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Die Witwe von San Marcos
Tilbury trat ins Badehaus, und sofort verstummte jedes Gespräch darin. Er tippte sich an die Hutkrempe und nickte nach allen Seiten. In sechs Zubern badeten Männer, in den für ihn bestimmten goss ein schwarzes Mädchen gerade einen Eimer heißes Wasser. Vier Badende senkten den Blick, ohne Tilburys Gruß zu erwidern, die anderen beiden nickten flüchtig.
Tilbury ging zu seinem Zuber und begann sich auszuziehen. Wenn er eines gelernt hatte nach dieser ersten Woche in San Marcos, dann dies: Einen US-Marshal sah man hier nicht besonders gern. Er legte seine Kleider auf den Hocker neben dem Zuber und seinen Waffengurt neben den Hocker. Dann stieg er ins warme Bad und streckte sich darin aus. Das Mädchen kam mit dem letzten Eimer Wasser, leerte ihn in den Zuber und flüsterte: "Sie sind in Lebensgefahr, Mister."
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Seitenzahl: 139
Veröffentlichungsjahr: 2019
Cover
Impressum
Die Witwe von San Marcos
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2019 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelfoto: Boada/Norma
Datenkonvertierung eBook: César Satz & Grafik GmbH, Köln
ISBN 978-3-7325-8734-6
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
www.bastei.de
Die Witwe von San Marcos
Tilbury trat ins Badehaus, und sofort verstummte jedes Gespräch darin. Er tippte sich an die Hutkrempe und nickte nach allen Seiten. In sechs Zubern badeten Männer, in den für ihn bestimmten goss ein schwarzes Mädchen gerade einen Eimer heißes Wasser. Vier Badende senkten den Blick, ohne Tilburys Gruß zu erwidern, die anderen beiden nickten flüchtig.
Tilbury ging zu seinem Zuber und begann sich auszuziehen. Wenn er eines gelernt hatte nach dieser ersten Woche in San Marcos, dann dies: Einen US-Marshal sah man hier nicht besonders gern. Er legte seine Kleider auf den Hocker neben dem Zuber und seinen Waffengurt neben den Hocker. Dann stieg er ins warme Bad und streckte sich darin aus. Das Mädchen kam mit dem letzten Eimer Wasser, leerte ihn in den Zuber und flüsterte: »Sie sind in Lebensgefahr, Mister.«
Die Achtzehnjährige tauchte ihre Hand in den Zuber, als wollte sie die Wassertemperatur prüfen, während sie flüsterte: »Man hat einen Gunman beauftragt, Sie zu erschießen.« Im Blick ihrer großen dunklen Augen entdeckte Tilbury einen Schrecken, der ihn augenblicklich davon überzeugte, dass sie die Wahrheit sagte.
Wer hat den Gunman beauftragt, wollte er fragen, doch da presste das Mädchen sich schon den leeren Eimer gegen die Brust und eilte das Mädchen aus dem Badehaus. »Ich brauche eine Bürste!«, rief Tilbury ihm hinterher. Er schielte auf seinen Waffengurt zwischen Zuber und Hocker und vergewisserte sich, dass der auch wirklich in Reichweite lag.
Die Warnung der jungen Frau konnte ihn nicht sonderlich erschüttern, denn schon seit seiner Ankunft in San Marcos rechnete Tilbury mit Schwierigkeiten. Doch er war auf der Hut – noch nicht einmal ein Jahr zuvor hatte man einen Kollegen von ihm keine zehn Meilen von der Stadt entfernt im Weideland gefunden. Mit drei Kugeln in der Brust.
»Warum so schweigsam heute, Gentlemen?« Er grinste in die Runde der anderen Männer. »Ihr seid ja stumm wie die Fische. Laufen denn die Geschäfte so schlecht?« Der erste stieg aus dem Zuber und begann sich abzutrocknen. »Oder ist es mein Marshalstern, der euch die Sprache verschlägt?«
Der Pferdejunge kam mit der Bürste herein. Tilbury war enttäuscht, denn er hatte gehofft, das schwarze Mädchen würde die Bürste bringen und er sie nach dem Auftraggeber des Revolvermanns fragen können, den man angeblich auf ihn angesetzt hatte.
Der Pferdejunge, ein dürrer Halbwüchsiger mit rotem Lockenkopf kam zu ihm, und Tilbury beugte sich ein wenig nach vorn, damit er ihm den Rücken bürsten konnte. Unterdessen stieg der nächste Badende aus dem Zuber und trocknete sich ab.
