1,99 €
Ned Graves steckt in der Zwickmühle. Nach Jahren, in denen er sich als Postkutschenräuber durchgeschlagen hat, ist er entschlossen, endlich ein anständiges Leben zu führen. Seine Ersparnisse reichen gerade so für eine kleine Ranch, eine Herde Longhorns und eine Frau. Von denen gibt es in seiner Heimatstadt nicht viele, deshalb entschließt er sich, ein Inserat im Osten aufzugeben.
Daraufhin meldet sich Rose, die bildhübsche Tochter eines Futterwarenhändlers. Seine Zukunft scheint gesichert, bis ein unerwarteter Besucher auftaucht und ihn von einem allerletzten Coup überzeugen will. Ned muss sich entscheiden - und schon bald geraten die Dinge außer Kontrolle ...
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 148
Veröffentlichungsjahr: 2022
Cover
Lassiter und die Braut auf Bestellung
Vorschau
Impressum
Lassiter unddie Braut aufBestellung
von Katja Martens
»Diese verdammten Sandflöhe!« First Sergeant Harris schob einen Finger unter seinen Uniformkragen und schabte beharrlich. »Die Bisse jucken wie verrückt!«
»Sei bloß ruhig«, kam eine dumpfe Stimme aus dem Nebel. »Oder willst du, dass uns die verdammten Yankees hören?«
Harris hielt inne und versuchte die grauen Schwaden mit den Augen zu durchdringen. Von seinen Mitstreitern waren nur verschwommene Umrisse zu erkennen, dabei gruben sie nur wenige Yards von ihm entfernt.
Feindliche Soldaten waren nicht zu entdecken, aber was hieß das bei diesen Sichtverhältnissen schon? Diese Lumpen könnten sich längst unbemerkt im Nebel angeschlichen haben.
Ein Schauer rieselte Harris über den Rücken. Womöglich lauern sie bereits zwischen den Felsen. Wenn sie Wind von unserer Fracht bekommen haben, sind wir alle so gut wie tot ...
Man schrieb das Jahr 1865. Der Krieg währte seit vier elenden Jahren und spaltete die Heimat der Männer in die Konföderation der vereinigten Südstaaten und in die Nordstaaten, die in der Union verblieben waren. Doch der Süden war ausgeblutet, hatte nichts mehr zu geben als den Tod. Ihr Kampf würde bald zu Ende sein.
Für die Soldaten ging es nicht mehr um Sieg oder Niederlage, die war längst besiegelt, sondern nur noch darum, bis zum bitteren Ende durchzuhalten. Eines Tages, so dachten viele, würden sie sich neu aufstellen und das Blatt wenden.
Der Präsident der Konföderierten Staaten von Amerika war auf der Flucht, nur begleitet von einigen wenigen Vertrauten. Jefferson Davis sollte sich in Sicherheit bringen, damit er seine Truppen irgendwann zum Sieg führen konnte – wenn sie ihre Wunden geleckt und sich neu formiert hatten. Dafür würden sie Mittel brauchen, und so wurden wertvolle Besitztümer vor den Nordstaatlern versteckt, bis die Chance gekommen war, der Sache des Südens zum Sieg zu verhelfen.
Davis macht sich aus dem Staub und wir müssen für ihn schaufeln.
Verbissen stieß Harris seinen Spaten in das Erdreich. Die Luft war feucht, als würde ihm ein nasses Handtuch um die Ohren geschlagen, und er schwitzte dermaßen, dass ihm das Hemd am Körper klebte.
Für ihre Mission war ein entlegenes Tal im Osten von Texas ausgewählt worden. Eine Handvoll Soldaten der B-Kompanie des 9. Mississippi-Infanterieregiments waren abgestellt worden, um Gold zu vergraben. Eine ganze Kutsche voll. Dabei hatten sie keine Ahnung, ob ihnen feindliche Soldaten bereits auf der Spur waren. Wenn dem so war, würden sie kämpfen müssen. Bis zum letzten Mann. Kein Fremder durfte von dem Versteck erfahren und mit seinem Wissen entkommen.
