Lassiter 2402 - Jack Slade - E-Book

Lassiter 2402 E-Book

Jack Slade

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Beschreibung

Sammy Ghee war so niedergeschlagen, dass er am liebsten geheult hätte.
Vor ein paar Tagen hatte es in einem Haus im Capitol Hill eine Explosion gegeben. Sammy hatte auf der Straße Murmeln gespielt, als der Knall ihm fast die Trommelfelle zerriss. Er sah, wie brennende Gestalten aus dem Haus wankten - lebende Fackeln, die schreckliche Schreie ausstießen. Sie wälzten sich brüllend am Boden, doch es gelang ihnen nicht, ihre Kleidung zu löschen. Als die Männer von der Feuerwehr eintrafen, lagen die Menschen still und reglos da.
Man legte die Toten auf schmale Holzbahren und trug sie zu einem Wagen des Bestatters. Als die Leichenfuhre an Sammy vorbei rumpelte, war ihm der Gestank von verbranntem Fleisch in die Nase gestiegen ...

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EPUB

Seitenzahl: 132

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Inhalt

Cover

Impressum

Wer sich in Gefahr begibt

Vorschau

Karte Washington D.C.

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

© 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln

Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller

Verantwortlich für den Inhalt

Titelfoto: Boada/Norma

eBook-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln

ISBN 978-3-7325-6821-5

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

www.bastei.de

Wer sich in Gefahr begibt

Sammy Ghee war so niedergeschlagen, dass er am liebsten geheult hätte.

Vor ein paar Tagen hatte es in einem Haus im Capitol Hill eine Explosion gegeben. Sammy hatte auf der Straße Murmeln gespielt, als der Knall ihm fast die Trommelfelle zerriss. Er sah, wie brennende Gestalten aus dem Haus wankten – lebende Fackeln, die schreckliche Schreie ausstießen. Sie wälzten sich brüllend am Boden, doch es gelang ihnen nicht, ihre Kleidung zu löschen. Als die Männer von der Feuerwehr eintrafen, lagen die Menschen still und reglos da.

Man bettete die Toten auf schmale Holzbahren und trug sie zu einem Wagen des Bestatters. Als die Leichenfuhre an Sammy vorbei rumpelte, war ihm der Gestank von verbranntem Fleisch in die Nase gestiegen …

»Wer sich in Gefahr begibt, der kommt darin um, und ein starrköpfiger Mensch nimmt zuletzt ein schlimmes Ende.«

Jesus Sirach 3,27

Sammy saß mit seiner Schwester Phoebe auf der Treppe und wartete darauf, dass der Vater nach Hause kam. Phoebe war elf, drei Jahre älter als Sammy, aber er wusste, dass sie nicht seine richtige Schwester war.

Sammy Ghee war auch nicht sein richtiger Name.

Es war alles ziemlich kompliziert. Von Geburt her war er ein Sioux-Indianer vom Stamm der Minneconjou-Lakota. Bei einem Überfall der US Army in der Pine Ridge Reservation war seine Familie von Soldaten getötet worden. Warum, wusste Sammy nicht. Es war eben so: Wenn man eine rote Haut hatte, musste man damit rechnen, früher oder später getötet zu werden. Im Gesetz der Weißen stand das so geschrieben.

Zum Glück war er, Sammy, bei dem Gemetzel in seinem Dorf mit dem Leben davongekommen. Ein Offizier hatte ihn gerettet und mit zu seiner Familie nach Washington genommen. Heute nannte Sammy diesen Offizier »Dad«. Dad und auch seine neue Mom waren immer gut zu ihm gewesen. Genau wie seine neue Schwester Phoebe besaß er ein eigenes Bett und bekam jeden Tag satt zu essen.

Schöne Sachen zum Anziehen hatten seine Eltern ihm auch gekauft: Hosen mit blinkenden Nieten, feste Schuhe mit gerippter Sohle, Hemden aus Cotton mit kurzen und langen Ärmeln, und eine Jacke, die sich wie richtiges Leder anfühlte.

Sammy musste wieder an die Explosion auf dem Capitol Hill denken. Das Schreien der sterbenden Menschen klang in seinem inneren Ohr.

Er stieß einen tiefen Seufzer aus.

»Heulst du?«, fragte Phoebe.

