1,99 €
Der Dreiviertelmond hing wie ein angenagter Silberdollar am Himmel und verschwand immer wieder hinter bleiernen Wolken. Während der Zug der Northern Pacific Railroad westwärts stampfte, war der Yellowstone River kaum mehr als eine Ahnung - verborgen hinter dicht stehenden Gelbkiefern und Nebelschwaden. Das gleichmäßige Rumpeln der Räder lullte die Reisenden ein. Auch Lassiter streckte seine Beine von sich und wollte sich gerade den Stetson über das Gesicht ziehen, als er vor dem Fenster plötzlich eine Bewegung ausmachte. Wie von einer Hornisse gestochen fuhr er hoch. Da draußen braute sich Ärger zusammen. Gewaltiger Ärger sogar!
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 143
Veröffentlichungsjahr: 2021
Cover
Impressum
Lassiter und die falsche Nonne
Vorschau
BASTEI LÜBBE AG
Vollständige eBook-Ausgabeder beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
© 2021 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: Boada / Norma
eBook-Produktion:3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)
ISBN 9-783-7517-0835-7
www.bastei.de
www.luebbe.de
www.lesejury.de
Lassiter unddie falscheNonne
Der Dreiviertelmond hing wie ein angenagter Silberdollar am Himmel und verschwand immer wieder hinter bleiernen Wolken. Während der Zug der Northern Pacific Railroad westwärts stampfte, war der Yellowstone River kaum mehr als eine Ahnung – verborgen hinter dicht stehenden Gelbkiefern und Nebelschwaden.
Das gleichmäßige Rumpeln der Räder lullte die Reisenden ein. Auch Lassiter streckte seine Beine von sich und wollte sich gerade den Stetson über das Gesicht ziehen, als er vor dem Fenster plötzlich eine Bewegung ausmachte. Wie von einer Hornisse gestochen fuhr er hoch. Da draußen braute sich Ärger zusammen. Gewaltiger Ärger sogar!
Im Wagen hatte sich friedliches Schweigen ausgebreitet.
Die beiden Farmer, die in Glendive zugestiegen waren und sich ausgiebig über die Heuschreckenplage im Sommer ausgelassen hatten, waren vor einer Weile eingenickt. Schräg gegenüber hielt eine rotwangige Frau jeweils einen Arm um ein Kind geschlungen, keines älter als fünf oder sechs Jahre. Während die Kinder fest schliefen, war der Blick der Frau starr auf die Füße des Oldtimers gerichtet, der auf der anderen Seite des Gangs saß und seine mit löchrigen Socken bekleideten Füße auf den Sitz gelegt hatte. Ein Netz aus roten Äderchen spannte sich über sein Gesicht. Er gab Geräusche von sich, die an ein Sägewerk erinnerten.
Neben ihm kritzelte ein junger Mann etwas in ein Notizbuch. In dem spärlichen Licht musste er sich so weit vorbeugen, dass seine Nase fast ebenso über das Papier schabte wie sein Bleistiftstummel. Seine Kleidung war abgewetzt, aber sauber. Die Löcher in seinem Hut hatte er mit Flicken repariert.
Der letzte Fahrgast saß schräg vor Lassiter. Eine Frau war es, von Kopf bis Fuß in Schwarz gehüllt. Gesicht und Haar waren unter einem Schleier verborgen. Sie trug schwarze Handschuhe, die aus schimmernder Seide gefertigt waren. Eine Witwe. Unter dem schwarzen Tüll war unmöglich zu erkennen, ob sie wach war oder schlief. Da sie sich nicht rührte, war wohl von Letzterem auszugehen.
Lassiters Blick suchte nachdenklich den Wagen ab.
Welcher der Reisenden würde wissen, wie man sich zur Wehr setzte?
Der Oldtimer und der Schreiberling, vielleicht. Die beiden Farmer? Möglicherweise. Die Ladys hingegen machten nicht den Eindruck, als hätten sie schon jemals in ihrem Leben eine Waffe abgefeuert. Der Hauptteil würde wohl an ihm liegen... Lassiter straffte sich. Hinter ihm lagen anstrengende Tage. Sein voriger Auftrag hatte ihn fast das Leben gekostet und ihm eine weitere Narbe beschert. Eine von vielen. Er hatte sich auf eine ruhige Fahrt mit der Eisenbahn gefreut.
An eine Atempause war allerdings nicht zu denken, denn dieser Zug würde sein Ziel nicht ungeschoren erreichen.
Wenn überhaupt...
Lassiter knirschte mit den Zähnen.
