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Vier Gräber am Amargosa
Die Berge rückten näher, das Land wurde grüner und der Amargosa River führte nun durchgehend Wasser. Isabelle beugte sich vom Kutschbock, um zurückzuschauen: Die Mojavewüste war nur noch ein Dreckstreifen unter der Morgensonne. Plötzlich wackelte und holperte der Planwagen und ihr Vater neben ihr begann auf Französisch zu fluchen. Ein Hinterrad hatte sich gelöst und rollte ins Gras. In diesem Moment trennten Isabelle nur noch zwei Schritte von der Hölle.
Der Vater, sowieso schon übel gelaunt, weil der Scout sich über Nacht davongestohlen hatte, rief fluchend nach Louis, und die Mutter zeterte, er solle aufhören zu fluchen. Die anderen Wagen des Trecks rollten weiter.
Isabelle sprang vom Bock, um das Wagenrad aus dem Gras zu holen. Plötzlich sah sie Reiter durch den Fluss heranpreschen. Da trennte nur noch ein Schritt sie von der Hölle.
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Seitenzahl: 137
Veröffentlichungsjahr: 2019
Cover
Impressum
Vier Gräber am Amargosa
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2019 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelfoto: Boada/Norma
Datenkonvertierung eBook: César Satz & Grafik GmbH, Köln
ISBN 978-3-7325-8325-6
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
www.bastei.de
Vier Gräber am Amargosa
Die Berge rückten näher, das Land wurde grüner und der Amargosa River führte nun durchgehend Wasser. Isabelle beugte sich vom Kutschbock, um zurückzuschauen: Die Mojavewüste war nur noch ein Dreckstreifen unter der Morgensonne. Plötzlich wackelte und holperte der Planwagen und ihr Vater neben ihr begann auf Französisch zu fluchen. Ein Hinterrad hatte sich gelöst und rollte ins Gras. In diesem Moment trennten Isabelle nur noch zwei Schritte von der Hölle.
Der Vater, sowieso schon übel gelaunt, weil der Scout sich über Nacht davon gestohlen hatte, rief fluchend nach Louis, und die Mutter zeterte, er solle aufhören zu fluchen. Die anderen Wagen des Trecks rollten weiter. Isabelle sprang vom Bock, um das Wagenrad aus dem Gras zu holen. Plötzlich sah sie Reiter durch den Fluss heranpreschen. Da trennte nur noch ein Schritt sie von der Hölle.
»Was wollen die?«, fragte der vierzehnjährige Louis, der schon die Werkzeugkiste von der Ladefläche zerren wollte.
»Steig auf den Wagen und hol die Gewehre.« Der Vater richtete sich vor dem Heck auf, wo er die leere Hinterachse inspiziert hatte. »Die Kerle gefallen mir nicht.« Er blinzelte zu den zehn oder zwölf Reitern hinüber; die ersten trieben gerade ihre Pferde aus dem Amargosa.
»Nix da ›Gewehre‹!«, zeterte die Mutter, die gerade Anstalten machte, die vier Ochsen abzuspannen. »Vielleicht ist ja einer der Gentlemen bereit, uns als Scout nach Kalifornien zu führen.
»Wir sind bereits in Kalifornien, nach San Francisco müssen wir«, knurrte der Vater. »Los, Louis – rauf auf den Wagen und her mit den Gewehren.« Isabelles Bruder, drei Jahre jünger als sie, kletterte auf die Ladefläche und verschwand zwischen Hausrat und Mobiliar.
Isabelle strich sich eine Strähne ihres langen schwarzen Haares aus dem schmalen Gesicht und blickte zum nahen Fluss hin. Vier Reiter lenkten ihre Pferde zum Planwagen ihrer Familie, acht galoppierten den vier weiteren Wagen des kleinen Trecks hinterher. Der letzte, inzwischen mehr als dreihundert Meter entfernt, stand jetzt endlich still, den ersten Planwagen sah Isabelle schon nicht mehr. Auch die anderen beiden schaukelten gerade hinter die Hügelflanke, um die herum der Weg ins Death Valley hineinführte.
Isabelle rollte das Rad zum Wagen ihrer Familie, während Hufschlag sich rasch näherte. Die Angst kroch ihr aus dem Bauch in die Brust hinauf. »Ich will Wilhelm heißen, wenn das ein Zufall ist.« Der Vater deutete auf die leere Achse. »Sieht völlig unbeschädigt aus.«
Wilhelm hieß der deutsche Kaiser und Isabelles Vater hasste ihn. Nach dem letzten Krieg gegen dessen Soldaten hatte er den Entschluss gefasst, in die Vereinigten Staaten von Amerika auszuwandern.
