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Blaue und rote Wolken aus Tüll türmten sich auf dem Hut der Lady. Sie war eine Schönheit, hatte langes brünettes Haar und konnte nicht aufhören, Lassiters Blick zu erwidern. Sie saßen sich in den komfortablen Polstern des Pullmanwaggons gegenüber. Bislang hatten sie kein Wort miteinander gewechselt. Doch ihr Blickespiel sagte viel mehr aus als beiläufiges Geplauder.
Das Gesicht eines Mannes erschien vielleicht fünfzehn Schritte entfernt in der aufschwingenden Perrontür. Der Hut der Lady störte Lassiters Sicht auf den Mittelgang. Überdies hatte der Kerl die eigene Hutkrempe tief in die Stirn gezogen. Dennoch erkannte Lassiter ihn sofort: Harris, der Hurensohn! Dessen Augen triumphierend aufblitzten, als er den großen Mann erblickte, den er verfolgte ...
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Veröffentlichungsjahr: 2021
Cover
Lassiter und der Schreiberling
Vorschau
Impressum
Lassiterund derSchreiberling
Blaue und rote Wolken aus Tüll türmten sich auf dem Hut der Lady. Sie war eine Schönheit, hatte langes brünettes Haar und konnte nicht aufhören, Lassiters Blick zu erwidern. Sie saßen sich in den komfortablen Polstern des Pullmanwaggons gegenüber. Bislang hatten sie kein Wort miteinander gewechselt. Doch ihr Blickespiel sagte viel mehr aus als beiläufiges Geplauder.
Das Gesicht eines Mannes erschien vielleicht fünfzehn Schritte entfernt in der aufschwingenden Perrontür. Der Hut der Lady störte Lassiters Sicht auf den Mittelgang. Überdies hatte der Kerl die eigene Hutkrempe tief in die Stirn gezogen. Dennoch erkannte Lassiter ihn sofort: Harris, der Hurensohn! Dessen Augen blitzten triumphierend auf, als er den großen Mann erblickte, den er verfolgte ...
Der Triumph pflanzte sich in Harris' Mundwinkel fort, kerbte sich dort in ein breites Grinsen ein. Er betrat den Mittelgang.
Die schöne Mitreisende bemerkte, wie sich Lassiters Blick verhärtete. Zugleich sah er ihr an, dass sie herausfinden wollte, was seinen plötzlichen Ärger verursachte.
»Bitte drehen Sie sich nicht um«, bat er rasch. Noch im selben Atemzug richtete er sich halb auf und setzte sich neben sie. Sie wehrte sich nicht, als er den Arm um ihre Schultern legte und flüsterte: »Ich möchte Sie küssen.«
Sie schloss die Augen, und es war mehr als nur Zustimmung. Lassiter sah es in diesem Moment, da er sich dem sanften Duft ihrer Gesichtshaut näherte. Ihre Lippen öffneten sich nur ein wenig und doch erwartungsvoll. Gleich darauf, als sie seinen Mund auf dem ihren spürte, öffnete sie die Lippen weit.
Bereitwillig ließ sie seine Zungenspitze eindringen und gab einen leisen Laut des Behagens von sich. Wie zu einer freudigen tänzerischen Begrüßung spürte er ihre Zungenspitze, die die seine umkreiste, scheinbar zögernd berührte und schließlich mit herausforderndem Druck lockte.
Er wollte die herannahenden Schritte nicht beachten, doch sie stoppten neben ihm. Er konnte nichts dagegen tun, dass der Mistkerl sich herabbeugte und in sein Ohr flüsterte.
»Diesmal entwischen Sie mir nicht, Lassiter. Da hilft auch die ganze Küsserei nichts.« Es klang gehässig, neidisch und missgünstig zugleich.
Der große Mann wusste nicht, ob seine Kusspartnerin es mitgehört hatte. Jedenfalls ließ sie sich nicht beirren. Er war überzeugt, dass sie diesen leidenschaftlichen Kuss bis in alle Ewigkeit fortsetzen würde, wenn er es auch tat.
