Lassiter 2414 - Jack Slade - E-Book

Lassiter 2414 E-Book

Jack Slade

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Beschreibung

Der Mann, der Ben Boulder hieß, saß auf der Pritsche in der weiß gekalkten Gefängniszelle von Smallwood und blickte starr auf seine Fußspitzen. Draußen vor dem Haus erklangen laute Geräusche. Die Handlanger des Marshals waren damit beschäftigt, den Galgen zu errichten. Es wurde gehämmert, gesägt und genagelt. Hin und wieder drang ein kräftiger Fluch an Boulders Ohren.

Das Herz des zum Tode Verurteilten wummerte. Die Uhr seines Lebens lief ab. Nur noch wenige Stunden und der Henker würde ihm den Strick um den Hals legen. Dann käme die schwarze Kapuze an die Reihe, die ihm über den Kopf gestülpt würde. Die letzten quälenden Sekunden des Wartens begannen. Und wenn sein ganzes Leben im Schnelldurchgang an ihm vorbeizog, würden eine Menge schreckliche Szenen darin zu sehen sein.
Ben Boulder schlug die Hände vors Gesicht und stöhnte schwer.

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EPUB

Seitenzahl: 135

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Inhalt

Cover

Impressum

Zu hoch gepokert, Lassiter!

Vorschau

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

© 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln

Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller

Verantwortlich für den Inhalt

Titelfoto: Boada/Norma

eBook-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln

ISBN 978-3-7325-7126-0

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

www.bastei.de

Zu hoch gepokert, Lassiter!

Der Mann, der Ben Boulder hieß, saß auf der Pritsche in der weiß gekalkten Gefängniszelle von Smallwood und blickte starr auf seine Fußspitzen. Draußen vor dem Haus erklangen laute Geräusche. Die Handlanger des Marshals waren damit beschäftigt, den Galgen zu errichten. Es wurde gehämmert, gesägt und genagelt. Hin und wieder drang ein kräftiger Fluch an Boulders Ohren.

Das Herz des zum Tode Verurteilten wummerte. Die Uhr seines Lebens lief ab. Nur noch wenige Stunden und der Henker würde ihm den Strick um den Hals legen. Dann käme die schwarze Kapuze an die Reihe, die ihm über den Kopf gestülpt würde. Die letzten quälenden Sekunden des Wartens begannen. Und wenn sein ganzes Leben im Schnelldurchgang an ihm vorbeizog, würden eine Menge schreckliche Szenen darin zu sehen sein.

Ben Boulder schlug die Hände vors Gesicht und stöhnte schwer.

Lassiter zügelte sein Pferd und brachte es am halbfertigen Galgengerüst vor dem Marshal’s Office zum Stehen. Er saß ab und klopfte sich den Staub aus der Jacke. Nach einem flüchtigen Blick auf die im Bau befindliche Holzkonstruktion wandte er sich dem Eingang des Hauses zu. Die Tür stand offen, und die Stimme des Sternträgers war zu hören.

»Das Honorar für eine Hinrichtung beträgt achtzig Dollar«, sagte Marshal Bretton.

»Das ist ein Witz«, antwortete ein anderer Mann, »ich bin ein Spezialist, kein Stümper. In Kansas City und Topeka bekomme ich hundert, und in Colorado, Wyoming und dem Indianerterritorium sogar noch zwei Scheine mehr.«

»Das mag sein. Aber in Smallwood gibt’s nur achtzig«, gab der Marshal zurück. »Beschweren Sie sich beim Gouverneur. Ich habe die Vorschriften nicht gemacht.«

»Achtzig Dollar sind eine Beleidigung«, knurrte der Henker.

Lassiter trat in das Büro.

Der Marshal stand mit einem kleinen, blassen Mann vor dem Gewehrständer. Beide sahen ihn an, als er sich zu ihnen stellte.

»Das ist Mr. Lassiter, der Mann, der Boulder geschnappt hat«, sagte Bretton zu dem anderen. »Und das hier ist Mr. Faust, der Scharfrichter.«

Die Vorgestellten nickten sich flüchtig zu.