»Wie meinst du das?« Isabelle guckte ihren Vater an, und ohne dass er etwas sagen musste, durchzuckte die Antwort sie wie ein heißer Schrecken. »Du glaubst doch nicht etwa, dass Mr. Cooper die Radmutter gelockert hat, bevor er heute Nacht davon geritten ist?« Isabelle war ein bisschen verliebt in Ronnie Cooper, den treulosen Scout des kleinen Trecks.
»Hast du eine andere Erklärung? Ich habe Achsen und Räder gestern Abend überprüft. Jede Wette, dass Cooper …« Der Vater verstummte, denn die vier Reiter waren nun an bei ihnen angekommen. Zwei zügelten ihre Pferde vor dem Vater am Heck des Planwagens, zwei vor der Mutter beim Ochsengespann.
»Guten Morgen, Gentlemen.« Isabelles Mutter war bleich, ihre Stimme heiser. »Will einer von Ihnen sich vielleicht ein paar Dollar verdienen und uns nach San Francisco führen?«
»Ich werde mich hüten auch nur einen zusätzlichen Dollar zu verachten, Ma’am«, sagte einer der Reiter, ein kräftig gebauter Kerl in langem Wildledermantel. Er hatte ein rundes, glattes Gesicht und kurze, blonde Locken. »Doch leider mag ich San Francisco nicht besonders.«
Feixend stieg er vom Pferd und trat zur Mutter. Isabelle sah, dass ihm an der rechten Hand der kleine Finger fehlte. »Wie man hört, könnten wir auf eurem Wagen den einen oder anderen zusätzlichen Dollar finden, ohne dass wir vorher nach Frisco reiten müssen.«
»Cooper, dieser Dreckskerl!«, hörte Isabelle ihren Vater auf Französisch zischen. »Er steckt mit ihnen unter einer Decke.«
»Und auch sonst hat man uns von ein paar Kleinigkeiten im Wagen berichtet, die sich zu Geld machen lassen«, sagte der Blonde.
Isabelle dachte an den Familienschmuck, als sie das hörte. Sie dachte an die Gewehre, die Uhren und das Werkzeug ihres Vaters, der ein Uhrmachermeister war. An ihr Leben und das ihrer Familie dachte sie nicht; und an ihre Unschuld und Ehre auch nicht. Noch nicht.
Auch die anderen drei stiegen nun aus den Sätteln. »Wollen wir doch mal sehen, was wir so alles finden«, sagte ein junger, drahtiger Bursche mit einem Gesicht voller Pockennarben. Er war nicht viel älter als Isabelle.
Der dritte, ein langer dürrer Mann in grauem Frack und mit grauem Haar und braunen Zähnen, stieg auf den Kutschbock und lugte auf die Ladefläche. Was, wenn er nun Louis mit einem Gewehr dort entdeckte? Isabelle hielt den Atem an. Doch der Dürre entdeckte ihren Bruder nicht, wahrscheinlich hatte Louis sich zwischen Kisten und Möbeln geduckt. Isabelle war erleichtert.
Doch nicht lange, denn der vierte Reiter, ein Mexikaner, kam auf sie zu. Er hatte langes, schwarzes Haar und an seinen Ohren baumelten große, goldene Kreolen. Unter seinem schmutzigen Pelzmantel kreuzten sich zwei Patronengurte. Mit gierigem Blick taxierte er Isabelle, und die Angst griff nach ihrem Herzen wie eine eisige Klaue.
»Hören Sie, Mister«, wandte der Vater sich an den Blonden. »Wir sind anständige Leute, die in Ruhe leben und arbeiten wollen.« Dass seine Stimme merkwürdig leise klang und ein wenig zitterte, steigerte Isabelles Angst noch. »Ich schlage vor, Sie helfen uns für ein paar Dollar, unseren Wagen zu reparieren und lassen uns dann in Ruhe unseren Weg ziehen.«
Die Männer lachten laut. »Selbstverständlich lassen wir euch ziehen!«, rief der Blonde. »Aber erst wenn ihr euer Geld rausgerückt habt. Und den Schmuck, die Uhren und dein Werkzeug natürlich auch. Neben einem prallen Sparstrumpf habt ihr auch Gewehre aus Frankreich mitgebracht, wie man hört.«
Der Vater blickte zum vorletzten Wagen hin. »Merde!«, zischte er, denn die große irische Familie, die vor ihnen hergefahren war, seit sie den Mississippi überquert hatten, stand vollzählig und mit erhobenen Armen vor dem Heck, während die Banditen die Ladefläche leerräumten.
