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"Der Mistkerl hatte nicht viel Zeit, seinen Verrat zu bereuen", knurrte Deputy Eddy Cupper und sah mitleidlos auf seinen ehemaligen Kollegen hinab. Otto Smith' Augen starrten blicklos zurück. Das fahle Antlitz des nassen Leichnams wirkte erstaunt, als wäre der Tod schnell und überraschend gekommen. Cupper schlug fröstelnd den Jackenkragen hoch, sog an seiner Zigarette und blickte in den Morgennebel, der über der Eastern Branch lag wie ein feuchtes Leichentuch.
Vier Tote in drei Tagen. Die "Dunstone-Affäre", wie sie diesen Fall intern nun nannten, forderte einen hohen Blutzoll. Obwohl es Cupper schwerfiel, die Ermordeten als Opfer zu betrachten. Denn unschuldig war keiner von ihnen gewesen.
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Seitenzahl: 144
Veröffentlichungsjahr: 2020
Cover
Impressum
Rebeccas letzter Tag
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelfoto: Boada/Norma
Datenkonvertierung eBook: César Satz & Grafik GmbH, Köln
ISBN 978-3-7325-9297-5
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
www.bastei.de
Rebeccas letzter Tag
»Der Mistkerl hatte nicht viel Zeit, seinen Verrat zu bereuen«, knurrte Deputy Eddy Cupper und sah mitleidlos auf seinen ehemaligen Kollegen hinab. Otto Smith’ Augen starrten blicklos zurück. Das fahle Antlitz des nassen Leichnams wirkte erstaunt, als wäre der Tod schnell und überraschend gekommen. Cupper schlug fröstelnd den Jackenkragen hoch, sog an seiner Zigarette und blickte in den Morgennebel, der über der Eastern Branch lag wie ein feuchtes Leichentuch.
Vier Tote in drei Tagen. Die »Dunstone-Affäre«, wie sie diesen Fall intern nun nannten, forderte einen hohen Blutzoll. Obwohl es Cupper schwerfiel, die Ermordeten als Opfer zu betrachten. Denn unschuldig war keiner von ihnen gewesen.
Begonnen hatte alles mit einem toten Rancher aus Illinois, den man mit durchgeschnittener Kehle in einem schäbigen Puff in der Canal Street aufgefunden hatte, kaum eine Meile entfernt von dem Kai, an dem Cupper jetzt stand.
Horatio Dunstone, ein honoriger Großgrundbesitzer mit vorgeblich strengen Moralvorstellungen, hatte der Washington Post ein brisantes Interview gegeben, das in der Hauptstadt sofort zum Tagesgespräch geworden war. In dramatischen Worten hatte er von »Teufeln an den Schalthebeln der Macht« gesprochen, einem geheimen Zirkel aus korrupten Politikern und skrupellosen Geschäftsleuten, die die Geschicke des Landes in ihrem Sinne steuerten und dabei Gesetz und Moral mit Füßen traten.
Und versprochen, schon bald die Namen dieses Diskreten Kreises, wie er die Verschwörer titulierte, an die Öffentlichkeit zu bringen. Was er wenig später mit dem Leben bezahlte.
Eddy Cupper und sein Chef, Town-Marshal Julian Devane, hatten eine Weile im Dunkeln getappt, bis überraschend schnell eine vermeintliche Zeugin in ihrem Büro aufgetaucht war, die sich als Dunstones Tochter Rebecca ausgegeben und behauptet hatte, Informationen über die Männer zu haben, die hinter dem Mord an dem Rinderbaron steckten.
Marshal Devane, dem schwante, dass diese Geschichte seine Kompetenzen überstieg, hatte daraufhin die Brigade Sieben zu Hilfe gerufen, die wiederum Lassiter zur Unterstützung schickte und Rebecca Dunstone in Sicherheit bringen ließ.
Dann begannen sich die Ereignisse zu überschlagen. Die angebliche Tochter entpuppte sich als Spionin der Gegenseite und war in der vergangenen Nacht aus dem geheimen Refugium der Brigade getürmt; seitdem fehlte von ihr jede Spur.