Ben Boulder war ein Auftragsmörder. Er hatte mindestens zwei Morde auf seinem Kerbholz. In Smallwood hatte er eine Tänzerin des Girls Ballet heimtückisch in ihrem Wohnwagen erdrosselt. Vorher hatte er im benachbarten Mayfield eine Dirne namens Clara Martin ins Herz erschossen. Der Mord in Mayfield brachte die Brigade Sieben ins Spiel und die Sache ins Rollen. Die Prostituierte war die heimliche Geliebte eines reichen Industriemagnaten gewesen. Als ihm zu Ohren kam, dass seine Gespielin einem heimtückischen Anschlag zum Opfer gefallen war, hatte er alle Register gezogen, um den Täter ergreifen zu lassen. Doch die örtlichen Gesetzeshüter konnten den Killer nicht finden. Die Angelegenheit landete auf dem Schreibtisch der Zentrale der Brigade Sieben in Washington. Ein Fall für Lassiter, der sich sofort auf die Suche machte. Er hatte den Mörder unweit des Little Railroad Inns in den Smoky Hills zur Strecke gebracht.

Doch der Drahtzieher der Tötungsverbrechen blieb unerkannt.

Das wurmte Lassiter. Sein Selbstwertgefühl war angekratzt. Er wollte dem niederträchtigen Auftraggeber an den Kragen. Deshalb wollte er noch einmal mit dem Mörder sprechen. Im Angesicht des Todes würde dieser vielleicht Reue zeigen und seinen Auftraggeber bloßstellen.

Der Marshal sah Lassiter mit hochgezogenen Brauen fragend an.

»Ich bin gekommen, um mit Boulder zu reden«, sagte Lassiter zu ihm. »Bitte erteilen Sie mir die Erlaubnis, Bretton.«

Der Mann des Gesetzes hob eine Achsel, dann zog er ein Gesicht, als hätte er Zahnweh. »Vergebliche Liebesmüh, mein Freund. Unser Nesthäkchen in der Todeszelle gefällt sich in der Rolle des Taubstummen.«

»Trotzdem, wenigstens versuchen muss ich es.«

»Wie Sie wollen.« Bretton seufzte. »Aber die letzten zwei Tage hat er kaum drei Worte gesprochen. Sieht so aus, als nähme er sein Geheimnis mit ins Grab.« Mit diesen Worten nahm der Sternträger den großen Schlüsselbund vom Wandbrett. Er bedeutete Lassiter, ihm zu folgen.

Die beiden Männer traten an die Verbindungstür, die das Marshalbüro vom Gefängnistrakt trennte. Bretton schloss auf und öffnete die Tür.

Der Geruch von kaltem Rauch, verschüttetem Kaffee und menschlichen Ausdünstungen strömte ihnen entgegen. Lassiter rümpfte die Nase. In dem Raum befanden sich drei gleich große Gitterzellen. Die beiden vorderen waren leer, die Türen standen offen. Boulder saß in der hinteren, direkt an der Außenwand des Gebäudes. Er lag rücklings auf der Pritsche und starrte auf das vergitterte Loch in der Mauer. Von den Neuankömmlingen nahm er keine Notiz.

»Lassen Sie mich allein«, sagte Lassiter zu dem Marshal.

»Gehen Sie nicht zu dicht ans Gitter«, warnte Bretton. »Zum Tode Verurteilte neigen mitunter zu unvorhersehbaren Reaktionen.«

»Ich sehe mich vor.«

Bretton sagte ruhig, aber bestimmt: »Benimm dich anständig, Boulder, sonst kriegst du mächtig Ärger.«

Der Gefangene tat, als hätte er nichts gehört. Bretton begab sich zum Henker in das Amtszimmer zurück.

Lassiter trat an die Tür von Boulders Zelle. Der Todeskandidat tat, als sei er Luft. Die vergitterte Wandöffnung schien das Einzige zu sein, was ihn auf dieser Welt interessierte.

»Möchten Sie rauchen?« Lassiter kramte nach den Zigaretten, die er als Mitbringsel für Boulder besorgt hatte. »Ich selbst qualme nicht, aber wenn Sie wollen, können Sie die ganze Packung haben.«

Keine Reaktion, doch nach einer Weile wandte Boulder den Kopf.

»Hier«, Lassiter steckte die Schachtel durch die senkrechten Eisenstangen. »Zündhölzer können Sie auch haben, wenn Sie wollen.«

Boulder machte die Augen schmal. »Mit Speck fängt man Mäuse, oder wie?« Seine Stimme klang rau, als hätte er einen entzündeten Hals.

»Keine Mäuse, Boulder«, erwiderte Lassiter. »Sie wissen genau, weshalb ich Ihnen einen Besuch abstatte.«

Der andere setzte sich auf. »Okay, werfen Sie die Lunten her, die Hölzer auch.«

Beides flog durch die Luft und landete in Boulders zupackender rechter Faust. Er steckte sich einen Glimmstängel an und nahm einen tiefen Lungenzug. Der Rauch stieg an die Decke und bildete unter dem bröckligen Putz eine bläuliche Wolke.