Mit den Gefühlswogen, die sie in ihm auslöste, konnte sie es schaffen, dass er Harris einfach vergaß. Aber der Kerl würde nicht locker lassen. Dafür war er einfach zu hartnäckig.
Es tat Lassiter in der Seele weh, sich von ihr lösen zu müssen. Mit großen Augen blickte sie zu ihm empor, als er sich aufzurichten begann. Und sie hatte doch mitgehört.
»Lassiter?«, hauchte sie. »Der Lassiter, von dem man überall in den Staaten spricht?«
Er schüttelte den Kopf, widersprach: »Nein, nein, das muss eine Verwechslung sein.«
»Papperlapapp!«, rief Harris, der dicht neben ihm stand und nur so weit zurückwich, wie es unbedingt sein musste. »Natürlich ist er es, Madam. Der Held Ihrer heimlichen Träume. Das kann ich Ihnen schwör-«
Die letzte Silbe bekam er nicht mehr heraus, als er ihr Gesicht sah. Lassiter hörte, wie Harris vor Überraschung die Luft anhielt. Und dann platzte es mit lautstarker Begeisterung aus ihm heraus: »Trisha Elfridge! Mein Gott, Sie sind es! Sie sind Trisha Elfridge, die hoffnungsvollste junge Schauspielerin auf den Bühnen der Vereinigten Staaten. Ich kann es nicht glauben, aber es ist wahr. Sie sind es wirklich. Und welcher glückliche Zufall führt mich dazu, Sie ausgerechnet zusammen mit Lassiter anzutreffen. Du lieber Himmel, Sie ahnen ja nicht, welche Möglichkeiten das für meinen neuen Roman eröffnet.«
Sein Wortschwall war nicht zu überhören. Nach und nach ruckten alle Köpfe in dem Pullmanwagen herum. Sämtliche Augenpaare richteten sich auf die Sitzbucht, in der sich offenbar eine Sensation abspielte.
Ein Traumheld und eine berühmte Schauspielerin wurden aus ihrer trauten Zweisamkeit gerissen. So hörte es sich an. Und in einem Roman sollten sie auch noch mitwirken. So etwas erlebte man nicht jeden Tag.
Grund genug also, die Ohren zu spitzen und die Augen weit aufzureißen. Angespannte Stille kehrte ein. Nur das monotone Rollen der Eisenbahnräder und das rhythmische Schlagen der Schienenstöße blieben unverändert.
Der spitzbärtige kleine Mann dort im Mittelgang, der Entdecker der Berühmtheiten – ein Schriftsteller? Oder einer jener Großstadtjournalisten, die in großen Scharen in den amerikanischen Westen ausschwärmten. Die Zeitungen im Osten überboten sich darin, sensationelle Tatsachenberichte über die Heldentaten furchtloser Gesetzeshüter zu veröffentlichen. Nicht weniger gefragt waren Artikel über die Bluttaten berüchtigter Banditen.
Ausführlicher wurden solche Gänsehaut erzeugenden Geschichten dann noch in Romanen erzählt. »Dime Novels« wurden sie genannt. Spannungsgeladene Heftromane für zehn Cents waren es, die von vielen Menschen geradezu verschlungen wurden.
Und so ein leibhaftiger Schriftsteller tauchte nun ausgerechnet hier, in diesem Pullmanwagen der Chicago & North-Western Railroad auf – nur wenige Meilen von Sioux Falls, Dakota, entfernt.
»Ein Schreiberling«, raunte der eine oder andere Respektlose unter den Passagieren. »Ein Romanautor«, verbesserten die Ehrfürchtigeren andächtig, und einer kannte ihn. »Ephraim Harris aus Chicago, schreibt für alle großen Verlage.«
Schlagartig war es Harris, auf den sich alle Blicke richteten.
Sein markantes Merkmal war der Hut, ein Pork Pie Stetson. Die topfförmige Kopfbedeckung mit der schmalen, nach oben gebogenen Krempe passte vom dunkelgrauen Farbton her exakt zu dem feinen schwarz-grauen Streifenmuster seines eleganten Straßenanzugs.
