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Die Steigung nahm kein Ende, der Zug fuhr immer langsamer. Blitze zuckten über den schwarzen Himmel, Donner hallte, Regen prasselte auf die Geröllhänge und klatschte gegen die Waggonfenster. Jane sank in ihre Polsterbank und seufzte behaglich. Von der trockenen Geborgenheit eines Luxuswaggons aus konnte man sogar ein Unwetter genießen. Selbst Jane, die sonst Angst vor Gewittern hatte, konnte das.
Bis ein Schatten am Zugfenster vorbei huschte. Jane fuhr hoch und presste die Stirn gegen das Glas. Das Rattern der Räder und das Schnaufen der Lok setzten sich für einen Moment gegen Donner und Platzregen durch. Der Zug kroch nur noch den Anstieg nach Cheyenne hinauf.
Da! Wieder ein Schatten! Blitze erleuchteten den Himmel - und einen Wimpernschlag lang sah Jane einen maskierten Reiter. Ein Schrei entfuhr ihr.
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Seitenzahl: 137
Veröffentlichungsjahr: 2017
Cover
Impressum
Die Frau, die zu viel wusste
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelfoto: Boada/Norma
eBook-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln
ISBN 978-3-7325-5870-4
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
www.bastei.de
Die Frau, die zu viel wusste
Die Steigung nahm kein Ende, der Zug fuhr immer langsamer. Blitze zuckten über den schwarzen Himmel, Donner hallte, Regen prasselte auf die Geröllhänge und klatschte gegen die Waggonfenster. Jane sank in ihre Polsterbank und seufzte behaglich. Von der trockenen Geborgenheit eines Luxuswaggons aus konnte man sogar ein Unwetter genießen. Selbst Jane, die sonst Angst vor Gewittern hatte, konnte das.
Bis ein Schatten am Zugfenster vorbei huschte. Jane fuhr hoch und presste die Stirn gegen das Glas. Das Rattern der Räder und das Schnaufen der Lok setzten sich für einen Moment gegen Donner und Platzregen durch. Der Zug kroch nur noch den Anstieg nach Cheyenne hinauf.
Da! Wieder ein Schatten! Blitze erleuchteten den Himmel – und einen Wimpernschlag lang sah Jane einen maskierten Reiter. Ein Schrei entfuhr ihr.
Die Männer am Spieltisch drehten sich nach ihr um. »Stimmt was nicht, Mrs. Turner?« Der bewaffnete Zugbegleiter zog die Brauen hoch.
Jane zeigte nach draußen. »Reiter …« Vor Schreck versagte ihr die Stimme.
»Bei dem Wetter?« Der Geschäftsmann aus Kansas City grinste.
»Einer war maskiert.« Jane flüsterte fast.
»Sind Sie ganz sicher, Ma’am?« Der dritte Mann, ein berufsmäßiger Spieler aus San Francisco, warf seine Karten weg und spannte den Hahn seines Revolvers.
Jane hockte kerzengerade auf der Kante der gepolsterten Sitzbank. »Ich bin ganz sicher.«
Der vierte Mann, ein Offizier der US-Army, stand vom Spieltisch auf, kam zu Jane ans Fenster und starrte in den Regen hinaus. »Fährt verflucht langsam, der Zug.«
Der Mann von der Central Pacific Railroad warf die Karten hin. »Ich warne die anderen«, sagte er und bückte sich nach seinem Gewehr, das neben ihm auf einem Sessel lag.
Er sprach von den anderen drei bewaffneten Zugbegleitern, die im Auftrag der Eisenbahngesellschaft die beiden Luxuswaggons bewachten. Die waren vor einer Stunde zum Abendessen in den vorderen der beiden Pullman-Waggons gegangen. Jane und die vier Männer am Spieltisch saßen im hinteren Pullman. Dem folgte am Zugende nur noch der Waggon für die Pferde und Maultiere.
Es gab zwei mögliche Gründe für gleich vier Mann Begleitschutz: Entweder fuhr ein hochrangiger Politiker in einem Pullman mit, oder der Zug transportierte Gold oder eine große Summe Geld. Das wusste Jane von Amry, ihrem Verlobten. Der verdiente seine Dollars ebenfalls als Begleitschutz bei einer Eisenbahngesellschaft.
Der Mann von der Central Pacific Railroad ging zur Tür, die hinaus zur Außenplattform führte. Von dort ertönten plötzlich metallene Schläge, dreimal kurz nacheinander. Jane hielt den Atem an und starrte ins Fenster. Ihr Spiegelbild blickte sie an, ein schmales Gesicht, umrahmt von rotblonden Locken.
