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Die Planwagen hatten einen Kreis gebildet, bevor die Pferde abgespannt und zusammengetrieben worden waren in einen Corral aus Stricken. Die Dämmerung senkte sich über die endlose Weite der Ebene, und es wurde rasch kühler. Bartholomew Cromwell warf einen kurzen Blick hinter die Lehne des Kutschbocks. Die Kinder schienen fest zu schlafen.
"Musst du dich denn unbedingt für die Wache aufdrängen, Bart?", fragte seine Frau mit sorgenvoller Miene. "Ich habe gehört, hier treiben sich Indianer herum, und sie sollen sich auf dem Kriegspfad befinden."
"Ich dränge mich nicht auf, sondern bin an der Reihe, Barbara", antwortete er und sprang vom Kutschbock. Lächelnd winkte er ihr zu, bevor er in Richtung Lagerfeuer marschierte. Es waren die letzten Worte, die das junge Ehepaar miteinander wechselte.
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Seitenzahl: 151
Veröffentlichungsjahr: 2019
Cover
Impressum
Der blonde Schoschone
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2019 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelfoto: Boada/Norma
Datenkonvertierung eBook: César Satz & Grafik GmbH, Köln
ISBN 978-3-7325-8088-0
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
www.bastei.de
Der blonde Schoschone
Die Planwagen hatten einen Kreis gebildet, bevor die Pferde abgespannt und zusammengetrieben worden waren in einen Corral aus Stricken. Die Dämmerung senkte sich über die endlose Weite der Ebene, und es wurde rasch kühler. Bartholomew Cromwell warf einen kurzen Blick hinter die Lehne des Kutschbocks. Die Kinder schienen fest zu schlafen.
»Musst du dich denn unbedingt für die Wache aufdrängen, Bart?«, fragte seine Frau mit sorgenvoller Miene. »Ich habe gehört, hier treiben sich Indianer herum, und sie sollen sich auf dem Kriegspfad befinden.«
»Ich dränge mich nicht auf, sondern bin an der Reihe, Barbara«, antwortete er und sprang vom Kutschbock. Lächelnd winkte er ihr zu, bevor er in Richtung Lagerfeuer marschierte. Es waren die letzten Worte, die das junge Ehepaar miteinander wechselte.
Ein paar Frauen räumten die Reste des frühen Abendessens ab und warfen ihm argwöhnische Blicke zu, als er sich der Gruppe von Männern näherte, die rauchend um das Feuer saßen. Einige ließen eine Flasche Whiskey kreisen.
Nicholas Diggins, der Anführer des Trecks, schaute auf und tippte sich an die Krempe seines verbeulten Hutes.
»Mr. Cromwell«, brummte er und zeigte auf eine Kiste zum Zeichen, dass Bart sich setzen solle. Bart nahm Platz und winkte ab, als sein Nebenmann ihm die Whiskeyflasche entgegenhielt.
»Nein, danke, Sir.«
Die Augen des Bärtigen verengten sich. »Warum, bist du dir zu fein dafür? Oder hast du Angst, du fängst dir was ein?«
Als der Mann grinste, entblößte er ein verrottetes Gebiss und lieferte Bart damit triftige Argumente, die Frage zu bejahen. Stattdessen schüttelte er nur den Kopf.
»Lass ihn in Ruhe, Jack«, mahnte Diggins seinen Mann zur Ordnung. »Wenn er deinen Fusel nicht will, bleibt mehr für dich, oder? Also mach keinen Ärger.«
Jack McCoy brummte etwas Unverständliches in seinen ungepflegten Bart und nickte den anderen zu, die feixend mit den Achseln zuckten.
»Ich will mich zur Nachtwache melden, Mr. Diggins. Schätze, ich bin an der Reihe.«
Diggins sog an seiner Pfeife und starrte ihn einen Moment lang an, bevor er den Kopf schüttelte.