Er war auf dem Weg nach Billings. In seiner Tasche steckte ein Telegramm mit der Adresse von Sam Earhart. Der Anwalt war ein neuer Mittelsmann der Brigade sieben. Von ihm würde er seinen nächsten Auftrag bekommen.
Erst galt es jedoch, die Stadt lebend zu erreichen!
Wieder rissen die Wolken über den Hügeln auf und ließen die Umrisse von Reitern erkennen, die ihre Pferde zum äußersten Tempo antrieben. Sie preschten hinter dem Zug her und taten alles, um ihn einzuholen. Weiter vorn musste eine Brücke oder eine Kurve kommen, denn der Zug drosselte sein Tempo spürbar. Damit hatten die Reiter offenbar gerechnet.
Und sie holten auf!
Ihre Gesichter waren unter Halstüchern verborgen. Revolver blitzten in ihren Fäusten. Den Fahrschein wollten sich diese Kerle bestimmt nicht sparen, nein, die hatten es nicht auf eine Mitfahrgelegenheit abgesehen, sondern auf die Geldbörsen der Fahrgäste!
Lassiter sprang auf die Füße, machte sich bereit.
Im selben Augenblick kreischte die Lady mit den Kindern: »Ein Überfall!« Offenbar war sie doch nicht so entrückt, wie es den Anschein gehabt hatte. Ihre Apfelwangen verloren alle Farbe.
Auf ihren Ruf brach im Wagen Tumult aus.
Der Oldtimer fuhr fluchend in die Höhe, zerrte sein Schießeisen aus dem Holster und warf wilde Blicke um sich. Der Schreiberling schmiss seinen Stummel im hohen Bogen von sich und duckte sich unter seinem Sitz ab. Die beiden Farmer sprangen auf, warfen die Arme hoch in die Luft und brüllten aufgeregt durcheinander. Die Kinder begannen zu weinen. Ob aus Angst oder weil ihre Mutter sie so fest an sich drückte, war schwer zu sagen.
Die Einzige, die sich nicht rührte, war die Witwe.
Vorn stieß die Dampflokomotive kurz hintereinander mehrere Warnpfiffe aus. Anscheinend war der Mannschaft die nahende Gefahr inzwischen aufgefallen.
Die ersten Schüsse krachten.
Es hatte begonnen!
Im nächsten Augenblick ging ein scharfer Ruck durch den Zug. Er riss einen der Farmer von den Füßen. Hart prallte er rücklings auf den Boden. Sein Begleiter streckte ihm die Hand hin, wollte ihm aufhelfen, aber er schlug sie zur Seite und rappelte sich fluchend aus eigener Kraft wieder auf.
Lassiter lud seine Winchester durch, wappnete sich gegen das, was da gleich kommen würde.
Unvermittelt rührte sich die schwarz gekleidete Witwe. Mit einer schwungvollen Bewegung warf sie ihren Schleier zurück. Darunter wurde ein ebenmäßiges Gesicht sichtbar, das von sinnlich geschwungenen roten Lippen dominiert wurde. Kühle blaue Augen blickten unter weißblonden Haaren, die am Hinterkopf aufgetürmt waren. Sie war nicht mehr ganz jung, aber viel jünger, als Lassiter angenommen hatte. Sie bückte sich, tastete unter ihren Sitz – und als sie sich wieder aufrichtete, hielt sie eine Schrotflinte in ihren Händen! Sie lud einmal durch, dann deutete sie nach vorn zu der Tür, die aus dem Wagen auf die metallene Plattform führte.
»Wie ist es?«, fragte sie mit einer warmen, ein wenig rauchigen Stimme, »helfen Sie mir oder muss ich alles alleine machen?« Ihr Blick war der einer Berglöwin, die ihre Jungen verteidigt.
Sekundenlang war Lassiter zu verblüfft, um zu antworten.
Schließlich griente er.
»Es wird mir ein Vergnügen sein, Ma'am.«
Der Anflug eines Lächelns huschte über ihr Gesicht, als hätte sie nichts anderes erwartet.
Lassiter strebte der Tür zu, schob sie schwungvoll auf und trat auf die Plattform. Der kühle Nachtwind fuhr ihm ins Gesicht, trieb ihm den Dampf aus der Lokomotive entgegen, raubte ihm sekundenlang Atem und Sicht. Er fuhr sich mit dem Ärmel über die Augen und beugte sich vor.
Der Zug bestand aus der Lokomotive, einem Fracht- und Gepäckwagen sowie zwei Pullmannwagen. Ein Dutzend Reiter jagte ihm nach und holte immer weiter auf! Drei von ihnen nahmen die Mannschaft vorn im Zug unter Beschuss. Ihre Kugeln zischten wie wütende Bienen durch die Nacht.
