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"Wir sollten umkehren!" Ed Wards musste brüllen, um sich über das Tosen des Unwetters verständlich zu machen. "Hier draußen halten wir keine Stunde mehr durch. Schlagen wir uns wieder zur Mine durch und warten den Blizzard dort ab."
Er blinzelte unter seinen eisbehangenen Brauen zu seinen Männern. Im wirbelnden Weiß waren sie nicht viel mehr als verschwommene Schemen. Hatten sie ihn überhaupt gehört?
Der verdammte Sturm war schneller hereingebrochen, als er angenommen hatte. Mittlerweile reichte der Schnee ihren Pferden bis zum Bauch und machte sie langsam. Zu langsam. Ed fluchte in sich hinein. Er hatte keine Ahnung, wo sie sich befanden. Eines war jedoch gewiss: Wenn sie nicht bald Schutz fanden, war es aus mit ihnen...
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Seitenzahl: 141
Veröffentlichungsjahr: 2022
Cover
Zum Sterben nach Montana
Vorschau
Impressum
Zum SterbennachMontana
»Wir sollten umkehren!« Ed Wards musste brüllen, um sich über das Tosen des Unwetters verständlich zu machen. »Hier draußen halten wir keine Stunde mehr durch. Schlagen wir uns wieder zur Mine durch und warten den Blizzard dort ab.«
Er blinzelte unter seinen eisbehangenen Brauen zu seinen Männern. Im wirbelnden Weiß waren sie nicht viel mehr als verschwommene Schemen. Hatten sie ihn überhaupt gehört?
Der verdammte Sturm war schneller hereingebrochen, als er angenommen hatte. Mittlerweile reichte der Schnee ihren Pferden bis zum Bauch und machte sie langsam. Zu langsam. Ed fluchte in sich hinein. Er hatte keine Ahnung, wo sie sich befanden. Eines war jedoch gewiss: Wenn sie nicht bald Schutz fanden, war es aus mit ihnen ...
Der Schneesturm fegte wie ein hungriges Raubtier über die Hügel. Er ließ uralte Gelbkiefern brechen wie morsche Knochen, riss Weidezäune um und begrub mannshohe Wacholderbüsche unter Eis und Schnee. Der wilde Flockenwirbel, in der Kälte zu Eis gefroren, stach in die Gesichter der Reiter wie Nadeln. Sie hatten ihre Halstücher über Mund und Nase gezogen, doch die waren längst wie der Rest ihrer Kleidung mit einer steifen Schneekruste überzogen.
Ed Wards bereute es, seine Männer aus dem sicheren Unterschlupf getrieben und in das Unwetter gejagt zu haben. Crowley hatte ihn gewarnt, dass der violett gefärbte Horizont nichts Gutes zu bedeuten hatte. Und er hatte Recht behalten.
Der Sturm hatte sie mitten in der Einöde eingeholt.
»Wir hätten die Mine nicht verlassen dürfen!« Santos lenkte seinen Braunen neben den von Ed Wards und zog sein Halstuch herunter. In seinem struppigen braunen Bart hingen Eiszapfen. Santos musste sich nicht sonderlich anstrengen, um verstanden zu werden. Er war ein Bär von einem Mann, mit Fäusten, die einem Gegner mühelos das Lebenslicht ausblasen konnten, und einer Stimme, um Armeen zu befehligen. Er hatte jedoch noch eine andere Seite: Es brauchte nur einen Bleistiftstummel in seiner Hand, dann brachte er die herrlichsten Zeichnungen zu Papier. Das Bild, das er von Wards Pferd gemalt hatte, trug dieser sorgsam verwahrt in seiner Satteltasche. »Der Rückweg ist zu lang, Ed. Das können wir unmöglich schaffen. Wir sind müde und halb erfroren.«
»Was schlägst du vor?«
»Dass wir weiterreiten. Bis zu dieser Bergarbeitersiedlung kann es nicht mehr weit sein, oder? Dort können wir uns ausruhen und aufwärmen.«
Wards war sich da nicht so sicher. Der Trail war unter dem Schnee längst nicht mehr zu sehen. Wolken und Flockenwirbel machten jede Orientierung unmöglich. Wenn sie die Richtung halbwegs beibehalten hatten, mochten sie tatsächlich bald am Ziel sein. Genauso gut war es jedoch auch möglich, dass sie sich verirrt hatten und in die entgegengesetzte Richtung geritten waren. Mitten hinein in die Sweet Grass Hills. Die Hügel wurden nicht umsonst »Montanas grünes Labyrinth« genannt. Schon viele hatten sich hineingewagt und waren nicht mehr herausgekommen. Jetzt, im tiefsten Winter, waren die Hügel jedoch eher ein weißes Labyrinth. Eines, aus dem es kein Entkommen zu geben schien...
