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Es war ein eisiger Wind, der Lassiter Regen und Schnee ins Gesicht schleuderte und ihn damit in die Wirklichkeit zurückholte. Blinzelnd öffnete er die Augen, während ihn zwei maskierte Männer über die Reling des Kahns hoben und ein paar Schritte weit auf einen schmalen Landesteg schleppten. Die Bohlen knarrten vernehmlich unter ihren Stiefeln, und einer der beiden zischte ihm ins Ohr: "Jetzt komm schon auf die Beine, ehe wir dich fallen lassen und du dir noch die Zähne ausschlägst."
Mühsam gelang es Lassiter, auf eigenen Füßen zu stehen. Er sah sich um, konnte aber durch das Schneegestöber und den Nebel nur wenige Yards weit schauen. "Wo zur Hölle bin ich?"
"An einem Ort, den du wohl nicht lebendig wieder verlassen wirst", höhnte der andere Maskierte und lachte leise.
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Seitenzahl: 144
Veröffentlichungsjahr: 2020
Cover
Impressum
Todesspiel
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelfoto: Maren/Bassols
Datenkonvertierung eBook: César Satz & Grafik GmbH, Köln
ISBN 978-3-7325-9685-0
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
www.bastei.de
Todesspiel
Es war ein eisiger Wind, der Lassiter Regen und Schnee ins Gesicht schleuderte und ihn damit in die Wirklichkeit zurückholte. Blinzelnd öffnete er die Augen, während ihn zwei maskierte Männer über die Reling des Kahns hoben und ein paar Schritte weit auf einen schmalen Landesteg schleppten. Die Bohlen knarrten vernehmlich unter ihren Stiefeln, und einer der beiden zischte ihm ins Ohr: »Jetzt komm schon auf die Beine, ehe wir dich fallen lassen und du dir noch die Zähne ausschlägst.«
Mühsam gelang es Lassiter, auf eigenen Füßen zu stehen. Er sah sich um, konnte aber durch das Schneegestöber und den Nebel nur wenige Yards weit schauen. »Wo zur Hölle bin ich?«
»An einem Ort, den du wohl nicht lebendig wieder verlassen wirst«, höhnte der andere Maskierte und lachte leise.
»Und jetzt vorwärts«, befahl ihm der vierschrötige Bursche, der ihn um einen halben Kopf überragte und sicher mehr als zweihundert Pfund auf die Waage brachte. Zwischen der breiten Krempe seines Lederhuts und dem schmutzigen Wollschal über Mund und Nase funkelte ein eng zusammenstehendes Augenpaar den Brigadeagenten ungeduldig an. »Immer der Nase nach.«
Er rammte Lassiter den Gewehrkolben grob ins Kreuz, und der taumelte voran. Auf den glitschigen Planken wäre er um ein Haar gestürzt, und angesichts der hinter dem Rücken gefesselten Hände hätte das böse ausgehen können, doch Lassiter fing sich im letzten Moment und setzte nun vorsichtiger einen Fuß vor den anderen.
Ihm war speiübel, und der kalte Wind brachte ihn zum Zittern. Denn im Gegensatz zu seinen Bewachern, die dem Klima angepasste Kleidung trugen, hatte er nur den Stetson, Jeans, ein Wollhemd und darüber seine dunkelgrüne Kattunjacke an.
»Was soll der Scheiß?«, brummte er und versuchte krampfhaft, dabei nicht mit den Zähnen zu klappern.
»Das erfährst du noch früh genug, Hombre«, erwiderte der Mann, der neben ihm ging und dabei vorsichtig Abstand hielt. Er war untersetzt, hatte Stiefel aus Schlangenleder an den Füßen und trug einen knielangen Wildledermantel mit Pelzkragen. Die Bandana über seiner unteren Gesichtshälfte war leuchtend rot, sein Hut, ein speckiger Bowler, auberginefarben. Lassiter bemerkte, dass dem Burschen der kleine Finger der rechten Hand fehlte, am Ringfinger neben dem Stumpf leuchtete ein protziger Siegelring.
