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"All devils! Er hat sich in Luft aufgelöst!" Marshal Douglas Atkins spuckte zu Boden, bevor er den Feldstecher noch einmal über die Landschaft wandern ließ. "Das darf nicht wahr sein!"
Lassiter tötete vier oder fünf Mücken mit einem einzigen Schlag auf seinen nackten Unterarm. "In dem Urwald da unten fällt es leicht, sich unsichtbar zu machen. Außerdem scheint der Bursche sich hier bestens auszukennen."
Atkins nickte grimmig. "Im Gegensatz zu uns. Waren Sie schon mal hier unten in Florida?"
"Nein", knurrte Lassiter, während er mit der Hand durch die Luft wedelte im vergeblichen Versuch, die Heerscharen blutsaugender Insekten zu vertreiben, die ihn umschwärmten. "Und wenn ich ehrlich bin, hätte das auch so bleiben können."
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Seitenzahl: 152
Veröffentlichungsjahr: 2021
Cover
Cain und Abel
Vorschau
Impressum
Cain und Abel
»All devils! Er hat sich in Luft aufgelöst!« Marshal Douglas Atkins spuckte zu Boden, bevor er den Feldstecher noch einmal über die Landschaft wandern ließ. »Das darf nicht wahr sein!«
Lassiter tötete vier oder fünf Mücken mit einem einzigen Schlag auf seinen nackten Unterarm. »In dem Urwald da unten fällt es leicht, sich unsichtbar zu machen. Außerdem scheint der Bursche sich hier bestens auszukennen.«
Atkins nickte grimmig. »Im Gegensatz zu uns. Waren Sie schon mal hier unten in Florida?«
»Nein«, knurrte Lassiter, während er mit der Hand durch die Luft wedelte im vergeblichen Versuch, die Heerscharen blutsaugender Insekten zu vertreiben, die ihn umschwärmten. »Und wenn ich ehrlich bin, hätte das auch so bleiben können.«
Das Lachen des Marshals drückte keine Heiterkeit aus, und das passte zu den Mienen der Deputies, die sich ausgelaugt auf die Sattelhörner stützten. »Dieser Meinung schließe ich mich gerne an, Lassiter. Aber uns bleibt wohl kaum eine Wahl, wenn wir den Bastard zur Strecke bringen wollen.«
Lassiter warf einen Blick über die Schulter nach Norden.
Jacksonville und die Grenze nach Georgia lagen etwa dreißig Meilen hinter ihnen. Streng genommen hätte sich Atkins in der Stadt mit dem örtlichen Gesetzeshüter verständigen müssen, nachdem sie die Staatsgrenze nach Florida überquert hatten. Doch sie waren dem mutmaßlichen Anführer der Kapuzenbande so nahegekommen, dass der Marshal sich damit nicht aufhalten und den Gesetzlosen womöglich entkommen lassen wollte.
Am Morgen hätten sie ihn fast erwischt, und damit war der Jagdinstinkt der Männer aufs Neue entfacht worden. Deshalb hatten sie die letzte größere Stadt beiseitegelassen und sich auf die frische Spur gesetzt wie gierige Bluthunde.
Das Lagerfeuer des Mannes hatte noch geglüht, und ein paar Mal war Lassiter fest davon überzeugt gewesen, den Banditen nur wenige hundert Yards vor sich durch den Feldstecher gesehen zu haben, bevor er wieder hinter Büschen oder unter dem Blätterdach von Bäumen verschwunden war.
Er, Atkins und dessen vier Deputies hatten alles aus den erschöpften Pferden herausgeholt in der Überzeugung, den namenlosen Outlaw noch vor dem Sonnenuntergang stellen zu können. Die Reittiere hatten seit Tagen nur wenig Gelegenheit zum Ruhen gehabt, doch das Pferd des Verfolgten musste noch weitaus erschöpfter sein.
Lassiter hatte geglaubt, nur noch darauf gefasst sein zu müssen, dass ein entkräfteter Flüchtling, der in die Enge getrieben wurde, zum Äußersten entschlossen war – und sich seit dem Morgen auf blindlings abgefeuerte Schüsse eingestellt.