In seiner Heimatstadt Chicago, aber auch in Washington oder New York wäre er damit nicht aufgefallen. Doch schon die Staubschicht auf seinen maßgefertigten schwarzen Schuhen zeigte, dass sein Aufzug hier im Westen eher fehl am Platze war.
Als sich Lassiter neben ihm aufrichtete, ging ein Raunen durch die Sitzbuchten. Der Spitzbärtige reichte dem großen Mann gerade einmal bis knapp über die Schulter. Harris war hartnäckig, wollte an ihm vorbeischlüpfen, um weiter auf die Schauspielerin einzureden.
Doch eine jähe Barriere stoppte ihn. Hart wie Eisen. Erstaunt blickte er an seinem linken Arm hinab. Lassiters Rechte war es, die sich um sein linkes Handgelenk geschlossen hatte.
Trisha öffnete die Augen weit. Zu perplex, um ein Wort hervorzubringen, sah sie, wie sich der kleinere Mann willig in den Mittelgang bugsieren ließ, ohne auch nur den geringsten Widerstand zu leisten.
Es lag an Lassiters schraubstockartigem Griff. Schon beim geringsten Widerstand schoss ein spürbarer Schmerz in Harris' Arm hinauf, bis in seinen Oberkörper. Deshalb beeilte er sich, die drei Schritte bis zum Gang so bereitwillig wie möglich zurückzulegen.
Lassiter stoppte ihn mit einem kurzen Druck auf das Handgelenk. Harris ging fast in die Knie, verharrte sofort. Lassiter wartete, bis er sich wieder aufgerichtet hatte. Dann beugte er sich zu ihm hinunter und flüsterte in sein Ohr: »Es reicht jetzt, Harris. Verschwinden Sie, oder ich nehme Sie fest wegen Belästigung und Behinderung eines Regierungsagenten im Dienst. Im Marshals Office von Sioux Falls gibt es genügend freie Zellen. Garantiert.«
»Aber ich will doch nur einen Roman über Sie schreiben«, wisperte Harris zurück.
»Und ich bin dagegen«, knurrte Lassiter. »Das ist mein letztes Wort.«
Er gab dem Journalisten seine Würde zurück, indem er sein Handgelenk losließ. Harris wich von ihm weg, straffte seine Haltung und verbeugte sich in Trishas Richtung. Dann machte er kehrt und trabte eilig davon. Lassiter behielt ihn im Auge, bis er die Tür erreichte, durch die er gekommen war. Durch die obere Milchglashälfte der Tür war seine Silhouette noch einen Moment lang verschwommen zu sehen, wie er den Perron überquerte und im nächsten Wagen verschwand.
Trisha blickte fragend zu Lassiter auf, als er zu ihr zurückkehrte.
»Was hast du ihm ins Ohr geflüstert?«, fragte sie, nachdem er sich neben sie gesetzt hatte.
Der große Mann schmunzelte. »Dass ich ihm etwas Schlimmes antun werde, wenn er nicht verschwindet.«
»Ach, der Ärmste«, entgegnete Trisha mitfühlend. »Und was wäre so schlimm, dass er die Flucht ergreift?«
Lassiter lächelte. »Darüber kann ein Gentleman in Anwesenheit einer Lady nicht sprechen.«
»Auch nicht unter vier Augen – später?«
»Das lässt sich einrichten. Falls wir im selben Hotel wohnen.«
»Ich habe noch nicht gebucht«, antwortete Trisha. Sie erwiderte sein Lächeln, und in der Tiefe des dunklen Brauns ihrer Augen glomm die pure Verheißung.
✰
Der nächste Wagen war ein komfortabler Pullman, wie der vorherige. Schon beim Eintreten sah Ephraim Harris, dass sein reservierter Platz, ganz hinten, freigeblieben war.
Er atmete auf. Bei seiner augenblicklichen Pechsträhne hätte es ihn nicht gewundert, wenn sich dort jemand breitgemacht hätte und ihn unverschämt angrinsen würde. Die Passagiere in den Sitzbuchten waren beschäftigt. Einige lasen Zeitung, andere hatten illustrierte Monatshefte vor sich aufgeschlagen.