Sie stapften über festgefrorenen Boden einen Pfad hinauf, der in einen Kiefernhain führte. Sein Atem bildete kleine weiße Wolken vor Lassiters Lippen, die sich bereits taub anfühlten.
»Wenn ich gewusst hätte, dass es nach Kanada geht, hätte ich mir etwas Passenderes zum Anziehen besorgt«, sagte er, und der Hüne hinter ihm lachte kehlig.
»Du scheinst ja immer noch ziemlich groggy zu sein, Lassiter. Wie hätten wir wohl in sechs Stunden bis nach Kanada …«
»Halt gefälligst dein dämliches Maul, Duncan«, fuhr der Untersetzte seinen Kumpan an und wandte sich dem Agenten der Brigade Sieben zu. »Wenn wir oben sind, wirst du ein paar wärmere Klamotten bekommen, keine Sorge. Niemand hat ein Interesse daran, dass du an einer Lungenentzündung krepierst.«
»Freut mich ausgesprochen, das zu hören«, erwiderte Lassiter und grinste humorlos. »Ihr zwei seid ja wirklich rührend bemüht um mich …«
Zwischen den Kiefern stieg der Pfad noch einmal deutlich an, und der Wind blies ihnen in wütenden Böen entgegen und ließ die Nadeln der Bäume rauschen und wispern. Der schmale Streifen Himmel über ihren Köpfen hatte die Farbe von Pottasche und lieferte nicht die geringste Information darüber, welche Tageszeit herrschte. Es konnte früher Morgen sein oder auch später Nachmittag.
Nach einer Biegung tauchte ein verwittertes Tor vor ihnen auf, dessen schmiedeeiserne Flügel halb geöffnet waren. Auf den Kronen der mächtigen Säulen zu beiden Seiten hockten geduckte Gargoyles und streckten den Ankömmlingen ihre steinernen Zungen heraus.
Der Weg hinter dem Tor war einmal mit Kies bedeckt gewesen, aber offenbar seit langer Zeit nicht mehr gepflegt worden. Nun wucherte knöchelhohes Unkraut zwischen den Steinchen hervor und bedeckte sie fast zur Hälfte. Die Hecken, die den Weg flankierten, befanden sich im Würgegriff von Efeu und Giftsumach, die auch an den Stämmen der Eichen und Buchen dahinter emporrankten.
Das zweistöckige Gebäude, das sich vor ihnen erhob, hatte fast dieselbe schmutzig graue Farbe wie der trübe Himmel darüber. Die schmalen, tief in den Granitsteinen der Fassade ruhenden Fenster ließen das Anwesen mehr wie eine Festung als wie ein Wohnhaus erscheinen, was durch die beiden von Zinnen bewehrten Türme, die das Hauptgebäude flankierten, noch unterstützt wurde.
Der trutzige Bau erinnerte Lassiter an Ritterburgen in Europa, doch so ungewöhnlich derartige Architektur hierzulande auch war – sie brachte Lassiter keinen Nutzen dabei, seinen Aufenthaltsort herauszufinden. Denn er hatte weder die Burg noch diesen Ort je zuvor betreten oder gesehen, da war er sich sicher.
Eine breite, mit Moos bewachsene Freitreppe führte hinauf zu der fensterlosen, wuchtigen Eingangstür, deren Flügel aus massiven Eichenbohlen gefertigt waren, die das Alter über Jahrzehnte hinweg fast schwarz hatte werden lassen.
Offenbar war ihre Ankunft bemerkt worden, denn die Tür öffnete sich, als sie noch ein paar Schritte entfernt waren, und ein unglaublich dürrer Mann in der Livree eines Hausdieners trat hinaus, gegen den der Hüne hinter Lassiter fast kleinwüchsig erschien.