»Reinigen Sie Ihr Gewissen, bevor es zu spät ist«, sagte Lassiter. »Wer war der Mann, der Sie beauftragt hat, die Mädchen umzubringen.«

Boulder paffte einen Zug nach dem anderen. »Ich hab es schon hundert Mal gesagt: bei den Verhören, vor Gericht und wer weiß wo. Und ich sage es gern noch einmal: Ich hab keinen Schimmer, wer der Kerl gewesen ist. Es war, als wäre er vom Himmel gefallen.«

»Wie ein Engel hat er sich aber nicht aufgeführt«, meinte Lassiter.

Der Mörder rauchte und schwieg.

»Beschreiben Sie ihn«, sagte Lassiter.

Boulder sah dem aufsteigenden Rauch seiner Zigarette nach.

»Hatte er irgendwelche Besonderheiten?«, half Lassiter. »Einen Akzent, ein besonderes Merkmal am Körper oder an seiner Kleidung?«

Boulder saß da und rauchte. Für ihn schien das Gespräch beendet.

Doch Lassiters Ungeduld wuchs. Er spürte, dass er nicht weiterkam. Der Mann jenseits des Gitters hatte mit seinem Leben abgeschlossen. Nebenan, im Marshal’s Office, besprach man bereits die Einzelheiten für seine Hinrichtung. Vor dem Haus werkelten die Handwerker am Galgen.

Warum sollte er sich jemandem gefällig zeigen? Sein Schicksal war beschlossene Sache.

Ich muss ihm etwas bieten, sagte sich Lassiter. Etwas, das er gern haben würde. Bestimmt würde er sich dann an dies und jenes erinnern. Aber womit, zum Geier, sollte man einen zum Tode Verurteilten hinter dem Ofen hervorlocken? Ihm ins Gewissen reden, brachte nichts. Es musste schon etwas Handfestes sein.

Plötzlich schoss dem Mann von der Brigade Sieben ein Gedanke durch den Kopf. Angestrengt überlegte er. Er könnte Boulder aus dem Loch hier herausholen, ihn einstweilen vor dem Zugriff des Henkers bewahren. Als Gegenleistung würde Boulder ihm alles verraten, was er über die Hintermänner der Mädchenmorde wusste. Vielleicht reichten die Angaben, um den Drahtziehern auf die Schliche zu kommen.

Einen Moment später verwarf er diesen Einfall, aber dann fand er ihn wieder sehr beachtlich.

All devils! Lassiter war hin- und hergerissen. Er dachte an die Konsequenzen. Was er da vorhatte, war ein Alleingang gegen das Gesetz. Wenn die Aktion scheiterte, würde er auf keinen Beistand von der Zentrale zählen können. Er würde womöglich im Zuchthaus landen und lange Zeit brummen müssen.

Die Aussicht auf eine langjährige Haft bereitete ihm Unbehagen. Rasch lenkte er seine Gedanken in eine andere Richtung.

Er richtete seinen Blick auf den Gefangenen. Mit angehaltenem Atem beobachtete Lassiter ihn. Boulder steckte sich an der glühenden Kippe eine neue Zigarette an.

»Ich habe eine Idee«, sagte Lassiter.

Der Verurteilte blies einen Rauchring und verfolgte dessen langsamen Aufstieg.

»Hören Sie zu«, raunte Lassiter. »Wir beide machen einen Deal.«

Boulder rauchte und schwieg.

Lassiter blieb am Drücker. Er trat näher an die Gitterstangen, umfasste zwei und dämpfte seine Stimme. »Möchten Sie nicht hören, was ich Ihnen vorzuschlagen habe?«

Keine Reaktion.

»Ich könnte Sie heute Nacht hier rausholen und an einen Ort bringen, wo Sie sicher sind.« Lassiter machte eine Pause. Er sah, dass seine Worte Wirkung hinterließen. Boulders Hand, die die Zigarette hielt, hatte kurz gezuckt. Doch gleich darauf gab sich der Killer wieder teilnahmslos, als ginge ihn die Sache nichts an. »Na, ist das ein Angebot?«, setzte Lassiter hinzu.

Eine Zeitlang sprach niemand ein Wort.

Aus dem Nebenraum erklangen die dumpfen Stimmen von Faust und Bretton. Vermutlich feilschten sie noch immer über das Honorar des Henkers.

