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Die Hitze war durchsetzt von hoher Feuchtigkeit und verlieh den Gesichtern der beiden Männer, die sich auf der Mainstreet von Oakville gegenüberstanden, einen unnatürlichen Glanz. Schweißtropfen perlten ihnen von der Stirn, rannen ihnen in die Augenwinkel und über die Wangen hinab zum Kinn, doch keiner von ihnen blinzelte. Ihre kalten Blicke schätzten einander ab, suchten nach einer Schwäche des Gegners und nach jener winzigen Regung, die das frostige Schweigen zwischen ihnen im Aufbrüllen ihrer Revolver zerreißen würde.
"Worauf wartest du?", hallte es über die Straße. "Ist dir der Schneid schon in die Hose gerutscht?"
Barry Flints Kiefer mahlten. Seine Rechte war erstarrt und schwebte nur wenige Zentimeter über dem Griff seines Peacemakers. "Quatsch nicht dumm rum, Dillon!", knurrte er finster. "Make my day!"
Einen Lidschlag darauf peitschte das Donnern zweier Schüsse durch die Luft.
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Seitenzahl: 135
Veröffentlichungsjahr: 2017
Cover
Impressum
Die Nackte und der Gunman
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelfoto: TXUS/Norma
eBook-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln
ISBN 978-3-7325-5868-1
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
www.bastei.de
Die Nackte und der Gunman
Die Hitze war durchsetzt von hoher Feuchtigkeit und verlieh den Gesichtern der beiden Männer, die sich auf der Mainstreet von Oakville gegenüberstanden, einen unnatürlichen Glanz. Schweißtropfen perlten ihnen von der Stirn, rannen ihnen in die Augenwinkel und über die Wangen hinab zum Kinn, doch keiner von ihnen blinzelte. Ihre kalten Blicke schätzten einander ab, suchten nach einer Schwäche des Gegners und nach jener winzigen Regung, die das frostige Schweigen zwischen ihnen im Aufbrüllen ihrer Revolver zerreißen würde.
»Worauf wartest du?«, hallte es über die Straße. »Ist dir der Schneid schon in die Hose gerutscht?«
Barry Flints Kiefer mahlten. Seine Rechte war erstarrt und schwebte nur wenige Zentimeter über dem Griff seines Peacemakers. »Quatsch nicht dumm rum, Dillon!«, knurrte er finster. »Make my day!«
Einen Lidschlag darauf peitschte das Donnern zweier Schüsse durch die Luft.
Dillon schrie auf, stolperte einen Schritt zurück und starrte sein Gegenüber aus fassungslos geweiteten Augen an. Sein rauchender Colt sank herab, und sein Blick richtete sich auf das Einschussloch knapp oberhalb seines Herzens.
Einmal noch versuchte er, seinen Schussarm zu heben, um seine Waffe abzufeuern, dann aber knickte er ein, stürzte auf seine Knie und fiel vornüber. Hart schlug sein Gesicht in den Staub.
Ungerührt steckte Barry Flint seinen Revolver ins Holster, betrachtete seinen aufgerissenen Hemdsärmel und schüttelte den Kopf. »Der Kerl trifft nicht mal ein Scheunentor, wenn er zwei Meter davorsteht«, brummte er vor sich hin.
»Keine Aufregung!«, rief jemand aus der Menge der Gaffer. »Es war ein fairer Kampf!«
Von irgendwoher wieselte ein Altertümchen mit Arzttasche heran, beugte sich über den Verletzten und drehte ihn auf den Rücken. Kurz streifte sein verächtlicher Blick Barry Flint, dann begann er mit der Behandlung der Wunde. Schließlich rief er zwei Männer herbei, die ihm beim Abtransport des Angeschossenen helfen sollten.
Flint kannte die Vorbehalte, die man ihm entgegenbrachte. Viele hielten ihn für einen ungestümen Provokateur, der es darauf anlegte, sich mit Revolverschützen zu messen. Andere sahen in ihm einen Hitzkopf, dem es einfach nur gefiel, mit seinem Leben zu spielen. Beiden Seiten musste Barry Flint Recht geben: Er war überzeugt von seinen Schießkünsten und stellte sie nur allzu gern auf die Probe. Für ihn war es ein geradezu zwanghaftes Bedürfnis, sich neuen Herausforderungen zu stellen. Vermutlich wollte er die vielen Großmäuler lediglich in ihre Schranken verweisen, aber über den genauen Grund hatte er sich selbst kaum Gedanken gemacht.