Freudig registrierte er, dass drei, nein, vier Reisende in Dime Novels vertieft waren. Bei einem war das kolorierte Titelblatt zu erkennen. Es zeigte Wild Bill Hickok beim Abfeuern seines Sechsschüssers.
Von mir, dachte Harris stolz. Er erinnerte sich gut daran, wie er Wild Bill in Deadwood, Dakota, interviewt hatte. Das war nur zwei Wochen vor dem feigen und hinterhältigen Mord an Hickok gewesen.
Er, Ephraim Harris, hatte unmittelbar darauf begonnen, den Roman über den berühmten Revolvermann zu schreiben. Es war eine spannende Handlung, in der Wild Bill als Banditenjäger die Hauptrolle spielte, eingebettet in die Geschichte seines Lebens.
Plötzlich waren seine Gedanken wie abgeschnitten. Er kam sich vor, als würde er schweben, nur für die Dauer eines Sekundenbruchteils. Erst als der raue Sisalbelag des Mittelgangs auf ihn zukam, begriff er, dass er stürzte.
Mit knapper Not schaffte er es, die Arme vorzustrecken. So milderte er seinen Fall ab, indem er mit den Unterarmen vorwärts rutschte. Nur knapp konnte er verhindern, dass er mit dem Gesicht aufschlug. Womöglich hätte er sich dabei die Nase gebrochen.
Erst jetzt, während erschrockene Rufe der Fahrgäste zu hören waren, wurde ihm klar, dass seine Füße ihm nicht mehr gehorcht hatten. Als ob ihn jemand festgehalten hätte. Während er sich herumwarf und mühsam aufzurappeln begann, sah er noch, wie aus der nächsten Sitzbucht zur Linken ein gestrecktes Bein zurückgezogen wurde.
Wütend kam er hoch, wollte auf den Mistkerl losgehen, der ihm ein Bein gestellt hatte. Doch im selben Moment schraubten sie sich von ihren Sitzplätzen empor. Zwei Männer waren es. Der erste musste der Beinsteller gewesen sein. Beide überragten Harris um Haupteslänge.
Beide trugen Bowlerhats und graue, großstädtische Straßenanzüge. Das Auffälligste an dem, der ihm das Bein gestellt hatte, war ein riesiger dunkler Schnauzbart, der seine gesamte Mundpartie bis über die Unterlippe verdeckte.
Die blonde Haarpracht des zweiten Mannes ging über ausgeprägte Koteletten nicht hinaus. Der Rest seines Gesichts war glattrasiert. Ein hervorstechendes Merkmal an ihm waren lediglich die eisgrauen Augen, die die Kälte eines Gletschers auszustrahlen schienen.
»Ach, Sie Ärmster«, rief der Schnauzbärtige, und seine Besorgnis war so falsch wie sein Grinsen. »Haben Sie sich wehgetan?«
»Nein«, knurrte Harris feindselig.
Aber mehr wagte er nicht, denn die beiden kamen nun auf ihn zu. Langsam, herausfordernd und mit höhnischen Mienen schoben sie sich ihm entgegen. Ihr Grinsen wurde nur noch breiter. Und er war gezwungen, zu ihnen aufzublicken.
Allein die Körpergröße der Fremden verlangte ihm eine Demutshaltung ab, die ihm ganz und gar nicht behagte. Du lieber Himmel, schließlich war er nicht irgendwer. Er hatte einen wohlklingenden Namen in seiner Branche.
»Sie sind Harris, der Schreiberling«, sagte der Blonde. Es klang so geringschätzig, wie es offenbar klingen sollte. Und wie sein Kumpan dachte er nicht daran, sein Grinsen einzustellen.
»Ja, ich bin Ephraim Harris«, entgegnete mit einem Rest an Selbstbewusstsein. »Ich bin Journalist und Schriftsteller.«
»Eben. Ein Schreiberling«, sagte der Schnauzbärtige gedehnt.
Beide Männer lachten höhnisch.
»Was wollen Sie von mir?«, zwang Harris sich, zu fragen. »Und wer sind Sie überhaupt?«
Sie gingen nicht darauf ein.