Boulder wandte den Kopf. »Mich hier herausholen? Das wird kein Spaziergang. Pah – wie zum Teufel wollen Sie das anstellen?«

»Das lassen Sie nur meine Sorge sein.« Lassiter straffte seine Gestalt. »Aber eines vorweg: Mit dieser Aktion gerate ich selbst in Schwierigkeiten. Ich könnte in Teufels Küche kommen, wenn etwas schief läuft. Deshalb muss ich mich versichern. Sind Sie bereit, mit mir zusammenzuarbeiten?«

»Mit Ihnen zusammenarbeiten?«

»Wir beide bilden ein Team, eine Hand wäscht die andere. Beide hätten wir einen Vorteil. Sie bekommen Ihre Freiheit, ich die Geldgeber für die Mädchenmorde.«

Boulder paffte aufgeregt. Der Raum füllte sich mit Rauch. Boulders aufgesetzte Gleichgültigkeit war wie weggewischt. »Tod und Teufel«, keuchte er dann. »Sie gehen ganz schön ran, Mister.«

»Ich will die Hintermänner«, bekräftigte Lassiter. »Und Sie können doch nur gewinnen, Boulder.«

Der Mörder erhob sich von seinem Lager. Er streckte seine steif gewordenen Beine. In seinem Gesicht arbeiteten die Kaumuskeln. »Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr gefällt mir Ihr Vorschlag«, sagte er mit bebender Stimme. »Ich bin bereit, mit Ihnen gemeinsame Sache zu machen. Um die Typen, die uns alles eingebrockt haben, ist es nicht schade. Vielleicht planen die Aasgeier gerade einen neuen Mord. Sollen Sie in der Hölle schmoren. Mir hat das Geschäft mit ihnen kein Glück gebracht. Wie dem auch sei, ich bin dabei, Lassiter.«

»Das wollte ich hören«, meinte der Mann von der Brigade Sieben.

Die nächsten zehn Minuten verbrachten die beiden Verschwörer damit, die Einzelheiten für Boulders Ausbruch zu erörtern.

Als Lassiter ging, wühlte ihm eine Faust aus Eisen im Leib. Doch er rang die Anwandlung nieder. Für Zweifel und Bedenken war jetzt keine Zeit.

Er klopfte an die Zwischentür. »Machen Sie auf, Marshal, ich will gehen.«

Der Mann, der die Nachtstunden im Marshal’s Office Wache schob, hieß Jack Merritt.

Er saß bei Kerzenlicht am Schreibtisch und las in einer alten Ausgabe der Kansas Review, als es unvermittelt an die Tür klopfte.

Merritt, der erst letzte Woche vom City Marshal zum Deputy vereidigt worden war, fuhr zusammen. Es war lange nach Mitternacht. Der Lärm auf der Mainstreet war längst verebbt. Die Bewohner der Stadt hatten sich zur Ruhe begeben. Morgen früh fand die Exekution von Ben Boulder, dem berüchtigten Mädchenmörder, statt. Merritt hatte vom Marshal den Auftrag erhalten, dem Verurteilten nicht von der Seite zu weichen. Jede halbe Stunde sah der Deputy nach ihm. Bisher hatte es keine besonderen Vorkommnisse gegeben. Boulder lag auf seiner Pritsche und glotzte an die Decke.

Es klopfte erneut.

Der Deputy, ein junger Schwarzschopf mit Schnurrbart, stand auf, rückte seinen Revolvergürtel zurecht und warf einen Blick zum Fenster. Draußen auf der Veranda war niemand zu entdecken.

Er trat an die Tür. »Wer ist da?«

»Ich bin’s, Henriette Shaw.« Die Stimme einer jungen Frau.

»Henriette Shaw?« Merritt dachte nach. Der Name war ihm nicht geläufig. »Was wollen Sie, Ma’am?«

»Jemand ist in mein Zimmer eingebrochen«, sagte sie weinerlich. »Ich wohne in der Park Street, gleich neben dem Corral von Dick Wanamaker. Als ich nach Hause kam, herrschte Sodom und Gomorrha. All meine Sachen wurden durcheinander geworfen, und die Schatulle mit dem Schmuck ist spurlos verschwunden.«

»Das tut mir leid, Ma’am.« Der Deputy legte den Kopf schief. »Aber im Moment können wir nichts machen. Kommen Sie morgen Vormittag, nach der Hinrichtung. Dann sind wir für Sie da.«

»Das ist zu spät!«, rief sie aus. »Ich glaube, der Bandit, der das getan hat, ist hinter mir her.«

Merritt rieb nachdenklich sein Kinn. Er war ein gutmütiger Bursche, der lange Zeit in einem Kinderheim in Kansas City gelebt hatte. Dort hatte er gelernt, dass man füreinander da sein sollte, wenn es einem Kameraden schlecht ging.

