dann kommt einem das Essen hoch. Gwen hat vor drei Monaten als erste Frau in Virginia ihren Abschluss in Rechtswissenschaft an der Universität gemacht. Sie ist klug, selbstbewusst und eine Persönlichkeit. Männer wie Sie sehen in ihr trotzdem nur ein hübsches Schmuckstück, mit dem Sie prahlen können. Weil sie eine Frau ist, nehmen sie Gwen nicht für voll, obwohl sie Sie geistig schon längst überholt hat. Sie soll schön gehorsam ihre Rolle als Papas hübsches Töchterlein spielen, das kein Anrecht auf eine eigene Meinung hat, wie eine Ihrer edlen Zuchtstuten unten im Tal, oder?«
Stevens sog scharf die Luft ein, und sein Gesicht rötete sich. »Was bilden Sie sich ein, Sie Wicht! Sie sind nichts als ein Verbrecher und Betrüger! Jeder in der Stadt weiß, dass Sie und Ihre Kumpane hinter den Überfällen stecken. Sie blasen sich auf als Kämpfer für die Armen, dabei geht es Ihnen nur um Ihr eigenes Wohl! Ich habe Sie von Anfang an durchschaut, und es ist nur eine Frage der Zeit, bis man Sie zur Strecke bringt. Sie werden … Sie werden …«
Die Stimme des Alten brach ab, und er geriet ins Schwanken. Stevens wich zwei Schritte zurück und stützte sich am Sekretär neben der Tür ab. Hawkeye lehnte am Kamin und betrachtete den Schwächeanfall seines Gegenübers mit ungerührter Gelassenheit. Er stellte das leere Whiskeyglas auf dem Sims ab und zuckte die Achseln, als Stevens auf die Tür deutete.
»Ich denke, zwischen uns beiden ist jetzt … alles gesagt«, murmelte Stevens heiser. Seine Brust hob und senkte sich über stockenden Atemzügen, und er wich den spöttischen Blicken von Hawkeye aus. »Gehen Sie mir endlich aus den Augen!«
Hawkeye strich sich das lange Haar aus der Stirn und sah sich kurz um, bevor er nickte. »Natürlich, Freddy. Es war ein interessantes Gespräch. Guter Whiskey übrigens.«
Er hatte die Türklinke bereits in der Hand, als er sich dem älteren Mann noch einmal zuwandte. »Ich bin gespannt, was Gwen dazu sagen wird, dass Sie sie mir abkaufen wollten. Schätze, das wird ihre Meinung über ihren Vater nur bestätigen. Einen schönen Abend noch.«
Frederick Stevens schloss die Augen und sank auf dem Stuhl neben dem Sekretär nieder, während sich die Tür schloss. Die Brust wurde ihm zu eng für sein heftig pochendes Herz, das in taumelndem Rhythmus gegen die Rippen trommelte wie ein verletztes Tier, und er schüttelte benommen den Kopf, während ihm der Schweiß aus allen Poren drang. Das Glas fiel ihm aus der Hand und landete mit einem dumpfen Laut auf dem Teppich. Erschrocken registrierte er, wie sich seine linke Hand zu einer Klaue zusammenzog, bevor ein Schmerzimpuls wie ein Blitz seinen Arm durchfuhr und ihn zusammenzucken ließ.
Verzweifelt zwang er sich dazu, seinen keuchenden Atem zu beruhigen. Es dauerte Minuten, die ihm endlos erschienen, während er vergeblich versuchte, sich aufzurichten und dabei die Stiche in der Brust zu ignorieren.
Dabei vermied er es, die Tür in den Blick zu nehmen, durch die Hawkeye soeben den Raum verlassen hatte. Stattdessen starrte er in die ersterbenden Flammen des Kaminfeuers, die auf seltsame Art dazu beitrugen, seine kochende Wut zu besänftigen und die Schmerzen in seiner Brust allmählich verstummen zu lassen.
Von unten vor dem Fenster drangen Stimmen herauf und vermischten sich mit dem Knistern der brennenden Holzscheite und einem hektischen Konzert urbaner Geräusche. Ein lautes, meckerndes Lachen erklang, dann ein Quietschen, Eisen auf Hartholz, wohl die Bremse eines Fuhrwerks unten auf der Mainstreet. Eine Drehorgel in der Ferne, oder war es ein automatisches Piano aus dem Saloon? Kinderlachen, das Wiehern eines Pferdes, blechernes Scheppern, das von unten aus der Küche kam.
Und das Rauschen des Blutes in seinen Ohren, das sich nur zögernd und stolpernd einem normalen Rhythmus annäherte.