Doch er wurde eines Besseren belehrt. Das Pferd fanden sie am Rand einer Senke, schwer atmend mit Schaum vor dem Mund und dem Tode geweiht, weil sein Reiter es gnadenlos vorangetrieben hatte, bis es ihm offenbar buchstäblich unter dem Arsch zusammengebrochen war.
Doch vom namenlosen Outlaw fehlte wieder jede Spur.
Atkins hatte den Rappen von seinem Leid erlöst, nachdem die Männer feststellen mussten, dass das edle Tier nicht nur aus Erschöpfung auf der Seite lag; es hatte sich auch den linken Vorderlauf gebrochen und war deshalb nicht mehr zu retten.
Danach waren sie weiter geritten, mit schussbereiten Waffen. Und hatten den Mann, den es zur Strecke zu bringen galt, tatsächlich noch ein weiteres Mal zu Gesicht bekommen. So nah, dass Atkins sein Gewehr aus dem Scabbard gerissen und auf die dunkle Gestalt gefeuert hatte, die unter ihnen hastig in den Büschen verschwand.
Zweimal. Doch nachdem das Geräusch der Schüsse verhallt war, verriet ihnen das Knacken von Ästen unter den Kronen der Mangroven, dass die Schüsse des Marshals fehlgegangen sein mussten.
Die Reiter blickten hinab auf eine diffuse, von dichtem Grün überwucherte Landschaft, die sich bis zum Horizont erstreckte. Weit im Osten ließ sich im violetten Dunst des Horizonts die Küstenlinie erahnen.
Lassiter schob sich den Stetson in den Nacken.
»Bald geht die Sonne unter«, brummte er, an Atkins gewandt. »Vielleicht sollten wir ein Lager aufschlagen und den Morgen abwarten, bevor wir da runter gehen.«
Atkins schnaubte verächtlich. »Wenn Sie erschöpft sind, dann werde ich Ihnen das kaum verbieten können, Lassiter. Aber was mich und meine Männer angeht, haben wir eine Aufgabe zu erfüllen.«
»Entschuldigen Sie, Sir«, meldete sich Humphrey Cabot zu Wort, der älteste der Deputies. »Aber ich denke, Lassiter hat recht. Im Dunkeln nach dem Kerl zu suchen ist doch völlig sinnlos. Vor allem, wenn der sich wirklich hier auskennt, wie Lassiter glaubt.«
»Der dickste Arsch will sich als erster setzen – schon klar, Cabot«, knurrte Atkins mürrisch und hob den Blick gen Westen. Er blinzelte im Angesicht der Sonne, die sich allmählich den Bergen zuneigte.
»Bis zur Dämmerung bleiben uns bestimmt noch zwei Stunden. Genug Zeit, um das gehetzte Wild zu erlegen. Also – weiter geht's!«
Auffordernd wedelte er mit den Armen, und seine Deputies folgten ihm erkennbar widerwillig. Lassiter zögerte eine Weile, bevor er die Achseln zuckte, seinen Braunen bestieg und hinter den anderen her ritt. Ein schmaler Pfad führte von der Anhöhe hinab, und als sie den Rand der von Mangroven dominierten Landschaft erreichten, erkannte Lassiter sofort, wie tückisch der Untergrund war.
»Vorsicht!«, warnte er, doch für den Schimmel eines der Deputies war es bereits zu spät.
Der Boden war überall tiefgrün, zum Teil mit Moos, an anderen Stellen von Sumpfgras bewachsen. Doch gerade deshalb konnten weder Mensch noch Tier erkennen, ob der Untergrund ihr Gewicht trug oder nur zum Schein festen Halt bot.
Lou Murphy stieß einen erstickten Schrei aus, als sein Pferd unvermittelt in einen Tümpel sackte und auf die Seite stürzte. Auch das Tier wieherte erschrocken, während Murphy aus dem Sattel rutschte und kopfüber im Wasser landete, das von einem dünnen Film aus Moos und verrottenden Pflanzenresten verborgen gewesen war.