Der vermeintliche Mörder von Dunstone, den Lassiter hatte dingfest machen können, wurde in seiner Zelle vergiftet, vermutlich durch die Hand eben jenes Deputy Smith, der nun zu Cuppers Füßen lag, nachdem man ihn aus dem Anacostia River gefischt hatte.
Und als wären das nicht bereits genügend Nackenschläge für die Ermittler gewesen, wurde noch eine weitere Zeugin, die Barkeeperin Verona Fielding, am helllichten Tag im botanischen Garten von einem Scharfschützen niedergestreckt, als sie sich mit Lassiter getroffen hatte, um auszupacken.
Ein Karren stoppte neben Cupper, und die uniformierten Beamten der Hafenpolizei wuchteten den toten Otto Smith auf die Ladefläche.
»Bring ihn zum Bodydoc ins Hauptquartier. Fellow soll ihn sich genauer ansehen«, befahl der Deputy dem Kutscher, der wortlos nickte und die Zügel auf den Rücken des Zugtieres niedergehen ließ, das sich daraufhin gemächlich in Bewegung setzte.
Cupper sparte es sich, die Hafenpolizisten nach Zeugen zu fragen. Wenn jemand etwas beobachtet hätte, wären sie damit sofort herausgerückt. Außerdem vermutete er, dass man Deputy Smith schon vor Stunden umgebracht und an einer anderen, einsameren Stelle in den Fluss geworfen hatte. Stattdessen nickte er den Männern kurz zu, machte kehrt und begab sich auf den Rückweg zum Büro, um seinem Chef Bericht zu erstatten.
Die Nachricht, dass es sich bei dem Leichenfund, über den man sie vor einer halben Stunde in Kenntnis gesetzt hatte, um ihren ehemaligen Kollegen handelte, würde Julian Devane nicht überraschen. Sie hatten beide geahnt, dass es Smith sein würde, den dessen Auftraggeber als unliebsamen Zeugen aus dem Weg geräumt hatten.
An der Skrupellosigkeit des Diskreten Kreises hatte niemand der an der Ermittlung Beteiligten mehr die geringsten Zweifel. Was ihn anging, schwand allerdings auch sein Glauben, dass sie – selbst mit der Unterstützung der geheimen Einheit der Brigade Sieben – diesen scheinbar übermächtigen Gegnern gewachsen waren.
Ein gewisser Hoffnungsschimmer blieb aber noch. Denn die Nachforschungen hatten ergeben, dass alle Spuren an einem Ort zusammenliefen: Dem Elysium, einem Nobelbordell in der Canal Street, nur ein paar Schritte vom Horny Corny entfernt, in dem Horatio Dunstone aufgefunden worden war. Es gab mehr als genug Hinweise darauf, dass sich die Hintermänner dort zusammenfanden und ihren dunklen Leidenschaften frönten – insbesondere der Vorliebe für junge Gespielinnen, die Jahre davon entfernt waren, als Frauen betrachtet zu werden.
Es war vor allem Lassiter zu verdanken, dass sie vom Elysium und dem, was dort vor sich ging, überhaupt wussten. Und der Aussage der Bartenderin des Etablissements, Verona, die diese Indiskretion mit dem Leben bezahlt hatte.
Doch ohne einen Beschluss des Staatsanwalts waren ihnen die Hände gebunden. Ein widerrechtliches Eindringen in die Räumlichkeiten konnte womöglich dazu führen, dass findige Winkeladvokaten Beweise als illegal und damit wertlos erklären würden. Daher musste der Town-Marshal zunächst einen solchen Beschluss erwirken, bevor sie den Laden stürmen konnten.
Devane hatte es sich aber nicht nehmen lassen, alle entbehrlichen Kräfte in der Canal Street aufmarschieren zu lassen, um dort eine Art Belagerungszustand herzustellen, und Cupper hoffte, dass den Ratten im Elysium seitdem der Arsch gehörig auf Grundeis ging – wenn sie das sinkende Schiff nicht bereits verlassen hatten.