Aus seiner Hemdtasche holte er eine halb aufgerauchte Zigarre hervor und entzündete sie. Flüchtig wischte er über seine feuchtglänzende Stirn, nahm einen tiefen Zug und wurde plötzlich auf eine Gestalt aufmerksam, die abseits auf dem Boardwalk stand und rasch den Kopf in eine andere Richtung drehte, als sie sich entdeckt fühlte.
Es war ein junges Ding mit dunklem, schulterlangem Haar. Um ihren Hals schmiegte sich ein Kropfband mit Schmuckanhänger; ihre hellblaue Bluse mit den aufgebauschten Ärmeln zeigte nur einen züchtigen Rundhalsausschnitt, der mehr im Verborgenen ließ als er enthüllte. Gestützt wurde ihre Oberweite von einer korsettähnlichen Weste, die ihre Figur aufreizend betonte. Den Abschluss bildeten ein knöchellanger Rock in der Farbe ihrer Bluse sowie schwarze Schnürstiefel.
Flint gelang es nicht, seine Augen von der Lady abzuwenden, doch diese schien das Interesse an ihm verloren zu haben. Nur ganz kurz sah sie noch einmal zu ihm herüber, wandte sich sogleich scheu ab und verschwand im nahe gelegenen Saloon.
Barry Flint, der ohnehin vorgehabt hatte, sich einen oder auch zwei Drinks zu genehmigen, hängte sich an die Fersen der unbekannten Schönen. Kaum durchstieß er die Schwingtüren, sah er sie auch schon an der Theke stehen, eine Gelegenheit, die sich Flint nicht entgehen lassen wollte.
Gelassen schlenderte er auf den Tresen zu, sah, wie dieses liebreizende Geschöpf einen doppelstöckigen Whiskey entgegennahm, und sagte: »Ist es nicht ein wenig zu früh für harte Getränke?«
Langsam, als müsste sie erst überlegen, ob die Frage ihr gegolten hatte, drehte sich die Dunkelhaarige Flint zu. Ein Lächeln huschte über ihre Züge, doch es lag keine Wärme darin, eher der Ausdruck von Geringschätzigkeit. »Ist es nicht ein wenig zu früh, einen Mann zu erschießen?«, antwortete sie schnippisch.
»Touché!«, erwiderte Flint anerkennend und bestellte sich ebenfalls einen Whiskey. »Darf ich Ihnen einen ausgeben, Miss?« Er schaute den Barkeeper an, klopfte auf die Theke, um ihm Beine zu machen, und stellte verwundert fest, dass der Mann verhalten seinen Kopf schüttelte.
»Warum schleichen Sie mir hinterher?«, erkundigte sich die brünette Schönheit. »Reicht es Ihnen nicht, mich abends auf der Bühne zu sehen?«
»Sie sind Sängerin?«
»Ich tanze. Sie werden in Oakville und Umgebung nicht viele Männer treffen, die mich nicht kennen.«
Barry Flint grinste. »Männer wie den, dem ich gerade eben eine Kugel verpasst habe?«
Die Dunkelhaarige nahm einen kräftigen Schluck aus ihrem Glas und stellte es vor sich ab. »Sie stellen eindeutig zu viele Fragen, Mister.«
»Flint«, entgegnete er gutgelaunt. »Barry Flint. – Haben Sie auch einen Namen oder soll ich Sie mit Miss Tänzerin ansprechen?«
»Es reicht, wenn Sie mich Cordelia nennen. Alle nennen mich so.« Nachdenklich musterte sie Flint und fügte hinzu: »Anscheinend kommen Sie nicht aus der Gegend.«
»Ich bin mal hier, mal dort«, meinte Flint, prostete Cordelia zu und kippte seinen Whiskey in einem Zug hinunter. »Und wären Ihnen bei meinem Anblick nicht gleich die Augen aus dem Kopf gefallen, würden wir uns jetzt wohl kaum unterhalten.«
Cordelia lächelte maliziös. »Ich kenne eine Menge Maulhelden, aber nur wenige, die mehr als eine große Klappe zu bieten haben.«
»Geben Sie es ruhig zu«, blieb Flint hartnäckig. »Sie haben mich angesehen, weil Sie mich für einen tollen Burschen halten.«
»Ich halte Sie für einen Aufschneider, der sich mit Schwächeren anlegt, um sich feiern zu lassen.« Cordelia verzog ihre Lippen, als hätte sie auf eine Zitrone gebissen.