Er spürte Tränen des Schmerzes auf seinen Wangen, als er sich stöhnend zurücklehnte. Eine unbestimmte Stimme in seinem Inneren teilte ihm mit, dass er soeben fast gestorben wäre. Herztod war das Wort, das sein Arzt vor einigen Wochen benutzt hatte, als er ihm nach einer ausgiebigen Untersuchung eine lange Predigt gehalten hatte, was den Zusammenhang zwischen Lebenswandel und körperlichem Zustand anging.
In diesem Moment dankte Frederick Stevens einem Gott, an den er nicht wirklich glaubte, dass er ihn noch einmal hatte davonkommen lassen. Und er beschloss, die Warnungen seines Arztes zukünftig ernster zu nehmen.
Doch dabei verlor er den Grund für seinen Herzanfall nicht aus den Augen. Es war Clinton Hawkeye, der ihn um ein Haar in den Tod getrieben hatte. Weil der kleine, arrogante Wichser nicht nur dachte, ihm auf der Nase herumtanzen zu können in Richmond, in seiner Stadt.
Nein, der Bastard glaubte auch noch, ihm seine geliebte Tochter nehmen und dabei ins Gesicht lachen zu können. Doch damit war er einen Schritt zu weit gegangen.
***
»Hola, die Prinzessin ist im Anmarsch!«
Der junge Mann mit dem feuerroten Musketierbart erhob sich von seinem Stuhl, nahm den breitkrempigen Hut mit der Adlerfeder vom Kopf und deutete eine Verbeugung an. Die anderen Männer am Tisch ersparten sich die ehrerbietige Begrüßung und blieben sitzen, lächelten Gwendolyn Stevens aber freundlich zu, als sie sich zu ihnen setzte.
»Du kannst es einfach nicht lassen, oder, Winston?«
Gwen grinste schief und drehte sich zu dem vorbeieilenden Kellner um. »Ein Bier für mich«, sagte sie, und der Kellner nickte stumm.
»Wo steckt der Häuptling?«, fragte sie und sah ihn erwartungsvoll an, doch Winston zuckte die Achseln.
»Hat noch eine Verabredung«, gab er wortkarg zurück und schob ihr eine Tageszeitung zu. »Heute schon die Gazette gelesen?«
Die junge Frau warf einen kurzen Blick auf die Schlagzeile, obwohl sie sie bereits kannte:
Nächtlicher Raubzug im Hafen!
Delikatessen für das Gala-Dinner des Gouverneurs gestohlen und unter den Armen verteilt! Neuester Coup des Robin Hood von Virginia?
Als sie den Kopf wieder hob, sah sie in feixende Gesichter und legte die Stirn in Falten. »Sieht ganz nach eurer Handschrift aus. Ihr seid ein Haufen Kindsköpfe! Verdammt noch mal, irgendwann landet ihr alle hinter Gittern.«
Postwendend setzten sie Unschuldsmienen auf, und Winston breitete in gespielter Empörung die Arme aus. »Ich weiß wirklich nicht, wovon du sprichst, Prinzessin. Um ehrlich zu sein, habe ich gestern Abend derart viel gesoffen, dass mir jegliche Erinnerung an die letzte Nacht komplett abhandengekommen ist.« Er wandte sich seinem dunkelhäutigen Nebenmann zu, der einen goldenen Ring im rechten Ohr trug und eine Haarkrause, die so eckig geschnitten war wie eine getrimmte Buchsbaumhecke. »Was ist mit dir, Clive. Warst du etwa gestern Nacht im Hafen, um unseren armen Gouverneur um seine Amuse Geules zu bringen?«
Clive riss die Augen soweit auf, dass sie wie glänzende weiße Bälle fast aus seinem schwarzen Schädel traten. »No, Master Banks, ich schwöre. Massa können mir Eier abschneiden, wenn ich nicht sage die Wahrheit«, stammelte er und imitierte den Slang seiner Eltern, die, wie Gwen wusste, noch vor dem Bürgerkrieg auf den Tabakfeldern südlich der Stadt ihr Leben gelassen hatten.