Der Diener musste gut und gern siebeneinhalb Fuß messen, doch die Größe wurde durch seine stark gebeugte Haltung gemindert. Sein langer faltiger Hals ragte fast gerade nach vorn aus dem gestärkten weißen Kragen, und mit dem buschigen Haarkranz um den spitz zulaufenden Schädel, der gebogenen Nase und den zu Schlitzen verengten Augen erinnerte er an einen Geier oder eine Schildkröte.
Er verschränkte die langen Finger vor seinem nicht vorhandenen Bauch und verzog den lippenlosen Mund zu einem erfreuten Lächeln. »Na endlich – Mr. Lassiter. Dann sind wir also vollzählig.« Gleichmütig neigte er den Kopf in Richtung der offenen Tür.
»Bringt den Gentleman herein, ehe er sich noch den Tod holt.«
Im Vestibül des Hauses war es nur um eine Nuance weniger kalt, doch Lassiter musste trotzdem grinsen, als er die Rüstungen erblickte, die auf eisernen Ständern vor den Wänden standen. Zwar waren die glänzenden Harnische, Helme und Kettenhemden eher lateinamerikanischen Ursprungs, mochten sogar authentische Relikte der Konquistadoren sein und passten daher nicht so recht in die normannische Architektur, aber der Eigentümer des Anwesens war unverkennbar regelrecht besessen vom Mittelalter.
Davon kündete ebenso der große Saal, in den man ihn führte. In dem offenen Kamin, in dem ein großes Feuer brannte und endlich ein wenig Wärme lieferte, hätte man einen ausgewachsenen Bullen am Spieß braten können, und der Eichentisch unter einem wuchtigen Deckenleuchter bot Platz für mindestens zwei Dutzend Gäste. Vom unverputzten Mauerwerk hingen Gobelins herab, die Jagdszenen zeigten und vor geraumer Zeit einmal äußerst kostbar gewesen sein mochten, bevor Feuchtigkeit und Ungeziefer ihnen zu Leibe gerückt waren.
Lassiter bemerkte ordentlich zusammengefaltete Kleidung auf dem Tisch, die offenbar für ihn bereitgelegt worden war. Außerdem stand dort eine dampfende Terrine, und als der würzige Duft der Suppe ihm in die Nase stieg, knurrte postwendend sein Magen.
Seine Bewacher blieben vor der Tür zurück, ihre Gewehre in den Fäusten haltend, während der Hausdiener sich leicht verbeugte und ihm auffordernd zunickte.
»Greifen Sie zu, Lassiter. Nach der langen Reise müssen Sie hungrig sein. Die Kleidung ist selbstverständlich auch für Sie bestimmt. Wenn Sie sich zunächst umziehen möchten …« Er zeigte auf eine spanische Wand, die sich jenseits der Tafel vor den verhängten Fenstern befand.
Lassiter trat an den Tisch, überlegte kurz und nickte dann. Er streifte sich die Lederjacke ab, schlüpfte aus den Stiefeln und zog sich dann die Hosen aus. Der Hausdiener hob leicht indigniert die Augenbrauen, verlor aber kein Wort, während Lassiter halb nackt am Tisch stand und den Kleiderstapel genauer in Augenschein nahm.
Dicke Wollsocken, lange Unterhosen und ein Pullover aus Schafwolle, außerdem eine gefütterte Wildlederjacke. Alle Kleidungsstücke wirkten neu und passten ihm wie angegossen.
Als er wieder in seine Stiefel gestiegen und vor der Terrine Platz genommen hatte, schaute er den Hausdiener fragend an.