Teufel noch eins, Harris war sich nicht einmal sicher, ob man seine Kameraden und ihn am Leben lassen würde. Immerhin kannten sie das Versteck und konnten jederzeit hierher zurückkommen und sich an dem Gold bedienen. Wäre er ihr General, er würde keinem von ihnen auch nur einen Fingerbreit über den Weg trauen. Nein, ihm war nicht wohl bei dieser Aufgabe, aber ihm blieb keine Wahl.
Grimmig schaufelte er weiter. Staub und Erde flogen ihm um die Ohren. Es knirschte zwischen seinen Zähnen. Und im Nebel wirkte die Umgebung seltsam unwirklich. Beim kleinsten Geräusch stellten sich seine Nackenhärchen auf.
Plötzlich trat eine Gestalt aus dem Dunst auf ihn zu. Private Williams blieb neben ihm stehen, stützte sich auf seinen Spaten und atmete hörbar aus. Sein grauer Waffenrock mit dem hellblauen Kragen und den hellblauen Ärmelaufschlägen der Infanterie wies undefinierbare bräunliche Flecken auf. Die mittelblauen Hosen waren so oft geflickt, dass sie aus wenig mehr als Flicken und Garn zu bestehen schienen. Und sein Gesicht unter der Kappe war bleich und schmal geworden. Es war, als würde Harris in einen Spiegel blicken.
Sein Kamerad senkte die Stimme. »Glaubst du, wir überstehen das hier?« Williams konnte seine Herkunft nicht verleugnen, denn er sprach in jenem typischen Südstaatensingsang, der zwischen den Worten kein Luftholen kannte, sodass sich jeder Satz wie ein einziges langes An- und Abschwellen von Vokalen anhörte.
»Das will ich doch hoffen«, murmelte Harris genauso leise und hielt inne. »Ich bin nicht vier Jahre lang durch Blut und Schlamm gewatet, um kurz vor dem Ende dieses Albtraums abzutreten. Nein, verdammt, wir werden es schaffen.«
»Deine Einstellung gefällt mir.« Williams grinste und entblößte einige Zahnlücken. Er verdankte sie einem Nordstaatler, der ihm im Kampf den Gewehrkolben ins Gesicht geschmettert hatte. »Ich bin dabei. Und ob ich das bin.«
»Was wirst du anfangen, wenn das hier vorbei ist?«
»Als Erstes besuche ich Miss Patty und lasse mich eine ganze Woche lang von ihren Girls verwöhnen. Vielleicht auch zwei. Weiter reichen meine Pläne bis jetzt noch nicht.« Das Grinsen des anderen Mannes wurde noch breiter. »Was ist mit dir?«
»Ich will nichts als zurück nach Hause und meinen Lebensunterhalt wieder als Austernfischer verdienen.« Harris konnte die Sehnsucht nicht ganz aus seiner Stimme heraushalten. Vor dem Krieg war er jeden Tag mit seinem Boot rausgefahren und hatte die Austern mit einem Holzrechen vom Grund des Meeres gefischt. Bei Wind und Wetter. So hatte er es von seinem Vater gelernt, der es wiederum so von seinem Vater gelernt hatte. »Es ist ein gutes Leben. Das will ich wiederhaben. Wenn noch was davon übrig ist«, fügte er bitter hinzu.
Sein Kamerad nickte kaum merklich. »Es wird sich zeigen, was übrig ist ...« Er hatte kaum ausgesprochen, als in der Ferne ein gedämpftes Heulen zu vernehmen war. Sie zuckten beide zusammen, als wäre ihnen eine Viper in den Stiefel gekrochen.
»Nerven behalten, Männer.« Im Nebel tauchte der Captain auf. Er war mittelgroß und trug einen Säbel an der Seite. Seine Uniform stand ebenso vor Dreck wie die ihre. Er war sich nicht zu fein, selbst die Schaufel zu schwingen. Sein rötlicher Bart wurde vom ersten Grau durchzogen. »Das waren nur Kojoten.«
Unwillkürlich stieß Harris den Atem aus.
