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Die Luft flimmerte über der Wüstenlandschaft im Maricopa County, Arizona. Unter der erbarmungslosen Hitze war das Flussbett des Salt River schon seit einem Monat ausgetrocknet. Nur noch vereinzelt stand Wasser in Pfützen oder größeren Vertiefungen. John O'Whelan war vor der Hitze aus Phoenix geflohen, hatte sich die Kleidung vom Leib gerissen und war in ein Wasserloch nahe des Ufers gesprungen. Die kümmerlichen Bäume dort spendeten nur wenig Schatten. Das Wasser reichte dem kräftig gebauten Mann bis zur Brust. Es war lauwarm und brachte kaum Abkühlung.
Als sich Geräusche von Pferdehufen und Kutschenrädern näherten, wunderte sich O'Whelan nicht, denn die Badestelle im Fluss kannten viele.
Dann aber traf ihn der Schock gleich zweimal.
Die Frau auf dem Bock war blond - und splitternackt. Und rechts unter dem Sitzgestell ragte der Doppellauf einer Schrotflinte hervor.
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Seitenzahl: 132
Veröffentlichungsjahr: 2017
Cover
Impressum
Der Aufschneider
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelfoto: Boada/Norma
eBook-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln
ISBN 978-3-7325-5869-8
www.bastei-entertainment.de
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Der Aufschneider
Die Luft flimmerte über der Wüstenlandschaft im Maricopa County, Arizona. Unter der erbarmungslosen Hitze war das Flussbett des Salt River schon seit einem Monat ausgetrocknet. Nur noch vereinzelt stand Wasser in Pfützen oder größeren Vertiefungen. John O’Whelan war vor der Hitze aus Phoenix geflohen, hatte sich die Kleidung vom Leib gerissen und war in ein Wasserloch nahe dem Ufer gesprungen. Die kümmerlichen Bäume dort spendeten nur wenig Schatten. Das Wasser reichte dem kräftig gebauten Mann bis zur Brust. Es war lauwarm und brachte kaum Abkühlung.
Als sich Geräusche von Pferdehufen und Kutschenrädern näherten, wunderte sich O’Whelan nicht, denn die Badestelle im Fluss kannten viele.
Dann aber traf ihn der Schock gleich zweimal.
Die Frau auf dem Bock war blond – und splitternackt. Und rechts unter dem Sitzgestell ragte der Doppellauf einer Schrotflinte hervor.
O’Whelan blieb keine Zeit mehr, aus dem Wasser zu springen. Seine Sachen, einschließlich der Waffen, hatte er dem Grauschimmel auf den Rücken gelegt. Das Pferd stand keine fünf Yards entfernt, doch unerreichbar jetzt. Er hatte es an einem der Bäume am Ufer angeleint. Ausläufer des spärlichen Schattens reichten bis zur Badestelle.
Die zweiachsige Kutsche, ein elegant in seiner Federung schwingender Landauer, jagte mit hoher Geschwindigkeit heran, gefolgt von der Staubwolke, die von Hufen und Rädern aufgewirbelt wurden. Die Nackte zügelte das Gespannpferd spät, aber gerade noch rechtzeitig.
Unmittelbar vor dem Badenden kam die Luxuskutsche zum Stehen. Von der eigenen Staubwolke eingeholt, war das grazile Gefährt sekundenlang nur schemenhaft zu erkennen.
O’Whelan spannte die Muskeln an, kniff gleichzeitig die Augen zusammen. Die Schrotflinte sah er von Anfang an deutlich genug. Einen Moment lang keimte in ihm die Hoffnung auf, dass er selbst von der Kutsche aus ebenfalls schlecht zu erkennen war.
Frommer Wunsch, dachte er im nächsten Atemzug. Denn der Vorhang aus Staub senkte sich schneller als er gedacht hatte. Resignierend schloss er die Augen und hob vorsorglich die Hände.
Er öffnete die Augen wieder, und während die Sicht klarer wurde, wusste er nicht, wohin er den Blick zuerst richten sollte – in die Doppelmündung der Schrotflinte oder auf die Brüste der Frau.
Dabei war ihm klar, dass genau das die Absicht des Jünglings war, der die Waffe auf ihn gerichtet hielt. Die Nackte sollte ihn, O’Whelan, irritieren und ablenken, damit er keine Chance hatte, Gegenwehr zu leisten.