Der Bewaffnete blieb vor der Tür zur Außenplattform stehen und hob sein Gewehr.
»Der Zug steht.« Der Offizier neben Jane griff zu seinem Revolver, und Jane starrte erschrocken aus dem Fenster. Der Mann hatte recht: Die wenigen vom Gewittersturm durchgeschüttelten Kiefern und der regennasse Geröllhang vor dem Waggonfenster bewegten sich nicht mehr. Aber nur für wenige Augenblicke – dann glitten sie wieder am Fenster vorüber. Allerdings in anderer Richtung als zuvor.
»Verflucht!« Der Offizier riss das Fenster hinunter und schaute hinaus, Regentropfen klatschten Jane ins Gesicht. »Unser Pullman hat sich selbstständig gemacht!«, schrie der Offizier. »Wir rollen die Steigung hinunter!«
Jane begriff erst, was er meinte, als das Schnaufen der Lokomotive sich langsam entfernte und Bäume und Hang immer schneller vorüberhuschten.
»Überfall!«, brüllte der Offizier. Draußen fiel ein Schuss und hallte von den Hängen wider – der Mann zuckte vom Fenster weg. Jane schlug die Hände vor den Mund. Der Offizier machte eine halbe Drehung und stürzte dann mit Brust und Gesicht voran auf Janes Schenkel.
Der Geschäftsmann warf sich unter den Spieltisch, der Mann von der Central Pacific Railroad riss die Tür zur Außenplattform auf, und der Spieler stürzte zu Jane und packte sie am Arm. »Kommen Sie, Ma’am! Schnell!«
Panik ergriff Jane und verwandelte ihren Herzschlag in wildes Getrommel, das ihr schier die Kehle zersprengte. Feuchte Wärme breitete sich über ihren Schenkeln aus, und als der Spieler den sterbenden Offizier von ihren Beinen zog, sah sie einen großen Blutfleck – erst auf ihrem Kleid, dann auf der Brust des Soldaten. Entsetzen würgte sie.
Der Spieler zerrte sie zu ihrem Abteil. Türen anderer Luxusabteile wurden aufgerissen, Männer und Frauen mit halb verschlafenen, halb erschrockenen Gesichtern beugten sich heraus. Aus dem Augenwinkel sah Jane einen Lichtblitz an der offenen Tür zur Außenplattform.
Mündungsfeuer!
Im nächsten Moment krachte wieder ein Schuss, eine Frau kreischte, und der Mann von der Central Pacific Railroad schrie auf und riss die Arme hoch.
Jane hörte erst sein Gewehr, dann ihn selbst auf dem Boden aufschlagen. Da hatte der Spieler sie schon in ihr Schlafabteil gestoßen. »Verriegeln Sie die Tür!«
Jane stürzte ans Fenster und hielt sich am Griff fest. Das grelle Licht eines Blitzes zuckte über Geröll und Kiefern. Die öde Berglandschaft flog nur so vorüber. Jane starrte hinaus und war wie gelähmt. Sie dachte an Amry, ihren Verlobten. So gefährlich war die Arbeit als bewaffneter Begleitschutz? Tödlich womöglich? Das hatte sie nicht geahnt.
Immer schneller rollte der Waggon bergab. Was, wenn die Zugräuber das Gleisbett mit Felsbrocken oder Baumstämmen blockiert hatten? Was, wenn Pullman und Viehwaggon entgleisten? Wenn sie in eine Schlucht stürzten? Wie draußen die Blitze über den Himmel, so zuckten ihr hundert Fragen durchs Hirn. Standen einige Banditen etwa schon draußen auf der Außenplattform?
Der Schusslärm riss nun nicht mehr ab. Jane warf sich auf den Boden und kroch unter ihr Bett. Sie griff nach oben, zerrte Decken und Kissen von der Matratze, bedeckte sich damit, so gut es ging.
Sie kniff die Augen zu und biss sich in die Faust. Der Schmerz dämpfte die Panik ein wenig. Sie dachte an den Tag im März zurück, als sie zuhause in Omaha den Brief jener Zeitung öffnete, einen Freudenschrei ausstieß und Freudensprünge vollführte – in einem Preisausschreiben hatte sie eine Zugfahrt nach San Francisco gewonnen. In einem Pullman.