»Nicht nötig, Cromwell. Ihr habt einen guten Preis bezahlt, und der schließt ein, dass ich und meine Männer für eure Sicherheit sorgen.«
Bart warf einen Blick zu einer Siedlerfamilie hinüber, deren Männer gerade vor ihrem Planwagen standen und ihre Waffen überprüften. »Aber die anderen beteiligen sich doch auch am Wachdienst«, wandte er ein. »Ich wüsste also nicht, warum ich mich davor drücken sollte.«
Diggins wandte kurz den Blick. »Du meinst die Deutschen? Nun ja, die haben längst nicht so viele Bucks für mich übrig gehabt wie du, Junge. Deshalb müssen sie sich ein wenig nützlich machen.«
Bart verzog die Lippen. »Wir sind hier alle aufeinander angewiesen, Mr. Diggins. Und ich möchte keine Sonderbehandlung.«
McCoy lachte kehlig. »Mumm hat er immerhin, gefällt mir.«
Die anderen Männer am Lagerfeuer nickten zustimmend und schienen ihn nun mit einer Spur mehr Respekt zu mustern.
Diggins beugte sich zu Bart vor. »Jetzt hör mal, Cromwell. Ich hab’s nicht an die große Glocke gehängt, schließlich sollen die Leute noch ruhig schlafen können, und bis morgen Abend sind wir wieder in sicherem Gebiet. Aber seit heute Mittag bewegen wir uns durch das Revier der Schoschonen. Und mit diesen Rothäuten ist nicht zu spaßen, verstehst du? Letztes Jahr habe ich hier in der Gegend drei Wagen verloren.«
»Drei Wagen?« Barts Augen weiteten sich. »Sie meinen, es gab …«
»… vierzehn Tote, davon drei Kinder«, beantwortete Diggins die Frage, noch bevor sie gestellt worden war.
»Davon haben Sie nichts erwähnt, als wir uns in Richmond unterhielten«, murmelte Bart und tat sein Bestes, sich die Beunruhigung nicht anmerken zu lassen, die Diggins’ Worte in ihm auslösten.
Diggins grinste humorlos. »Du hast nicht gefragt. Eigentlich hast du überhaupt keine Fragen gestellt, wenn man es genau nimmt, oder? Wolltest nur weg, wie so viele von euch.«
Bart senkte den Blick und nickte ergeben. In dieser Hinsicht musste er Diggins zustimmen.
Sie hatten Richmond Hals über Kopf verlassen. Die Stadt und auch die Tabakplantage der Familie. Hatten nur das Nötigste zusammengerafft, um den tödlichen Fronten des Bürgerkriegs zu entgehen, die sich immer enger um Richmond zusammenzogen.
Es war sein eigener Vater gewesen, der ihn regelrecht anflehte, seine Schwiegertochter und die beiden kleinen Enkelkinder in Sicherheit zu bringen, so lange noch die Möglichkeit dazu bestand.
Von zweien seiner Söhne wusste der alte Humbert Cromwell bereits, dass sie in der Schlacht gefallen waren, ein dritter, Barts Bruder Henry, galt seit drei Monaten als verschollen.
»Der Krieg ist verloren, Bartholomew«, hatte Vater ihm mit zittriger Stimme verkündet. »Und er hat mir fast alle meine Lieben genommen. Wenigstens ihr sollt überleben. Deshalb müsst ihr gehen – jetzt, bevor die Stadt genommen wird.«
Er hatte sich gewehrt, gehadert und doch gewusst, dass sein Vater recht hatte. Richmond würde fallen, und niemand wusste, was die Nordstaatler, deren Verluste in den letzten Monaten beträchtlich gewesen waren, mit der Zivilbevölkerung der Hauptstadt von Virginia anstellen würden.
Als er in der Stadt auf den Siedlertreck von Nicholas Diggins gestoßen war, der von der Ostküste kommend weiter wollte in Richtung Nordwesten, erschien das wie das sprichwörtliche Glück im Unglück. Diggins stammte aus Pennsylvania, ebenso wie der verwegene Trupp der Revolvermänner, die ihn begleiteten, war er Nordstaatler und damit strenggenommen jemand, der auf der anderen Seite stand. Doch der schlanke, hochgewachsene Mann in mittleren Jahren machte ihm sofort klar, dass er weder an Politik noch an diesem gottverdammten Krieg interessiert sei, sondern nur an seinem Job.