O’Whelan kannte den Jungen. Er sah aus wie einer, dem seine Eltern das erste Mal erlaubt hatten, abends allein das Haus zu verlassen. Ein echtes Babyface. Aber der Eindruck täuschte. Der Bursche war alles andere als ein Milchgesicht – und ein Greenhorn schon gar nicht.
Er hieß Cornell. Thaddeus »Thad« Cornell, und er hatte es faustdick hinter den Ohren. Er wusste verdammt genau, dass John O’Whelan seinetwegen nach Phoenix gekommen war.
Aber nicht nur das. Natürlich wusste er auch, dass O’Whelan ein Pinkerton Detective war und ihn bis auf die Knochen durchschaute. Ihn, den sie den Aufschneider nannten. Manche bezeichneten ihn auch als Angeber, Prahler, Sprücheklopfer, Großkotz, Wichtigtuer, Schaumschläger oder Spinner vor dem Herrn.
O’Whelan konnte nur bestätigen, dass all diese wenig schmeichelhaften Ausdrücke auf Thad Cornell zutrafen.
Bis eben hatte Thad auf dem vorderen Sitzpolster gekniet. Jetzt zog er die Waffe unter dem Sitzgestell hervor und richtete sich rasch auf, ohne die Doppelläufige dabei aus dem Schulteranschlag zu nehmen.
Er hatte alle Trümpfe in der Hand. Aus seiner Sicht würde es so schnell keine bessere Gelegenheit geben, den lästigen Schnüffler O’Whelan allein und hilflos anzutreffen.
Hinzu kam, dass der Junge die Schwäche seines Widersachers mit sicherem Gespür erkannt hatte.
Frauen.
O’Whelan war nicht mehr er selbst, wenn eine ihm schöne Augen machte – einerlei, ob sie sich dafür bezahlen ließ oder nicht. Und in diesem speziellen Fall konnte ihn selbst eine schussbereite Schrotflinte nicht davon abbringen, sie mit Blicken zu verschlingen.
Groß und straff waren die Brüste der nackten Kutschenlenkerin dort auf dem Bock. Sie federten auf und ab, als sie die Handbremse anzog und die Zügelenden um den Hebelgriff schlang.
O’Whelan war nicht sicher, ob er sie schon einmal gesehen hatte. Auf jeden Fall musste sie eine Prostituierte sein. Sittsame Ladys aus der ehrbaren Gesellschaft von Phoenix würden sich niemals dafür hergeben, im Evaskostüm durch die Gegend zu fahren.
»Habe ich dich!«, rief Cornell triumphierend. Sein Haar war rostrot und lang; es reichte ihm im Nacken bis auf den Kragen. Feuerrot war dagegen das Hemd, das er unter einem olivgrünen Jackett trug. Die Hitze schien ihm nicht das Geringste auszumachen.
O’Whelan antwortete nicht. Langsam und vorsichtig faltete er die Hände auf dem Kopf, damit seine Arme nicht einschliefen.
Der Aufschneider ignorierte es und spielte den Gutgelaunten. »Was sagst du, John? Bin ich nicht ein guter Spürhund?« Er lachte schallend. Ohne die Schrotflinte auch nur um den Bruchteil eines Inchs aus der Visierlinie zu nehmen, prahlte er weiter:
»Das muss mir erst mal einer nachmachen, einen ausgewachsenen Pinkerton-Schnüffler so unauffällig zu beobachten, dass der nichts mitkriegt.« Diesmal wollte er sich ausschütten vor Lachen.
»Was ist jetzt?«, meldete sich die nackte Blondine zu Wort. »Kann ich mir was anziehen? Nicht, dass ich friere, aber der Kerl frisst mich mit seinen Blicken regelrecht auf.«
»Klar, Darling.« Cornell lachte glucksend. »Und wenn du dir was anziehst, zieht er dich mit Blicken sofort wieder aus.« Einen Moment lang schaute er ihr schweigend zu, wie sie ein buntes Sommerkleid vom Sitz aufhob und es überstreifte.
»Ich denke …«, ließ O’Whelan sich vernehmen. »Wir sollten vernünftig miteinander reden.«
Cornell brachte den Pinkerton Detective mit einer herrischen Handbewegung zum Schweigen. Ohne ihn weiter zu beachten, wandte er sich an seine Begleiterin: »Fahr zurück, Violet. Ich brauche dich hier nicht mehr.«
»Und du?« Sie sah ihn verwundert an. »Wie kommst du zurück in die Stadt?«
Cornell grinste breit. »Ich habe doch ein Pferd.«
»Du meinst das Kutschpferd? Aber das brauche ich doch.«
Cornell lachte schallend und zeigte auf den Grauschimmel. »Dummerchen! Das ist mein Pferd, Baby! Was dachtest du denn?«
***
»Jetzt sind wir allein«, stellte Hetty Draper fest. Es hörte sich an, als stünden ihr und dem großen Mann nun alle Möglichkeiten offen.