Wieder kreischte eine Frau, ein Mann schrie wie unter großen Schmerzen. Eine Stimme brüllte einen Befehl. Der Schusslärm verstummte. Zwei Stimmen bellten Befehle. Erneut krachte ein Schuss – das Kreischen der Frau verstummte. Schritte näherten sich Janes Abteil.
Sie riss die Augen auf. Eine Eisklaue schloss sich um ihr Herz – in ihrer Panik hatte sie ihre Abteiltür nicht richtig verriegelt; die stand halb offen. Jesus Christus … Sie begann, stumm zu beten.
Sporenklirren und Schrittlärm tönten nun ganz nahe, und dann sah Jane die schmutzigen Spitzen eines Stiefelpaares auf der Schwelle ihres Abteils …
***
Der Missouri strömte auf einer Breite von dreihundert Metern dahin, sein Wasser war lehmig. Am Ufer zogen die ersten Gebäude von Kansas City vorbei, staubgraue, flache Holzhäuser und ein paar Ranchs und Farmen. Unter Deck stampften die Dampfmaschinen der Natchez.
Lassiter und der Mittelsmann der Brigade Sieben standen am Bug des Schaufelraddampfers und spähten flussaufwärts. Eine Fähre pflügte durch die Wogen dem Ostufer entgegen. Die Anlegestelle von Kansas City rückte näher.
»Eine harte Nuss, ich weiß schon, Mr. Lassiter«, sagte der Mittelsmann. »Doch nach allem, was man hört, sind Sie Spezialist für harte Nüsse.«
Der Mann hieß William Brandon und arbeitete als hochrangiger Agent der Eisenbahngesellschaft. Er war mittelgroß, hatte einen buschigen, grauen Schnauzer und trug einen schwarzen Frack und einen schwarzen Zylinder.
»Diesem Mörderpack muss um jeden Preis das Handwerk gelegt werden, und zwar schnell, sonst fährt bald kein Mensch mehr mit der Eisenbahn.« Brandon lüftete seinen Zylinder und grüßte nach links, wo der Lotse das Senkblei im Missouri versenkte.
»Von den drohenden Einbußen im Frachtgeschäft will ich gar nicht erst reden.« Brandon sprach mit gesenkter Stimme weiter. »Die wirtschaftliche Zukunft der Vereinigten Staaten hängt von der Eisenbahn ab, das weiß jeder, das wissen Sie auch. Wir müssen diesem Raubgesindel das Handwerk legen, es bleibt uns gar nichts anderes übrig.«
Er nahm seine Zigarre aus dem Mund und betrachtete die erloschene Spitze. »Außerdem warten die Gleisbauer auf ihr Geld. Wenn sie es wieder nicht pünktlich bekommen, laufen sie der Central Pacific Railroad von den Fahnen und die Eisenbahn fährt auch im nächsten Sommer noch nicht von New Orleans nach Los Angeles.«
Er sprach von der neuen Gleistrasse zwischen New Orleans und der Westküste. Die Southern Pacific Railroad, eine Tochtergesellschaft der Central Pacific Railroad, baute seit zwei Jahren an der südlichen Ost-West-Verbindung.
»Ich verstehe, Sir«, sagte Lassiter. »Jedenfalls das meiste, was Sie mir erzählt haben.« Von Überfällen auf die Eisenbahnlinie zwischen Sacramento und Kansas hatte Brandon berichtet. Mehr als zwanzig Tote und Unsummen von Beutegeldern gingen auf das Konto der Bande. »Nur eins verstehe ich nicht – wieso kümmert sich die Army nicht um die Banditen, wenn die Bahnstrecke der Regierung so wichtig ist?«
»Das tut sie, Mr. Lassiter«, sagte Brandon. »Oder besser: Das hat sie getan.« Der Mann im Frack riss ein Schwefelholz an und brachte seinen Stumpen wieder zum Glimmen. »Doch jedes Mal, wenn Soldaten mitfuhren, blieben die Überfälle aus. Die Bande arbeitet mit Informanten zusammen.«
»Innerhalb der Eisenbahngesellschaft?«, fragte Lassiter.
»Oder innerhalb der Army.« Brandon lüftete den Zylinder und grüßte einen Bekannten in der Menschenmenge an der Reling. »Wir wissen es nicht. Finden Sie es heraus.«
»Irgendwelche Anhaltspunkte, Spuren, Hinweise?« Lassiter beugte sich über die Reling. An den Anlegestellen warteten Dutzende von Menschen. Einige winkten. »Ich fische nicht gern im Trüben, sollte wenigstens wissen, wo ich ansetzen kann.«
»Das erfahren sie aus den Informationen, die ich Ihnen zusammengestellt habe.« Brandon zog ein dickes Kuvert aus der Innentasche seines Fracks und reichte es Lassiter. »Das Kuvert enthält neben den Spesen auch ein Zugticket.«
Überrascht zog Lassiter die Brauen hoch. »Wo fahre ich hin?« Er steckte das Kuvert ein.