Barry Flint blieb sich treu. »Roscoe Dillon hätte sein Maul nicht so weit aufreißen sollen. Ich musste ihm eine Lektion erteilen!« Er merkte, dass seine Worte auch nach sekundenlangem Schweigen nicht auf Gehör stießen, bezahlte seinen Drink und schlenderte zum Ausgang. Er gab es nicht gern zu, aber offensichtlich hatte er sich in den Absichten der jungen Lady getäuscht.
Umso überraschter war er, als er nach einigen Schritten seinen Namen rufen hörte. »Barry! Warten Sie!« Ihren Rock gerafft, kam Cordelia angelaufen.
»Wollen Sie jetzt doch noch Ihren Drink spendiert bekommen?«, fragte Flint mit mildem Spott. »Das Angebot ist leider ausgelaufen.«
Dicht vor dem Mann blieb Cordelia stehen. Ihr Blick hatte nichts Abweisendes mehr, wirkte sogar einladend. »Ich habe ein Angebot für Sie!«, sagte die Brünette. »Kommen Sie heute Abend in meine Show. Ich lasse Ihnen einen Platz in der ersten Reihe reservieren.«
»Und wo ist das?«
»Im Blue Star. Seien Sie kurz vor zehn dort. Wenn Sie es nicht auf Anhieb finden, fragen Sie nach. Es gibt kaum jemanden, der den Club nicht kennt.«
Versonnen lächelte Barry Flint. »Geben Sie es ruhig zu: Sie haben etwas für mich übrig.«
Cordelia sah ihn in einer Mischung aus Verwunderung und Scham an. »Wir werden sehen, was sich ergibt …« Schon wandte sie sich ab, warf aber noch einmal einen Blick über ihre Schulter und sagte: »Wenn eine Frau Interesse an einem Mann zeigt, heißt das nicht, dass sie nicht erobert werden möchte …«
Es war ein Lockruf, dem Flint nicht widerstehen konnte. Dennoch beschlich ihn ein eigentümliches Gefühl der Unruhe, besonders, wenn er an den stummen Appell des Barkeepers dachte.
Er wischte den Gedanken beiseite. Eine schöne Frau ließ man nicht warten.
***
Über eine Länge von mehr als einer Meile erstreckte sich die Eads Bridge über den Mississippi. Lassiter konnte sich an einen früheren Besuch von St. Louis erinnern, als die Brücke sich noch im Bau befunden hatte. Nun war die gewaltige Stahlkonstruktion fertiggestellt und führte den Mann der Brigade Sieben in den Osten der Stadt, wo er sich mit dem Sheriff über seinen neuen Auftrag unterhalten würde.
Entlang den Brückengleisen dirigierte er seinen Grauschimmel an entgegenkommenden Fuhrwerken vorbei und staunte über die mächtigen Kragträger, die der Brücke ihre Stabilität verliehen. Vergleichbares hatte er bisher noch nicht gesehen.
Als er das Ostufer des Mississippis erreicht hatte, steuerte Lassiter sein Pferd unmittelbar auf die Mainstreet zu und machte sich auf die Suche nach dem Sheriff’s Office. East St. Louis war nur eine kleine Stadt und recht überschaubar. Das Büro des Gesetzeshüters fand er schon nach wenigen Minuten. Er leinte sein Reittier am Hitchrack an, trottete ein paar Meter über den Boardwalk und klopfte an die Tür. Ohne eine Bestätigung abzuwarten, trat er hindurch.
Hinter einem Schreibtisch, die Beine lang über die Tischplatte ausgestreckt, kauerte der Sheriff in seinem Stuhl. Den Stetson hatte er sich ins Gesicht gezogen und stieß in unregelmäßigen Abständen Schnarchlaute aus.
Lassiter räusperte sich vernehmlich, und als das nicht half, den Mann aus seinem Schlaf zu wecken, schlug er lautstark mit der flachen Hand auf den Tisch.
Der Sternträger zuckte hoch, wobei ihm sein Stetson in den Schoß fiel. Aus müden Augen blinzelte er den Agenten an, nahm die Füße vom Tisch und beugte sich verschlafen darüber. »Hat irgendein Straßenjunge Süßigkeiten geklaut?«, fragte er gähnend. »Oder warum stören Sie meine Mittagsruhe?«
Lassiter schaute sein Gegenüber interessiert an. Der Mann mit dem Stern war ein Greis, seine Gesichtshaut faltig und zerfurcht. Er mochte über die sechzig sein und drückte mit jeder Faser seiner Erscheinung aus, dass er lediglich Bagatelldelikten nachging. Von dieser Warte aus betrachtet, war seine Frage nachvollziehbar.