Und der bestand darin, Menschen von einem Ort an den anderen zu bringen, ohne dass sie dabei ihr Leben verloren.
Bart fasste sofort Vertrauen zu dem bärbeißigen Burschen. Das mochte an dem von zahlreichen Narben verwüsteten Gesicht liegen, das auf langjährige Kampferfahrung schließen ließ. Vielleicht auch an dem listigen Blinzeln seiner Augen oder der Gelassenheit, die Diggins im Chaos einer umkämpften Stadt ausstrahlte, während er sich zielstrebig und kaltschnäuzig darum kümmerte, die Vorräte für den Treck aufzufüllen.
Doch letzten Endes war er sich bewusst geworden, dass Diggins vermutlich einfach nur seine, ihre beste Chance zu bieten hatte, dem Verhängnis zu entgehen. Also hatte er dem Mann fast die ganze Summe, die ihm sein Vater mitgegeben hatte, in die Hand gedrückt, um im Gegenzug das Versprechen zu erhalten, mit Diggins’ Treck dem Krieg entfliehen zu können.
Als sie sich dem Tross der Planwagen anschlossen und die Stadt in westlicher Richtung vor drei Tagen verlassen hatten, hatte Bart sich nicht umgesehen. Zu stark war die Angst gewesen, vor den Augen seiner Kinder in Tränen auszubrechen, denn es hatte sich angefühlt, als ließe er sein gesamtes Leben hinter sich zurück.
Die Zwillinge Sarah und Daniel waren noch zu klein, um all die Widrigkeiten, mit denen ihre Eltern zu kämpfen hatten, wirklich zu verstehen.
Im Sommer würden sie sechs Jahre alt werden, so Gott wollte. Und er gab sich der Hoffnung hin, dass seine Entscheidung, der Heimat den Rücken zu kehren und in den einsamen Weiten des Westens Frieden zu finden, richtig gewesen war.
Diese Hoffnung bekam nun gerade einen gehörigen Dämpfer, doch davon wollte er sich nicht ins Bockshorn jagen lassen. Deshalb hob er sein Gewehr und stellte es mit dem Kolben zwischen seine Stiefel, bevor er Diggins fest in die Augen sah.
»Ich bin nicht hier, um mich hinter Ihnen zu verstecken, Sir«, sagte er. »Wenn ich meine Familie verteidigen muss, bin ich dazu in der Lage.«
»Hört, hört«, murmelte McCoy und grinste humorlos. »Weißt du eigentlich, was diese Rothäute mit blonden Frauen machen, Bürschchen? Vor allem mit so hübschen, wie deine Frau eine ist? Möchtest du das wissen? Ich verrat’s dir gern.«
»Halt’s Maul, Jack«, knurrte Diggins ungehalten. »Ich sag das jetzt zum letzten Mal, klar?«
McCoy winkte ab und nahm einen Schluck aus der Whiskeyflasche, bevor er sie an seinen Nebenmann weiter reichte.
Diggins zeigte auf Barts Winchester. »Ein hübsches Stück. Können Sie auch damit umgehen?«
Bart schob das Kinn vor und starrte ihn an. »Wenn’s drauf ankommt, werde ich es Ihnen beweisen.«
Diggins seufzte. »Also gut.« Er nickte einem der Männer zu, die ihm auf der anderen Seite des Lagerfeuers gegenübersaßen. »Hershey, du gehst mit Mr. Cromwell zu den Pferden. Achtet auf die Hügel im Westen, okay? Blackwell, mach das Feuer aus, dann übernimmst du mit Jack die andere Seite. Der Rest legt sich für zwei Stunden aufs Ohr, dann sind die anderen bis zum Morgengrauen an der Reihe.«
☆
Wenig später lag die Wagenburg der Siedler in tiefem Schweigen, und Bart warf einen kurzen Blick hinüber zum Wagen, in dem Barbara und die Kinder lagen. Ein kühler Wind strich über die Ebene und brachte das kniehohe Gras zum Wispern.