Das brachte ihm einen tadelnden Blick des Captains ein. »Der größte Feind eines Mannes ist die Angst, Private. Nicht Feuer. Nicht Blei. Angst. Die lähmt euch, deshalb müsst ihr sie besiegen.«
»Das sagt sich so leicht«, brummte Harris.
Aus dem Dunst drang ein Zischen. »Seid leise, verdammt noch mal!«
Harris hob begütigend die Hände, auch wenn sein Kamerad das im Nebel nicht sehen konnte.
»Wir sind hier fast fertig«, murmelte der Captain. »Bald können wir verschwinden.«
»Und das schöne Gold bleibt hier«, warf Williams bedauernd ein. »Schade drum. Was könnte man sich damit für ein Leben schaffen. Man bräuchte keinen Tag mehr zu arbeiten, und die Weiber würden einem nicht von der Seite weichen.«
»Dieses Gold ist nicht für uns bestimmt«, sagte der Captain streng. »Also grabt weiter, bringt die Sache zu Ende und vergesst, was ihr gesehen habt.«
»Und wenn wir in ein paar Tagen oder Wochen alle draufgehen? Keiner außer uns kennt das Versteck. Was, wenn keiner von uns übrig mehr ist?«
»Wenn das geschieht«, erwiderte der Captain gedehnt, »dann wird das Gold hier bis zum St. Nimmerleinstag liegen ...«
✰
Neun Jahre später
Crooked Willow bestand aus wenig mehr als einer Handvoll Geschäfte und einigen Wohnhäusern, die sich links und rechts der Mainstreet aneinanderreihten. Im Osten ragte eine Kirche auf, an die sich ein eingezäunter Friedhof anschloss. Ein Ring aus grünen Hügeln umgab die Ansiedlung und ließ beinahe vergessen, dass das pulsierende New York nur achtzig Meilen entfernt lag. Hier in Crooked Willow schienen die Uhren langsamer zu laufen als anderswo.
Für Fremde war die Stadt lediglich ein Fleck auf der Landkarte.
Für Rose war sie eine einzige Erinnerung an einen zerstörten Traum.
Vor einem Jahr – und zwar auf den Tag genau – hatte sie Mrs. Frederick Chandler werden sollen. Rose hatte sorgsam eine Aussteuer zusammengestellt, ein Brautkleid ausgesucht und vor lauter Aufregung wochenlang nicht schlafen können. Sie hatte keine Ahnung, was sie in ihrem Eheleben erwarten würde, aber sie war voller Vertrauen darauf, dass sich alles fügen würde. Frederick versprach ihr den Himmel auf Erden, und sie glaubte ihm. Allein: An ihrem Hochzeitsmorgen war ihr Verlobter nicht aufgetaucht. Rose hatte vergebens in der Kirche auf ihn gewartet. Mit keinem Wort hatte er sein Verhalten erklärt. Seitdem musste sie mit den teils mitleidigen, teils hämischen Blicken ihrer Nachbarn leben. Nur eine Woche nach der geplatzten Trauung hatte Frederick seine Verlobung mit Emma Thuesdale bekanntgegeben, der Tochter eines der reichsten Männer im Umkreis von einhundert Meilen. Eines Tages würde sie seine Textilfabriken erben – und Frederick würde sein Nachfolger werden.
Rose mochte unerfahren sein, aber sie war nicht dumm. Sie wusste genau, warum er plötzlich einen Rückzieher gemacht hatte. Die andere Frau konnte ihm etwas bieten, das sie ihm nicht geben konnte: eine sorgenfreie Zukunft.