»Dein Bruder hat gar nicht erzählt, dass die Kleine aussieht wie eine Apachensquaw, Terry.« Der Mexikaner strich Isabelle übers Haar und wickelte eine Strähne um seinen Finger. »Schaut euch nur dieses rabenschwarze Haar an.« Isabelle begann zu zittern, ganz übel wurde ihr vor Angst. »Und Augen wie glühende Kohlen hat das süße Kind!« Der Mexikaner griff in ihr Haar und zog sie an sich.« Er stank aus dem Mund.
»Finger weg von meiner Tochter!« Der Vater sprang herbei, packte den Mexikaner an der Schulter und riss ihn herum. Der griff blitzschnell in seinen Gürtel, und als er ausholte, sah Isabelle eine Klinge in seiner Faust aufblitzen.
Im nächsten Moment stieß der Vater einen gurgelnden Laut aus, griff sich an den blutenden Hals und stürzte rücklings neben den Planwagen. Blut sprudelte ihm zwischen den Fingern hervor und aus panisch aufgerissenen Augen starrte er seine blutigen Hände an. Die Mutter schrie auf und stürzte zu ihm.
Der Mexikaner fuhr herum, packte Isabelle am Kragen und säbelte ihr mit dem blutigen Messer die Knöpfe ihres Kleides ab. Ihre Mutter sprang vom sterbenden Vater auf, hing sich an seinen Mörder, schrie und schlug ihn mit den Fäusten ins Gesicht. Der Mexikaner rammte ihr die Klinge in die Brust.
Wie festgefroren stand Isabelle und musste mit ansehen, wie ihre Mutter sterbend zusammenbrach und auf den toten Vater fiel. Ein böser Traum, dachte sie, lieber Gott, lass es weiter nichts als einen bösen Traum sein. Der Mexikaner aber wischte seelenruhig sein blutiges Messer an Isabelles Kleid ab und steckte es zurück in seinen Gurt. Dann riss er ihr das Kleid vom Leib.
Auf einmal fiel ein Schuss. Der Mexikaner zuckte zusammen, stöhnte auf und langte sich mit schmerzverzerrtem Gesicht an den Schenkel. »Weg von meiner Schwester!«, brüllte Louis. Mit einem Gewehr in der Hand stand er vor dem Heck des Planwagens.
Augenblicklich ging der Blonde neben den Ochsen in Deckung, schoss unter dem Wagen hindurch und traf Louis Beine. Stöhnend brach Isabelles Bruder zusammen. Die anderen beiden, die sich sofort nach dem Schuss ins Gras geworfen hatten, nahmen Isabelles Bruder unter Feuer. Nach vier oder fünf Schüssen zuckte Louis nicht einmal mehr.
Isabelle stand wie festgewachsen. Mit weit aufgerissenen Augen und offenem Mund starrte sie auf ihre toten Eltern und ihren toten Bruder. Das Innere ihrer Brust verwandelte sich in Stein.
»Lass das Mädchen in Ruhe, Fernandez«, sagte der Blonde, während er aufstand und seinen Revolver wegsteckte. »Wir nehmen sie mit. Ich habe Ronnie versprochen, dass er sie zuerst kriegt. Danach habt ihr alle Zeit der Welt, euern Spaß mit ihr zu treiben.«
Die Männer durchsuchten den Planwagen. Sie lachten, als sie den Strumpf mit dem Geld fanden. Auch sonst steckten sie alles ein, was ihnen wertvoll erschien: die französischen Gewehre, Mutters Erbschmuck und Vaters teure Uhrmacherwerkzeuge.
Als sie die Beute in ihren Satteltaschen verstaut hatten, setzte der Blonde Isabelle vor sich auf sein Pferd. An der Spitze der Bande ritt er mit ihr über den Fluss. Und noch tiefer in die Hölle hinein.
☆
Zehn Jahre später stand sie vor drei schiefen Holzkreuzen, die zwischen dem Weg ins Death Valley und dem Amargosa-River hinter drei Steinhaufen aus dem Gras ragten. Sieben Männer waren bei ihr, alle schwer bewaffnet.
