Lassiter 2579 - Jack Slade - E-Book

Lassiter 2579 E-Book

Jack Slade

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Beschreibung

"Lasst mich raus!" Charly Crocker hämmerte wild mit den Fäusten gegen die Tür. Das Holz knirschte unter seinen Schlägen, aber es brach nicht. Warmes Blut sickerte über seine Hände, begleitet vom Schmerz reißender Haut.
Verzweifelt hielt er inne und lauschte. Nichts. Die Stille draußen dröhnte in seinen Ohren. War dort überhaupt noch jemand am Leben? Oder hatte das Grauen, das sich im Camp breitmachte, längst alle umgebracht? War er allein noch übrig?
Bei allen Heiligen! Nur das nicht! "Hört mich denn niemand?", schrie er. "Lasst mich hier raus!"


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Seitenzahl: 139

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Inhalt

Cover

Santa Clyde

Vorschau

Impressum

SantaClyde

»Lasst mich raus!« Charly Crocker hämmerte wild mit den Fäusten gegen die Tür. Das Holz knirschte unter seinen Hieben, aber es brach nicht. Warmes Blut sickerte über seine Hände, begleitet vom Schmerz reißender Haut. Verzweifelt hielt er inne und lauschte. Nichts. Die Stille draußen dröhnte in seinen Ohren. War dort überhaupt noch jemand am Leben? Oder hatte das Grauen, das sich im Camp breitmachte, längst alle umgebracht? War er allein noch übrig? Bei allen Heiligen! Nur das nicht! »Hört mich denn niemand? Lasst mich hier raus!«

Charly sank auf die Knie nieder.

Nicht, um zu beten, denn er war davon überzeugt, dass Gott diesen Ort schon vor langer Zeit verlassen hatte. Nein, hier unten gab es einen Spalt, durch den er aus seinem fensterlosen Verschlag nach draußen spähen konnte.

Flackerndes Licht erhellte den Schnee draußen. Kein Tageslicht, nein, eine Lampe. Das ließ warme Hoffnung in ihm aufsteigen. Jemand musste sie entzündet haben, und das wiederum bedeutete, dass er vielleicht doch noch nicht so verlassen war, wie er geglaubt hatte.

In wenigen Tagen war Heiligabend.

Charly war sich nicht sicher, ob es noch vier oder fünf Tage waren. Seitdem er hier eingesperrt war, hatte er jedes Zeitgefühl verloren. Die Sekunden tröpfelten dahin wie der Schweiß von der Stirn des Kochs, als er noch andere Zutaten als verschrumpelte Rüben und Fleisch zur Verfügung gehabt hatte, nach dessen Herkunft niemand zu fragen wagte. An guten Tagen hatte der Chef seinen Herd angefeuert und den Arbeitern dicke Stapel duftender Pfannkuchen serviert, üppig mit süßem Ahornsirup begossen. Dazu hatte er gebratene Eier mit Speck auf ihre Teller gehäuft, dass selbst die immer hungrigen Eisenbahner zufrieden waren.

Diese glücklichen Tage schienen eine Ewigkeit her zu sein.

Der Schnee brachte sie alle an den Rand des Verderbens.

Charly gehörte zu einem Trupp Eisenbahnarbeiter, die einen Schienenweg im nördlichen Kalifornien verlegten. Eine Lokomotive schob ihren Arbeitszug vor sich her. Der bestand aus Plattformwagen mit Werkzeugen, Baumaterial und einer Schmiede. Daran hingen drei scheunenartige Güterwagen mit drei Reihen übereinander angeordneter Schlafkojen. Dahinter folgte der Speisewagen und als letztes der Arbeitswagen mit Küche, Lager und Ingenieurbüro.

Und mit Charlys Gefängnis.

Sie hatten ihn in einen Verschlag gesperrt, der kaum größer als ein Hühnerpferch war. An besseren Tagen waren hier Vorräte aufbewahrt worden. Jetzt waren die Bretter so leer wie sein Magen.

In der vergangenen Nacht hatte ihn das Heulen des Sturms wachgehalten. Brüllend wie ein Tollhäusler war der um die Ecken des Arbeitszuges gefegt und hatte an dem Wagen gerüttelt, dass dieser geächzt hatte wie der alte Moody, wenn er seine Stiefel zubinden sollte. Der Sturm war inzwischen weitergezogen. Die Kälte jedoch war geblieben und kroch Charly unter die Haut und in jeden Knochen.