»Oder ist es womöglich das schlechte Gewissen, das euch so stumm macht?«, fragte Tilbury mit bissigem Unterton. Daraufhin beendeten gleich zwei Männer auf einmal ihr Bad und erhoben sich. Sie schienen es plötzlich eilig zu haben.
»Es nützt euch gar nichts, euch nun zu verdrücken«, sagte Tilbury. »Ich weiß, dass ihr mit den Kerlen unter einer Decke steckt, die den Indianern Waffen liefern. Und ich werde es dem Richter beweisen, darauf könnt ihr Gift nehmen.« Er wandte sich an den Halbwüchsigen hinter sich. »Danke, Sammy.«
Zwei frisch Gebadete hatten sich bereits angezogen und liefen nun hinter dem Jungen her, um mit ihm das Badehaus zu verlassen. »Ich würde natürlich ein gutes Wort beim Richter für euch einlegen!«, Tilbury erhob seine Stimme. »Ein gutes Wort für jeden von euch, der mir Namen nennt!«
Die beiden Männer taten, als hörten sie ihn nicht – sie stapften in den Hof hinaus und warfen die Tür hinter sich zu.
»Und ihr?« Nacheinander schaute Tilbury den anderen Vieren in die Gesichter. Inzwischen waren alle damit beschäftigt, sich abzutrocknen oder anzuziehen. »Ich kenne den Richter gut, Gentlemen«, behauptete er. »Er wird bei jedem Gnade vor Recht ergehen lassen, der uns die Namen derer nennt, die hinter den Waffengeschäften mit den Apachen stecken.«
Schon an der Tür drehte sich einer der Männer noch einmal nach ihm um. »Wird der Richter uns auch vor der Rache dieser Leute beschützen?« Es war der Besitzer des Stores von San Marcos, der das fragte. Ohne die Antwort abzuwarten, verließ auch er das Badehaus. Die anderen machten Anstalten, ihm zu folgen.
»Schlappschwänze!«, rief Tilbury. Er richtete sich auf und fuchtelte mit der Faust. »Jedes zusätzliche Gewehr in den Händen eines Indianers könnte Soldaten der US-Kavallerie töten! Ist euch das denn nicht klar? Wer die Waffenhändler deckt, ist ein gottverdammter Verräter!«
Die Tür fiel krachend ins Schloss und Tilbury war allein im Badehaus.
Fluchend lehnte er sich gegen den hinteren Zuberrand und streckte sich aus. Die Leute von San Marcos hielten dicht, und sie hielten zusammen. »Verdammte Texaner!«, zischte Tilbury.
Sein Auftrag war schon zur Hälfte erledigt – er hatte die Ranch gefunden, von der aus die Winchestergewehre und Sharpkarabiner in die Siedlungen und Lager der feindlichen Apachen gelangt waren. Und er hatte drei Männer verhaftet und dem Sheriff übergeben, die den Transport der Waffen organisierten und durchführten.
Einige ihrer Komplizen kannte er bereits, hatte aber noch keine Beweise gegen sie in der Hand. Und vor allem brauchte er noch die Namen der beiden Bandenköpfe. Doch bisher war er in San Marcos auf eine Mauer des Schweigens gestoßen. Niemand wollte mit ihm reden, alle hatten sie die Hosen gestrichen voll.
Tilbury holte tief Luft und tauchte unter.
Als er wieder auftauchte stand ein Mann, den er noch nie in San Marcos gesehen hatte, in der offenen Tür des Badehauses. »Wer zum Teufel sind Sie?«, knurrte Tilbury. Der Mann, der eine auffällig krumme Nase, eine vernarbte Oberlippe und ein breites Gesicht hatte, antwortete nicht. In jeder Hand hielt er einen Revolver.
Als Tilbury sich das Wasser aus den Augen gewischt hatte, konnte er deutlich erkennen, dass die Revolverhähne gespannt waren. Sofort schlug ihm das Herz in den Schläfen und er richtete sich auf.
Der Mann kam auf ihn zu, hob die Waffen und zielte auf ihn. Blitzschnell langte Tilbury aus dem Zuber nach seinem Revolver. Doch er griff ins Leere, denn sein Waffengurt lag nicht mehr da, wo er ihn hingelegt hatte. Der Pferdejunge hatte ihn mit der Stiefelspitze mit sich geschleift, als er hinter den Zuber getreten war, um Tilbury den Rücken zu bürsten.
Der US-Marshal brüllte seine Wut und seine Verzweiflung hinaus und stemmte sich am Rand des Zubers hoch und wollte aus dem Wasser springen. Doch da ließ der Fremde schon seine Revolver sprechen.