Was tun wir?, grübelte Wards angestrengt. Welches ist der sichere Weg?
Ihre Gefährten scharten sich um Santos und ihn. Sie konnten ihre Pferde nur mit Mühe ruhighalten. Den Tieren setzte das Unwetter ebenfalls zu. Vermutlich würde es nicht mehr lange dauern, bis das erste tot zusammenbrach. Was auch immer sie entschieden – sie mussten es bald tun, sonst würde ihnen die Kälte die Entscheidung abnehmen.
Sind wir noch auf dem richtigen Weg? Wards kniff die Lider zusammen und versuchte, den Flockenwirbel zu durchdringen, aber genauso gut hätte versuchen können, durch festes Gestein zu blicken. Seine Augen schmerzten von dem Versuch. Herrgott, es fühlte sich an, als wäre er blind geworden.
Sein Atem kam schwer, und er hatte schon lange kein Gefühl mehr in seinen Zehen. Und seine Hände waren in den Handschuhen steif vor Kälte, sie schienen am Leder des Zügels festgefroren zu sein. Schnee bedeckte ihn, vom Hut bis zu den Stiefeln. Nicht mehr lange und er würde zu Eis erstarrt vom Pferd fallen.
»Was'n los?«, brüllte Boyd und lehnte sich im Sattel herüber. »Habt ihr was gesehen?« Das Gesicht des kleinen, stämmigen Iren war von Pockennarben übersät.
»Nichts als Schnee.« Santos spuckte aus.
Von Leo und Crowley kam kein Wort, aber Wards spürte ihre finsteren Blicke so deutlich, als würden sie mit ihren Fäusten auf ihn einschlagen. Er war an der Spitze des Zuges geritten – und er hatte sie geradewegs ins Verderben geführt. Falls sie diesen elenden Tag überleben sollten, würden sie ihn das nicht vergessen lassen.
Einen Fluch zerbeißend, fasste er einen Entschluss.
»Also gut, stimmen wir ab!«, rief er. »Wer ist dafür, umzukehren?«
»Dafür ist es zu spät«, schnaufte Santos und erntete zustimmende Rufe von den anderen. »Ein Zurück gibt es nicht mehr. Wir hatten einen sicheren Unterschlupf, aber du hast uns gedrängt, ihn zu verlassen.«
»Weil ich wollte, dass wir ein warmes Abendessen bekommen. Das – und ein paar Girls zur Gesellschaft. War das denn so falsch?« Wards hob das Kinn. »Verdammt, wir sind jetzt reiche Männer. Wir haben mehr Gold, als wir in unserem ganzen Leben ausgeben können, das sollten wir genießen.«
»Genießen?« Boyd hieb auf sein Sattelhorn. »Sieht das hier für dich so aus, als würden wir es genießen? Ich für meinen Teil will meinen Anteil vom Gold noch auf den Kopf hauen. Es wäre 'ne verdammte Schande, reich zu sterben.«
»W-wir werden rein g-gar nichts von dem G-Gold haben, w-wenn wir hier dr-draußen erf-f-frieren.« Leo, der jüngste in ihrem Trupp, schnatterte vor lauter Kälte mit den Zähnen. Über seinem Halstuch war er so blass, als wäre schon alles Leben aus ihm gewichen. Seine runde Brille war mit einer Eisschicht bedeckt. Es schien ihm nicht einmal aufzufallen.
»Du hast uns in die Scheiße geritten, Wards«, brüllte Crowley. »Jetzt sieh zu, dass du uns wieder rausbekommst.«
Ed Wards hätte die Hände zu Fäusten geballt, wenn er noch Gefühl in seinen Fingern gehabt hätte. Er spürte den Argwohn seiner Männer ebenso wie ihren Zorn, und er wusste, dass er sich vorsehen musste. Schon so mancher Leitwolf war von seinen Artgenossen zerrissen worden, um Platz für einen anderen zu schaffen. Er durfte keine Schwäche zeigen, sonst war es aus mit ihm.