Die Glocke eines Fuhrwerks der Feuerwehr riss ihn aus seinen Gedanken, und Cupper hob den Blick. Als er sah, wie gleich zwei der Kutschen die Kreuzung vor ihm überquerten und nach links in die Canal Street einbogen, beschlich ihn eine düstere Vorahnung.
Er hastete über das Kopfsteinpflaster an dem Stand eines Fischhändlers vorbei und beschleunigte seine Schritte, bis er die Ecke erreichte, an der die Delaware Avenue in die Canal Street mündete.
Seine Augen weiteten sich, als er die Flammen sah, die lichterloh aus den Fenstern der oberen Etagen eines Gebäudes züngelten, das sich etwa hundert Yards weiter oben befand. Dichter, schwarzer Rauch stieg in den Morgenhimmel auf, und vor dem Haus hatten sich Schaulustige, Uniformierte und mehrere Löschzüge der Feuerwehr versammelt.
»Heilige Scheiße«, flüsterte er und wusste im selben Moment, dass Devane sich sein Vorsprechen beim Staatsanwalt sparen konnte.
☆
»Sie sehen ein wenig übernächtigt aus, Mr. Devane«, bemerkte Staatsanwalt Preston Blinkwater, ohne den Mann vor seinem Schreibtisch dabei anzuschauen. Stattdessen studierte er mit betonter Gelassenheit den Bericht, den der Town-Marshal ihm vor wenigen Minuten überreicht hatte.
»Die Ereignisse der vergangenen Tage ließen mir nicht viel Zeit, um zu schlafen, Sir«, brummte Devane und rieb sich über die Bartstoppeln, die wie dunkle Schatten seine untere Gesichtshälfte bedeckten. »Es ist eine Menge vorgefallen, das lesen Sie ja gerade selbst.«
»Allerdings …« Blinkwater warf ihm einen kurzen Blick zu; seine Missbilligung war dabei nicht zu übersehen. »Und ich hätte mir gewünscht, davon etwas früher in Kenntnis gesetzt zu werden.«
Devane breitete entschuldigend die Hände aus. »Es tut mir leid, Sir, aber dafür war schlichtweg keine Gelegenheit. Es passierte alles buchstäblich Schlag auf Schlag, sodass …«
»Schon gut«, fuhr ihm der Staatsanwalt brüsk ins Wort und wedelte dabei mit der Hand. »Lassen Sie mich diesen Text doch bitte bis zum Ende lesen, wenn Sie sich schon die Mühe gemacht haben.« Sein blasierter Tonfall erinnerte an einen Lehrer, der einem minderbegabten Schüler das Gefühl geben wollte, dessen Aufsatz wenigstens zur Kenntnis zu nehmen, obwohl er es für Zeitverschwendung hielt.
Der Marshal griff nach der Kaffeetasse, die vor ihm auf der Tischplatte stand, und nahm einen kräftigen Schluck.
Verdammt guter Kaffee, dachte er beiläufig und lauschte dem Ticken der Wanduhr, während sein Gegenüber unverwandt die Augen über die Zeilen wandern ließ.
Durch ein halb geöffnetes Fenster war leise ein Bimmeln zu vernehmen, das Devane als Glockenläuten von Fuhrwerken der Feuerwehr erkannte. Er runzelte die Stirn, doch der Staatsanwalt auf der anderen Seite des Schreibtischs schien es nicht zu bemerken. Stattdessen murmelte Blinkwater Unverständliches vor sich hin, stieß ab und zu ein Seufzen aus und schob Minuten später die Papiere vor sich zu einem ordentlichen Stapel zusammen, bevor er den Town-Marshal mit einem humorlosen Lächeln bedachte.
»Das ist ja mal eine abenteuerliche Geschichte, Devane«, sagte er und strich sich mit dem kleinen Finger über die sorgfältig gezupfte dunkle Augenbraue. »Liest sich so spannend wie ein Roman, Kompliment.«
»Das mag wohl sein, Sir. Allerdings ist es leider Realität.« Devane gab sich keine Mühe, seinen Widerwillen angesichts der süffisanten Reaktion zu verbergen.