Tilburys Gebrüll ging im Schusslärm unter und erstarb, als er neben dem Zuber in sein Blut stürzte.
☆
»Zwei US-Marshals, Mr. Lassiter!« William Hamilton war ein dürrer, hochgewachsener Mann von etwa fünfzig Jahren. »Beide waren treue Diener des Gesetzes und aufrechte Bürger der Vereinigten Staaten, und beide wurden aus dem Hinterhalt erschossen.«
Hamilton wirkte ernsthaft erschüttert, während er vom Tod der beiden Sternträger berichtete. Lassiter hörte ihm aufmerksam zu, doch das war gar nicht so einfach, denn in einem Lehnstuhl an der Tür saß eine wunderschöne Frau. Aus dem Augenwinkel konnte er sie sehen, wenn er wollte. Tapfer versuchte er, es nicht zu wollen.
»US-Marshal Miller hat man im vorletzten Sommer im Grasland nördlich von San Marcos erschossen aufgefunden, US-Marshal Tilbury starb im letzten Herbst im Badehaus von San Marcos. Jemand hat ihn im Badezuber erschossen.«
Es war dunkel vor den Fenstern. Der Mann von der Brigade Sieben war erst nach Einbruch der Nacht in Austin eingetroffen. Hamilton wollte das so.
»Und man weiß nicht, wer der Schütze war?« Lassiter runzelte die Stirn – so ein Badehaus stand gewöhnlich im Hinterhof eines Saloons und ein Saloon lag gewöhnlich mitten in einer Stadt. Männer, die da ein und ausgingen, wurden von jedem beobachtet. Und bei Schusslärm lief gewöhnlich die halbe Stadt zusammen.
»Der Sheriff von San Marcos hat uns versichert, jeden Bürger der Stadt vernommen zu haben.« Hamilton, grauhaarig und weit über fünfzig Jahre alt, war Hotelier und Bürgermeister von Austin. Er trug einen braunen Frack und fuchtelte mit seiner Zigarre herum, um seine Worte zu unterstreichen. Der Tod der beiden Sternträger ging ihm gewaltig an die Nieren. »Doch niemand will etwas gesehen oder gehört haben.«
Lassiter spürte die Blicke der brünetten Schönen an der Tür. Er hätte sie gern erwidert, doch er beherrschte sich und richtete seine ganze Aufmerksamkeit auf den Mittelsmann der Brigade Sieben. »Und haben Sie eine Idee, warum man die beiden erschossen hat, Sir?«, fragte er ihn.
»Miller und Tilbury haben in San Marcos wegen verbotenem Waffenhandel ermittelt«, antwortete Hamilton.
»Waffenhandel mit Mexiko?«
»Schlimmer – mit Indianern.« Der Bürgermeister schenkte sich und Lassiter Kaffee nach. »Wie Sie wissen, Lassiter, befinden sich die Vereinigten Staaten im Krieg mit den Apachen. Niemand darf Gewehre an Gegner unserer Kavallerie verkaufen, wie jedermann weiß.«
»Um welche Waffen geht es genau?«, wollte Lassiter wissen.
»Um Sharpkarabiner und Gewehre von Winchester.«
»Und welche Apachenstämme hat man damit beliefert? Lassiter nahm seinen Kaffeebecher. »Die in der Prärie oder die Siedlungen an der mexikanischen Grenze?« Der dampfende Kaffee war so dünn, dass man den Becherboden sehen konnte.
»Unsere Kavallerie-Schwadrone haben Waffen dieser Modelle sowohl bei Prärie-Apachen als auch bei Pueblo-Apachen am Rio Grande gefunden.« Der Zorn verzerrte Hamiltons Gesicht. »Dutzende unserer Soldaten sind schon mit diesen Waffen getötet oder verletzt worden. Wir müssen den Waffenhändlern endlich das Handwerk legen!«
»Das scheinen ja gefährliche Männer sein, wenn sie nicht einmal vor Morden an US-Marshals zurückschrecken.« Lassiter löffelte Zucker in seinen Kaffee.
»Sie sagen es, Lassiter!«
»Und ich soll nun nach San Marcos reiten und diese Leute ausfindig und unschädlich machen, wenn ich Sie richtig verstehe, Sir.« Aus dem Augenwinkel wagte Lassiter nun doch einen Blick auf die Schöne im Lehnstuhl – die Lady schaute ihn schon wieder an und ihre Augen leuchteten ganz so, als hätte sie Gefallen an ihm gefunden.