Schmerzensschreie gellten.
Verdammt! Das klang überhaupt nicht gut!
Lassiter wartete nicht ab. Er stellte die Stiefel zwei Fußbreit auseinander, um auf dem schwankenden Boden einen halbwegs sicheren Stand zu haben, nahm sein Gewehr hoch und richtete es auf einen der drei vorderen Angreifer.
Er krümmte den Zeigefinger, und seine Winchester spie heißes Blei.
Sein Geschoss zackte dem Angreifer in die Brust und riss ihn aus dem Sattel. Die Arme in die Luft werfend, kippte er von seinem Pferd und blieb in der Dunkelheit zurück.
Seine beiden Kumpane ließen sich nicht beirren, hielten weiter auf die Dampflok zu. Einer kniete sich, einem Artisten gleich, auf seinen Sattel, dann richtete er sich hoch auf und sprang mit einem gewagten Satz auf die stählerne Lady!
Im selben Augenblick wurde sein Kumpan von einem Schrothagel aus dem Sattel geschossen.
Die Witwe hatte ihre Flinte sprechen lassen!
Wütendes Gebrüll der übrigen Reiter beantwortete den Treffer. Sie nahmen nun Lassiter und die schwarze Lady unter Beschuss. Ein Hagel aus Kugeln raste über sie hinweg, verfehlte sie jedoch, denn Lassiter hatte die Frau blitzschnell mit sich hinter die Verkleidung der Plattform gezogen, wo sie sich nun abduckten und den Bleiregen abwarteten.
Splitter und Kugeln flogen ihnen um die Köpfe.
Die Frau presste die Hände auf die Ohren, gab jedoch keinen Mucks von sich.
Dafür krachten nun plötzlich weiter hinten Schüsse.
In den übrigen Wagen hatten sich Reisende und Wachleute gefunden, die den Banditen Paroli gaben!
Hin und her flogen die Kugeln.
Lassiter lud nach und richtete sich wieder auf, um einen weiteren Angreifer ins Visier zu nehmen. Er schoss... Volltreffer! Sein Bleistück ließ den Getroffenen vom Pferd kippen. Sein linker Stiefel hing jedoch im Steigbügel fest, und so wurde er von seinem Reittier mitgezerrt.
Sieben Angreifer zählte Lassiter noch, den Halunken im Führerstand mitgerechnet. Und der ließ den Zug nun anhalten!
Mit quietschenden Bremsen kamen sie zum Stehen.
In den Wagen gellten entsetzte Schreie. Die Reisenden wussten, dass nichts Gutes auf sie wartete, wenn die Banditen sie in die Finger bekamen.
Die schwarz gekleidete Lady richtete sich aus der Deckung auf und zuckte mit keiner Wimper, als ihr eine Kugel den Schleier vom Kopf riss. Stattdessen zielte sie konzentriert und holte einen weiteren Angreifer aus seinem Sattel.
Mit so viel Gegenwehr schienen die Kerle nicht gerechnet zu haben. Vermutlich hatten sie einen Zug mit friedlichen Farmern und Frauen erwartet. Keine Kämpfer, die ihre Zahl auf die Hälfte reduzierte. Die Reiter nahmen ihre Pferde auf und ballerten blind drauflos. Unter ihren Kugeln gingen Fensterscheiben zu Bruch, Holz splitterte. Reisende schrien.
Von einem der hinteren Wagen kamen weitere Kugeln. Eine fuhr einem der Pferde in den Hals. Mitsamt seinem Reiter stürzte es in den Staub, überschlug sich und blieb reglos liegen.
Von vorn aus dem Führerstand kam kein Lebenszeichen mehr. Keine Rufe, keine Schüsse, gar nichts.
Was war mit der Mannschaft des Zuges?
Hatten sie überhaupt noch eine?
»Bleiben Sie in Deckung!«, rief Lassiter der Lady zu. Mit einem langen Satz sprang er von der Plattform und stürmte geduckt nach vorn zu der Dampflokomotive.
Als er durch die Türöffnung in den Führerstand spähte, bot sich ihm ein blutiges Bild: Der Heizer lag niedergestreckt da, sein rußgeschwärztes, verschwitztes Gesicht war völlig verwüstet. Eine Kugel hatte ihm einen Teil des Unterkiefers weggerissen. Seine gebrochenen Augen starrten ins Leere.
