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Lesen Sie die zweite Folge des Lassiter-Fünfteilers!
Als Pinkerton-Agent hatte Lassiter jenen Ausgleich gefunden, der ihn für die Zerschlagung der Brigade Sieben entschädigte. Weiterhin hatte er Recht und Gesetz dienen können. Doch auch das hatte man ihm nun genommen!
Wie zu Beginn seiner Laufbahn stand er allein, eine ungewisse Zukunft vor sich. Doch er hatte ein Ziel, das er mit der ihm eigenen Entschlossenheit verfolgen wollte, eine große Aufgabe.
Bei der Erschließung der Vereinigten Staaten bestimmten zunehmend die Reichen und Mächtigen das Geschehen, und die Menschen litten darunter. Ein Missstand, den Lassiter nicht hinnehmen wollte. Er wollte sich mit den Drahtziehern anlegen, deren Gewissen unter Bergen von Dollars begraben lag. Doch das war ein steiniger und lebensbedrohlicher Weg, wie er bald schon schmerzhaft feststellen sollte!
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Seitenzahl: 143
Veröffentlichungsjahr: 2022
Cover
Tage des Zorns
Vorschau
Impressum
Tage desZorns
von Katja Martens
Der Fahrtwind fauchte Lassiter um die Ohren, als er sich aus dem Zugfenster beugte. Weiter vorn zeichnete sich ein Schemen ab, kaum zu erkennen im Dampf der Lokomotive. Und verdammt nah an den Schienen. Was war das? Der nächste Halt sicherlich nicht. Bis zur Railway Station Pittsburgh waren es noch gute dreißig Meilen, vielleicht ein paar mehr.
Was auch immer das Problem war, der Lokführer musste es ebenfalls entdeckt haben, denn ein Bremsstoß ruckte durch den Zug, gefolgt vom Warnton der Dampfpfeife. Allmählich wurden die Konturen schärfer, verdichteten sich zu Frachtwagen und entlockten dem großen Mann einen Fluch. Ein anderer Zug blockierte die Strecke. Und sie stampften geradewegs darauf zu!
Eine ungeheure Kraft musste den Frachtzug vom Gleis gehoben haben. Die Wagen waren herumgeschleudert worden, hatten uralte Bäume umgerissen und Gruben in den Boden gestanzt. Bei ihrem Aufprall waren sie entkoppelt worden. Einige standen aufrecht wie Zinnsoldaten, andere lagen kreuz und quer übereinander – und teilweise noch auf den Schienen. Ein Verhängnis für jeden nachfolgenden Zug!
»O verdammt! Jetzt haben wir ein echtes Problem...« Lassiter machte kehrt und stürmte von dem geschützten Übergang zurück in den hinteren Wagen. Hier drängten sich die Fahrgäste in den Gängen und auf den voll besetzten Sitzbänken. Komfort suchte man in diesem Teil des Zuges vergebens. Die Bänke waren aus grob gezimmerten Holz, die Fenster ließen sich weder öffnen noch verhängen, und das Gepäck stapelte sich mangels passender Unterbringungen bis unter die Decke: Koffer, Teppichstofftaschen, sogar Käfige mit Hühnern und Gänsen.
In das lebhafte Schnattern mischten sich nun angstvolle Rufe.
»Was ist denn los? Warum bremsen wir?«
»Werden wir überfallen?«
Der Zug war dem Weg in den Osten. Columbus lag hinter ihnen. Die nächsten Stationen waren Pittsburgh, Philadelphia und New York. Dort würden sie jedoch nie ankommen, wenn ihr Zug nicht rechtzeitig zum Stehen kam. An Abspringen war nicht einmal zu denken. Das Gleisbett war mehrere Yards hoch, und die Chancen standen recht gut, sich bei dem Versuch den Hals zu brechen.
Wieder ein Bremsstoß. Beantwortet von vielstimmigen Schreckensschreien.
Lassiter wurde unsanft gegen die Wagentür geschleudert.