Er konnte nicht aufhören, mit den Zähnen zu klappern.

Seit Wochen war das Camp der Eisenbahnbauer in der Sierra Nevada eingeschneit und von der Außenwelt abgeschnitten. Mehrere Männer waren bereits losgezogen, um Vorräte zu besorgen, aber nicht einer war zurückgekommen.

Nicht einmal Reed, der zäh wie altes Büffelleder war. Wölfe, Kugeln und Krankheiten hatten ihn schon mehr als einmal fast das Leben gekostet, aber er war jedes Mal wieder auf die Beine gekommen. Diesmal jedoch hatte ihn die weiße Hölle da draußen verschluckt und nicht wieder ausgespuckt.

Charlys Zähne schlugen schmerzhaft aufeinander.

Er gehörte zu den Nagelmännern – dem Team, das den Hammer schwang, nachdem die neuen Schienen vom Karrenwagen abgeladen und verlegt waren.

Zumindest war das bisher seine Arbeit gewesen.

Der verdammte Schnee hatte alles geändert.

Drüben im Speisewagen thronte ein Wagenrad in der Mitte des langen Tischs, an dem die Eisenbahnarbeiter gewöhnlich speisten – in mehreren Schichten zu jeweils hundertfünfundzwanzig Mann, weil der Platz nicht reichte, dass alle auf einmal Essen fassten. Auf dem Wagenrad waren zwanzig kleine und vier große Kerzen festgemacht. Damit zählten sie die Tage bis Weihnachten. Die kleinen Kerzen standen für die Arbeitstage, die großen für die Sonntage. Sie hatten das Rad festlich mit Kieferngrün und Zapfen geschmückt. Haakon, der Schwede, hatte ein paar Seiten einer alten Zeitung geopfert und Sterne aus dem Papier gefaltet, um das Grün zu verzieren.

Sie hatten gelost, wer morgens die nächste Kerze anzünden durfte.

Charly wäre am 23. Dezember an der Reihe gewesen.

Doch die Kerzen hatten schon seit Tagen nicht mehr gebrannt.

Nicht, seitdem der alte Ezra mit Bauchkrämpfen und blutigem Durchfall umgekippt war. Er war der erste von vielen gewesen. Reihum waren die Männer umgekippt. Die rote Ruhr wütete unter ihnen. Ein Arbeiter nach dem anderen siechte dahin, wälzte sich mit Krämpfen und Fieber auf seinem Lager und ging elendiglich zugrunde.

Ihre Lage war immer verzweifelter geworden.

Der nächste Arzt war hundert Meilen weit weg. Unerreichbar durch den Schnee. Die Arbeiter hatten versucht, sich selbst zu helfen: mit Whisky, Gebeten und Weihrauch. Nichts davon hatte wirklich geholfen.

Sie saßen hier draußen fest – und sie starben einer nach dem anderen.

Charly war bisher verschont worden, aber als ihnen die Vorräte ausgingen und kein Nachschub eintraf, waren die letzten Lebensmittel streng rationiert worden. Der Hunger hatte an Charly genagt wie ein kleines wütendes Tier, das sich tiefer und tiefer in seine Eingeweide fraß. Irgendwann hatte er es nicht mehr ausgehalten und die Gelegenheit beim Schopf ergriffen, um einen Kanten Brot und eine Zwiebel zu nehmen. Ein böser Fehler. Der Koch hatte ihn ertappt und eingesperrt.

Er konnte von Glück sagen, dass seine aufgebrachten Kameraden ihn nicht am nächsten Haken aufgespießt hatten. Einem Kameraden das letzte Essen zu stehlen, galt im Camp als eines der schlimmsten Verbrechen überhaupt.

Warum nur hatte er sich dazu hinreißen lassen?

Nun nagte das schlechte Gewissen an ihm – und das war schlimmer als der Hunger. Er hätte seinen Fehler gern wiedergutgemacht, aber solange er hier eingesperrt war, war das unmöglich.

Er hatte nichts zu beißen und kein Wasser mehr.

Seine Lage wurde immer verzweifelter. Hier zu verhungern... eingesperrt wie ein Tier... Kaltes Grauen kroch aus einem der dunkelsten Winkel seines Verstandes.

»Hey!« Er hieb wieder und wieder gegen das Holz. »Habt ihr mich vergessen?«

Niemand rührte sich.

Charly stöhnte.

Eine Kugel wäre gnädiger gewesen als dieser langsame Tod.

Mit etwas Glück würde er erfrieren, bevor er verhungerte.