»Budd Harley«, sagte Lassiter und hielt sich nicht mit Vorreden auf. »Was wissen Sie über diesen Banditen?«
Schlagartig war der Sheriff hellwach und federte in eine aufrechte Sitzposition. Misstrauisch musterte er seinen unangemeldeten Besucher, zwang sich zur Ruhe und faltete seine Hände vor der Brust. »Sie begnügen sich nicht mit Kleinvieh, habe ich Recht? Falls Sie Großwildjäger sind, bekommen Sie mit Budd Harley die passende Trophäe.« Einige Momente darauf fügte er hinzu: »Die müssen Sie sich aber hart verdienen, Mister.«
»Mein Name ist Lassiter.«
»Chuck Jones«, stellte sich der Sheriff vor. »Sind Sie Bundesmarshal, Pinkerton-Agent oder einfach nur scharf auf die ausgelobte Prämie?«
»Weder noch«, gab der große Mann zur Antwort. »Damit müssen Sie sich begnügen.«
Jones nickte, überlegte einige Augenblicke und zog eine Schublade seines Schreibtischs auf. Daraus holte er eine prall gefüllte Kladde hervor und schob sie Lassiter zu. »Meine gesammelten Unterlagen zu Harley. Sie werden ein wenig Zeit brauchen, um sie zu durchstöbern.«
Dankend nahm Lassiter die Dokumente an sich und blätterte sie flüchtig durch. Als er die Kladde wieder zuklappte, meinte er: »Sie haben sich ordentlich ins Zeug gelegt, Sheriff. Fast könnte man vermuten, dass es sich um eine persönliche Angelegenheit zwischen Ihnen und Harley handelt.«
Chuck Jones erhob sich und trottete hinüber zu einer Karte, die neben dem Gewehrschrank an die Wand geheftet war. »Schauen Sie sich die Pins an. Jeder steht für ein Verbrechen, das Harley begangen hat. Sie sind nicht nach Raub, Mord, Erpressung, Nötigung oder Brandstiftung sortiert. Dennoch geben sie ein eindrucksvolles Bild von den Aktivitäten dieses Halunken ab.«
Neugierig trat Lassiter näher. »Harley scheint fast ausschließlich im Grenzgebiet zwischen Missouri und Illinois sein Unwesen zu treiben«, stellte er nach einer knappen Begutachtung fest. »Einer Verhaftung konnte er aus ungeklärten Ursachen bisher entgehen.«
»Ungeklärt?«, japste Jones. »Da ist gar nichts ungeklärt! Mindestens zwei Dutzend Ordnungshüter haben sich bereits an seine Fersen geheftet. Ihre Namen können Sie auf den Grabkreuzen im gesamten Umkreis wiederfinden.«
»Ist das der Grund, weshalb Sie sich aufs Beobachten beschränken?« Lauernd schaute Lassiter dem Sheriff in die Augen.
»Auch – aber nicht nur.« Tief atmete Jones ein und aus, senkte seinen Kopf und sah gleich darauf wieder auf. »Früher war ich ein harter Hund, schneller mit dem Colt als mit dem Kopf. Meine Fäuste haben mir Respekt verschafft, und ich habe erst zugeschlagen und dann nachgefragt.« Er wollte seine Hände zu Fäusten ballen, scheiterte jedoch bei dem Versuch und ließ die Schultern hängen. »Sehen Sie, was ich meine, Mister Lassiter? Meine große Zeit ist vorüber. Die Gicht nagt an meinen Knochen. Ein Zehnjähriger könnte mich verprügeln, und ich könnte nichts dagegen tun.«
Der Brigade-Agent verstand, warf aber ein: »Trotzdem lässt Ihnen Harley keine Ruhe, nicht wahr? Ich wette, wenn Sie wüssten, wo er zu finden ist, würden Sie es noch einmal drauf ankommen lassen.«
Ein trockenes, freudloses Lachen entrang sich Chuck Jones’ Kehle. »Jeder weiß, wo sich Harley für gewöhnlich aufhält. Es ist das kleinste Problem, ihn aufzuspüren.«
»Wie war das?« Lassiters Verblüffung war nicht gespielt. »Wieso haben Sie keine Unterstützung angefordert, wenn Sie wissen, wo Harley steckt?«
Jones setzte die Miene des gutmütigen Vaters auf, der trotz der Unbelehrbarkeit seines Sohnes Milde walten ließ. »Haben Sie mir nicht zugehört?«, raunte er. »Alle, die nach Oakville geritten sind, um ihn zu stellen, sind tot! Ohne Ausnahme! Er hat einen untrüglichen Riecher für Gefahr und verpasst Ihnen eine Kugel, ehe Sie überhaupt wissen, wer hinter Ihnen steht!«