Lassiter nickte und lächelte der attraktiven dunkelhaarigen Frau zu. Er stand auf. Mit zwei sicheren Schritten erreichte er die Tür des Pullman-Abteils. Mühelos hielt er sein Gleichgewicht und glich das unregelmäßige Schwanken des Zuges aus.
Die mörderische Julihitze im südlichen Arizona hatte für Verwerfungen der Gleise gesorgt. Eisen kreischte auf Eisen, wenn die Fliehkraft die Waggonräder in die Ausbuchtungen der Schienen presste – dort, wo sich der Stahl in den letzten Tagen und Wochen unter der glühenden subtropischen Sonne gedehnt hatte.
Den beiden elegant gekleideten Geschäftsleuten, die eben das Abteil verlassen hatten, blickte der Mann der Brigade Sieben nur noch einen Moment lang nach. Ihre gemeinsame Fahrt war nur kurz gewesen.
An der nächsten Station, in Maricopa, würden sie bereits wieder aussteigen. In Phoenix Junction waren sie alle – Hetty Draper, Lassiter und die beiden Gentlemen – aus unterschiedlichen Richtungen mit der Southern Pacific Railroad eingetroffen und in diesen Zug der Maricopa and Phoenix Railroad umgestiegen.
Lassiter legte den Innenriegel der Tür vor. Die Männer waren Eisenbahn-Ingenieure. Sie hatten ihm erklärt, dass die Railroad Company endlich das letzte fehlende Stück der Strecke nach Phoenix schließen wolle, und sie seien mit den Planungen vor Ort beauftragt.
Derzeitige Endstation war Tempe, nur neun Meilen von der Stadt entfernt, die seit langem den Anschluss an das wachsende Schienennetz des Südwestens forderte. Ein Unding, dass das nicht schon längst geschehen war. Darin waren Lassiter und die Gentlemen sich einig gewesen.
Auf ihre Frage hatte er geantwortet, er sei Regierungsagent. Hetty Draper hatte ihren wirklichen Namen verschwiegen und sich als Almira Troy, Geschäftsfrau, vorgestellt. Niemand hatte weitere Fragen gestellt.
Der große Mann folgerte daraus, dass sie alle eins gemeinsam hatten – einen Grund, ihre wahre Identität zu verbergen.
Er schloss die schweren roten Samtvorhänge zum Gang hin und drehte sich um. Hetty alias Almira widmete ihm einen tiefen Augenaufschlag. Sie hatte es sich auf den Sitzpolstern in der Fensterecke gemütlich gemacht und benutzte einen altmodischen Fächer, um die stickige Luft hin und her zu schaufeln.
Sie trug ein stahlblaues Reisekostüm und eine beigefarbene Bluse. Die beiden oberen Knöpfe der Bluse, zuvor noch geschlossen, waren jetzt geöffnet. Der knöchellange Rock des Kostüms wies an der rechten Seite einen Schlitz auf, der normalerweise bis zum Knie reichte.
Nun aber hatte sie den Rock ein beträchtliches Stück hochgezogen. Dadurch war ihr wohlgerundeter Oberschenkel sichtbar, straff umhüllt von einem hautengen, elfenbeinfarbenen Seidenstrumpf.
Hettys Lächeln und ihr verführerischer Blick ließen keinen Zweifel an ihren Absichten. Sie wedelte heftiger mit ihrem Fächer. Sie stöhnte demonstrativ.
»Eine Bahnfahrt bei dieser Hitze!«, rief sie und setzte eine leidende Miene auf. »Das kann man ja keinem Menschen zumuten.« Sie zwinkerte dem großen Mann zu. »Aber jetzt, wo wir allein sind …«
»Was meinen Sie?«, tat er begriffsstutzig, machte einen Schritt in die Mitte des Abteils und hielt sich am Rahmen des Gepäcknetzes fest.
»Nun …«, sagte sie gedehnt. »Wir könnten uns ein wenig von dem erleichtern, was uns einengt.«
»Sie reden von Kleidung?« Lassiter machte runde Augen und spitzte scheinbar geschockt die Lippen. »Wir sind doch nicht verheiratet.«
»Wir könnten so tun als ob.« Hetty kicherte hinter dem Fächer.