»An einigen Stellen sind Ihre Formulierungen ziemlich nebulös gewählt. Vor allem, wenn es um die Unterstützung von außen geht.«
Preston Blinkwater faltete die Hände unter dem Kinn, und sein maliziöses Lächeln wurde breiter. »Ihre Diskretion in allen Ehren, Devane. Aber keine Sorge, ich bin über die Brigade Sieben im Bilde.«
Der Town-Marshal zuckte die Schultern und wusste nicht, ob das eine gute oder eine schlechte Nachricht war. »Man hat mich in dieser Hinsicht zu absoluter Verschwiegenheit aufgefordert, Sir. Daher bitte ich um Entschuldigung, wenn …«
»Ja, ja, ja …« Wieder unterbrach ihn der Staatsanwalt mit mürrischer Geste. »Keine Sorge, Devane. Um mir auf den Schlips zu treten, müssten sich Ihre Stiefel ein paar Stufen weiter oben auf der Treppe befinden …«
Er stieß ein kurzes, bellendes Lachen aus und warf nochmals einen Blick auf die Papiere vor sich. »Und jetzt möchten Sie also diesen … wie hieß der Laden noch gleich … Elysium, richtig … dieses Etablissement durchsuchen, weil Sie dort Hinweise auf eine Gruppe von Verschwörern zu finden hoffen?«
Devane unterdrückte ein Seufzen. »Ich denke, das liegt nach Lage der Erkenntnisse auf der Hand, meinen Sie nicht?«
Blinkwater runzelte die Stirn und hob mahnend den Zeigefinger. »Kein Grund, mir schnippisch zu kommen, Marshal. Vergessen Sie nicht, wer vor Ihnen sitzt. Oder glauben Sie, ich wäre nicht in der Lage, die Faktenlage angemessen beurteilen zu können?«
Der Staatsanwalt war bei seinen letzten Worten etwas lauter geworden, und Devane biss die Zähne zusammen, während er ergeben den Kopf schüttelte.
»Okay.« Blinkwaters Miene hellte sich postwendend wieder auf. »Freut mich, dass wir uns verstehen. Daher werden Sie mir zugestehen, dass ich diese ganze Räuberpistole, die Sie sich da zusammengereimt haben, für ausgemachten Blödsinn halte. Und den bedauernswerten Mr. Dunstone für einen Spinner, der aus welchen Motiven auch immer – Geltungssucht, Geisteskrankheit, vielleicht einfach nur persönliche Rachegelüste – Behauptungen in die Welt gesetzt hat, die von sensationshungrigen Journalisten zu einer haltlosen Geschichte aufgeblasen wurden. Einer Geschichte, der Sie und wohl auch die paranoiden Verantwortlichen bei der Brigade Sieben bereitwillig aufgesessen sind.«
»Hören Sie, Mr. Blinkwater«, erwiderte Devane und beugte sich vor, »wir haben Zeugen …«
» … für einen Mord, in der Tat. Wobei der Mörder selbst und diese Nutte namens Verona bereits das Zeitliche gesegnet haben und daher nicht mehr von mir vernommen werden können …«
» … die Dunstones Behauptung bestätigt haben, dass dieser Diskrete Kreis existiert!«, ließ sich Devane nicht beirren. »Wenn Sie mir also verbieten wollen, das Elysium zu durchsuchen, dann muss ich mich ernsthaft fragen, warum.«
Die Männer starrten sich sekundenlang in die Augen, während die Temperatur im Büro des Staatsanwalts schlagartig um mehrere Grade zu sinken schien.
Blinkwater atmete tief durch, doch dann registrierte der Town-Marshal überrascht, wie sich die Miene seines Gegenübers allmählich entspannte und dessen Mundwinkel sich zu einem schmalen Lächeln hoben.