Er kniff die Lider zusammen und spähte durch den Spalt zwischen den Brettern nach draußen. Es schneite wieder. Seine Augen schmerzten bei dem Versuch, das Weiß zu durchdringen. Die Schienen, die sie bis hierher verlegt hatten, waren längst unter meterhohem Schnee verschwunden.

Würde das Camp sein Grab werden?

Charly ballte die Hände zu Fäusten.

Nein. Er hatte nicht den weiten Weg von Irland hierher hinter sich gebracht, um hier zu sterben. Sein Glück hatte er machen wollen. Deshalb hatte er die Heimat und seine vier Geschwister verlassen und war in den Westen gegangen. Beim Eisenbahnbau wurden immer Männer gebraucht, deshalb hatte er sich hier anstellen lassen. Er wollte genügend Geld verdienen, um sich eines Tages eine kleine Farm zu kaufen und sesshaft zu werden. Da würde er jetzt nicht einfach aufgeben!

Von draußen waberte plötzlich der Geruch von Zigarettenrauch herein.

»Hey!« Charly brüllte. »Hey, lasst mich raus!«

Schnee knirschte unter festen Stiefeltritten.

»Das könnte dir so passen, Halunke«, knurrte eine dunkle Stimme. »Kannst froh sein, dass wir dir deine diebische Hand nicht einfach abgehackt haben!«

»Pete, bist du das? Hör zu, lass mich raus. Ich weiß, ich habe Mist gebaut, aber ich will es wiedergutmachen. Ich werde losziehen und Vorräte holen. Hörst du?«

»Und warum sollten wir dir trauen?«

»Weil ihr mich kennt. Komm schon, Pete.«

»Vergiss es, Charly. Wir haben dir einmal vertraut. Noch mal machen wir diesen Fehler nicht. Du wirst hier verrecken... wie wir alle.«

»Pete, bitte, lass mich raus. Ich kann den Weg nach Dutch Flat schaffen, das weißt du.«

Draußen blieb es sekundenlang still.

»Pete? Bist du noch da? Rede doch mit mir, verdammt.«

Schweigen antwortete ihm.

»Pete, wie geht es den anderen? Sind noch mehr Männer krank geworden?«

Wieder die Stille, dann, rau: »Viele.«

Das eine Wort ließ einen kalten Schauer über seinen Rücken rieseln.

Draußen entfernte sich das Knirschen der Stiefeltritte. Er war wieder allein.

Wilde Verzweiflung erfasste ihn.

Nein, nein und noch mal nein. Er würde hier drinnen nicht elendiglich verrecken wie eine Ratte. Er musste hier raus und Vorräte und Medikamente beschaffen, dann konnte er seinen Diebstahl vielleicht vergessen machen.

Er richtete sich auf, hob einen Arm schützend vor seinen Kopf und warf sich gegen die Bretterwand. Das Holz knirschte, aber es hielt. Charly schmetterte sich mit seinem ganzen Gewicht ein weiteres Mal gegen die Außenwand. Und noch mal.

Plötzlich splitterte und krachte das Holz... und er brach durch!

Ein wilder Schmerz raste durch seine Schulter. Holz ritzte sein Gesicht und seine Hände. Er stürzte mit voller Wucht hin, rang um Atem und sah nichts als Weiß. Überall war Schnee. Schnee. In seinem Gesicht, im Kragen, in seinem Mund.

Spuckend und hustend rappelte er sich hoch, blickte in den wolkenverhangenen Himmel und murmelte einen leisen Dank. Er hatte es geschafft. Er war wieder frei!

Hastig blickte er sich um.

Noch schien niemand seinen Ausbruch bemerkt zu haben. Kälte und Schneetreiben hielten die Männer, die noch nicht von der Krankheit gezeichnet waren, drinnen.

Charly presste sich mit dem Rücken gegen den Arbeitswagen.

Das Camp hatte sich kein Yard bewegt, seitdem er eingesperrt war. Der Winter hatte die Arbeiten erstarren lassen wie einen erfrorenen Kojoten. Wolkentürme ballten sich über den Höhen der Sierra Nevada zusammen und kündigten weitere Schneefälle an.

Auf dem nächsten Wagen drangen Stöhnen und Zähneklappern. Er war zur Seuchenstation umfunktioniert worden. Ein grauenhafter Gestank waberte von dort heran.

»He!« Der Ruf bellte rechts von ihm.