»Ah, das meinen Sie.« Lassiter richtete den Blick zum Himmel. Dann sah er die braunäugige Schöne wieder an. »Verheiratet sein ist doch langweilig, oder?«
Sie überlegte nur kurz. »Dann jung verheiratet«, schlug sie vor. »Oder frisch vermählt – auf Hochzeitsreise. Das wäre doch ein schöner Zeitvertreib, bis wir aussteigen müssen.«
»Die Hitze zwingt uns dazu«, sagte Lassiter. Zur Untermalung streifte er sein Jackett ab.
Hetty reagierte nicht darauf. Stattdessen wurde sie unvermittelt ernst. Mit vibrierender Stimme erklärte sie: »Du bist der Mann, auf den ich immer gewartet habe. Ich spüre es mit allen Fasern meiner Sinne. Wenn du so willst, war es Liebe auf den ersten Blick.«
***
John O’Whelan empfand nichts mehr. Die Hilflosigkeit lähmte ihn, die Aussichtslosigkeit brannte sein Gehirn leer. Er konnte nicht einmal mehr verzweifelt sein. Das Wasser, das ihn umschloss, hatte keine Temperatur mehr, war weder warm noch kalt.
Elegant und leichtfüßig rollte der Landauer davon und verschwand hinter seiner eigenen Staubwolke. O’Whelan hätte gern Wehmut darüber empfunden, dass die blonde Frau ihn allein ließ. Aber auch zu einem solchen Gefühl war er nicht mehr in der Lage.
Auch der Blick in die doppelte Laufmündung war ihm einerlei. Schrotkaliber zwölf, na und? O’Whelan wusste, wie Menschen aussahen, die von so einer Ladung getroffen wurden.
Es ließ ihn selbst dann kalt, als er sah, wie Cornell den Zeigefinger um den Abzug krümmte. Ungewollt schloss O’Whelan die Augen. Dabei hatte er keine Angst davor, dem Tod ins Auge zu sehen.
Die Schrotflinte wummerte hart und trocken, und der Nachhall rollte wie Donner über das sonnendurchglühte Land. O’Whelan merkte, dass er zusammengezuckt war. Sonst nichts. Da war kein Schlag wie von einem Tonnengewicht gewesen, und da war auch kein Schmerz.
Übergangslos war er ins Nichts gedriftet.
Und ausgerechnet dort empfing ihn diese Stimme, die ihn anödete wie keine andere.
»All right, die Überraschung ist mir gelungen, denke ich.«
John O’Whelan riss die Augen auf.
Dieses verdammte Grinsen in dem Milchgesicht war breiter und überheblicher als je zuvor.
»Na?«, rief Cornell triumphierend. »Wie habe ich das hingekriegt?«
»Ich weiß nicht, wovon du redest.«
»Von einer Scheinhinrichtung«, entgegnete der Aufschneider in geduldig gespielter Freundlichkeit. »Im allerletzten Moment habe ich den Lauf hochgerissen. Das war eine Scheinhinrichtung, John. Und was schließt du daraus?«
»Nichts.« O’Whelan verzog keine Miene.
»Richtig!«, erwiderte Cornell wie ein Schulmeister, der seinen gelehrigsten Schüler lobte, obwohl dieser eine falsche Antwort gegeben hatte. Er grinste zufrieden und sprach weiter, während er die leergeschossene Patronenkammer der Schrotflinte nachlud. »Ich will dich gar nicht töten. Ich will dir nur Angst einjagen. Begriffen?«
»Nein.«
»In Ordnung. Du stellst dich dümmer als du bist.« Cornell legte die Flinte in seine Armbeuge. »Was willst du damit erreichen, John? Mich provozieren? Soll ich es mir anders überlegen?«
***
Lassiter stoppte Hettys Schwärmen, indem er sich zu ihr hinabbeugte und sie küsste. Es wurde ein Kuss voller tiefer Gefühle, ihre Zungenspitzen erforschten einander, und ihre Lippen schienen sich miteinander zu versiegeln.
Sie waren sich noch nie zuvor begegnet, und dennoch wusste Lassiter einiges über diese anschmiegsame Frau.
Hetty Draper war Pinkerton Detective. Über sie gab es eine Akte im Archiv der Brigade Sieben, Lassiters Dienststelle in Washington. Die Akte enthielt ein ungerahmtes, bereits koloriertes Porträtfoto, das in einem Fotostudio in Chicago angefertigt worden war.