»Ich darf Sie nicht hereinlassen, Ma’am«, sagte er. »In der Nacht vor einer Hinrichtung ist Unbefugten der Zutritt ins Office untersagt.«

»Aber ich habe solche Angst«, kam es zurück. »Bitte schicken Sie mich nicht fort, Marshal.«

»Ich bin nicht der Marshal, sondern Jack Merritt, sein Gehilfe«, verbesserte er sie.

»Mr. Jack, ich flehe Sie an.« Ihre Stimme zitterte vor Furcht. »Lassen Sie mich nicht allein. Ich habe Angst, nach Hause zu gehen.«

Ein Mädchen in Not, dachte der junge Mann. Hol mich der Teufel, das kann ich nicht zulassen. Mit diesem Gedanken entriegelte er die Vordertür.

Im matten Schein der Außenlampe erkannte er ein schmales Mädchengesicht, das er schon häufig in der Stadt gesehen hatte. Zu dem Gesicht gehörte ein schlanker, wohl geformter Körper, der in einem kurzärmeligen Kleid mit herzförmigem Busenschaufenster gehüllt war.

»Kommen Sie herein, Miss Henriette«, sagte er und gab den Weg frei.

Das Mädchen raffte die Röcke und huschte über die Schwelle. »Sie sind so lieb, Mr. Jack«, sprudelte es aus ihr heraus. »Sagen Sie doch bitte Henny zu mir. All meine Bekannten tun das.

»In Ordnung, Miss Henny.«

»Ohne Sie wäre ich vor Angst bestimmt schon gestorben«, meinte sie.

»Ach was, so leicht stirbt man nicht«, gab Merritt zurück.

Er schaute seine Besucherin genauer an. Ihm fiel auf, dass die kleine Blondine auffällig geschminkt war. Mit dem Rouge auf den Wangen, dem silbrigen Lidschatten und den rot angemalten Lippen sah sie den leichten Mädchen aus dem Amüsierbezirk zum Verwechseln ähnlich. Henny Shaw wirkte, als hätte sie sich zu einem Stelldichein mit ihrem Bräutigam verabredet.

Sie stellte sich vor das Fenster und lugte durch die Scheibe auf die Straße. »Da, sehen Sie nur, dort drüben vor King’s Liquor Shop. Das ist doch ein Schatten, oder?«

Merritt trat neben sie. »Ja, da ist ein Schatten«, entgegnete er. »Aber nicht von einem Menschen, sondern von dem Vordach der Veranda.«

»Sind Sie sicher?« Sie trat von einem Fuß auf den anderen. »Haben Sie auch richtig hingesehen.«

Die Anwesenheit der hübschen Evastochter ließ das Herz des jungen Deputies ein paar Takte schneller schlagen. Er konnte sich gar nicht erinnern, wann er zum letzten Mal mit einem Mädchen allein in einem Raum gewesen war. Seit jeher war er ein schüchterner Geselle, der nur selten in den Saloon oder zum Tanz ging. Bei den leicht bekleideten Mädchen im Vergnügungsviertel war er noch nie gewesen. Dafür war ihm das Geld zu schade. Er glaubte an die große Liebe, so wie sie in den Romanen beschrieben wurde, die er gelegentlich vor dem Schlafengehen las. Aber bisher war ihm die noch nicht über den Weg gelaufen.

Miss Henny drehte sich um. »Sie sind mir doch nicht böse, dass ich Sie so überfallen habe, oder?«

»Nein, überhaupt nicht.« Er schüttelte den Kopf. »Eigentlich darf ich keinen reinlassen. Aber das mit Ihnen ist ja ein Notfall, finde ich.«

»O ja, das finde ich auch.« Sie bedachte ihn mit einem strahlenden Lächeln.

Was für ein hübsches Ding! Merritt bekam eine Gänsehaut. Er überlegte, was er sagen sollte. Nach kurzem Zaudern entschied er sich für ein Kompliment. »Das Kleid, das Sie anhaben, Miss Henny, es steht Ihnen ganz fantastisch.«

Sie blickte an sich hinunter. »Wirklich? Meinen Sie nicht, dass mein Ausschnitt ein bisschen zu gewagt ist?«