Charly fuhr herum, sah Pete aus dem Schneetreiben auf sich zukommen. Der andere Arbeiter war ein lang aufgeschossener Mann, der aus London stammte und nie ein Wort über seine Vergangenheit verlor.

»Mistkerl«, knirschte Pete und hob die Fäuste. »Du wirst schön hierbleiben.«

»Daraus wird nichts.« Charly straffte sich, wartete auf den rechten Moment. Noch nicht... noch nicht... Als sein Gegenüber auf Armlänge heran war, warf sich Charly mit seinem ganzen Gewicht auf ihn. Er brachte Pete zu Fall, stürzte auf ihn und begrub ihn unter sich im Schnee. Bevor Pete auch nur fluchen konnte, traf ihn Charlys Faust am Kinn. Es knackte unschön. Dann verdrehte Pete die Augen und erschlaffte.

»Tut mir leid«, murmelte Charly und rappelte sich aus dem Schnee auf.

Er packte den anderen Mann und hievte ihn in den Verschlag, in dem er eben noch festgesessen hatte. Dann streifte er ihm die Stiefel ab und ließ ihm seine Schuhe dafür zurück – die nur noch aus Löchern mit ein bisschen dünnem Leder bestanden. »Ich bringe sie dir zurück, wenn ich mit den Vorräten zurückkomme«, raunte er und streifte die Stiefel in aller Eile über.

Dann nahm er Pete Schal und Wollmütze ab und zog beides selber an.

Eine Waffe trug der andere Mann nicht – und Charly wollte nicht riskieren, entdeckt und aufgehalten zu werden, wenn er in den Schlafkojen nach einer suchte. Es musste so gehen. Er würde losziehen und Lebensmittel und Medikamente besorgen. Ausgerüstet mit wenig mehr als seiner Entschlossenheit und Verzweiflung.

Pferde gab es schon lange keine mehr im Camp. Die waren verhungert und von den verzweifelten Männern verspeist worden.

Was er brauchte, waren Schneeschuhe, wie die Mountain Men sie trugen, um im Tiefschnee nicht zu versinken. Charly wusste, dass vorn im Zug – im Wagen mit dem Baumaterial – welche lagern mussten.

Geduckt schlich er dorthin.

Eine Lampe, Schneeschuhe und Proviant würde er brauchen, wenn er es sich nach Dutch Flat durchschlagen wollte.

Während er sich zum vorderen Teil des Zuges bewegte, spürte er, wie der Sturm wieder anschwoll. Es schneite wieder kräftiger. Die Kälte zwickte in seine Wangen wie eine wütende Wildkatze. In der Nacht würden die Temperaturen noch weiter fallen. Charly fluchte in sich hinein. Er würde mehr als Licht und etwas zu beißen brauchen, wenn er den Weg schaffen wollte.

Was er brauchte, war ein verdammtes Wunder!

»Es gibt Ärger im Saloon, Boss.« Joe Carruthers steckte den Kopf zur Tür des Marshal's Office herein. »Irgendein Schießteufel fuchtelt mit 'ner Schrotflinte herum. Der Salooner steckt in der Klemme, und seine Gäste rühren keinen Finger. Wollen Sie mitkommen oder überlassen Sie mir den Spaß allein?«

Clyde Santana war schon auf dem Weg zur Tür. »Ich komme mit.«

»Dachte ich mir.« Ein Grinsen huschte über das wettergegerbte Gesicht seines Deputies. Joe war lang aufgeschossen und dürr wie eine junge Birke. Seine hagere Gestalt täuschte jedoch: Er war zäh wie Leder. Wenn er einem Halunken auf den Fersen war, konnte der sich warm anziehen.

Clyde Santana hatte seine Deputies mit Bedacht ausgewählt. Als Town Marshal war er für die Ordnung in Dutch Flat zuständig. Unter seinen Händen war aus einem wilden Bergarbeiternest eine blühende Kleinstadt geworden. Er macht diesen Job seit nunmehr... ach, verdammt, länger, als gut für seinen Seelenfrieden war.

An der Mainstreet reihten sich die Trading Post, ein Generalstore, ein Hotel und ein Saloon aneinander. Nur einen Steinwurf vom Büro des Marshals entfernt stand das Schulgebäude. Ein weißer Zaun umgab es – doch der war unter dem Schnee verschwunden. Auch die bewaldeten Hänge rings um die Stadt waren tief verschneit. Während der wärmeren Jahreszeiten kam die Postkutsche täglich nach Dutch Flat. Jetzt im Winter konnten sie froh sein, wenn die Kutsche einmal in der Woche zu ihnen durchkam. Manchmal verging ein ganzer Monat ohne eine Ankunft.