»Ich weiß, dass Sie einen tadellosen Ruf genießen, Devane«, sagte der Staatsanwalt. »Man hält große Stücke auf Ihre Fähigkeiten, bis in die höchsten Stellen der Stadtverwaltung hinauf, und bisher ist Ihnen das Kunststück gelungen, sogar bei den einfachen Leuten unten auf den Straßen beliebt zu sein.«
Blinkwaters Augen verengten sich, während er den Marshal eindringlich in den Blick nahm. »Deshalb werde ich das, was Ihre letzten Worte unterstellen, als ungesagt betrachten.«
Er schnaubte und verzog unwillig die Lippen, bevor er eine Schublade neben sich öffnete, ein mit Briefkopf versehenes Blatt hervorholte und nach dem Füllhalter griff, um mit schwungvoller Schrift ein paar Zeilen auf das Papier zu kritzeln.
Er setzte seine Unterschrift darunter, langte nach einem Stempel und drückte ihn neben sein Autogramm, bevor er das Papier über den Schreibtisch zu Devane herüber schob.
»Bitte sehr, Marshal. Da haben Sie Ihren Beschluss. Ich wünsche viel Erfolg.«
☆
Ein durchdringendes Pfeifen kündigte die Abfahrt des Zuges an, und kurz darauf setzten sich die Räder der Lokomotive in Bewegung.
Lassiter blickte zum Fenster hinaus zum Bahnsteig, auf dem ein paar Menschen Passagieren zuwinkten, die sich aus den heruntergelassenen Fenstern beugten und den letzten Gruß der Zurückbleibenden erwiderten. Als der Zug an Fahrt aufnahm, zog sich die junge Frau, die das Erste-Klasse-Abteil mit ihm teilte, vom Fenster zurück, und er bemerkte ihre feuchten Augen, während sie sich auf die gepolsterte Bank fallen ließ.
Als sie sein Stirnrunzeln registrierte, versuchte sie zu lächeln und zog ein Taschentuch hervor, um sich damit die Augenwinkel abzutupfen.
»Entschuldigen Sie, Sir. Es ist nur … ich verlasse die Stadt zum ersten Mal, und meine Eltern befürchten wohl, ich würde niemals zurückkehren.«
Lassiter schmunzelte. »Das reizende ältere Paar? Ich hoffe, Sie werden Sie nicht im Stich lassen. Die beiden sahen ein wenig verzweifelt aus.«
Die junge Frau zog die Stirn kraus. »Dabei werde ich höchstens für ein paar Wochen fort sein. Aber vor allem meine Mutter macht daraus ein riesiges Drama.«
»Wo soll es denn hingehen?«
»Cincinnati. Das liegt in Ohio«, antwortete sie bereitwillig. »Meine Tante May ist erkrankt, und jemand muss ihr ein wenig unter die Arme greifen. Sie hat ein Geschäft für Herrenbekleidung, und da ich gerade eine Ausbildung als Schneiderin abgeschlossen habe, haben Mom und Dad eingewilligt, dass ich zur Tante fahren darf, um ihr zu helfen.«
Lassiter nickte verständnisvoll, und als er ihren fragenden Blick bemerkte, streckte er ihr die Hand entgegen. »Mein Name ist Lassiter«, brummte er. »Und mein Ziel ist noch ein wenig weiter entfernt.«
Sie ergriff die Hand und schüttelte sie überraschend beherzt, wobei sie ihn fragend musterte. Er lächelte und fügte hinzu: »Illinois. Und Sie heißen …?«
Die junge Frau errötete ein wenig und senkte den Blick.
»Entschuldigen Sie. Dora Holbrooke.«
»Freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, Miss Holbrooke.«
Ihre Gesichtsfarbe wurde noch ein wenig kräftiger, und sie deutete auf das Buch, das in Lassiters Schoß lag.