»Was hat er damit gemeint, Mr. Hershey?«
Gary Hershey, der vor ihm gegen die Deichsel eines Wagens gelehnt eine Zigarette rauchte, machte sich nicht die Mühe, den Kopf zu wenden.
»Was meinst du, Cromwell?«
»McCoy. Was meinte er damit, als er von blonden Frauen sprach und davon, was Indianer mit ihnen tun?«
Hershey stieß die Luft und damit eine kleine Rauchwolke aus. »Das willst du nicht wissen.«
Verärgert verzog Bart das Gesicht. »Das möchte ich sehr wohl, Hershey! Behandeln Sie mich gefälligst nicht wie ein dummes Schaf. Ich stehe hier mit einem Gewehr in der Hand und bin bereit, es zu benutzen. Also habe ich auch das Recht, zu erfahren, wer mir und meiner Familie gegenübersteht.«
»Nur die Ruhe, junger Mann«, brummte Hershey, und man hörte seiner Stimme an, dass er dabei selbstgefällig grinste. »Kein Grund, sich so aufzuplustern.«
Bart schnaubte. »Sie und Ihr Boss reden mit mir, als wäre ich ein kleiner Junge. Das …«
»Still!« Der erstickte Ruf von Hershey ließ ihn innehalten, und er packte sein Gewehr fester.
»Was denn?«, flüsterte er nach ein paar Sekunden, doch Hershey hob nur die Hand und starrte auf die Ebene hinaus.
Der Mond leuchtete hell über den Berghängen im Westen, doch Bart konnte kein Lebenszeichen entdecken im wogenden Grasmeer, das sich vor der Wagenburg erstreckte. Er wollte Hershey fragen, ob dessen scharfer Blick eine Gefahr wahrgenommen hatte, doch als er bereits die Lippen öffnete, winkte der Mann ab.
»War wohl nichts«, brummte Hershey, nahm aber seinen Blick nicht von der Ebene vor sich.
Bart entspannte sich ein wenig. »Also, erzählen Sie mir jetzt, was McCoy gemeint hat?«, fragte er.
Hershey warf ihm einen kurzen Blick zu und seufzte. »Was glaubst du denn?«
Bart überlegte, bis ihm ein schlimmer Gedanke durch den Kopf ging. »Sie skalpieren sie, oder? Das goldene Haar …«
Hershey brach in herzhaftes Gelächter aus, und Bart runzelte irritiert die Stirn.
»Herrgott, wer hat dir denn solchen Schwachsinn erzählt?«
»Ich … das hab ich im Richmond Observer gelesen, vor einer Weile«, gab Bart zu.
»Tatsächlich?« Hershey gluckste amüsiert. »Glaub mir, wenn die Rothäute deine Frau mit sich nehmen sollten, dann wäre es ihr letzter Gedanke, ihr das Haar mitsamt Kopfhaut abzutrennen. In der Hinsicht musst du dir keine Sorgen machen.«
Bart überlegte einen Moment, bevor ihm klar wurde, dass diese scheinbar hoffnungsvolle Information einen Haken hatte.
»Okay«, sagte er vorsichtig, »aber was tun sie dann mit ihr?«
Hershey wandte sich um, und im Zwielicht des Mondes schienen die Augen des Mannes unheilvoll zu leuchten.
»Warum sollten sie sich mit den Haaren zufriedengeben, wenn sie die ganze Frau haben können, Cromwell?«
Bart erbleichte. »Sie meinen, die Rothäute entführen sie? Das … davon habe ich noch nie gehört!«
»Und dennoch ist es so geschehen. Nick hat vorhin am Feuer von Toten gesprochen, aber das stimmte nicht ganz.« Hersheys Augen verengten sich. »Sie nehmen Frauen und Kinder mit sich, Cromwell. Um sie zu Squaws, Söhnen und Töchtern zu machen. Getötet werden nur die Männer. Das ist die Art der Schoschonen, sich gegen uns zu wehren. Indem sie unser Blut mit ihrem vermengen.«
»Frauen und Kinder werden also entführt, anstatt getötet zu werden?«, fragte Bart entgeistert, und Hershey nickte.