»Wir reiten weiter«, rief er. »Folgt mir!« Es brauchte mehr als einen Schenkeldruck, um sein Reittier zum Weiterlaufen zu bewegen. Der Braune warf schnaubend den Kopf zurück, sodass Eiskristalle aus seiner Mähne flogen. Ed stieß ihm die Fersen in die Seiten. »Los jetzt! Los!«
Widerwillig stapfte sein Pferd weiter. Die übrigen folgten ihm in einer Reihe. Verbissen bahnten sie sich einen Weg durch die Einöde. Fünf Reiter waren sie, sechs, wenn man Caleb mitrechnete, aber der war in der Mine geblieben. Er bewachte ihr Gold und hatte sich geweigert, auch nur einen Fuß aus dem Versteck zu setzen. Er würde nicht weichen, bis sie kamen, um ihn mitsamt den Kisten abzuholen.
Ihr Überfall hatte ihnen einen Frachtwagen mit reicher Beute beschert. Das war durchaus kein Zufall gewesen, nein, sie hatten jedes Detail genau geplant. Nur eines hatten sie nicht vorhergesehen: den verdammten Wetterumschwung. Eigentlich hatten sie das Gold auf dem schnellsten Weg in den Süden schaffen wollen, aber dann war der Schnee immer mehr und mehr geworden und sie mussten einsehen, dass es mit dem Wagen kein Durchkommen gab. So spät in der Saison noch ein Blizzard – wer hätte damit rechnen sollen? Wenigstens hatten sie ein gutes Versteck gefunden: eine verlassene Mine in den Sweet Grass Hills. Dort hatten sie ihre Beute versteckt und sich auf den Weg nach Cold Creek gemacht, um es sich gutgehen zu lassen. Caleb war freiwillig als Wächter zurückgeblieben. Für alle Fälle hatten sie sämtliche Pferde mitgenommen, damit er nicht auf dumme Ideen kam.
Anfangs hatten sie ihren Kumpan bemitleidet. Während sie sich die Bäuche vollschlagen und Zeit mit ein paar netten Girls verbringen würden, saß er in der zugigen Mine fest. Inzwischen beneideten sie ihn jedoch um seinen sicheren Unterschlupf.
Der Abstecher war ein Fehler, warf sich Wards vor. Ich hätte es wissen müssen. Wie heißt es so schön? Wenn es dem Büffel zu wohl ist, geht er aufs Eis. Nun, genauso sieht es jetzt aus!
Er zog die Schultern hoch und trieb sein Pferd weiter. Ihnen blieb nur, die Richtung beizubehalten und zu hoffen, dass sie tatsächlich auf dem Weg nach Cold Creek waren. Falls nicht, nun, dann war die nächste Siedlung knapp fünfzig Meilen entfernt – zu weit, um sie in dieser Kälte lebend zu erreichen...
»Wie weit n-noch, Ed?« Das kam von Leo. Der Junge klang verängstigt.
»Nicht mehr weit. Warte nur: Im Handumdrehen sitzt du in einem warmen Badezuber und lässt dir den Rücken von einer drallen Rothaarigen schrubben. Oder welches Körperteil auch immer eine gründliche Reinigung gerade nötig hat.«
Hinter ihm erklang ein Geräusch, das sich verdächtig wie ein Glucksen anhörte.
Wards zog seinen Hut tiefer in die Stirn und trieb sein Pferd weiter. Er konnte nichts als Weiß erkennen, deshalb überließ er es seinem Reittier, die Richtung zu bestimmen. Wenn es etwas gab, das sie aus dieser eisigen Hölle retten konnte, dann war es der Instinkt ihrer Tiere.
Doch je mehr Zeit verging, umso stärker wurde die Erschöpfung. Wie Blei kroch sie in seine Glieder. Wards nickte immer wieder ein. Es war so verlockend, alle Mühsal einfach zu vergessen, sich dem Schlaf zu überlassen und... Moment mal! Vor ihm zeichnete sich etwas Schmales, Dunkles im Schneetreiben ab. War das etwa ein Telegraphenmast?
Wards fuhr im Sattel hoch, als hätte sich ein Nagel in seinen Hintern gebohrt.
Ja! Es war einer! Und weiter vorn... noch einer! Die Telegraphenleitung war weiß vom Eis, aber er konnte ihre Richtung ausmachen. Dort ging es lang. Wenn sie der Leitung folgten, mussten sie früher oder später eine Ortschaft erreichen. Das war die Rettung! Zum Greifen nah!
Wards riss einen Arm hoch, gebot seinen Männern, ihm zu folgen. Die Hoffnung belebte ihn, ließ ihn durchhalten. Ihre Rufe verrieten, dass es ihnen ebenso ging.