Der Schimmel schnaubte und versuchte panisch, wieder auf die Hufe zu kommen, während Murphy tropfnass den Kopf schüttelte und im nächsten Moment den Schweif seines Pferds ins Gesicht bekam, als das Tier sich mühsam mit dem Hinterteil schüttelnd aus dem Pfuhl befreite.
Die anderen Deputies lachten schadenfroh, während Lassiter sich tief aus dem Sattel herunterbeugen musste, um Murphy die Hand entgegenzustrecken und ihm auf die Beine zu helfen.
»Ist wohl besser, wenn wir absteigen und die Tiere hinter uns führen«, brummte Marshal Atkins, und ein Blick in Richtung von Lassiter wurde von einem knappen Nicken quittiert.
Die Gewehre wurden in die Scabbards gesteckt, und stattdessen zogen die Männer ihre Revolver. In der einen Hand hielten sie die Waffen, in der anderen die Zügel der Pferde.
»Ab jetzt kein Laut mehr«, befahl Atkins mit gesenkter Stimme und ging voran, von Lassiter gefolgt über den schmalen Pfad, der zu beiden Seiten begrenzt wurde von Tümpeln, feuchtem Morast und im Zwielicht liegendem Buschwerk. Über ihnen bildeten Mangroven und Zypressen ein grünes Blätterdach, das nur ab und an den Himmel erkennen ließ.
Der Atem der Männer ging schwer angesichts der feuchten, stickigen Luft, doch das Konzert der Frösche im Wasser und Vögel in den Bäumen übertönte die menschlichen Laute vollständig. Auch andere Geräusche waren zu vernehmen, deren Ursprung die Männer nicht einzuordnen wussten. Lassiter war aber bekannt, dass sich hier in der Wildnis Tiere tummelten, die weitaus gefährlicher sein konnten als die Vögel in den Baumkronen. Giftschlangen, Raubkatzen und gefräßige Spitzkrokodile, die wie Monster aus der Urzeit anmuteten.
Von oben hatte der Wald licht und hell gewirkt, doch nun, in seinem Inneren, war der Schein der sich senkenden Sonne fast vollständig vom dichten Blattwerk ausgesperrt, und sie bewegten sich in grünlicher Dämmerung voran. Der unbefestigte Weg, über den sie marschierten, war immer wieder von Schlingpflanzen und dichten Büschen überwuchert, die es ihnen schwer machten voranzukommen, zumal mit den Pferden.
Als sie eine kleine Lichtung erreichten und sich den Schweiß von der Stirn wischten, während sie zusehen mussten, wie das Sonnenlicht schwand, warf Lassiter dem Marshal einen fragenden Blick zu, den dieser schließlich mit einem ergebenen Nicken beantwortete.
»Okay«, knurrte Atkins widerwillig und fuhr sich mit den Fingern durch den graumelierten Bart. »Es hat keinen Sinn mehr. Wir rasten hier und gehen morgen früh weiter.«
Lassiter registrierte den wütenden Blick des Marshals und fragte sich, warum Atkins ihn so anschaute. Achselzuckend wandte er sich ab und kniete sich unter den Braunen, um den Sattelgurt unter dem Bauch zu lösen.
Vermutlich suchte der Sternträger einfach nur nach einem Ventil, um seine Frustration loszuwerden. Und da war er vielleicht ein dankbares Ziel. Denn Atkins und Lassiter hatten sich von Anfang an nicht gerade gut verstanden.
Dennoch war es ihnen gemeinsam gelungen, die Bande der Kapuzenträger zur Strecke zu bringen. Und damit eine Bedrohung zu beenden, die monatelang wie eine Matte aus Angst über Georgia gelegen hatte.
Die Gesetzlosen hatten sich zunächst darauf spezialisiert, Postkutschen auszurauben, bis sie dazu übergingen, einsam gelegene Farmen ins Visier zu nehmen.
Wie so oft musste erst jemand mit Einfluss überfallen werden, bevor wirklich etwas unternommen wurde. Oswald Schultz, Orangenfarmer und Kandidat für einen Senatssitz in Washington, wurde Opfer der Bande und nutzte seine Kontakte in der Bundeshauptstadt, um die Brigade Sieben zu aktivieren. In Person war das Lassiter, der sich auf der Durchreise in Atlanta befunden hatte.