»Dauernd muss ich an diese brennenden Männer denken«, antwortete Sammy. »Wie die gebrüllt haben.«

Phoebe sah zur anderen Straßenseite. »Ja, so grausam zu sterben ist schon schlimm. Aber es waren Fremde, Sammy, Leute, die du nicht gekannt hast.«

Er schüttelte sich. »Trotzdem tun sie mir wahnsinnig leid. Stell dir mal vor, Phoebe, du bist in einem Haus und plötzlich gibt es einen Knall und du stehst mitten im Feuer. Wie würdest du das finden?«

Darauf gab das Mädchen keine Antwort. Wahrscheinlich konnte sie sich so ein Unglück nicht vorstellen. Aber Sammy konnte es sich vorstellen. Damals, in South Dakota, als ganz kleiner Junge, hatte er solche Dinge selber miterlebt.

Sie saßen eine Weile still da, ließen die Beine baumeln und blickten die gepflasterte Straße entlang.

Das Haus, in dem sie wohnten, gehörte Mr. Kramer, einem reichen Geschäftsmann, der auch in Georgetown und Clarendon mehrere Mietshäuser besaß. Die Ghees wohnten in der dritten Etage. Wenn man auf das Sims in der Stube kletterte, konnte man durch das Fenster den Anacostia River sehen.

»Morgen ist das Straßenfest«, sagte Phoebe auf einmal. Sie nahm ihren geflochtenen Zopf in die Hand und zupfte ein langes Haar aus der Spange heraus. »Ich werde das blaue Kleid tragen, das mir Dad aus New York mitgebracht hat.«

Sammy interessierte sich nicht für Mädchenkleider. Trotzdem nickte er beifällig. »Ja, in dem Kleid siehst du richtig erwachsen aus. Die Jungs werden lange Hälse machen.«

Phoebe kicherte. Wenn es um Jungen ging, kicherte Phoebe meistens. Albern, fand Sammy. Aber sonst fand er seine Schwester ganz passabel.

Ein Mann bog um die Ecke und kam auf dem Bürgersteig auf sie zu. Sammy sah ihm entgegen. Je näher der Mann kam, desto größer wurde die Faust, die sich in Sammys Bauch ballte. Als der Fremde nur noch wenige Yards weg war, fuhr Sammy eine Gänsehaut über den Rücken.

Beim Nabel des Wovoka! Das war doch der Mann, den Sammy gleich nach der Explosion in der Congressional Library beobachtet hatte! Der Mann kam aus dem Torweg neben der Bibliothek geeilt, einen großen schlaffen Sack in der Hand, wie ihn Seeleute trugen, wenn sie von einer großen Reise heimkamen. Er flitzte die Straße entlang und tauchte in der nächsten Quergasse unter.

Sammy fand, dass sich der Mann damals sehr verdächtig benommen hatte. Dauernd blickte er sich gehetzt um, als fürchtete er, jemand könnte ihn beobachten.

Sammy hatte sich seine Gesichtszüge genau eingeprägt: langes Pferdegesicht, krumme Geiernase, ein buschiger Schnauzbart – so ähnlich, wie ihn sein neuer Dad trug –, dazu abstehende Ohren und tiefliegende Augen.

Jetzt schlenderte der Mann wie ein Spaziergänger an ihnen vorüber. Er hielt seinen Blick nach vorn gerichtet und beachtete die Kinder auf der Eingangsstufe des Hauses nicht.

Sammy kniff die Lippen zusammen. Ob dieser Mann mit der Explosion auf dem Capitol Hill etwas zu tun hatte? Ein Haus explodiert doch nicht einfach so. Bestimmt hatte jemand mit Sprengstoff nachgeholfen. Womöglich hatte der Mann das Dynamit in dem Sack versteckt, den er bei sich trug.

Im nächsten Augenblick war der Fremde in einer Straßenkrümmung verschwunden.

»Wo Daddy nur bleibt?« Phoebe stand auf. »Er hätte schon längst zu Hause sein müssen.«

»Vielleicht muss er Überstunden machen?« Sammy hatte einmal gehört, wie seine Eltern über das Thema gesprochen hatten. Überstunden dauerten manchmal bis in den späten Abend hinein.