Der Geruch von Tabak und Schweiß lastete über dem Wagen. Nun mischte sich eine weitere Note hinein: Angst!
Sie befanden sich im vorletzten Wagen; weiter hinten kam noch der Viehwaggon. Sein Grauschimmel war dort untergebracht. Aus dem Wagen drangen panisches Wiehern und Stampfen. Die Pferde drängten zur Flucht, aber sie waren angebunden.
Ein aussichtsloses Unterfangen.
Der nächste Bremsstoß riss etliche Reisende von den Füßen. Sie landeten unsanft auf dem Boden – oder auf anderen Fahrgästen. Das Gebrüll im Wagen schwoll an.
Lassiter versuchte abzuschätzen, ob die Zeit noch ausreichte, dass der Zug vor dem Hindernis zum Stehen kam. Knapp würde es werden. Verdammt knapp sogar...
Wieder ein Bremsstoß. Ein weiterer scharfer Ruck. Metall quietschte protestierend. Die Fahrgäste wurden nach vorn geschleudert. Flüche gellten. Schmerzenslaute mischten sich darunter. Gepäckstücke schossen umher, krachten auf den Boden und rissen Reisende um.
»Kitty!« Ein Mädchen, nicht älter als fünf oder sechs Jahre, ließ den Rock seiner Mutter los und sprang einem weißen Kätzchen hinterher.
»Annie! Bleib hier!« Die Mutter hielt ein Baby auf dem Arm und war nicht schnell genug, um ihre Tochter noch zu erwischen.
Lassiter schnappte sich die Kleine und schlang schützend einen Arm um sie. Breitbeinig stemmte er die Füße in den Boden und hielt sich am Türrahmen fest.
»Kitty!« Jammernd reckte sich das Kind nach dem Kätzchen.
Endlich rollten sie langsamer an den bewaldeten Hügeln vorbei. Ein Ruck noch, dann kam der Zug zum Stehen. Schnaufend wie eine alte Lady, die der Postkutsche hinterhergerannt war, um noch einen Brief mitzugeben.
Eine unheimliche Stille breitete im Wagen aus, als würde jedermann den Atem anhalten und fürchten, dass das Verhängnis doch noch über sie hereinbrach. Doch dann drängten die ersten Fahrgäste ins Freie. Sie schoben und stießen gegeneinander. Jeder wollte der Enge entkommen.
Lassiter ließ das Mädchen los. Es wandte sich wimmernd zu seiner Mutter um. Er erhaschte einen Blick auf ein weißes Fellknäuel, das sich unter einer Holzbank zwischen zwei Taschen duckte. Er bückte sich, hob den Winzling behutsam hoch.
»Hier, Kleine, dein Kätzchen.«
Das Mädchen stieß einen Jubelruf aus, nahm ihm das Tier ab und herzte und drückte es.
»Vielen Dank, Sir.« Die Mutter war blass bis an die Lippen.
»Kommen Sie, Ma'am. Ich begleite Sie beide hinaus.« Lassiter trat neben sie und schirmte sie vor dem Gedränge ab. Ein prüfender Blick durch den Wagen offenbarte, dass nicht alle Fahrgäste rechtzeitig Halt gefunden hatten. Ein graubärtiger Mann in dunkelblauem Zwirn lag verkrümmt neben einem der Sitze. Sein Kopf war auf seltsame Art abgewinkelt. Seine Brille lag zerbrochen neben ihm.
Weiter hinten sprenkelte Blut den Boden.
Ein Stiefel ragte neben einer Bank hervor. Lassiter vergewisserte sich, dass da nicht mehr zu helfen war. Dann verließ er vor der jungen Mutter den Zug. Er sprang die metallenen Stufen mit einem Satz nach unten und streckte ihr die Arme entgegen, um ihr beim Aussteigen behilflich zu sein. Schließlich wandte er sich um.
Ein Bild des Schreckens breitete sich vor ihm aus.