»Was ist mit euch?«, setzte Winston das Verhör fort und warf einen strengen Blick auf die übrigen drei jungen Burschen, die am anderen Ende des langen Tisches saßen. »Cedric, Lefty! Eure schamroten Nasen verraten euch. Gesteht auf der Stelle! Und wie immer habt ihr bei euren Schandtaten den armen Michael zum Schmierestehen mitgenommen, oder etwa nicht?!«
Die irischen Zwillinge senkten schuldbewusst ihre von wilden rostroten Locken bedeckten Häupter. »Jawohl, Judge Winston«, murmelten sie unisono, bevor Lefty, der ältere der beiden, fortfuhr. »Aber es war andersherum. Michael hat uns hypnotisiert und damit zu willenlosen Sklaven gemacht. Es war der Hummer in meiner Jackentasche, der mir heute Morgen klarmachte, dass wir in der Nacht das Instrument eines skrupellosen Verbrechers gewesen waren.«
Michael Donelly hob die Hände zu Krallen und versuchte sich an einer diabolischen Grimasse, was angesichts seiner gutmütigen, etwas grobschlächtigen Gesichtszüge so gründlich misslang, dass Gwendolyn in schallendes Gelächter ausbrach.
Winston verzog in gespielter Entrüstung die Lippen, während der Kellner einen Bierkrug vor Gwen abstellte. Er warf die Hände in die Luft. »Jetzt schau dir das an, Izzy! Sie lacht uns aus! Die gefährlichsten Männer der Stadt, und sie lacht über uns. Eine Runde, aber schnell, um über diese Demütigung hinwegzukommen.«
Izzy nickte und verzog wie üblich keine Miene, bevor er sich aufmachte, um die Biere zu holen. Seit Gwen vor einem halben Jahr zum ersten Mal die Spelunke am südlichen Ende des Hafens betreten hatte, war dem bleichen Kellner nicht ein einziges Wort über die Lippen gekommen.
Außer der munteren Runde der jungen Männer, an deren Tisch sie saß, hatten sich auch an diesem Abend nur wenige Gäste ins Fisher’s Web verirrt. Die Kneipe wirkte von außen schon wenig einladend, und spätestens, wenn man die schiefen Stufen in den schummrigen, von der niedrigen, ebenerdigen Decke in eine Höhle verwandelten Gastraum hinuntergestiegen war, machte man kehrt, wenn man Gemütlichkeit erwartete.
Außer Clint und seinen Musketieren, wie sie die Hallodris bei sich manchmal nannte, hielten sich im Fisher’s Web nur wortkarge, runzelige Schauerleute und Fischer auf, für die das Bier etwas weiter oben in den vermeintlich besseren Kneipen zu teuer war. Manchmal verirrten sich auch ein paar Flussschiffer aus dem Süden in die Kellerkneipe, die von den billigen Anlegeplätzen jenseits des Kais kamen. Meistens aber war die heruntergekommene Kaschemme so leer wie eine Hafenkneipe in New Orleans, wenn ein Hurrikan über der Bay aufstieg, und Gwen wusste, dass genau das der Grund war, warum Clint und seine Musketiere diesen Ort so liebten.
Er war so verschwiegen und diskret wie Izzy, der Kellner. Keiner der Deputies des Town-Marshals verirrte sich hierher, und selbst die uniformierten Hafen-Polizisten verschwendeten auf ihren Runden nur selten ihre Zeit, um in der düsteren Kellerkneipe nach dem Rechten zu sehen.
Der schäbige Schankraum, in dem sich der Geruch von Schimmel und Fischresten mit dem muffigen Atem des nahen Flussufers mischte, war sicher kein Platz, an dem man die Tochter eines der reichsten Männer von Richmond zuerst suchen würde. Dennoch verbrachte Gwendolyn Stevens nun fast jeden zweiten Abend hier im Fisher’s Web. Der Grund dafür war …
»Hawkeye!«
Sie fuhr herum, als Winston seinen Namen rief, und da kam er bereits auf sie zu, mit blitzenden blauen Augen, die die düstere Kaschemme zu erhellen schienen und einem Lächeln, das sie immer noch so nervös machte, als wäre sie ein halbwüchsiger Backfisch.
Sie erhob sich halb von ihrem Stuhl, da hatte er sie bereits mit kräftigen Händen unter ihren Achseln hochgehoben und umarmt.
Die Männer am Tisch johlten und hoben ihre Bierkrüge, als sie sich innig küssten.
»Bring dem Häuptling ein Bier!«, brüllte Winston in Richtung des Tresens, und der Befehl wurde binnen einer Minute befolgt.
»Wo hast du bloß so lange gesteckt?«, fragte Gwen ihn leise, als sie nebeneinander auf die Stühle sanken.
Er blieb die Antwort schuldig und starrte sie auf eine Weise an, die sie unsicher den Blick senken ließ. Sie griff nach dem Bierkrug und trank einen Schluck, während ihre Augen über die immer noch vor ihr liegende Zeitung wanderten. Clintons Name tauchte nicht zum ersten Mal im Richmond Oberserver auf. Der Mann an ihrer Seite hatte sich in den letzten Monaten einen zwiespältigen Ruf erworben.