»Okay, Kumpel. Ich möchte nicht unhöflich sein und einfach mit dem Essen beginnen. Daher wüsste ich gern – wann kommen König Artus, Parsifal und Gawain, um mir Gesellschaft zu leisten?«
Die Mundwinkel seines Gegenübers hoben sich zur Andeutung eines Lächelns. »Man hat mich darüber informiert, dass Sie ein gebildeter Mann mit Humor sind, Mr. Lassiter – auch wenn Ihr Äußeres das nicht unbedingt verrät. Aber ich fürchte, Sie werden vorerst mit mir vorlieb nehmen müssen.« Er verbeugte sich. »Mein Name ist Clarence, so britisch wie die Helden von Camelot, obwohl ich die alte Welt noch nie besuchen durfte. Ich bin für Ihr Wohlergehen und das der anderen Gäste verantwortlich.«
Lassiter nickte mit säuerlicher Miene und griff nach dem Silberlöffel, der neben der Terrine lag.
»Okay, Clarence. Darin sind Sie ganz offensichtlich talentierter als die beiden Galgenvögel da hinten«, stellte er fest. »Aber warum finde ich den Begriff Gast irgendwie unpassend …?«
Er tat, als müsse er über die Frage nachdenken, bevor er kurz darauf den Löffel hob. »Ach ja! Möglicherweise, weil ich nicht freiwillig hier bin. Wäre Gefangener nicht eine treffendere Bezeichnung?«
Clarence legte die Stirn in Falten. »Vermutlich haben Sie recht, Sir. Es tut mir leid.«
Er wandte sich den beiden Männern vor der Tür zu. »Ihr könnt jetzt gehen. Aber haltet euch bereit. Wir sprechen uns später.«
Wortlos machten die Maskierten kehrt und hatten im nächsten Moment die Tür hinter sich geschlossen, während Clarence an den riesigen Tisch trat und sich geschäftig die Hände rieb.
Lassiter tauchte den Löffel in die Terrine und schob ihn sich gefüllt in den Mund. Die Suppe war immer noch warm und schmeckte köstlich. Huhn, Möhren, Kohl und verschiedene Meeresfrüchte in einer kräftigen Brühe. Der Hunger verhinderte es zunächst, dass er weitere Fragen stellte. Er verputzte den gesamten Inhalt binnen einer Minute, ohne aufzusehen.
»Hat es Ihnen gemundet?«, fragte Clarence und beugte den langen Rücken herab wie eine Birke im Wind. Seine hageren Gesichtszüge verzogen sich zu einem devoten Lächeln.
»Ich könnte noch eine Portion vertragen, wenn ich ehrlich bin.«
Bedauernd breitete Clarence die Arme aus. »Ich bin untröstlich, Sir. Aber leider darf ich Ihnen erst zum Sonnenaufgang wieder etwas servieren.«
Lassiter lehnte sich auf dem Stuhl zurück und starrte sein Gegenüber achselzuckend an. »Das Wohlergehen Ihrer Gäste soll also seine Grenzen haben«, stellte er lakonisch fest. »Verraten Sie mir dann wenigstens, warum man mich an diesen Ort verschleppt hat?«
Der Hausdiener hob die Schultern, die so spitz neben den Ohren hervorstanden, als würde die Livree auf einem Garderobenständer hängen. Er schüttelte langsam den Kopf und drehte sich zum Kaminfeuer um.
»Es gehört zum Spiel, dass Sie das selbst herausfinden«, sagte er geheimniskrämerisch.
Grimmig runzelte Lassiter die Stirn und erhob sich. »Das soll also ein Spiel sein? Man entführt mich an diesen gottverlassenen Ort, nur um ein Spielchen zu wagen?«
Als Clarence bemerkte, wie Lassiters Stimme schneidender wurde, drehte er sich wieder um und sah dem Brigadeagenten eindringlich in die Augen.