Sie waren keine zwanzig Yards vor dem umgestürzten Frachtwaggon zum Halten gekommen. Er war mit Kisten bestückt, auf denen Apollo Iron & Steel Company zu lesen war. Im Umkreis von ein paar hundert Yards hatte es Holz und Trümmerteile geregnet. Die meisten Wagen waren beschädigt.
Nur einen Steinwurf von Lassiter entfernt lag ein Mann im Moos – mit unnatürlich verdrehten Gliedern, die Kleidung dunkel vom Blut. Einer der Bremser des Frachtwagens, der wohl vom Dach geschleudert worden war. Die Wucht seines Sturzes musste ihm sämtliche Knochen gebrochen haben.
Abgesehen vom Zischen der rußenden Lokomotive war kein Laut zu hören. Trotzdem bestand noch Hoffnung, dass jemand das Unglück überlebt hatte. Lassiter wollte sich Gewissheit verschaffen und strebte mit langen Schritten an den zerstörten Wagen vorbei zur Lokomotive. Sie war vom Gleis gesprungen und lag auf der Seite wie ein gestrandeter Wal. Rauchschwaden stiegen von ihr hoch.
Ein halb verkohlter Arm ragte aus der Fensteröffnung.
Der Lokführer? Oder sein Heizer?
Lassiter packte eines der Räder und kletterte daran hoch. Einen Fuß auf der Kante, spähte er in den Führerstand – und zerbiss in der nächsten Sekunde einen Fluch auf den Lippen.
An dem Arm befand sich kein Mensch! Er musste durch die Gewalt des Unglücks abgerissen worden sein.
Lassiter schaute umher, konnte aber weder den Lokführer noch seinen Heizer entdecken. Der Führerstand war verlassen.
Er sprang zurück auf den Boden und überdachte die Lage.
In den Jahren, in denen er für die Brigade Sieben geritten war und Verbrecher hinter Schloss und Riegel gebracht hatte, war ihm allerhand Blutvergießen begegnet. Er hatte ein Gespür für Gefahren entwickelt, und jetzt warnte ihn sein Instinkt, dass dieses Unglück vielleicht nicht nur ein Unfall gewesen war.
Mittlerweile hatten sich die Fahrgäste im Freien versammelt. Viele wirkten verstört. Andere schauten so grimmig drein, als würden sie ihren Nebenmann für die Misere verantwortlich machen.
Ihr Zug war unbeschädigt, aber der Frachtzug versperrte die Schienen. Eine Weiterfahrt war ausgeschlossen. Damit war Pittsburgh unerreichbar geworden. Sie saßen hier fest.
»Was auch immer hier passiert ist... es hätte auch unseren Zug treffen können«, flüsterte eine ältere Lady und klammerte sich an ihre Teppichstofftasche. »Dann wäre keiner von uns mehr am Leben.« Sie wankte ein paar Schritte, ehe sie neben einer Tanne ins Gras sank.
Lassiter bedeutete einer jungen Frau, sich zu ihr zu gesellen. Dann ging er zu einem Mann, der sich ein Tuch an die Stirn presste und wie ein Betrunkener wankte. Lassiter half ihm, sich hinzusetzen, und nahm ihm das Tuch ab. Der arme Kerl hatte eine klaffende Platzwunde. Er musste bei dem wilden Bremsmanöver im Zug gestürzt sein.
Lassiter wickelte sein Halstuch ab, rollte das Tuch des anderen Mannes zusammen und band es mit dem Halstuch über die Wunde. Das sollte die Blutung aufhalten...
»Hilfe! Wir brauchen hier Hilfe!« Mehrere Männer beugten sich über eine Frau, die beide Hände auf ihren hochgewölbten Leib presste und dermaßen stöhnte, dass ihr Nachwuchs wohl nicht mehr lange auf sich warten lassen würde. Zwei matronenhafte Ladys eilten herbei, um ihr zur Seite zu stehen.
Einer der Zugbegleiter taumelte auf Lassiter zu.