»Oakville«, murmelte Lassiter. »Wie weit ist das?«
»Fünfzehn, sechzehn Meilen südlich«, antwortete Chuck Jones. »Aber ich gebe Ihnen einen guten Rat: Machen Sie einen großen Bogen um das Nest! Ich halte Sie für einen netten Kerl, also schlagen Sie meine Warnung nicht in den Wind.«
Lassiter dachte über seine Missionspapiere nach, die er auf der anderen Flussseite von einem Notar erhalten hatte. Die Informationen aus Washington waren bestenfalls als bruchstückhaft zu bezeichnen, gaben sie doch keinerlei Auskunft über Budd Harleys Aufenthaltsort und auch nicht darüber, was sich der Bandit hatte zuschulden kommen lassen. Es gab lediglich eine vage Beschreibung von ihm sowie die Einstufung ›extrem gefährlich‹. Dazu eine wenig aussagekräftige Beschreibung des Gebietes, das er heimsuchte. Alles in allem war es ein Glücksgriff, dass sich Lassiter an den Sheriff gewandt hatte. Auf diese Weise ersparte er sich tage- und gegebenenfalls wochenlanges Suchen.
»Danke für Ihre Hilfe, Sheriff«, sagte der Agent und verabschiedete sich.
»Lassen Sie mich doch nicht stehen wie einen dummen Jungen, der Ihnen eine hanebüchene Geschichte erzählt hat!«, rief Jones ihm nach. »Wie viele Männer sollen denn noch ins Gras beißen, bevor ihr Revolverschwinger endlich merkt, dass Harley nicht zu fassen ist?«
Die letzten Worte hatte Lassiter schon nicht mehr gehört. Er schwang sich in den Sattel seines Grauschimmels und galoppierte los. Sein nächstes Ziel stand fest. Und auch seine Absicht, diesen Auftrag wie jeden anderen zu einem erfolgreichen Abschluss zu bringen.
***
Das Blue Star lag drei Straßen weit von der Mainstreet entfernt. Und wenn man den Club von außen sah, war man über den Anblick, den das Innere bot, doch einigermaßen erstaunt. An der Ausstattung hatte man nicht gespart und setzte auf edles Ambiente mit Brokatvorhängen, kostbaren Möbeln und Mosaiksteinboden.
In der schummrigen Dunkelheit, die nur spärlich von einigen wenigen Petroleumlampen ausgeleuchtet wurde, breiteten sich Alkoholdunst und Zigarrenqualm aus. In den dunklen Nischen waren die Schattenrisse von Pärchen zu erahnen, die nur durch ihr gedämpftes Stöhnen oder verhaltene Lustschreie auffielen.
Zwei Bedienungen in hauchfeinen Negligés kreuzten zwischen den Tischen und nahmen auf Zuruf auch Bestellungen aus den Separees entgegen. Eine der leichtgeschürzten Damen stieß Barry Flint versehentlich an, als sie sich rückwärts von einem Gast fortbewegte. Statt einer Entschuldigung erhielt der Gunman nur ein kokettes Augenzwinkern, das genauso verlockend war wie die Knospen der Brüste, die durch das frivole Oberteil der jungen Frau schimmerten.
Flint hatte nicht erwartet, sich in einem Bordell wiederzufinden. Schon gar nicht in einem Etablissement, dessen Interieur so manchen anderen Club in den großen Städten spielend überflügelte. Cordelias Bühnenshow würde sicher einen besonderen Augenschmaus darstellen und die Stimmung anheizen, aber die Hauptattraktion waren neben den Bedienungen ganz offensichtlich die leichten Damen, die mehr oder weniger verhüllt auf Gästefang gingen. Dort, wo sich die Herren in ihren feinen Anzügen auf Diwanen und gepolsterten Rundsitzecken niedergelassen hatten, ließen es sich die Huren bei Wein und Champagner gut gehen.
Ein Verdurstender, der mitten in der Wüste ein Wasserloch fand, konnte nicht frohgemuter sein, als Flint es in diesen Augenblicken war. Am liebsten hätte er sich ins Getümmel gestürzt und eine Sause veranstaltet, doch in seiner Brieftasche herrschte Ebbe. Er würde sich aufs Zuschauen beschränken und die bildhübschen Dirnen den Reichen und Wohlhabenden überlassen müssen.