Er schluckte, als er sich vor Augen führte, welch grausames Schicksal seiner Frau und den Kindern bevorstünde, wenn die Wilden sie überfallen und überwältigen würden. Die Bilder, die dabei in seinem Kopf heraufbeschworen wurden, nahmen sich weitaus schlimmer aus als jene, die ihn zur Flucht vor der Nordstaatenarmee aus Richmond fortgetrieben hatten.
Für einen Moment glaubte Bart Cromwell, dass seine Entscheidung vielleicht voreilig gewesen war.
»Wann sind wir wieder hier heraus aus dem Gebiet der Indianer?«, fragte er schließlich.
Hershey starrte ihn eine Weile an, dann warf er die Zigarette fort. »Wenn wir morgen früh aufbrechen und uns ein wenig beeilen, werden wir vor Sonnenuntergang die Rocky Mountains erreichen«, brummte er. »Ab dann seid ihr in Sicherheit. Es wird ungemütlich, was das Wetter angeht, aber die Indianer werden uns in Ruhe lassen.«
»Oh, tatsächlich?« Bart kratzte sich am Kopf. »Das klingt gut.«
Hershey nickte und hob die Hand. »Trotzdem sollten wir zwei die Augen offenhalten, okay …«
»Natürlich«, entgegnete Bart und hob den Blick.
Für einen Moment war er irritiert, weil Hershey nichts sagte, sondern nur die Hand in seine Richtung ausstreckte.
Dann erkannte er den Pfeil, der aus dem linken Auge des Mannes herausragte, und dessen blutige Spitze schien auf etwas hinzudeuten.
Bart öffnete den Mund, und nach zwei erstickten Atemzügen gelang es ihm, zu schreien.
☆
Fünfzehn Jahre später, Richmond, Virginia
»Herzlich willkommen, Sir. Mrs. Cromwell erwartet Sie auf der Terrasse.«
Lassiter folgte dem Hausdiener und durchquerte dabei eine Eingangshalle, in der man bequem hätte Tennis spielen können. Die Geräusche seiner Schritte hallten von den hohen Wänden wider, und als er sich umsah, starrte ihm ein Dutzend streng blickender Gesichter von den Ölgemälden entgegen, die die Wand neben der Treppe schmückten. Beeindruckt verlangsamte er seine Schritte.
»Verwandtschaft?«, fragte er den Diener, der ihm vorausging, und der wandte sich kurz um und lächelte schmal.
»So kann man es wohl bezeichnen, Sir. Die Cromwells haben sich vor etwas über zweihundert Jahren hier in Virginia niedergelassen. Und die Familie hat ihren Landsitz seitdem nur einmal kurzzeitig verlassen müssen.«
Lassiter nickte. Die Brigade Sieben hatte ihm ein paar dürre Informationen übermittelt, zusammen mit dem Auftrag, das Anwesen aufzusuchen. Er wusste, dass die Cromwells zu den reichsten und einflussreichsten Familien von Virginia zählten, während des Bürgerkriegs aber auch einige bittere Schicksalsschläge hatten verkraften müssen.
Nicht zum ersten Mal war das Telegramm der Brigade äußerst sparsam mit Erklärungen über die bevorstehende Mission umgegangen. Die Leute in Washington wussten, dass es manchmal hilfreich war, wenn man Lassiter vorab nicht zu viel verriet, weil sie seine Schwäche kannten.
Neugier.
Der Diener öffnete eine Tür und führte ihn in einen Salon, bevor er höflich fragte, ob der Besucher etwas zu trinken wünschte. Lassiter verneinte, obwohl er durstig war.
»Worum geht es?«, fragte er stattdessen.
Der Diener deutete auf die geöffneten Flügeltüren und verneigte sich. Lassiter verstand den Wink und durchschritt den Raum, bevor er auf die Terrasse hinaustrat.