Douglas Atkins, Bundesmarshal seit fünfzehn Jahren, wurde darüber in Kenntnis gesetzt, dass Lassiter ihn unterstützen würde. Außerdem gab es die Anweisung, dass im Zweifelsfall Anordnungen des Agenten zu befolgen seien.
Atkins war kein Mann, dem derartige Kommandos gefielen, und das hatte er Lassiter von Anfang an spüren lassen. Doch nachdem die beiden Männer gemeinsam dafür gesorgt hatten, dass nahezu die gesamte Kapuzen-Bande hinter Schloss und Riegel saß, hatte sich ihr Verhältnis ein wenig gebessert.
Zwei Wochen waren vergangen, seit sie fast alle Mitglieder der Kapuzenträger hatten dingfest machen können. Bis auf einen, der laut einiger Aussagen der Kopf der Bande – und der übelste Schuft von allen sein sollte.
Da nicht nur Raub und Diebstahl, sondern auch mehrere Morde auf das Konto der Kapuzenbande gingen, war das Grund genug, sich auf die Fährte des Flüchtigen zu setzen. Anfangs hatten Atkins und Lassiter geglaubt, es sei eine Frage weniger Tage, bis sie den Burschen fassen würden. Doch das hatte sich als allzu optimistisch erwiesen.
Sie hatten den Outlaw quer durch Georgia verfolgt, und nun waren sie im tiefsten Süden der USA gelandet. Ohne zu wissen, ob ihnen der Bandit in dieser unwegsamen Wildnis doch noch durch die Lappen gehen würde.
Zwei Wochen atemlose Verfolgungsjagd – nur um hier im Enddarm der USA zu landen. Umgeben von Sümpfen und Urwald, die sich anfühlten wie ein Vorgeschmack auf die Hölle.
»Es muss einen Grund geben, warum er nach Florida geritten ist«, vermutete Deputy Pete Jordan, nachdem die Pferde versorgt worden waren und die Männer im Kreis um das Lagerfeuer versammelt saßen.
Cabot schaute auf und schluckte einen Bissen Trockenfleisch herunter, bevor er erwiderte: »Vielleicht ist der Hurensohn einfach nur immer weiter nach Süden geflohen und hoffte, an der Staatsgrenze würden wir ihn ziehen lassen. Aber hier wird es tatsächlich schwer werden, ihn noch zu fassen zu kriegen.«
»Ich an seiner Stelle wäre nach Jacksonville geritten und hätte den nächsten Zug nach Norden oder Westen genommen«, widersprach Murphy. »Vorgestern hätte sein Vorsprung dafür noch gereicht.«
»Vergiss den Steckbrief nicht«, erwiderte Donovan, der jüngste der Deputies – aber keineswegs der einfältigste, wie Lassiter bereits bemerkt hatte. »Die Zeichnung sieht für mich ziemlich präzise aus.«
»Aber sie hängt in Florida erst in den wenigsten Offices aus«, klärte Atkins ihn auf. »Deshalb hat Murphy recht – man darf sich fragen, warum dieser Bastard ausgerechnet hierher wollte.« Er schob sich einen Zigarillo zwischen die Lippen, bevor er den Mann in den Blick nahm, der ein Stück abseits der Runde mit dem Rücken an einem Baumstumpf lehnte.
»Hey, Mister Oberschlau... haben Sie gar nichts beizutragen?«
Der Angesprochene blies den Rauch seines Zigarillos aus und ließ sich ein paar Sekunden Zeit mit einer Antwort.
»Ich schätze, dass der Bursche aus der Gegend stammt.«
Pete Jordan nickte und blickte beifallheischend in die Runde. Atkins seufzte und hielt sein Feuerzeug an den Glimmstängel.