Seit einiger Zeit arbeitete Dad nicht mehr als Offizier bei der Armee. Bei einem Gefecht mit Indianern war er am Bein verwundet worden. Er wurde ausgemustert, fand aber schnell eine neue Arbeit in einem Büro, wo er für eine Firma, dessen Namen Sammy immer wieder vergaß, Papierkram erledigte.

Sammy hatte ihn einmal in dem Bürogebäude besucht, aber das, was Dad da machte, hatte ihm nicht sonderlich gefallen. Den ganzen Tag an einem Schreibtisch verbringen – puh, wie langweilig!

Allein die Vorstellung daran, stundenlang auf einem Stuhl zu hocken, vor einem Berg beschriebener Papiere, bereitete Sammy Unbehagen.

Vermutlich lag es daran, dass in seinen Adern Indianerblut floss.

»Ich geh jetzt hoch«, sagte Phoebe. »Kommst du mit, Sammy?«

Er schüttelte den Kopf. »Nein, ich warte hier. Dad muss ja gleich kommen.«

Kaum war Phoebe nach oben gegangen, erblickte Sammy seinen Stiefvater. Er war ein großer, schlanker Mann mit dunklem, kurz geschnittenem Haar und auffallend blauen Augen. Seit seiner Verwundung lahmte er auf dem rechten Bein. Aber man sah den Gehfehler nur, wenn man ganz genau hinschaute.

Sammy sprang auf und rannte ihm entgegen. Dad fing ihn auf und schleuderte ihn einmal durch die Luft im Kreis herum. Als Dad ihn wieder auf die Beine stellte, fragte er nach Phoebe.

»Oben, bei Mom in der Wohnung«, sagte Sammy. Dann zupfte er den Vater am Ärmel. »Du, Dad, weißt du, wen ich heute gesehen habe?«

»Na?«

Sammy rollte mit den Augen und warf einen spähenden Blick in die Runde.

Niemand in Hörweite.

Im Flüsterton erzählte er Dad von dem Fremden, den er nach der Explosion in der Kongress-Bibliothek beobachtet hatte. In der Hoffnung, von Dad gelobt zu werden, blinzelte er keck in die Sonne.

Leider reagierte der Vater anders als erwartet. »Sammy«, mahnte er. »Schreib dir eines hinter die Ohren: Ich möchte von diesen Dingen nie wieder etwas hören, verstehst du? Am besten, du vergisst diesen Mann und alles, was du gesehen hast. Zu keinem ein Wort. Kann ich mich auf dich verlassen?«

Sammy war enttäuscht. »Aber warum, Dad? Was ist so schlimm daran?«

»Das verstehst du noch nicht«, erwiderte der Vater. »Ich erklärte es dir später, wenn du älter bist. Aber bis dahin, Klappe halten. Okay?«

Sammy gab klein bei. »Also gut, ich fange nie wieder davon an.« Auf Indianerart hob er seinen rechten Arm. »Beim Nabel des Wovoka. Hugh, ich habe gesprochen.«

Dad lächelte matt. »Lasst uns nach oben gehen. Ich brauche jetzt einen starken Arbuckles.«

»Und ich eine starke Limonade«, flachste Sammy.

Mit gemischten Gefühlen folgte er seinem Vater ins düstere Treppenhaus.

Ebbitt House, Washington, D. C.

Es war zehn nach sechs Uhr morgens, und dem Zimmermädchen Nancy Gillis klopfte das Herz bis zum Hals.

Sie blickte spähend den Korridor entlang, um sich zu vergewissern, dass niemand sie sah, dann schlüpfte sie in die Suite, in welcher das superreiche Ehepaar aus Baltimore logierte.

Mr. und Mrs. Blunstone waren schon in aller Herrgottsfrühe aufgestanden, um an einer Dampferfahrt auf dem Potomac River teilzunehmen. Von dem Törn würden sie erst in den späten Abendstunden zurückkehren.

Für Nancy bedeutete das: freie Bahn.

Die blonde Zwanzigjährige hatte eine Vorliebe für schöne Dinge. Deshalb hatte sie sich vorgenommen, die sündhaft kostspieligen Sachen von Mrs. Blunstone zu besichtigen. Und das ging nur, wenn die Blunstones außer Haus waren.

Natürlich wollte sie nichts stehlen und sich nur an dem Anblick der teuren Gegenstände erlaben, die in dem Apartment der Blunstones umherlagen.