»Wohin fahren Sie?«, sagte der Blonde stattdessen. »Wo steigen Sie aus?«
»In Sioux Falls«, antwortete Harris wahrheitsgemäß. Letzten Endes hätten sie es sowieso mitbekommen.
»Gut.« Der Blonde nickte. »Dann haben wir das gleiche Ziel.«
»Und wir sehen uns noch«, fügte der Schnauzbärtige hinzu. »Bis dahin wünschen wir noch eine gute Reise, Mister Schreiberling. Dies, eben, war nur ein Vorgeschmack.«
Ohne ein weiteres Wort wandten sich beide um und kehrten in ihre Sitzbucht zurück. Die Passagiere, die bis eben noch herübergespäht hatten, drehten sich ebenfalls um. Da sich die Situation offenkundig beruhigt hatte, gab es auch keinen Grund mehr, neugierig zu sein.
Ephraim Harris begab sich widerstrebend auf seinen Platz. Viel lieber hätte er die höhnischen Halunken zur Rede gestellt und eine Auskunft über den Grund ihres Verhaltens verlangt.
Doch er wusste nur zu gut, dass sie ihn eher auslachen würden, als sich von ihm beeindrucken zu lassen – selbst dann, wenn er ihnen seinen Fünfschüsser unter die Nase halten würde, den .32er Smith & Wesson.
Ein Spielzeugrevolver in den Augen echter Kerle. Damit brauchte er ihnen gar nicht erst zu kommen. Dass auch kleinere Kugeln zum Töten taugten, wollten solche Hurensöhne einfach nicht wahrhaben.
Bis es sie erwischte.
✰
Der Rhythmus der Schienenstöße wurde langsamer, als der Zug sich der Stadt näherte. Vorbei an den Steinbrüchen von East Sioux Falls, verlief der Schienenstrang ein Stück am Ufer des Big Sioux River. Dann, in einer Biegung des Flusses, folgte eine Eisenbahnbrücke.
Der metallische Klang der Räder wurde heller, als der Zug die bewegten Fluten überquerte, deren Wellen zum Teil weiße Schaumkronen trugen. Urheber waren die nahen Wasserfälle, die Falls, nach denen die Stadt benannt worden war. Lassiter war schon öfter hiergewesen.
Wo das Wasser weniger stark wogte, erzeugte die Nachmittagssonne glitzernde Reflexe auf der Oberfläche. Auf der anderen Seite des Flusses führte die Bahnlinie ins eigentliche Zentrum von Sioux Falls. Dort, an der Eighth Avenue, hatte die Chicago & North-Western Railroad, kurz CNWRR genannt, erst im vergangenen Jahr, 1887, einen Bahnhof gebaut.
Mit kreischenden Bremsen kam der Zug am Bahnsteig zum Stehen. Während die Passagiere ausstiegen, stieß die Lokomotive schnaufend eine weiße Dampfwolke aus. Mit dem Dampf umhüllte sie sich selbst und auch die auch die ersten Wagen und einen Teil der Menschen auf dem Bahnsteig.
Trisha Elfridge begleitete Lassiter auf dem Weg durch die Bahnhofshalle zum Vorplatz. Wie selbstverständlich hakte sie sich bei ihm ein. Ihnen folgte ein uniformierter Gepäckträger.
Er zog einen Handkarren mit vier gestapelten Koffern auf der Ladefläche. Trishas Koffer. Nur das Notwendigste, wie sie zwinkernd verraten hatte.
Lassiters einziges Gepäck bestand aus seinem 45er Remington, den er an der rechten Hüfte trug.