»Wir...« Er beugte sich zur Seite, würgte und übergab sein Frühstück dem Wald. Schließlich richtete er sich wieder auf. »Wir haben den Lokführer und seinen Heizer gefunden«, stöhnte er. »Da hinten. Beide haben furchtbare Verbrennungen erlitten. So etwas habe ich noch nicht gesehen. Diese armen Teufel...«
»Wir werden uns um sie kümmern. Ruhen Sie sich erst einmal aus.« Lassiter hatte kaum ausgesprochen, als er ein raues Stöhnen vernahm. Es kam aus einem Gestrüpp in der Nähe eines Wasserlaufs. Zahlreiche Bäche durchzogen hier die Wildnis wie Lebensadern.
»Hallo?« Lassiter legte die Hand an seinen Remington und strebte zu dem grünen Waldgürtel hinüber. Mit einer Hand schob er die dornigen Zweige beiseite... und zog im nächsten Augenblick scharf den Atem ein.
Dort lag ein Mann, hilflos wie ein Käfer auf dem Rücken. Er wagte keine Bewegung, und das wäre auch nicht ratsam gewesen, denn aus seinem Bauch ragte ein armdicker Ast! Blutige Blasen sickerten über seine Lippen. Er stöhnte wieder, während seine linke Hand fahrig durch das Grün tastete. Blutige Schrammen zogen sich wie ein Netz über seine Haut. Seine Kleidung mochte früher einmal braun gewesen sein, jetzt war sie schwarz von Ruß und Öl. Einer der Bremser womöglich? Er musste bei dem Unglück vom Dach geschleudert und hier aufgespießt worden sein.
Lassiter beugte sich über ihn, sah jedoch bald ein, dass er nichts ausrichten konnte. Allein würde er den Verletzten unmöglich von dem Ast hieven können. Zumindest nicht, ohne ihn noch mehr zu verletzen. Nein, für diese Aufgabe brauchte es zwei Männer. »Versuchen Sie, sich nicht zu bewegen. Ich bin gleich wieder da.«
»N-nicht«, stammelte der Verletzte. »Gehen Sie nicht weg. Bitte. Lassen Sie mich nicht allein hier.«
»Ich bin gleich zurück. Das verspreche ich Ihnen. Ich werde jemanden holen, der mir hilft, Sie von diesem Ast zu heben.«
»Bitte, mir ist so kalt...« Die Lippen des Mannes färbten sich zusehends blau. Lassiter zog kurzerhand seine Langjacke über die Schultern und breitete sie auf dem Bremser aus. Dann fuhr er herum und marschierte zu den anderen Reisenden.
Der erste Mann, auf den er traf, war ein Gent im piekfeinen schwarzen Anzug. Er trug eine gutgefüllte Reisetasche bei sich und blickte sich mit gerümpfter Nase um, als wäre die Verzögerung gegen ihn persönlich gerichtet.
Sie waren sich schon zu Beginn der Fahrt begegnet, als ihm der Gentleman zu verstehen gegeben hatte, dass seine abgetragene Garderobe samt seiner unverblümten Art den hohen Erwartungen der Reichen und Mächtigen nicht entsprach. Auch jetzt sah er Lassiter missbilligend entgegen. Diese Abneigung beruhte durchaus auf Gegenseitigkeit, aber darauf konnte Lassiter jetzt keine Rücksicht nehmen. Dem Bremser lief die Zeit davon.
»Kommen Sie mit!« Lassiter winkte ihm. »Schnell!«
Der Gent presste seine Reisetasche an sich und starrte Lassiter an wie etwas, das er soeben von seinem Schuh gekratzt hatte.
»Nun kommen Sie schon! Dort drüben liegt ein Schwerverletzter. Wir müssen ihn befreien.«
»Ich soll mein Gepäck unbeaufsichtigt lassen, sodass sich jeder Halunke daran bedienen kann? Haben Sie den Verstand verloren?« Eine Falte grub sich zwischen den dunklen Augenbrauen seines Gegenübers ein.