Vorsichtig drückte Nancy hinter sich die Tür ins Schloss.

Zuerst inhalierte sie voller Genuss den exotischen Duft, der in den elegant möblierten Räumen schwebte.

Fantastisch!

Bestimmt bezog Madam ihr Parfüm geradewegs aus Paris. Ladys wie sie gaben sich doch nicht mit billigem Plunder ab.

Nancy schaute sich nach dem Flakon um. Sie fand das zierliche Fläschchen vor dem Spiegel auf der Marmorplatte der Frisiertoilette.

Sie nahm den Zerstäuber in die Hand und betrachtete ihn von allen Seiten.

Am liebsten hätte sie sich einen Hauch von dem Parfüm auf den Hals gesprüht. Aber der intensive Wohlgeruch hätte sie verraten. Seit wann dufteten popelige Chambermaids nach Parfüms aus Übersee? Der Chefportier des Ebbitt hätte sie fristlos entlassen.

Nancy begnügte sich damit, an der Düse zu schnuppern. Für Sekunden schwebte sie auf Wolke Sieben.

Mit einem Seufzer stellte sie den Flakon auf die Platte zurück.

Sie trat an den pompösen Schrank, öffnete die Tür und schaute nach den Kleidern darin. Ein rosaroter Traum aus feinster Organdy-Seide erregte ihr Interesse. Mit den Fingerspitzen berührte sie den fadenscheinigen Stoff.

Wie sähe ich wohl darin aus?, fragte sie sich.

Sekundenlang versank sie in den Anblick der filigranen Stickereien auf den Ärmeln des wundervollen Gewandes.

Dann, ganz unvermittelt, griff sie zu, bugsierte den Bügel mit dem Kleid aus dem Schrank, hielt es vor ihren Leib und stellte sich vor den mit Gold verschnörkelten Spiegel.

»Wow!« Ihr Spiegelbild faszinierte sie.

Ihr Herz schlug wie das einer Maus.

He, zier dich nicht!, ertönte eine Stimme, die aus ihrem Innern kam. Probier den Fummel an. Damit tust du doch keinem weh.

Nancy erschrak, aber nur einen Moment, dann streifte sie ihren Kittel ab – und schlüpfte in das rosafarbene Kleidungsstück.

Wohlgefällig beäugte sie sich. Sogleich fiel ihr der gut aussehende Mann ein, der im Apartment neben den Blunstones wohnte. Wie hieß er doch gleich?

Lassiter.

Sie drehte sich um die eigene Achse. Wenn Lassiter sie jetzt sehen könnte! Bestimmt würden ihm die Augen aus den Höhlen quellen.

Sie räusperte sich, dann sprach sie, an den Spiegel gewandt, mit tiefer Stimme: »Oh, Miss Nancy, wie wunderschön Sie aussehen. Wie eine Rose in einem Meer von Gänseblümchen. Gestatten Sie mir, dass ich Ihre Hand küsse.«

»Nun, ausnahmsweise.« Nancy hielt dem imaginären Mann die nach oben gekehrte rechte Hand hin.

Ein wohliger Schauder durchrieselte sie, als sie sich vorstellte, wie Lassiters gespitzte Lippen auf ihre Hand trafen.

Doch zwei Atemzüge später erstarrte sie, mitten in der Bewegung.

Alarmiert spitzte sie die Ohren. Ihre Augen richteten sich auf die Tür zum Zimmerflur. Narrte sie ein Spuk oder hatte sich der Knauf eben tatsächlich bewegt?

Nancy stockte der Atem. Wenn jetzt die Tür aufging, und der Chefportier sie in Mrs. Blunstones Kleid erwischte, waren alle Messen gesungen.

Ich muss hier weg!

Sie schoss wilde Blicke durchs Zimmer. Der Schrank, das war die Rettung. Er war groß genug, dass man sich darin verstecken konnte.

Ohne Zeit zu verlieren, raffte Nancy ihren Kittel von dem zierlichen Chippendale-Stuhl, kletterte über die kniehohe Brüstung und duckte sich zwischen die aufgehängten Blusen, Röcke und Kleider.

Leise zog sie die Tür hinter sich zu.

Ihre Nerven waren bis zum Zerreißen gespannt.

Es dauerte nur wenige Sekunden, und sie hörte im Zimmer Schritte tappen. Stumm betete Nancy ein Vaterunser und als Zugabe noch einen Rosenkranz hinterher.