»Ich möchte Sie bitten, die Ruhe zu bewahren, Mr. Lassiter«, sagte er ruhig. »Falls Sie denken, mich überwältigen und von hier fliehen zu können, wäre das ein fataler Irrtum.«
»Ach ja?«, knurrte Lassiter und schob grimmig das Kinn vor, während er sich umsah. »Und warum sollte ich das glauben?«
»Wir befinden uns auf einer Insel, Sir«, erwiderte Clarence. »Und das Boot, das Sie hierher brachte, hat bereits wieder abgelegt und ist zur Küste zurückgekehrt. Von diesem Eiland gibt es kein Entkommen; es sei denn, Sie wollen schwimmen. Wovon ich Ihnen dringend abraten würde. Da draußen ist es sehr kalt, die Strömungen sind tückisch und selbst der beste Schwimmer der Vereinigten Staaten würde keine Viertelmeile weit kommen, bevor er ertrinkt, erfriert oder beides.«
Clarence zuckte die Achseln. »Wobei sich die Küste erheblich weiter von hier entfernt befindet als nur eine viertel Meile, das dürfen Sie mir glauben.«
»Wo sind wir?«, fragte Lassiter, und Clarence überraschte ihn, indem er ohne Umschweife antwortete.
»Rosebud Island. Das Anwesen hat ein vergessener Held der Unabhängigkeitskämpfe und Weggefährte von George Washington errichten lassen, vor fast hundert Jahren. Er hatte britische Vorfahren, wie unschwer zu erkennen ist, wenn man sich ein wenig mit solchen Dingen auskennt.« Clarence fuhr sich mit seinen langen Pianistenfingern über das Revers seiner Livree, um unsichtbare Staubpartikel zu entfernen.
Lassiter starrte ihn eine Weile an, während er in seinen Erinnerungen nachforschte, doch bei dem Namen Rosebud Island klingelte nichts bei ihm.
Der Hausdiener bemerkte, wie er sich den Kopf zerbrach, und lächelte verständnisvoll. »Kein Grund, sich zu wundern, Mr. Lassiter. Sowohl der ehemalige Besitzer als auch die Insel selbst sind schon seit langem in Vergessenheit geraten. Der neue Hausherr hat die Insel nur durch einen Zufall entdeckt und erkannt, wie perfekt sie für seine Zwecke geeignet ist.«
Lassiter schaute auf. »Wenn ich jetzt frage, welche Zwecke Sie meinen, werden Sie mir wieder keine oder eine Antwort geben, die nur aus hohlen Phrasen besteht – richtig?«
Statt einer Antwort, die Lassiters Vermutung bestätigt hätte, ging Clarence zum Kamin und zog an einer Leine, die von der Decke hing. Irgendwo im weitläufigen Inneren des Gebäudes glaubte Lassiter, ein leises Läuten zu vernehmen.
Es vergingen kaum zwei Minuten, bis sich die Tür des Saales öffnete und zwei Bewaffnete eintraten, deren Gesichter ebenso wie die von Lassiters Entführern maskiert waren. Einer der beiden legte ihm wieder Handschellen an, während der andere einen Karabiner auf ihn richtete.
»Man wird Sie jetzt in Ihre Zelle bringen, Sir.« Clarence’ Stimme hatte nichts von ihrer distinguierten Höflichkeit eingebüßt, seine Miene wirkte jetzt allerdings deutlich reservierter als noch Minuten zuvor. Er schien die Rolle des servilen Hausdieners so mühelos abstreifen zu können wie seine Livree.
»Versuchen Sie, ein wenig zu schlafen. Morgen warten einige Herausforderungen auf Sie.«
»Ich freue mich jetzt schon drauf, Clarence«, knurrte Lassiter sarkastisch, während die Burschen ihn unter den Armen packten und zur Tür hinaus zerrten.
Im Vestibül stand eine Tür offen, die Lassiter bei seiner Ankunft nicht bemerkt hatte. Dahinter führten Treppenstufen hinunter, die vom fahlen Leuchten mehrerer Öllampen erhellt wurden.
Während man ihn hinab führte in die Gewölbe unterhalb der Burg, stiegen allmählich die Erinnerungen in Lassiters Geist auf wie die Überreste eines versunkenen Schiffes in stürmischer See. Und Stück für Stück kam ihm wieder zu Bewusstsein, wie er in diese verhängnisvolle Lage geraten war.