Neben ihm hing der Lokführer verkrümmt über den Hebeln und Rädern, mit denen die stählerne Lady gesteuert wurde. Ein Blick verriet, dass auch in seiner massigen Gestalt kein Leben mehr war. Der Bandit, der einem Puma gleich von seinem Pferd auf die Lokomotive gesprungen war, krümmte sich nun auf dem Boden. Eine Klinge ragte aus seiner Brust. Gurgelnd spuckte er Blut. Offenbar war er auf mehr Widerstand getroffen, als er erwartet hatte.
Drei Tote. Und niemand mehr übrig, der die Lokomotive bedienen konnte. Lassiter fluchte in sich hinein. Als er sich umwandte, verschwanden die Reiter in der Nacht wie ein Spuk. Wie es aussah, hatten sie sich entschieden, den Angriff abzubrechen, ehe noch mehr von ihnen fielen.
Nach und nach wagten sich die Reisenden ins Freie.
Nun, wo nicht mehr geschossen wurde, legte sich eine dröhnende Stille über die Umgebung.
Lange währte sie jedoch nicht.
Bald schüttelten die Reisenden die Benommenheit ab und fanden ihre Stimme wieder. Sie sprachen durcheinander, schimpften sich ihren Schrecken von der Seele und beratschlagten, was nun zu tun sei. Ihr Zug stand irgendwo im Nirgendwo. Weit und breit war kein Licht, kein anderer Mensch zu sehen. Sie waren auf sich gestellt!
»Der Lokführer und sein Heizer sind tot«, wandte sich Lassiter an die anderen Fahrgäste. Er sprach nicht laut, aber seine Stimme hatte Gewicht. Sogleich kehrte Ruhe ein. Die Reisenden richteten ihren Blick auf ihn, deshalb fuhr er fort: »Es wird einige Zeit dauern, bis die Eisenbahn eine Ersatzmannschaft herschicken kann. Es sei denn, wir können den Zug selbst wieder in Gang bringen. Versteht sich jemand von Ihnen darauf, einen Zug zu führen?«
Er schaute in ratlose Gesichter.
»Dann werde ich mich aufmachen und versuchen, die nächste Stadt zu erreichen. Dort alarmiere ich den Marshal und sende ein Telegramm an die Eisenbahngesellschaft, damit sie Hilfe schicken. Wer sich anschließen will, kann gern mitkommen.«
»Wie weit ist es bis in die nächste Stadt?«, fragte ein kränklich aussehender Mann und spähte sorgenvoll umher, als erwartete er, dass die Banditen noch hinter den dürren Büschen lauerten und sogleich wieder hervorsprangen.
Lassiter überschlug im Kopf die Zeit, die sie von der letzten Bahnstation hierher gefahren waren. »Die nächste Station dürfte schätzungsweise noch acht oder zehn Meilen entfernt sein. Wenn wir den Schienen folgen, sollten wir vor dem Morgen dort sein. Sie können jedoch auch hier warten, bis Hilfe kommt.«
»Die ganze Nacht hier warten? Und wer weiß wie viele Stunden noch? Während wir hier wie auf dem Präsentierteller sitzen, falls sich diese Halunken entscheiden, noch einen Versuch zu unternehmen?« Der Oldtimer trat vor und schüttelte das ergraute Haupt. »Also, ich für mein Teil versuche mein Glück lieber zu Fuß. Ich komme mit Ihnen.«
»Ich auch!«
»Ich auch!«
Etliche Reisende schlossen sich an. Unter ihnen die Lady mit den beiden Kindern, die Farmer und ein junges Paar, das sich fest bei den Händen hielt. Der Schreiberling entschied sich, mit den restlichen Fahrgästen im Zug zu bleiben und auf eine neue Mannschaft zu warten, um ihre Fahrt fortzusetzen.
Es zeigte sich, dass zwei Reisende von Kugeln getroffen und ums Leben gekommen waren. Drei weitere waren verletzt und entschieden sich, im Zug zu bleiben. Sie wurden von ihren Mitreisenden verbunden. Lassiter vergewisserte sich, dass die Verwundeten gut versorgt wurden und dass Wachen aufgestellt wurden für den Fall, dass die Angreifer zurückkehrten.
Die Aufbrechenden holten ihr Gepäck und machten sich bereit. Es fanden sich auch einige Laternen, aber nach kurzer Beratung vereinbarten sie, darauf zu verzichten. Das Licht würde ihre Anwesenheit über viele Meilen hinweg verraten. Das war zu gefährlich. Immerhin waren die Banditen noch in der Nähe. Und den Gleisen konnten sie auch im Dunkeln folgen.
So geschah es dann auch.
In einer Kolonne marschierten sie los.