»Niemand wird sich an Ihrem Kram bedienen.«
»Kram? Sie Tölpel! Sie haben ganz offensichtlich keine Ahnung von Wertsachen.«
»Womöglich«, gab Lassiter gelassen zurück. »Aber der Bremser braucht unsere Hilfe, also schwingen Sie die Hufe – und zwar schnell!«
»Wenn Sie Hilfe brauchen, dann holen Sie jemanden, der dafür bezahlt wird. Ich werde mir sicher nicht meine Garderobe mit Blut besudeln. Wissen Sie, was mich dieser Anzug gekostet hat?«
»Er wird Sie noch viel mehr kosten, wenn Sie nicht auf der Stelle Ihren Hintern in Bewegung setzen und mir helfen, den verletzten Mann zu bergen.« Lassiter unterstrich seine Worte, indem er seinen Remington zog.
Die Wirkung war jedoch nicht die erhoffte.
Anstatt endlich mitzukommen, zitterte sein Gegenüber mit einem Mal wie ein verschrecktes Erdhörnchen. Der Gent hatte offenbar noch nie in die Mündung einer Waffe geblickt, denn er riss die Arme hoch und den Mund auf. Verdammt, dieser Kerl war zu nichts zu gebrauchen!
»Ich werde Ihnen helfen.« Ein hagerer Lulatsch hatte ihren Wortwechsel mit angehört und gesellte sich zu Lassiter. Der schob seine Waffe zurück und eilte mit dem Dürrländer los. Mit dem Gent würde er später noch ein Wort zu reden haben...
Sie brachen durch die Büsche, bis sie den Bremser erreichten. Doch ein Blick in die leeren Augen des Mannes verriet, dass ihm niemand mehr helfen konnte.
Lassiter fluchte in sich hinein.
Mit vereinten Kräften hievten sie den armen Kerl von dem Ast und schleppten ihn zum Zug. Sie wollten ihn nicht hier draußen liegen lassen.
Danach wollte Lassiter nach seinem Pferd sehen.
Schon als er den Viehwagen erklomm, schwante ihm nichts Gutes. Der beißende Gestank von Ausscheidungen und Blut lastete auf dem Wagen. Schmerzlaute bohrten sich wie Nadelstiche in seine Trommelfelle.
Sein Grauschimmel lag mit unnatürlich verdrehten Vorderbeinen im Stroh. Das heftige Bremsmanöver hatte ihn von den Beinen gerissen und schwer verletzt. Lassiter kniete sich neben ihn.
Das brave Tier versuchte sich hochzustemmen, sackte jedoch wiehernd ins Stroh.
»Ist schon gut, Großer. Schon gut.« Lassiter strich ihm sacht über den Kopf. »Nun schlaf... schlaf...« Er zog seinen Remington, spannte den Hahn und legte die Mündung an den Kopf des Pferdes. Verdammt, lieber würde er auf hundert Männer anlegen als auf ein Pferd.
Der Schuss peitschte – beantwortet vom vielstimmigen Klagen verletzter Tiere.
Weitere Männer eilten herbei, um sich der Tiere anzunehmen. Andere waren bereits dabei, die Wagen nach Verletzten und Toten abzusuchen. Und einige durchkämmten die Umgebung.
Lassiter beteiligte sich an der Suche im Wald und hielt die Augen offen. Bald dämmerte ihm, dass das Zugunglück tatsächlich kein Unfall gewesen war. Die Überreste einer Barrikade lagen neben dem Gleis verstreut; umgestürzte Bäume, mit denen die Schienen versperrt worden waren. Die Lokomotive musste sie gerammt haben. Das war dem Frachtzug zum Verhängnis geworden. Das Holz war zerfetzt worden, aber die Spuren waren eindeutig.
Lassiter drang tiefer in den Wald vor und stieß nach einer Weile auf Schleifspuren – und auf frische Baumstümpfe. Das Holz war noch hell und roch nach Harz. Daneben zeichneten sich Stiefelabdrucke auf dem Waldboden ab. Es gab auch Hufspuren. Offenbar waren mehrere Pferde zum Ziehen der Stämme verwendet worden.