Es hatte in Portland begonnen, in einer Taverne mit dem einladenden Namen Speakeasy …
☆
Dreißig Stunden zuvor. Portland, Maine
»Hey, Großer … trinkst du lieber allein, oder darf ich dir Gesellschaft leisten?«
Als Lassiter den Kopf wandte, hoben sich seine Augenbrauen um eine Nuance, was wenig darüber aussagte, wie beeindruckt er wirklich war.
Denn die Lady mit dem weißblonden Haarschopf, der kunstvoll über ihrem Kopf zusammengebunden war, sah wahrlich zum Anbeißen aus.
Volle, glänzend rot geschminkte Lippen, eine aristokratisch gerade Nase unter eisblauen Augen und fein gezogene Brauen, die sich ein wenig spöttisch über den langen Wimpern zusammenzogen. Das Lächeln wirkte so gefährlich wie verheißungsvoll, und ein Blick auf das Dekolleté, das von ihrem leuchtend roten Kleid kaum verborgen wurde, hätte selbst die standhaftesten Heiligen ihr Keuschheitsgelübde vergessen lassen.
Sie lehnte sich lässig mit dem linken Arm an die Theke und fixierte ihn auffordernd.
»Kennen wir uns?«, fragte Lassiter, weil sie ihm irgendwie bekannt vorkam; obwohl er sich partout nicht daran erinnern konnte, woher.
»Müssen wir das?«, fragte sie zurück und schürzte die Lippen zu einem lasziven Lächeln. Sie hob den rechten Arm und wedelte mit der Federboa, die sich um ihre nackten Schultern wand.
»Vielleicht hast du mich ja irgendwann und irgendwo mal auf einer Bühne gesehen. Ich verdiene mein Geld als Sängerin.«
Lassiter nickte. »Wäre möglich. Aber hier im Speakeasy gibt es keine Bühne.« In einer vagen Geste schwenkte er den Arm über den Schankraum. »Nicht mal ein automatisches Klavier.«
Sie rümpfte die Nase und zuckte die Achseln. »Gibst du mir jetzt trotzdem was zu trinken aus?«
»Wenn du mir verrätst, wie du heißt …«
»Lizzy. Lizzy Van Dyke.«
Lassiter winkte nach dem Bartender, und kurz darauf standen zwei Gläser Whiskey vor ihnen. Lizzy nahm ihren Drink in beide Hände und hielt das Glas so vorsichtig in ihren Fingern wie einen verletzten Vogel. Sie starrte in die bernsteinfarbene Flüssigkeit und fragte leise: »Bleibst du länger in Portland?«
Lassiter nippte an seinem Whiskey, bevor er langsam den Kopf schüttelte. »Nein. Ich werde morgen wieder aufbrechen Richtung Süden.«
Sie schaute ihn durch die Haarsträhnen, die ihr ins Gesicht fielen, hindurch verstohlen von der Seite an. »Warum? Gefällt’s dir nicht bei uns?« Ein schmales Lächeln verriet, dass die Frage als Scherz gemeint war, und Lassiter erwiderte es.
»Ehrliche Antwort?«
Als sie nickte, zuckte er die Achseln. »Ist mir zu kalt hier oben, sorry. Ich bin ein Sohn des Südens, verstehst du?«
Sie zeigte auf seine Jacke und zwinkerte spöttisch. »Es gibt kein schlechtes Wetter – nur die falsche Kleidung.«
»Mag sein«, gab er zu und trank noch einen Schluck. »Trotzdem fühle ich mich wohler, wenn mir die Sonne heiß auf den Pelz brennt.«
»Bei mir zuhause ist es so warm wie in Tennessee«, sagte Lizzy beiläufig und führte danach ihr Glas an die Lippen, um ihren Drink bis fast zur Hälfte zu leeren. Sie verschluckte sich und hustete, was Lassiter dazu bewog, ihr vorsichtig auf den Rücken zu klopfen.
»Nicht so hastig, Lady«, brummte er, und sie schaute ihn entschuldigend aus verengten Augen an.