Lassiter behielt seine Winchester schussbereit in der Faust. Sie mussten jederzeit damit rechnen, dass die Banditen zurückkamen und sich ihre Beute doch noch holten. Aus diesem Grund blieb er auf der Hut. Falls es einen zweiten Angriff gab, würde er bereit sein.
Die Lady in Schwarz lief neben ihm. Gepäck hatte sie keines, wenn man von einem bestickten Lederbeutel absah, den sie quer über ihrer Brust trug. Sie hielt ihre Schrotflinte in den Händen und schritt energisch aus. Ihr schwarzer Rock bauschte sich hinter ihr. Sie hielt den Kopf oben und die Augen offen. Eine Frau, die wusste, worauf es ankam.
Die Reisenden marschierten schweigend. Nach dem ausgestandenen Schrecken war niemandem nach Reden zumute. Nach ein paar Meilen bemerkte Lassiter, dass die Schritte vieler kürzer wurden. Sie stolperten hin und wieder über einen Stein oder eine Schwelle.
»Wir sollten eine Rast machen«, schlug er vor.
»Nein«, wehrte die Lady für die anderen ab. »Je länger wir hier draußen sind, umso größer ist die Gefahr, den Banditen noch einmal zu begegnen. Es ist besser, wenn wir weitergehen.«
»Die Reisenden brauchen eine Pause. Sie auch, nicht wahr?«
»Nicht mehr und nicht weniger als die anderen auch.« Sie hielt das Kinn hoch. »Wobei ich hoffe, dass niemand von dermaßen unbequemem Schuhwerk geplagt wird wie ich. Die Stiefel sind nagelneu. Ich hatte nicht mit einem Spaziergang im Mondschein gerechnet, sondern darauf gezählt, bequem von der Eisenbahn an mein Ziel gebracht zu werden.« Ein Lächeln schwang in ihrer Stimme mit.
»Sagen Sie es mir, wenn Sie rasten möchten, Mrs....«
»Earhart«, stellte sie sich vor.
»Earhart?« Bei diesem Namen merkte er auf. »Ist Ihr Mann zufällig Sam Earhart, der Anwalt?«
»Keineswegs. Ich selbst bin Samantha Earhart.«
»Sie...« Lassiter stutzte. Dann ging ihm ein ganzer Kronleuchter auf. Sam, der neue Mittelsmann der Brigade Sieben, war eine Frau! Und was für eine!
Sie musste bemerken, dass ihre Aufmachung ihn überraschte, denn sie strich über ihren Rock und erklärte: »Ganz in Schwarz bleibt man unterwegs unbehelligt. Die Menschen sehen durch Witwen hindurch. Man reist ruhiger, wissen Sie?« Ihr Lächeln vertiefte sich, als sie ergänzte: »Es sei denn natürlich, der Zug wird überfallen...«
Sie hatte kaum ausgesprochen, als neben ihnen ein Warnruf gellte.
»Vorsicht, Leute! Da vorn! Neben dem Gleis! Da lauert etwas!«
✰
Die Kolonne machte Halt, als wäre sie gegen eine unsichtbare Barriere gelaufen.
Niemand wagte es, tief Luft zu holen oder gar ein Wort zu sagen. Dafür klickten die Waffen, die schussbereit gemacht wurden.
Rechts von ihnen glitzerte das silbrige Wasser des Yellowstone River im Mondlicht. An dieser Stelle plätscherte er gemächlich dahin, umspülte Findlinge und Kiesbänke. Ein träges Wispern begleitete das Wasser, als würde es eine uralte Geschichte erzählen. Die Wolken rissen auf und ließen genug Licht durch, um eine Bewegung am Ufer erkennen zu lassen.
Dort rührte sich tatsächlich etwas... oder jemand?
Lassiter spähte auf den dunklen, massigen Umriss – und entspannte sich.
Ein Elchbulle stand dort am Ufer und trank. Er senkte sein von mächtigen Schaufeln gekröntes Haupt zum Wasser, hob es wieder und blickte sich sichernd um. Wasser troff von seinem Kinnbart. Über dem Murmeln des Flusses hatte er die nahenden Menschen wohl noch nicht bemerkt. Nun jedoch schienen ihn seine Instinkte vor ihrer Anwesenheit zu warnen. Er fuhr herum und sprang mit langen Sätzen davon.
Dumpf knackte es im Unterholz.
Dann hatte die Dunkelheit den Waldbewohner verschlungen.
»Gehen wir weiter«, schlug Lassiter vor, und der Zug setzte sich wieder in Bewegung. Dann stellte er sich seiner Begleiterin vor. »Mein Name ist Lassiter.«
Samantha Earhart nickte bedächtig.
»Ich hatte Sie nicht so schnell erwartet.«