Santana strebte mit seinem Deputy zum Saloon. Der Schnee knirschte unter ihren Stiefeln. Schon von weitem konnten sie das Gebrüll und Gejohle aus dem Saloon vernehmen.

»Nach Angst und Schrecken hört sich das aber nicht an«, murmelte Santana. Seine Rechte auf seinen Sechsschüsser legend, trat er durch die Schwingtür und schaute sich prüfend um. Einer der Gäste stand mit dem Rücken zum Tresen und schwang eine Schrotflinte. Ein magerer Bursche war es, mit einem Filzhut, der ihm zu groß war und schief über seinem rechten Auge saß. Struppige braune Haare ragten darunter hervor. Die Farbe seines Mantels und seiner Hosen war schwer zu bestimmen. Früher mochte beides einmal braun gewesen sein, jetzt waren sie von einem undefinierbaren schmutzigen Grau. Genauso wie Kinn und Wangen.

Einige Gäste hatten sich im Halbkreis um den Gast aufgebaut und grienten.

Der schwenkte die Schrotflinte und rief: »Kommt nur her, wenn ihr euch traut!«

Angesichts der hellen Stimme furchte Santana die Stirn.

»Das ist 'ne Lady?« Seinem Deputy klappte der Mund auf.

»Unter all dem Dreck... anscheinend ja.«

»Was für eine Wildkatze«, röhrte einer der Gäste und machte einen Schritt vor, erstarrte jedoch, als er in die Mündung der Flinte blickte.

»Ich wollte nur was trinken«, stellte sie klar. »Auf der Speisekarte stehe ich nicht. Kapiert?« Sie fuchtelte mit der Schrotflinte. Plötzlich löste sich ein Schuss! Die Ladung krachte in das Deckenholz. Staub und Späne rieselten. Die Gäste spritzten fluchend auseinander, suchten Deckung hinter Tischen und Stühlen, fluchten.

Auch Santanas Deputy zog den Kopf ein. »Das ist 'ne verdammte Amazone, Boss«, raunte er. »Was meinst du? Bewahren wir sie vor üblem Gerede und verschwinden wir?«

»Kommt nicht in Frage.«

»Ich wusste, du würdest das sagen.«

Santana trat vor und deutete auf den Stern an seiner Weste. »Ich bin Town Marshal Clyde Santana, Ma'am, und Sie werden jetzt die Flinte herunternehmen.«

»Erst, wenn diese Schufte ihre Griffel bei sich behalten.« Sie hob den Kopf. Unter ihrem Hut blitzten ihre grünen Augen wie die einer Wildkatze.

»Das werden sie.« Santana blickte streng in die Runde. Er konnte sich denken, was geschehen war. Einige Gäste hatten eine allein reisende Lady erkannt und geglaubt, sie wäre an einer näheren Bekanntschaft interessiert. »Wie wäre es, wenn Sie dem Salooner den Schaden an seinem Dach ersetzen, und dann Ihrer Wege ziehen? Noch ist niemandem etwas passiert und das soll auch so bleiben.«

Die Frau blickte ihn unsicher an. Dann senkte sie ihre Waffe. »Ich habe einen weiten Weg hinter mir«, murmelte sie. »Mein Mann arbeitet am Bau der Eisenbahn mit. Früher hat er mir jede Woche einen Brief geschrieben, aber seit über einem Monat ist keine Zeile mehr von ihm gekommen. Ich muss wissen, ob es ihm gutgeht. Verstehen Sie das?«

»Das tue ich. Wir haben ebenfalls lange nichts von dem Bautrupp gehört.«

»Glauben Sie, im Camp ist etwas vorgefallen?«

»Nicht unbedingt. Bei dem vielen Schnee ist es nicht ungewöhnlich, dass das Camp von der Außenwelt abgeschnitten ist.«

»Ich muss trotzdem dorthin und mir Gewissheit verschaffen.«

»Zum Camp ist es noch ein weiter Weg. Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf: Sie sollten sich vorher etwas ausruhen, Ma'am.«

Sie wischte sich mit dem Mantelärmel über die Stirn. »Ja, da haben Sie wohl recht.« Sie kramte ein paar Münzen aus ihrer Tasche und legte sie dem Salooner hin.

Der raffte sie an sich und trat vorsichtig wieder ein paar Schritte zurück.