»Edgar Allan Poe … dabei handelt es sich um eine recht unheimliche Lektüre, möchte ich meinen.«
Lassiter sah auf den Einband hinunter, bevor er gleichmütig die Achseln zuckte. »Das will ich nicht abstreiten, Miss. Allerdings dürfen Sie mir glauben, dass das wahre Leben oft noch weitaus grausamere Geschichten erzählt, als Mr. Poe sie sich ausmalen konnte.«
Dora Holbrooke legte die Stirn in Falten. »Das mag wohl sein, obwohl ich gestehen muss, dass ich selbst ein paar von Mr. Poes Geschichten gelesen habe und Sie äußerst erschreckend fand.«
Sie beugte sich ein wenig vor und bot ihm dabei einen großzügigen Einblick in ihr ausladendes Dekolleté. »Sind Sie vielleicht so etwas wie ein Detektiv oder ein Sheriff?« Ihre Augen weiteten sich. »Vielleicht befinden Sie sich ja gerade auf der Jagd nach einem üblen Verbrecher, Sir?«
Lassiter winkte ab und setzte eine bedauernde Miene auf. »Keineswegs, Miss Holbrooke. Sorry, aber ich bin nur ein harmloser Handelsreisender.«
Dora Holbrooke kicherte und klopfte ihm mit einer gezierten Geste auf sein Knie. »Sie flunkern doch, Lassiter. Handlungsreisende sehen nun wirklich anders aus.«
»Ach ja?« Lassiter legte die Stirn in Falten. »Was stimmt denn dann nicht an mir?«
Sie musterte ihn von oben bis unten und ließ sich Zeit mit der Antwort.
»Breite Schultern, wettergegerbte Gesichtszüge, Bartstoppeln, die seit ein paar Tagen nach einer Rasur verlangen, eine abgewetzte Lederjacke, deren Nähte an der linken Schulter ausgebessert werden müssten … warten Sie, ich bin noch nicht fertig!« Sie legte den Kopf schief und verengte die Augen. »Cowboystiefel, ein Revolvergurt mit einer ziemlich großen Pistole im Holster, den sie nicht abgelegt haben, obwohl es unbequem sein muss, damit auf der Bank zu sitzen.« Sie hob den Kopf und zeigte auf das Gepäckfach über dem Brigade-Agenten. »Eine Satteltasche! Sind darin Ihre Muster? Oder in diesem länglichen Lederfutteral daneben, dann bieten Sie wohl Gewehre an. Wenn Sie aber nur ein einziges mit sich führen, dürften die Verkaufsgespräche mit Ihren Kunden ziemlich kurz ausfallen.«
Ihr strahlendes Lächeln machte der Sonne Konkurrenz und brachte Lassiter zum Schmunzeln.
»Nicht übel, Miss Holbrooke …«
»Oh, bitte. Nennen sie mich doch Dora, nachdem ich Sie so indiskret Ihrer leider ziemlich unzureichenden Legende beraubt habe.«
»Legende?«
Sie hob die Augenbrauen. »Nennt man das nicht so, wenn Geheimagenten einen unscheinbaren Beruf vorschützen, um sich zu tarnen?«
»Ich glaube, davon habe ich mal gehört.«
»Sehen Sie. Und jetzt versuchen Sie, durch Ihre Gelassenheit davon abzulenken, dass ich Sie ertappt habe.«
»Ertappt wobei?«
»Dass Sie sich als Handelsreisender ausgeben, der Sie nicht sind natürlich!«
»Verstehe …« Lassiter beugte sich ein wenig vor und lächelte. »Möglicherweise habe ich ja auch nur zu einer Notlüge gegriffen, um Sie nicht zu beunruhigen, Miss Holbrooke.«
»Dora, bitte.«
»Okay, Dora. Vielleicht wollte ich ja einfach kein Gespräch anfangen und stattdessen mein Buch lesen. Was halten Sie von dieser Erklärung?«
Dora schürzte die Lippen. »Die gefällt mir nicht besonders. Ich dachte, wir würden uns gerade nett unterhalten.«
Lassiter zuckte die Achseln, und sie griff nach ihrer Tasche, die sie neben sich auf der Bank abgestellt hatte. »Vielleicht interessiert es Sie, was ich gerade lese«, sagte sie und zwinkerte ihm zu.
Als er einen Blick auf den Einband warf, den sie ihm mit verschwörerischer Miene zeigte, verbreiterte sich sein Lächeln.