Einer hatte den Arm um Isabelle gelegt und stierte mit versteinerter Miene auf die Kreuze. Lange schwarze Locken quollen unter seiner Melone heraus und er war ungewöhnlich groß. Unter seinem Frack trug er einen Offizierssäbel, auf seinem Rücken ein Gewehr.
Der Mann hieß Jacques Durant und war der jüngste Bruder von Isabelles Vater. Weil er lange als Offizier bei der französischen Armee gedient hatte und als furchtlos und kampferfahren galt, hatte die Familie Durant ihn dazu bestimmt, Isabelle zurück nach Amerika zu begleiten.
Bei ihm hatte Isabelle schießen und reiten gelernt.
Die drei Gräber hatten die Siedler des Trecks gegraben und mit Kreuzen versehen, nachdem die Banditen damals mit reicher Beute abgezogen waren. Monique Durant las man auf dem mittleren Kreuz, und auf den Kreuzen rechts und links davon standen die Namen von Isabelles Vater Pierre und ihres Bruders Louis.
Ein zweiter Mann nagelte etwas abseits die beiden Bretter eines vierten Kreuzes zusammen. Er war rothaarig und etwas bullig, stammte aus Irland und hieß Winston O’Hara.
Zehn Jahre zuvor, als er im Planwagen seiner Familie vom Mississippi bis hierher zum Eingang des Death Valleys vor dem Wagen der Durants hergefahren war, wollte er noch Seefahrer werden. Inzwischen verdiente er seine Dollars als Kopfgeldjäger.
Die anderen fünf Männer schaufelten ein paar Schritte hinter den drei Kreuzen ein viertes Grab, ein besonders großes. Einer von ihnen, ein ehemaliger Soldat aus Kansas City namens Derringer, war O’Haras Rechte Hand. Die anderen vier – texanische Revolvermänner aus Houston und Amarillo – standen auf Isabelles Gehaltsliste.
»Das Grab muss noch größer werden!«, rief sie den Männern zu. »Grabt noch tiefer!«
Zwölf Tage und dreizehn Nächte hatte die Hölle gedauert, in die der Bruder des Scouts sie damals auf seinem Pferd getragen hatte. Eine Siebzehnjährige in den Händen gewissenloser und unersättlicher Verbrecher – zwölf Tage und dreizehn Nächte lang. Manchmal hatten sie Isabelle bis zur Besinnungslosigkeit geschändet. Fernandez Zàrco und Terence Cooper waren die Schlimmsten gewesen.
Im Morgengrauen der dreizehnten Nacht, als die Banditen ihren Rausch ausschliefen, war Isabelle die Flucht gelungen. Apachen hatten sich ihrer angenommen. Und Pelzjäger, mit denen die Indianer Handel trieben, hatten dafür gesorgt, dass sie in einen texanischen Hafen und von dort nach Europa gelangte. Vor sieben Monaten war sie zurückgekehrt. Um Rache zu nehmen.
»Ihr müsst noch tiefer graben«, sagte sie zu den Männern. »Mindestens fünf Leichen müssen in die Grube passen.« Und die Männer gruben noch tiefer.
Als die große und tiefe Grube gegraben war, richteten Jacques Durant und Winston O’Hara neben ihr das vierte Kreuz auf und befestigten es tief im Boden. Es war ziemlich hoch und sein Querholz besonders breit. Breit genug, um all den Namen Platz zu bieten, die Isabelle mit O’Haras Hilfe bisher herausgefunden hatte.
Ihre Miene war kantig und bleich, während sie die Inschrift auf dem Querbrett las. O’Hara hatte darauf eingekerbt und mit blutroter Farbe nachgezeichnet, was Isabelle ihm befohlen hatte: Hier verrotten Terence Cooper, Ronnie Cooper, Fernandez Zàrco und ihre Höllenhunde. Gott verfluche sie in alle Ewigkeit.
☆
Der Saloon hieß Paradise und war einer der besseren hier im Hafenviertel von San Francisco. Das jedenfalls hatte Lassiter sich von dem Kutscher versichern lassen, der ihn am Abend zuvor von der Bahnstation hierher gefahren hatte.
Und wirklich: Der Laden war einigermaßen sauber, bot akzeptable Zimmer an, schenkte europäisches Bier aus, und einige der Ladys, die hier ein und ausgingen, machten einen wirklich verheißungsvollen Eindruck. Lassiter war guter Dinge – auch wenn er den Mann noch nicht getroffen hatte, um dessentwillen er den Weg über die Rocky Mountains an die Westküste auf sich genommen hatte.