Und dann sah er vor sich verschwommene Lichter im Schneetreiben. Erst eines, dann noch eines. Ein tiefer, erleichterter Atemzug entfuhr ihm. Sie hatten es geschafft. Ja, sie hatten es tatsächlich geschafft. Vor ihnen lag Cold Creek! Ein Bergarbeiternest in der Einsamkeit der Sweet Grass Hills, aber für Wards und seine Begleiter war es das Paradies.
Ihr Ziel war das einzige Hotel der Siedlung. Dort wollten sie es sich gutgehen lassen. Nach all den Strapazen hatten sie sich das mehr als verdient, wie er fand.
»Bringt mir ein Girl mit«, hatte Caleb sie gebeten. Nun, vielleicht würden sie das sogar. Vielleicht würden sie das.
Wards ritt seinen Männern voraus, aber schon bald wich das warme Hochgefühl in seinem Inneren einer argwöhnischen Kälte. Selbst im dichten Flockenwirbel konnte er erkennen, dass die meisten Häuser im Dunkeln lagen. Die Fenster waren mit Brettern vernagelt, die Türen verrammelt. Weder Mensch noch Tier ließ sich blicken.
Wo, verdammt, waren denn alle?
Und dann dämmerte es ihm. Die Siedler hatten den Ort verlassen. Cold Creek fiel langsam, aber sicher dem Vergessen anheim. Sie waren spät dran.
Wards knirschte mit den Zähnen.
»Dieser Ort ist mir nicht geheuer.« Leo ritt dichter an ihn heran und rief: »Sind wir hier wirklich willkommen?«
»Wir haben Gold«, beschied Wards ihn. »Wir sind überall willkommen.« Er erspähte das Cold Creek Hotel –ein zweistöckiges Gebäude, das mit weiß gestrichenem Holz verkleidet war und von einer Veranda umgeben wurde. Er ließ sein Pferd davor anhalten. Seine Männer stiegen neben ihn von ihren Reittieren, mit steifen Bewegungen und von derben Flüchen begleitet.
Die Eingangstür des Hotels wurde geöffnet und ein hagerer Mann eilte heraus. Er wurde von einem kleineren Burschen flankiert, dem er mit einem Wink zu verstehen gab, sich um die Pferde seiner Gäste zu kümmern.
»Paul wird Ihre Tiere im Stall unterbringen und versorgen, Gentlemen«, rief er. »Herzlich willkommen bei uns. Kommen Sie nur rasch herein. Hier draußen holen Sie sich ja den Tod.«
Das ließen sie sich nicht zweimal sagen. Sie folgten dem Hotelbesitzer ins Haus. Drinnen überfiel die Stille sie wie ein Schlag auf den Kopf. Wards musste kurz überlegen, bis ihm aufging, dass ihm das Tosen des Sturms draußen fehlte. Hier drinnen war nur das Knistern eines Kaminfeuers zu vernehmen.
»Ahhh.« Mit ausgestreckten Armen näherten sich Leo und Santos der Feuerstelle. Crowley und Boyd folgten ihnen. Um ihre Stiefel bildeten sich im Handumdrehen Pfützen.
Wards blickte sich zu ihrem Gastgeber um.
Der musterte sie einen Augenblick lang nachdenklich, dann breitete sich ein freundliches Lächeln auf seinem Gesicht aus. »Ich bin Hank Burton. Willkommen im Cold Creek Hotel. Ich bin sehr froh, dass Sie heil bei uns angekommen sind, Gentlemen. Möchten Sie Zimmer und etwas zu essen haben?«
»Und ein Bad, wenn es sich einrichten lässt.«
»Selbstverständlich. Ich werde meine Tochter bitten, Wasser heiß zu machen.«
»Zuerst das Essen, dann das Bad«, entschied Wards. »Und sparen Sie nicht am Whisky zum Essen.« Er trat näher an den Kamin und knöpfte mit steifen Fingern seinen Mantel auf. Schritte auf der Treppe ließen ihn herumfahren.
Eine junge Frau in einem mohnroten Kleid kam herunter. Es war hochgeschlossen und ließ ihre reizvoll gerundete Figur nur ahnen, aber die Art, wie ihre Hüften bei jedem Schritt verführerisch schaukelten, trieb ihm das Blut in die Lenden. Und nicht nur ihm. Auch seine Männer starrten sie an, als wäre sie soeben ihren wildesten Träumen entstiegen.