Jemand hatte den Frachtzug absichtlich entgleisen lassen! Jemand, der nicht wollte, dass die Güter ihr Ziel erreichten, und dem es herzlich egal war, was aus dem Lokomotivführer und seinen Helfern wurde...
Lassiter bückte sich und fuhr mit dem Finger die Umrisse eines Stiefelabdrucks ab. Die Ränder waren noch fest, die Abdrücke also frisch! Alarmiert richtete er sich auf.
Waren diese Mistkerle womöglich noch in der Nähe? War der Anschlag auf den Frachtzug nur das Vorspiel gewesen?
✰
»Die Straße gehört den Pferden!« Ein bärtiger Mann schwang drohend eine Mistgabel in Hannahs Richtung. »Verschwinden Sie mit Ihrer Höllenmaschine aus unserer Stadt!«
Hannah wünschte sich, ihr Gefährt würde über eine Vorrichtung verfügen, die es erlaubte, einen Warnton auszustoßen. Laut genug, um dem Schreihals die Ohren schlackern zu lassen. Doch sie konnte nur die Lenkkurbel drehen, als ihr Wagen durch die nächste Kurve tuckerte.
»Weg! Weg!« Der Graubart rückte mit kleinen Schritten näher und stocherte mit der Mistgabel in ihre Richtung.
»Haben Sie wirklich Angst vor einer Frau, Sir?«, rief Hannah. »Nur weil sie auf einem Motorfahrzeug daherkommt?«
Der Oldtimer hielt inne und kratzte sich das Kinn.
Hannah nutzte die Gelegenheit und schob den Bremshebel nach vorn, um die Räder auf Touren zu bringen. Mit einem kräftigen Knattern ging es voran.
Sie tuckerte die Mainstreet hinauf, vorbei an Passanten, die mit großen Augen und offenen Mündern auf die Absonderlichkeit starrten, die da durch ihre Stadt rollte.
Während ihrer Reise waren Hannah sowohl neugieriges Wohlwollen als auch keifende Abwehr begegnet. Noch niemand hatte zuvor ein derartiges Motorfahrzeug gesehen. Es war in Deutschland von einem Mann namens Carl Benz entwickelt worden und auf drei Holzspeichenrädern unterwegs: auf zwei großen, angetriebenen Hinterrädern und einem kleineren, lenkbaren Vorderrad. Der Motorwagen brachte die Kraft von zwei Pferden mit.
Eine Holzklotzbremse wirkte auf die Hinterräder, sehr zu Hannahs Leidwesen jedoch nicht immer zuverlässig. Sie hatte sie bereits mit Leder überziehen lassen, um die Wirkung zu verstärken, aber noch immer schwitzte sie Blut und Wasser, wenn es eine steile Neigung hinunterging.
Warum tat sie sich das eigentlich an? Niemand zwang sie, in ölverschmierten Kleidern durch die Wildnis zu tuckern – in der ständigen Gefahr, überfallen oder gar umgebracht zu werden.
Doch sie unternahm die Reise nicht grundlos. Ihre Aufgabe war wichtig. Also biss sie die Zähne zusammen und fuhr weiter, auch wenn sie auf den unwegsamen Trails dermaßen durchgerüttelt wurde, dass sie manchmal fürchtete, kein Knochen würde auf dem anderen bleiben.
Vor ihr kam ein gelbes Haus in Sicht. Die Schule, offenbar, denn einige Kinder strebten mit Schiefertafeln und Lunchboxen darauf zu. Plötzlich blieben sie jedoch stehen und drehten sich zu dem knatternden Ungetüm um, das auf sie zurollte... plötzlich langsamer wurde und schließlich ganz stehenblieb.
Hannah verbiss ein Stöhnen. Nicht schon wieder!
Sie schob den Hebel für den Antrieb hin und her.
Nichts geschah.
Eigentlich hätte der Kraftstoff noch ein paar Meilen reichen müssen, aber die letzten Anstiege hatten wohl mehr verbraucht, als sie gedacht hatte.