»Nach Cheyenne. Ihr Zug geht in drei Stunden.«
»Damit rücken Sie jetzt erst raus?« Lassiter ärgerte sich – seit die Natchez in Saint Louis abgelegt hatte, kannten sie sich und hatten etliche Stunden am Pokertisch und an der Bordtheke verbracht. »Sie lieben es, die Leute zu überraschen, scheint mir.«
»Ich wollte, dass Sie ganz entspannt die Fahrt auf dem Missouri genießen können.«
»Nett von Ihnen.« Lassiter zog die Brauen hoch. »Und was erwartet mich in Cheyenne?«
»Ein Staatsrichter. Er heißt Anderson und ermittelte wegen der letzten beiden Überfälle.« Brandon zog an seiner Zigarre, eine Windböe zerriss die aufsteigenden Rauchschwaden. »Anderson hat übrigens den Ruf, der beste Schütze von Wyoming zu sein.«
»Was Sie nicht sagen.« Es gefiel Lassiter nicht, so kurz nach der Schiffsreise in den Zug umsteigen zu müssen. »Warum ermittelte dieser Meisterschütze ausgerechnet in Cheyenne?«
Der Mittelsmann sah sich um. Der Lotse stieg zum Ruderhaus hinauf. An die hundert Passagiere waren inzwischen aus dem Unterdeck und den Oberdecks nach draußen gekommen und standen backbords an der Reling. Brandon sprach mit gesenkter Stimme weiter. »Anderson hat Hinweise darauf, dass einige Banditen kurz vor den Überfällen in Cheyenne in den Zug gestiegen sind.«
»Die Kerle fahren ein Stück mit, bevor sie zuschlagen?«, staunte Lassiter.
»Nicht alle und nicht immer.« Brandon flüsterte beinahe. »Doch in mindestens einem Fall haben Banditen im Zug mit Banditen außerhalb des Zuges zusammengearbeitet.«
Der Schaufelraddampfer legte an. Die Passagiere gingen von Bord, Seite an Seite reihten auch Brandon und Lassiter sich in die Menschenschlange ein.
»Halten Sie mich auf dem Laufenden, Lassiter. Ich werde die nächsten Wochen hier in Kansas City zu tun haben. Wenn Sie Hilfe brauchen oder einen Rat oder Verstärkung – schicken Sie einfach ein Telegramm.«
»Werde ich tun, verlassen Sie sich drauf, Sir.« Hunderte von Menschen tummelten sich hier am Hafen von Kansas City. Sie winkten, riefen oder hielten nach Angehörigen Ausschau. Der Mann von der Brigade Sieben sah sich nach einer freien Kutsche um.
Sein Blick traf sich mit dem einer jungen Frau in einem hellblauen, eng geschnürten Kleid. Sie war etwa Mitte zwanzig und hatte schwarze Locken. Lassiter erwiderte ihr Lächeln.
»Ihr Zug fährt um drei Uhr.« Brandon klopfte ihm auf die Schulter. »Für ein Mittagessen wird’s noch reichen, schätze ich. Viel Glück!«
Lassiter zog seine Taschenuhr aus der Weste: Es war schon nach halb zwei. Kaum anderthalb Stunden Zeit blieben ihm noch. Als er wieder aufblickte, war Brandon bereits in der Menge verschwunden.
***
… die nassen und dreckigen Stiefel waren aus dunkelbraunem Alligatorleder. Auch der Mann, dem sie gehörten, war nass, denn um seine Stiefel herum tropfte Wasser auf den Waggonboden. Jane sah den nassen Saum seines schwarzen Saddlecoats. Dann machte der Mann einen Schritt – und stand in Janes Abteil und neben dem Bett, unter dem sie sich verkrochen hatte.
Jane hielt den Atem, biss sich fester in die Faust. Nur keinen Ton von sich geben! Sich bloß nicht rühren! Unter ihr ratterten die Waggonräder immer rasender, draußen grollte der Donner, irgendwo im Waggon betete jemand, und dann fiel wieder ein Schuss.