Es war später Nachmittag und noch ziemlich heiß. Lassiter saß auf einer Bank draußen neben der Schwingtür – sie hatten keine Sidewalks hier im Hafen –, trank Bier und fächelte sich mit seinem Stetson Luft in das weit aufgeknöpfte Hemd. Der Mann, auf den er wartete, wollte sich noch immer nicht blicken lassen.
Hin und wieder entfaltete er das Telegramm aus Washington und verglich den Namen des Saloons auf dem Papier mit dem über der Schwingtür. Er konnte hingucken, so oft er wollte, er war im richtigen Saloon abgestiegen, im Paradise.
Eine Stunde lang hatte er schon drinnen an der Theke gewartet, mexikanischen Kaffee getrunken und jeden, der ihn länger als zwei Sekunden lang angeschaut hatte, gefragt, ob er eventuell Mr. Burt Richards gesehen hatte. Niemand hatte den Mann gesehen, die meisten kannten ihn nicht einmal.
Inzwischen richtete Lassiter sich auf einen langen Abend ein und war auf europäisches Bier umgestiegen. Wenn Richards sich nicht blicken ließ, gab es vermutlich Wichtigeres als den Auftrag, den er von ihm zu erhalten gehofft hatte.
Richards, so das Telegramm aus Washington, war ein Reeder, der ein paar Handelsdampfer auf den Linien San Francisco – Tokio und Baltimore – Dover fahren hatte. Darüber hinaus schien er das Vertrauen gewisser Leute in Washington zu genießen, denn das Telegramm nannte seinen Namen im Zusammenhang mit einem neuen Auftrag.
»Verzeihung, Mister«, sprach Lassiter einen betrunkenen Seemann an, der aus dem Saloon wankte. »Kennen Sie zufällig Mr. Burt Richards, den Reeder?«
»Zum letzten Mal, verdammt«, der Kerl sprach mit schwerer Zunge und schwankte wie eine junge Palme im Sturm, »ich kenne keinen gottverdammten Richards! Ist das jetzt endlich klar?«
Lassiter hob beschwichtigend die Hände. »Vollkommen klar, Mister, schönen Abend noch!« Der Seemann winkte verächtlich ab, wankte auf die Straße hinaus, und stolperte, als er einem Fuhrwerk ausweichen wollte, über seine eigenen Füße. Ein paar Männer lachten, als er fluchend im Straßenstaub lag. Lassiter senkte den Blick und betrachtete seine Stiefelspitzen.
Es kam nicht oft vor, dass die Mittelsmänner der Brigade Sieben ihn versetzten, die ihm einen neuen Auftrag überbringen sollten. Eigentlich nie. Im Großen und Ganzen war die Brigade Sieben ziemlich korrekt, was die Wahl der Verbindungsmänner anging. Wieso aber tauchte dieser Richards dann nicht endlich auf?
Eine Frau verließ den Saloon. Blond, rotes Kleid, schwarzer Hut, ein rotes Täschchen am Arm. Die hatte er ganz bestimmt noch nicht gesehen, als er im Saloon gewartet hatte, denn sie war ungewöhnlich schön, und ungewöhnlich schöne Frauen fielen Lassiter sogar dann auf, wenn er am Spieltisch saß und einen Royal Flash auf der Hand hatte.
»Verzeihen Sie, Ma’am!«, rief er ihr hinterher. »Sie sind nicht zufällig Mr. Richards?« Hätte ja sein können, dass Name und Beruf nur Tarnung waren.
Die Frau drehte sich um, runzelte ihre blonden Brauen und sah ihn an. Augen wie Leuchtfeuer hatte sie, und Lippen, so voll, dass es Lassiter sofort mitriss. »War ein Scherz«, rief er, lächelte sein charmantestes Lächeln und ging zu ihr.
Die Frau fand den Scherz wohl nicht besonders witzig, denn sie dachte nicht daran, sein Lächeln zu erwidern. »Was wollen Sie von Mr. Richards, Sir?«
Lassiter atmete auf, denn offensichtlich stand jemand vor ihm, dem sein Mittelsmann zumindest nicht gänzlich unbekannt war. »Ich habe eine geschäftliche Verabredung mit ihm, Ma’am. Es geht um grüne Orangen.«
GrüneOrangen – so lautete die Parole, mit der er sich laut Telegramm aus Washington seinem Mittelsmann zu erkennen geben sollte.