»Das ist meine Tochter Annie.« Hank Burton trat einen Schritt vor. »Annie, sei so gut und geh in die Küche. Unsere neuen Gäste brauchen etwas Warmes in den Magen. Und nachher wollen sie baden. Kümmerst du dich bitte?«
»Natürlich...«
»Ich teile mir nachher gern einen Zuber mit dir, Sweetheart«, ließ sich Crowley vernehmen. Das brachte ihm einen vernichtenden Blick der Schönen ein – und ein breites Grinsen von Santos.
»Vergiss es, Crowley«, neckte der. »Das Girl weiß, was gut ist. Die guckt dich nicht mal mit der kalten Schulter an.«
»Weil sie meine verborgenen Qualitäten noch nicht kennt.« Crowley griente, ließ seine Zunge sehen und bewegte sie flink auf und ab. Dabei ließ er keinen Blick von Annie. Ihre Augen weiteten sich und ihre Wangen liefen dunkelrot an. Sie krampfte die Finger um das Geländer.
Herrgott, die Burschen würden noch dafür sorgen, dass sie hochkant rausgeworfen wurden, wenn sie sich nicht benahmen! Wards wollte seinen Begleiter gerade zur Ordnung rufen, als die Dinge außer Kontrolle gerieten. Oben auf der Treppe tauchte ein weiterer Rotschopf auf. Ein Junge war es. Er konnte kaum älter als drei oder vier Jahre sein und hatte dieselben grünen Augen wie Annie.
»Wer ist das, Mommy?« Er war zu klein, um über das Geländer zu schauen, deshalb spähte er zwischen den Streben hindurch.
»Niemand, mein Schatz. Geh wieder nach oben. Ich komme gleich nach und lese dir weiter vor.«
»Aber...« Der Knirps betrachtete die verschneiten Neuankömmlinge neugierig.
»Lassen Sie ihn doch zu uns runterkommen, Miss.« Leo zerrte hastig seinen Hut vom Kopf. Schnee rieselte auf den verblichenen roten Teppich. »Wir tun ihm nichts.«
»Es ist spät. Er gehört ins Bett.« Ihre Stimme klang nicht ganz fest. »Tony, geh wieder rauf. Du... Nehmen Sie Ihre Finger weg, Sir!« Annie wirbelte zu Crowley herum, der von hinten an sie herangetreten war und ihr vertraulich über das runde Hinterteil strich.
»Sir, ich muss doch sehr bitten!« Der Hotelbesitzer schnappte nach Luft.
Wards funkelte seinen Begleiter an. »Crowley, lass die Lady in Frieden.«
»Schon gut, Ed. Ich will nur 'n bisschen Spaß mit ihr haben. Schließlich wären wir da draußen fast draufgegangen. Hast du etwa vergessen, weshalb wir hier sind? Wir haben alles riskiert, um herzukommen, da könnte Annie wirklich ein bisschen entgegenkommender sein, oder?« Crowley streckte eine Hand nach ihrem Busen aus und... Im selben Augenblick krachte ein Schuss. Putz und Späne rieselten von Decke. Die Männer fuhren zusammen, fassten nach ihren Waffen und stockten plötzlich, denn Hank Burton stand breitbeinig vor ihnen und richtete den Lauf einer Schrotflinte auf sie. Sie alle hatten nur Augen für Annie gehabt und nicht auf den Hotelbesitzer geachtet. Das rächte sich nun, denn er war bereit, zu schießen.
»Treten Sie von meiner Tochter weg, Mister«, sagte er an zusammengebissenen Zähnen vorbei, »sonst fährt die nächste Kugel geradewegs in Ihren Schädel.«
Wards fluchte in sich hinein. Der Hotelbesitzer hatte keine Ahnung, mit wem er sich anlegte. Er wusste noch nicht, dass er soeben einen verhängnisvollen Fehler begangen hatte.
Vermutlich seinen letzten...
✰
Ed Wards sollte noch oft an diesen Abend zurückdenken.
Oft genug, um sich zu wünschen, er wäre mit seinen Männern in dem Blizzard ums Leben gekommen anstatt sein Dasein hinter dicken Gefängnismauern zu fristen.
Verbittert umschlang er die Gitterstäbe vor dem Fenster seiner Zelle mit den Fäusten. Er sollte jetzt in Mexiko in der Sonne sitzen, mit reichlich Geld unter seinem Hintern und in jedem Arm ein heißes Girl, das ihm jeden Wunsch von den Augen ablas. Stattdessen schmachtete er seit nunmehr tausendzweihundertachtundzwanzig Tagen und einer Handvoll Stunden in diesem Drecksloch.