»Sind wir nicht ein schönes Paar?«, bemerkte Trisha keck, noch vom Stimmengewirr der ins Freie Strebenden umgeben. Und weil der große Mann nicht sofort antwortete, sah sie ihn an und fügte schnell noch ein weiteres Eigenlob hinzu: »Ich bin deine Traumfrau. Habe ich recht?«
Verdutzt erwiderte Lassiter ihren Blick. Er hob die Augenbrauen und antwortete: »Du bist eine Schauspielerin. Du bist berühmt. Also musst du sehr gut sein.«
Sie verzog die Lippen zum Schmollmund. »Du denkst, ich mache dir etwas vor?«
»Ich denke«, entgegnete er ausweichend, »ich muss dich erst einmal näher kennenlernen.«
Am Rand des Bahnhofsplatzes stiegen sie in eine freie Kutsche. Der Träger lud die Koffer ins Gepäckfach der Kutsche um, und Trisha belohnte ihn zusätzlich zur Gebühr mit einer Dollarnote als Trinkgeld.
Lassiter nannte dem Lenker des Einspänners das Hotel »Falls View« als Ziel. Trisha rückte an den großen Mann heran und schob ihren Arm in seine Ellenbogenbeuge – weit genug, um ihre feingliedrige kleine Hand auf seinen Handrücken legen zu können.
An ihn geschmiegt, blickte sie zu ihm auf. »Stell mir jetzt bloß nicht die Standardfrage.«
Er schmunzelte. »Warum nicht?«
»Weil du die Antwort kennen musst. Du bist ein Mann, der jede Frau bis ins Innerste ihrer Seele durchschaut.«
»Du lieber Himmel«, sagte er, während die Kutsche anrollte. »Du traust mir Fähigkeiten zu, die ich gar nicht habe. Für mich hat jede Frau ihr ganz besonderes Geheimnis.«
»Oh, das klingt nach Welterfahrung.« Trisha lachte. »Und welches Geheimnis ist meins?«
»Es steckt hinter der Standardfrage, die du nicht hören willst.«
»Du meinst, ob ich dir etwas vorspiele oder ob ich ganz normal bin?« Der Schalk blitzte in ihren Augen. Sie hob die Hand vor den Mund und kicherte. »Du bist ein ganz Raffinierter, mein Lieber. Du hast mich dazu gebracht, mir die Standardfrage selbst zu stellen.«
Die Kutsche fuhr hinaus auf die Eighth Avenue, in Richtung Stadtzentrum.
»All right.« Lassiter verkniff sich ein Grinsen. »Hast du auch eine Standardantwort parat?«
»Aber natürlich«, erwiderte Trisha kokett. »Als Traumfrau zeige ich nur echte Gefühle. Mit anderen Worten...«, ihr Blick vertiefte sich in den seinen, »wenn ich mich in einen Mann verliebe, bin ich nur ich selbst.«
Es klang wie eine Feststellung. Eine Antwort schien sie nicht zu erwarten. Lassiter war froh darüber. Denn Trishas mädchenhafte Schwärmerei deutete nach seinem Empfinden zu sehr darauf hin, dass sie sich an ihn klammern würde, wenn er es zuließ.
Er würde ihr klarmachen müssen, dass ihre Beziehung nicht mehr als eine Episode sein würde. Sie kannte ihn noch nicht lange genug. Deshalb wusste sie auch nichts von seinem persönlichen Schwur.
Er würde sich niemals an eine Frau binden. Sein Beruf als Regierungsagent machte eine dauerhafte Beziehung unmöglich. Er hatte diese Entscheidung getroffen, um mit aller Kraft für Recht und Gesetz zu kämpfen – und gegen jene, die sich dagegen stellten.
Ihr Blick wanderte von ihm weg, zu den Fußgängern auf dem Bürgersteig. Einige winkten, riefen ihren Namen. Sie strahlte und winkte zurück.
»Ist das nicht schön?«, freute sie sich und wollte sich wieder ihrem Begleiter zuwenden. Doch etwas anderes erweckte ihre Aufmerksamkeit. Sie hatte ihren Satz kaum beendet, als sie auf die linke Straßenseite zeigte und aufgeregt rief: »Oh, sieh mal da, ist das nicht unser Romanschreiber?«
Die Kutsche fuhr bereits an der Stelle vorbei, an der sie Harris im Gedränge auf dem Bürgersteig entdeckt hatte. Deshalb drehte Lassiter sich um und spähte abermals über die roten und blauen Tüllwolken ihres Huts hinweg.