»Mag schon sein. Das nützt uns bloß wenig, weil wir ansonsten kaum etwas über den Mann wissen. Wir haben zwar ein Bild von seiner Visage, weil ihm der Kutscher in Gegenwart von Zeugen die Kapuze heruntergerissen hat – aber sein Name? Fehlanzeige: Den wussten auch seine Kumpane nicht.«
Lassiter legte die Stirn in Falten, und seine Miene war ernst. »Sollte ich recht haben, ist wenigstens eines klar: Der Mann bewegt sich auf bekanntem Terrain und hat uns damit etwas voraus, Gentlemen. Also seien Sie besser auf der Hut.«
»Ihr habt Lassiter gehört, Messieurs.« Atkins Stimme trug eine Spur von Hohn in sich. »Und sollte einer von euch das Schwein vor den Lauf bekommen, knallt ihr ihn ab – ist das klar? Ich habe nicht die geringste Lust, so einen Abschaum noch zurückzubringen in eine gemütliche Zelle, damit ihn ein windiger Rechtsverdreher wieder herauspaukt.«
»Der Steckbrief sagt nichts von tot oder lebendig, Marshal«, brummte Lassiter. »Aus gutem Grund, denn wir wissen nicht, welcher Verbrechen sich der Mann schuldig gemacht hat.«
Atkins lachte auf. »Seine Kumpane haben ihn ziemlich eindringlich beschrieben, schon vergessen? Er war ihr Anführer und für alle Morde verantwortlich.«
»Das«, erwiderte Lassiter gleichmütig, »würde wohl jeder behaupten, wenn er hinter Gittern sitzt und den eigenen Hals retten will. Deshalb sind diese Aussagen keinen Cent wert.«
»Ihre Meinung dazu kümmert mich einen feuchten Kehricht, Lassiter«, gab Atkins barsch zurück, bevor er seine Deputies in den Blick nahm. »Der Befehl gilt, mehr noch: Wer den Burschen zur Hölle schickt, bekommt von mir eine ordentliche Gehaltserhöhung, sobald wir wieder zuhause sind.« Er warf sich in die Brust und klemmte die Daumen hinter den Revolvergurt. »Wir sind hier nicht zum Vergnügen. Und jeder Tag, den dieser Hurensohn im Knast verbringt, kostet Steuergelder aufrechter Bürger. Also seid bereit, Männer! Das gilt natürlich besonders für Cabot und Donovan, die die erste Wache übernehmen werden.«
Cabot stöhnte auf, hob aber rasch beide Hände, als er Atkins' scharfen Blickes gewahr wurde.
Lassiter hätte sich gern erboten, Cabots Wache zu übernehmen, zumal er glaubte, dass der Bandit – sollte er sich noch in der Nähe befinden – sie wohl eher früher als später angreifen würde. Doch er verspürte keine große Lust, deswegen einen weiteren Disput mit Atkins heraufzubeschwören. Also breitete er eine Decke vor dem Baum aus, legte sich den Sattel als Kopfstütze zurecht und ließ sich auf dem Nachtlager nieder. Die anderen taten es ihm gleich, bis auf Cabot, der am Feuer sitzenblieb, und Donovan, der bei den Pferden Posten bezog.
Mittlerweile war die Nacht hereingebrochen, ohne dass dies mit einem spürbaren Absinken der Temperaturen einherging. Auch die Geräuschkulisse des Waldes war immer noch vernehmlich, auch wenn das Konzert der Vögel weitgehend verstummt war.
Lassiter nahm sich vor, so lange wie möglich wach zu bleiben, doch schließlich forderten die Strapazen des Tages auch bei ihm ihren Tribut, und ihm fielen die Augen zu.
Augenblicke später fiel er in einen unruhigen Schlaf.
✰
Als das aufgeregte Gebell der Bluthunde plötzlich verstummte, hob Maria den Kopf und starrte zu den Büschen jenseits des Maisfelds hinüber, in dem Justin Dorn mit der Meute und zwei bewaffneten Männern vor kaum einer Stunde verschwunden war. Es war unmöglich, zu sagen, ob das Schweigen der Hunde ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war. Natürlich hoffte sie Ersteres. Denn wenn die Jäger den flüchtigen Larry Bane erwischt hatten, erwartete ihn zweifellos eine drakonische Strafe.