John O’Whelan hatte ihm von ihr berichtet. Lassiter war seit vielen Jahren mit John befreundet. Letzterer hatte dem großen Mann einmal während eines gemeinsamen Einsatzes das Leben gerettet.
John hatte Lassiter erzählt, dass Hetty Draper seine Dienstpartnerin war. Und, dass er sich einen anderen Partner im Dienst wünschte. Denn Hetty behandelte ihn wie einen Ehemann, bevormundete ihn, kommandierte ihn herum und beschimpfte ihn.
Lassiter hatte ihm gesagt, dass er selbst schuld war, wenn er sich das gefallen ließ. Warum sie sich hier in Arizona Almira Troy nannte, konnte der große Mann nur ahnen. Wahrscheinlich hatte sie es mit John abgesprochen, damit sie in Phoenix nicht sofort als seine Kollegin erkannt wurde.
Lassiter hatte vor zwei Monaten einen staatenweit gesuchten Mörder in San Antonio, Texas, dingfest gemacht. Während seines Einsatzes dort war ihm John O’Whelan begegnet. John war einem Erbschleicher auf der Spur, der eine Bankiersfamilie in Chicago um Millionen betrogen hatte.
Der Mann, eher noch ein Jüngling, hieß Thaddeus »Thad« Cornell, war ein Großmaul vor dem Herrn und wurde »Der Aufschneider« genannt. Bei alten und sterbenskranken Menschen jedoch verstand er es, sich einzuschmeicheln und ihr Vertrauen zu gewinnen.
So brachte er die arglosen Alten dazu, ihn zu adoptieren und ihr Testament zu seinen Gunsten zu ändern. Seinen größten Coup hatte er in diesem Jahr in Chicago gelandet, wo er den steinreichen Bankier Everett Branford Harrison noch auf dem Sterbebett überzeugt hatte, sein Testament zu seinen, Cornells, Gunsten zu ändern.
Es hieß, dass Harrison über ein Barvermögen von acht Millionen Dollar verfügt und mehrere hochwertige Immobilien in Chicago sein Eigen genannt hatte. Die rechtmäßigen Erben, drei leibliche Söhne, waren leer ausgegangen.
Sie vermuteten, dass Cornell ihren Vater zumindest um das komplette Barvermögen erleichtert hatte. Ob auch die Immobilien in Cornells Eigentum übergegangen waren, musste noch geklärt werden.
Thad Cornell hatte die Konten seines verstorbenen Gönners geplündert und die Millionen offenbar auf ein eigenes Geheimkonto eingezahlt, auf das er jederzeit zugreifen konnte. Nach dieser Transaktion war er aus Chicago verschwunden.
Die geprellten Erben hatten die Pinkerton Agency beauftragt, den Betrüger aufzuspüren und nach Chicago zurückzubringen. Gleichzeitig hatten sie das Testament mittels Privatklage angefochten. Wenn es den Pinkertons gelang, Cornell zu fassen, würde er entweder die ergaunerten Millionen freiwillig herausrücken oder sich vor Gericht verantworten müssen.
Nun hatte John O’Whelan die Spur des Betrügers allem Anschein nach bis Phoenix, Arizona, verfolgt. Denn von dort hatte er seinem alten Freund, dem Mann der Brigade Sieben, ein Telegramm geschickt. Er hatte Glück gehabt, Lassiter noch in Texas zu erreichen.
»Brauche Hilfe. Frage Charity.«
Das war die ganze knappe Nachricht. Lassiter kannte John O’Whelan als einen Mann, der nicht viele Worte machte. Deshalb war er, Lassiter, sofort aufgebrochen. Letzten Endes wusste er, dass John in höchster Gefahr schwebte. Denn bevor John um Hilfe rief, musste er schon mitten in der Hölle gelandet sein.
Und die Tatsache, dass die Agency ihm seine Dienstpartnerin nachschickte, bestätigte Lassiters schlimme Befürchtungen nachträglich.
Wer mit »Charity« gemeint war, würde er in Phoenix herausfinden. Hetty wollte er nicht gleich danach fragen. Solange er nicht wusste, in welchen Schwierigkeiten John steckte, würde er erst einmal nichts herauslassen.
Unvermittelt verspürte er etwas wie kleine Trommelschläge, die seinen Nacken trafen. Er brauchte einen Moment, um zu erkennen, dass es Hettys Fingerspitzen waren, mit denen sie sich in Erinnerung rief.