Sie saß in einem Rollstuhl am Rand der Veranda, und als er näher trat, hob sie die Hand. Überrascht bemerkte er, wie ein Schmetterling kurz auf ihren Fingern landete und sie die Hand für einen Moment an ihr Gesicht führte, bevor er davon flog.
»Ma’am?«
»Lassiter, richtig?«
Sie drehte sich nicht um, doch er nickte trotzdem.
»Es ist schön, dass Sie so schnell kommen konnten«, sagte sie mit einer Stimme, die so sanft und leise war wie ein milder Sommerwind.
Lassiter grinste humorlos. »Sie haben mächtige Freunde, Lady.«
Ihre Hand senkte sich, doch Lassiter spürte förmlich, wie die Dame lächelte. »Innenminister Ferguson, meinen Sie? Ich bin Reginald nur zwei- oder dreimal begegnet, also kann ich ihn wohl kaum als Freund bezeichnen.«
Ihre mageren Arme hatten Mühe, den Rollstuhl herumzudrehen, bis sie Lassiter gegenübersaß, und als sie sich in die Augen sahen, hielt er für einen Moment den Atem an.
»Mein verstorbener Gatte war mit ihm auf der Akademie, und die beiden waren so etwas wie Blutsbrüder, verstehen Sie?«
Ihre Miene war schwer zu deuten, und Lassiter erkannte, dass ein einfaches Nicken nicht reichen würde.
»Verstehe, Ma’am«, sagte er deshalb.
»Tun Sie das?«, fragte sie und lächelte. Ihr Gesicht wirkte auf seltsame Art friedlich, als wäre ihr die Antwort egal.
Er sah ihr in die blinden Augen. »Warum bin ich hier, Ma’am?«
Sie lachte leise, bevor sie antwortete.
»Es geht um meinen Sohn Daniel, Lassiter.«
Er starrte sie eine Weile lang an, bevor er die Hände hob.
»Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden, Ma’am. Aber es klingt nach einer Geschichte, die erzählt werden will.«
»Man hat Sie also nicht informiert?«
Ihre blicklosen Augen starrten ihn an, und er seufzte.
»Nein, Ma’am. Meine Auftraggeber sagten, ich würde alles von Ihnen erfahren.«
Sie nickte. »Okay, sehr rücksichtsvoll von den Herren. Vermutlich dachten sie, in dieser … Familienangelegenheit wäre Diskretion ratsam, und vielleicht ist dem auch so. Dann hoffe ich, dass Sie es nicht allzu eilig haben, junger Mann.«
Er lächelte. »Vielleicht nehme ich jetzt doch einen Kaffee.«
Barbara Cromwells Erzählung begann 1864, als die junge Familie vor der heranrückenden Front der Unionstruppen in Richtung Westen floh. In den Great Plains war der Treck von Schoschonen überfallen worden, und Bart Cromwell, ihr Ehemann, hatte den Angriff nicht überlebt. Mrs. Cromwell, ihre Zwillinge und auch einige andere Frauen und Kinder des Trecks hatten die Indianer damals verschleppt.
Über die Jahre der Gefangenschaft schwieg sie sich aus, und Lassiter fragte nicht nach. Er war nicht in der Position, Barbara Cromwell zu verhören und musste es ihr überlassen, was sie ihm mitteilen wollte und was nicht.
Als sie über die Ereignisse berichtete, die zu ihrer Befreiung geführt hatten, glaubte er, sich an einige Artikel in den größeren Zeitungen darüber zu erinnern. Und allmählich bekam er eine Vorstellung davon, worin der Grund seines Besuches bestand.
Vor etwa sieben Jahren waren große Truppenverbände unbarmherzig gegen die wehrhaften Stämme der Great Plains vorgerückt und hatten sie mit einem beispiellosen Materialaufwand vernichtend geschlagen. Nach der Kapitulation der Schoschonen wurde den Stämmen ein großes Reservat zugesprochen, und ihr Anführer hatte sich vor kurzem angeblich sogar zum Christentum bekannt.