»Wenn Sie dabei mithelfen könnten, wäre das natürlich hervorragend, Mr. Lassiter, doch das ist nicht Ihr vordringlichster und eigentlicher Auftrag«, sagte der Bürgermeister von Austin.
»Mithelfen?« Lassiter stellte die Kaffeetasse ab. »Nicht mein eigentlicher Auftrag? Ich verstehe nicht ganz, Sir.«
»Sie sollen nach San Marcos reiten und einen US-Marshal beschützen, der schon auf dem Weg dorthin ist.« Hamilton riss ein Schwefelholz an, um sich seine erloschene Zigarre anzuzünden. »Er heißt Jim Rochester und ist eigentlich kein US-Marshal, sondern ein Colonel der US-Army, doch die Regierung hat ihm einen Stern an die Brust geheftet.«
»Das klingt so, als hätte die Army die Sache selbst in die Hand genommen«, sagte Lassiter. »Könnte ich gut verstehen, denn ihre Soldaten müssen dafür bluten, wenn die Sternträger der Regierung versagen.«
»’Versagen’…« Hamilton rümpfte die Nase. »Das höre ich nicht gern, Lassiter – sie sprechen über Tote. Doch Sie haben recht: Der Armeeführung ist der Geduldsfaden gerissen, sie hat die Ermittlungen selbst in die Hand genommen und einen ihrer besten Offiziere nach San Marcos geschickt.«
»Wird er den Marshallstern offen tragen?«
»Natürlich nicht.« Hamilton griff nach einem großen und prall gefüllten Kuvert, das neben seinem Kaffeebecher lag. »Er weiß nicht einmal, dass Washington ihm eine Art bewaffneten Begleitschutz zur Seite stellt, nämlich Sie, Lassiter. In der Armeeführung sind übrigens auch zwei hohe Offiziere eingeweiht.«
Er schob das Kuvert über den Tisch. »Hier drin finden Sie alle Informationen, die Miller und Tilbury nach Washington telegraphiert haben, bevor sie starben. Und natürlich alles, was Sie über Colonel Rochester wissen müssen.«
»Das schmeckt mir nicht.« Die Schöne an der Tür hatte Lassiter vollkommen vergessen, denn seine Gedanken kreisten nun ausschließlich um seinen neuen Auftrag. »Wenn Rochester wüsste, dass ich auf ihn aufpasse, würde das die Sache erheblich einfacher machen. Man könnte Nachrichten austauschen, Zeichen vereinbaren und so weiter.«
»Man könnte sich aber auch ganz schnell verraten.« Hamilton paffte den Zigarrenrauch über den Tisch. »Bedenken Sie, Lassiter: In San Marcos wird jeder Fremde mit Argusaugen beobachtet. Sie werden es erleben. Nein, nein – besser Rochester weiß nichts von Ihnen! Im Notfall können Sie ihm gegenüber ihre Tarnung lüften, doch nur im Notfall.«
»Und wie sieht meine Tarnung aus?«
»Sie werden als reicher Pferdezüchter auftreten«, erklärte Hamilton. »Als ein Rancher aus Kansas, der im Umland von San Marcos Weideland kaufen und Pferde züchten will.« Mit der Zigarre deutete er auf das dicke Kuvert. »Wenn die Dollars, die Sie im Umschlag finden, für die Spesen nicht reichen, wenden Sie sich telegraphisch an mich. Carol wird dann dafür sorgen, dass man Ihnen mehr Geld in die Stadt bringt.« Er feixte. »So ein reicher Pferdezüchter kann natürlich nicht mit leeren Taschen herumlaufen.«
»Carol?« Endlich konnte Lassiter der Brünetten ins Gesicht schauen, ohne sich verdächtig zu machen. Sie lächelte, als Ihre Blicke sich begegneten.
»Carol ist meine Sekretärin.« Hamiltons Miene nahm einen milden, beinahe zärtlichen Zug an, als er mit der Zigarre auf die Frau deutete. Ihr Gesicht war schmal und braun gebrannt, ihr Mund groß und ihre Lippen voll.
»Gibt es denn noch keine Bank in San Marcos?« Der Mann von der Brigade Sieben erwiderte das Lächeln der Frau namens Carol und steckte das Kuvert ein.