Etwas aus Metall klirrte.

Das Goldcollier von Mrs. Blunstone, das neben dem Parfüm auf der Frisiertoilette lag?

Nancy hielt den Atem an. Ein jäher Verdacht durchzuckte sie. Wer schnökerte denn da zwischen den Sachen der Blunstones herum? Es hatte den Anschein, als wäre ein Dieb in das Apartment eingedrungen.

Ein Hoteldieb!

Gütiger Gott! Sie schlug sich eine Hand vor den Mund. Während sie hier im Schrank saß, raubte der Eindringling womöglich Mrs. Blunstones Wertsachen, die zuhauf im Apartment verstreut lagen.

Jenseits der Schranktür erklang ein leises, heiseres Lachen.

Nancy bekreuzigte sich. Was für eine verrückte Situation, schoss es ihr durch den Kopf. Da saß sie, als Angestellte des Ebbitt House hilflos in einem Schrank, angetan mit dem Kleid einer superreichen Lady aus Baltimore, und konnte sich nicht von der Stelle rühren, weil sie im Falle der Entdeckung ihre Arbeitsstelle riskierte.

Nancys kleine Hände schlossen sich zu Fäusten. Oh, wie sie ihre Neugier verfluchte. Hätte sie doch bloß dem Drang widerstanden, heimlich in das Apartment zu gehen.

Jetzt war es zu spät. Sie saß in der Klemme.

Mit Mühe unterdrückte sie einen Seufzer.

Aber womöglich hatte der Hoteldieb doch etwas gehört. Auf einmal war es still wie in einem Beinhaus.

Nancy wagte nicht zu atmen.

Die Zeit tröpfelte zähflüssig dahin.

Und dann, ganz unvermittelt, wurde die Schranktür aufgerissen!

Das Mädchen starrte in das glatt rasierte Gesicht eines auffallend blassen Mannes. In seiner rechten Hand hielt er Mr. Blunstones Goldkette.

Nancy schrie.

»Willst du wohl das Maul halten!« Der Mann schlug zu, und Nancy sah Sterne vor ihren Augen tanzen.

Sie sackte zusammen wie ein Ballon, dem der Stöpsel aus dem Ventil gezogen wurde. Ihr Schädel brummte wie nach einer durchzechten Nacht in einer Spelunke.

Mit halbem Ohr hörte sie den Einbrecher Flüche murmeln.

Ihr Blick klarte sich etwas auf – ein Messer blitzte in seiner Hand.

»Bitte, tun Sie mir nichts!«, flehte Nancy, die um ihr Leben fürchtete.

Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass ein Hotelangestellter verletzt oder getötet wurde, nur weil er einen Dieb auf frischer Tat ertappte. Die Zimmerfrauen, die schon länger im Ebbitt ihren Dienst versahen, erzählten bisweilen Gruselstorys, bei denen sich einem die Haare sträubten.

Der blasse Mann lachte gemein. Er packte das Mädchen am Hals, drückte zu und schwenkte das Messer.

Nancy hatte das Gefühl, als wäre ihr letztes Stündlein gekommen. Jeden Moment konnte der tödliche Stich in ihr Herz erfolgen. Sie hoffte inständig, dass sie sich nicht so lange quälen musste, bis der Sensenmann sie barmherzig in seine Arme nahm.

Doch es kam anders.

Vom Schrei der Frau alarmiert, stürzte Lassiter in die Suite der Blunstones.

Mit einem Blick erfasste er die Situation. Ein Mann mit einem Messer bedrohte ein Mädchen, das ein wunderschönes roséfarbenes Kleid trug. Das Girl kauerte zwischen der aufgehängten Garderobe im Schrank. Auf ihrer einen Schläfe war ein großer Bluterguss zu sehen.

Lassiter sah rot. Die Angst in den Augen des Mädchens war ihm Ansporn genug.

Er hechtete über einen Stuhl. Mit einer Hand erwischte er den Jackenärmel seines Gegners.

Der Mann verlor die Balance und tänzelte zur Seite. Die Hand mit dem Messer zuckte in Lassiters Richtung. Mit einer blitzschnellen Körperfinte wich er dem Stoß aus.

Das Messer glitt unter seiner Achsel hindurch.