Der Mann ging in die Knie, bückte sich auf den Boden, schaute unter das Bett, streckte den Arm nach ihr aus. Sein Gesicht war mit braunem Sackstoff verhüllt, im Atemschlitz sah Jane weiße Zähne zwischen trockenen Lippen, in den Sehschlitzen das Weiß von zwei Augäpfeln. Jane fühlte sich, als würde der Blick des Maskierten sich wie Brandpfeile in ihre Stirn bohren.
Wieder fiel ein Schuss. Der Mann zog die Hand zurück, wandte den Kopf und blickte hinter sich. Als wollte er sich vergewissern, dass niemand ihn beobachtete. Dabei rutschte der Sackstoff seiner Maske ein Stück hoch. Jane sah seinen Hemdkragen und darüber, zwischen Schulteransatz und Nacken, ein dunkelbraunes Muttermal. Es war nicht größer als ein Daumennagel.
Der Mann wandte sich wieder um, schaute noch einmal zu ihr unters Abteilbett und stand dann auf. Ohne Eile verließ er Janes Schlafabteil. Seine silbernen Sporen klirrten; der linke Sporenstern war zur Hälfte abgebrochen. Der Mann griff hinter sich und zog die Abteiltür zu.
Jane war es, als würde auf einmal ein großes Loch in ihrer Brust gähnen. In ihrem Kopf rotierte ein Karussell aus Bildern und aufgewühlten Empfindungen. Er hat mich nicht gesehen. Ihre Lippen bewegten sich stumm. Jesus Christus, ich danke dir – er hat mich nicht gesehen.
Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Nur nicht schluchzen, nur nicht weinen! Hinter ihrem Tränenschleier sah sie, wie die Abteiltür wieder zur Seite glitt. Der Spieler lag zusammengekrümmt vor dem Spieltisch inmitten von Karten. Eine Blutlache bildete sich um seinen Kopf. Seine feuchten Augen blinzelten. Er lebte noch.
Im Nachbarabteil polterte und krachte es. Es hörte sich an, als würde jemand den Deckel einer Holzkiste zuschlagen. Stimmen murmelten, ein Mann lachte rau. Dann Schritte – die Beine zweier Männer erschienen in Janes Blickfeld – nasse Saddlecoats, nasse Hosen, nasse Stiefel. Sie trugen eine Truhe an ihrem Abteil vorüber und in Richtung der Außenplattform.
Ein dritter Mann ging vor dem angeschossenen Spieler in die Hocke. Seine Gelenke knackten. Ein schwarzes Tuch verhüllte seinen Kopf. Auch er trug einen Saddlecoat aus schwarzem Gummi, dazu schwarze Lederhandschuhe. Er durchsuchte die Jackentaschen des Verletzten, zog eine kleine Schatulle heraus und öffnete sie.
In diesem Moment griff der angeschossene Spieler danach – die Schatulle wurde in hohem Bogen aus der Hand des Banditen geschleudert. Ein goldener Ring mit ovalem, blauem Stein, zwei Ohrringe mit Perlengehängen und etliche kleine Steine prasselten im Umkreis von zwei Schritten auf den Boden. Eines der Perlengehänge kullerte bis in Janes Abteil, ja bis fast zu ihrem Bett.
Der Bandit fluchte, schlug nach dem Schwerverletzten und versuchte sich aus dessen Griff zu befreien. Doch der Spieler klammerte sich an ihn wie eine ins Wasser gestürzte Katze an Treibgut.
Die Männer rangen miteinander. Nicht lange, ein paar Sekunden vielleicht, und natürlich hatte der Angeschossene keine Chance gegen den Banditen.
Jane blinzelte zu den Perlen. Wenn der Bandit gleich seine Beute wieder in die geraubte Schatulle einsammeln würde – und Jane zweifelte nicht daran, dass er das tun würde –, dann würde sein Blick auf das Perlengehänge fallen. Und wenn er es holte, vielleicht auch auf sie.
Sie schickte ein stummes Stoßgebet zum Himmel. Dann wagte sie es, streckte die Hand aus und schnippte mit zwei Fingern nach dem Ohrring. Statt zurück in den Gemeinschaftsraum des Waggons, knallte er gegen die halb geöffnete Tür und blieb dort liegen.
Der Bandit zog seinen Revolver, setzte dem Schwerverletzten den Lauf auf die Brust und drückte ab. Jane war es, als würde eine Dynamitstange neben ihr explodieren. Sie zuckte zusammen und kniff die Augen zu. Ein Entsetzensschrei staute sich in ihrer Kehle. Es kostete sie alle Kraft, ihn zurückzuhalten. Tränen strömten ihr über die Wangen.