Hamilton schüttelte den Kopf. »Dafür ist die Stadt am Telegraphendraht angeschlossen, der meine Stadt mit San Antonio verbindet. Ich wünsche Ihnen viel Glück, Lassiter, und passen Sie mir gut auf Jim Rochester auf.«
»Sie glauben also wirklich, dass er der nächste sein wird, den die Waffenhändler erledigen wollen?«
Hamilton wiegte bedeutungsschwer den Schädel. »Sehr gut möglich. Doch Sie werden es zu verhindern wissen, schätze ich.«
Er wandte sich an die Brünette. »Carol wird Sie zu meinem Hotel führen. Ich habe ein Zimmer für Sie frei gehalten.« Er wies auf Lassiters staubige Kleidung. »Ich habe Ihnen Kleidung in ihr Zimmer bringen lassen, die einem reichen Pferdezüchter besser steht als ihre Sachen.«
»Sie kennen doch meine Kleidergröße gar nicht?«, staunte der Mann von der Brigade Sieben.
»Ich nicht, aber unsere gemeinsamen Freunde in Washington.« Hamilton deutete zum Fenster, hinter dem man den Mond am Nachthimmel sehen konnte. »Tun Sie mir und uns den Gefallen und reiten Sie noch vor Sonnenaufgang los. Wir müssen vorsichtig sein. Besser, man sieht Sie nicht, wenn Sie Austin morgen früh wieder verlassen.«
☆
Jim Rochester trieb seine Schimmelstute den nächsten Hügel hinauf. Schönwetterwölkchen schwebten durch den rötlichen Abendhimmel, der warme Wind wehte aus Südwesten und jede Böe ließ das hohe Präriegras hin und her wogen.
Rochester war erst zweimal im Leben an einer Küste gestanden – in Washington D.C. und in Los Angeles, und daran musste er denken, als er jetzt über das wogende und endlos scheinende Grün des texanischen Graslandes blickte: Wie ein grünes Meer sah es aus.
Kurz bevor er den Hügelkamm erreichte, trug der Wind Geräusche an sein Ohr, die ihm nicht recht hier her zu passen schienen. Er stutzte und lauschte: Gitarrenklänge und die Melodie einer Mundharmonika. Und sang da nicht auch jemand?
Auf dem Hügelkamm zügelte er seine Schimmelstute, schirmte die Augen vor dem Licht der schon halb untergegangenen Sonne ab und blickte über die Prärie. Von seinem Ziel, San Marcos, war noch rein gar nichts zu sehen, doch unterhalb des Hügels, vielleicht dreihundert Schritte entfernt, standen drei Planwagen und ein paar Pferde. Eine Rauchfahne stieg neben den Gespannen auf. Und tatsächlich: Dort wurde gesungen.
Der Colonel und US-Marshal musste lächeln, während er seine Stute antrieb. Es kam selten vor, dass man mitten in der Prärie singenden Menschen begegnete.
Jim Rochester war ein mittelgroßer Mann von etwa fünfundvierzig Jahren mit breiten Schultern und dunkelblondem Haar. Sein kantiges Gesicht mit der scharf geschnittenen Nase und dem breiten, leicht nach vorn geschobenen Kinn verriet seine energische Persönlichkeit auf den ersten Blick.
Er trug einen langen hellgrauen Mantel über einem weinroten Hemd und unter dem Mantel in jedem Hüftholster einen Armeerevolver, einen .44er Rimfire von Smith & Wesson. In gestrecktem Galopp ritt er zu den Planwagen.
Fünf Männer, vier Frauen und eine Handvoll Kinder hockten um ein Lagerfeuer. Eine junge Frau spielte Gitarre, ein Mann blies auf der Mundharmonika und die meisten anderen sangen dazu. Irgendein frommes Lied, wie Rochester erkannte, während er sich den Leuten näherte. Der Duft von gebratenem Fleisch stieg ihm in die Nase.
Ein blonder Junge von vielleicht sieben Jahren entdeckte ihn als erster, sprang auf und deutete in seine Richtung. Einer nach dem anderen hörte nun auf zu singen und am Schluss verstummten auch Gitarre und Mundharmonika.
Die meisten erhoben sich und zwei Männer kamen Rochester entgegen. »Schon genug für heute?« Rochester winkte ihnen zu. »Die Sonne ist doch noch gar nicht untergegangen!«
»Aber der Magen knurrt!«, rief der ältere der beiden Männer, ein Weißhaariger mit extrem langem Bart. »Und der Hintern tut weh. Ich hab nämlich mein verdammtes Sofakissen für den Kutschbock zuhause vergessen.«
Rochester lachte. »Und wo ist das – zuhause?« Er hielt seine Schimmelstute an und schwang sich aus dem Sattel.