Dorn hatte von den Gutsbesitzern fast völlig freie Hand, was die Bestrafung von Arbeitern anging, die sich davonmachen wollten. Und das sadistische Schwein nutzte diese Macht weidlich aus, um seiner Lust am Quälen von Menschen zu frönen, die sich nicht wehren konnten. Auch wenn er die Gepeinigten inzwischen meist am Leben ließ. Denn Arbeitskräfte begannen allmählich knapp zu werden auf der Plantage der Familie Orlando. Was nicht nur an Dorns brutalem Regime und den mörderischen Arbeitsbedingungen lag, sondern auch am Gelbfieber, das im Frühjahr auf dem Anwesen gewütet und sechzehn Menschenleben gefordert hatte.
Frische Arbeitskräfte wuchsen schließlich nicht auf den Bäumen, und mittlerweile hatte sich wohl auch in den fernen Städten herumgesprochen, auf was man sich einließ, wenn man bei den Orlandos anheuerte. Schließlich gelang es immer mal wieder einem Lohnsklaven, Fersengeld zu geben oder unbehelligt von hier fortzukommen – obwohl beides selten vorkam.
»Schläfst du im Stehen oder hast du jetzt schon keine Lust mehr?« Die Stimme klang unwillig und war ihr so nah, dass Maria erschrocken herumwirbelte.
»Nein, ich... ich dachte nur...«
»Fürs Denken wirst du nicht bezahlt«, knurrte Paul Gaunt verächtlich und spuckte einen braunen Strahl Kautabak direkt vor ihre Füße. Er grinste und entblößte dabei ein lückenhaftes, gelbbraunes Gebiss. »Wäre wohl auch ziemliche Geldverschwendung, meinst du nicht?« Begehrlich taxierte er Marias üppigen Busen unter dem geblümten Kattun des Kleids. »Also schwing deinen Hintern und komm in die Hufe. Wenn die Sonne erst hoch steht, werdet ihr faules Gesindel ohnehin wieder so langsam, dass man euch für Schlafwandler halten könnte.« Drohend wedelte er mit seiner Flinte, und Maria machte, dass sie seinem Befehl Folge leistete.
Dennoch erlaubte sie sich einen verstohlenen Blick über die Pflanzen zu Ras hinüber, der sechs Reihen neben ihr die Kolben von den Stämmen pflückte. Er schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln, und als Gaunt sich umgedreht hatte und davon marschierte, verzog er sein Gesicht zu einer debilen Grimasse, die eine ziemlich gute Parodie der hässlichen Visage des Aufsehers abgab.
Maria schlug sich die Hand vor den Mund und musste all ihre Selbstbeherrschung aufbieten, um nicht loszuprusten. Als Gaunt sich ein paar Schritte vor ihr noch einmal argwöhnisch umwandte, senkte sie rasch den Kopf und gab sich eifrig und beflissen.
Noch sechs Wochen, dann wäre die Ernte eingeholt – und ihr Arbeitsverhältnis hätte sein Ende erreicht.
Wenigstens theoretisch.
Denn von dem kargen Lohn, den die Orlandos ihren Feldarbeitern zahlten, zogen sie noch Kost und Logis ab. Ein Hohn, denn die heruntergekommenen Baracken, in denen sie hausten, und das Essen, das sie bekamen, rechtfertigte nicht einmal einen Bruchteil dessen, was ihre Arbeitgeber vom ohnehin schon armseligen Gehalt einbehielten.
Was auch dem Zweck diente, die Männer und Frauen arm zu halten, damit ihnen kaum eine Wahl blieb außer zu bleiben. Wer dennoch gehen wollte, den ließ man meistens ziehen – es sei denn, er stand bei den Orlandos in der Kreide. Und das war bei fast allen Arbeitern und Arbeiterinnen der Fall. Zigaretten, Alkohol, etwas Besonderes zu essen oder frische Kleidung – man bekam nahezu jeden Wunsch erfüllt im Magazin gegenüber der Stallungen. Sofern man bereit war, dafür horrende Preise zu bezahlen, die schnell den Rest des Lohns auffraßen. Dann wurde großzügig Kredit gewährt – und man saß in der Falle.