Mit der Futtermittelhandlung ihres Vaters ging es bergab. Seit dem Ende des Krieges waren immer mehr Familien fortgezogen. In den Westen, der neues Land und neue Möglichkeiten versprach. Kunden blieben ihnen aus. Rose stand jeden Tag schon vor dem Morgengrauen auf und begann mit ihrer Arbeit. Auch heute war sie früh auf den Beinen. Bevor das Geschäft ihres Vaters öffnete, kehrte sie den Sidewalk vor dem Eingang. Staub wirbelte auf und legte sich wie ein grauer Schleier über ihren blauen Rock und die weiße Schürze, die sie darüber gebunden hatte.
Während sie fegte, rauschte eine Kutsche mit vier prächtigen Schimmeln an ihr vorüber. Sie erhaschte einen Blick ins Innere – und erblickte ihren früheren Verlobten. Ein scharfer Schmerz fuhr ihr ins Herz, als wäre eine kaum verschorfte Wunde eben wieder aufgebrochen. Unwillkürlich krampfte sie die Finger um den Besenstiel. Verbrenn dein Brautkleid und vergiss diesen Halunken, hörte sie ihren Vater in Gedanken mahnen. Du findest einen besseren Mann.
Nun, das war leichter gesagt als getan. Im Krieg waren zahllose Männer gefallen und die wenigen, die übrig waren, verließen Crooked Willow und suchten ihr Glück woanders. Ein paar Raufbolde gab es noch, aber die kamen für sie nicht in Frage. Die Zeit zog an Rose vorüber, und allmählich sank ihre Hoffnung, einen Ehemann zu finden, bevor sie alt und runzlig war. Aus diesem Grund hatte sie etwas getan, das ihr früher undenkbar erschienen wäre: Sie hatte auf eine Annonce in der Zeitung geantwortet.
Rancher sucht eine Frau zum Leben und Lieben. Wünscht sich Kinder. Coldspring/Texas.
Wenige Zeilen nur, aber sie hatten Rose gefallen. Ein Mann zum Leben und Lieben. Das war, wovon sie träumte. Also hatte sie den Atlas ihres Vaters hervorgekramt und mit dem Finger auf der Karte nach Coldspring gesucht. Der kleine Ort lag im Osten von Texas und hörte sich für Rose überaus verheißungsvoll an. Sie hatte auf das Inserat geantwortet und wenige Wochen später eine Antwort von Ned Graves erhalten. Zwischen ihnen hatte sich ein reger Briefwechsel entsponnen.
Rose tastete nach dem Umschlag in ihrer Schürzentasche. Er knisterte leise – und warme Hoffnung erfüllte sie. Nie und nimmer hätte sie erwartet, einmal eine Mail Order Bride zu sein, eine Braut auf Bestellung. Doch nun, wo Ned sie in seinem letzten Brief gebeten hatte, zu ihm zu kommen und ihn zu heiraten, schien es der Weg zu sein, der ihr vorbestimmt war. Sie würde Crooked Willow verlassen und nach Texas ziehen. Zu einem Mann, den sie noch niemals zuvor gesehen hatte.
Ihr Vater machte ihr Mut. Er glaubte fest daran, dass die Zukunft im Westen lag, und er erwog, eines Tages ebenfalls fortzugehen.
Ein Frachtwagen kam die Straße herunter, eine Staubwolke hinter sich aufwirbelnd. Joe hielt vor dem Futtermittelgeschäft an, sprang vom Kutschbock und zupfte so wild an seiner Krempe, dass ihm der Hut ins Gesicht rutschte. Energisch stieß er ihn zurück und rief: »Guten Morgen, Miss!«
»Guten Morgen, Joe. Du bist heute früh dran.«
»Hab mich beeilt.« Ein Grinsen huschte über sein langes Pferdegesicht. Joe war mit zehn Jahren vom Dach eines Schuppens gefallen und hatte sich so stark den Kopf angeschlagen, dass der Arzt das Schlimmste befürchtet hatte. Allen Vorhersagen zum Trotz war Joe wieder aufgewacht, hatte sich jedoch nie ganz von seinem Sturz erholt. Als seine Eltern während eines Blizzards ums Leben gekommen waren, hatte Roses Vater ihn aufgenommen und ließ ihn seitdem für sich arbeiten. Joes Verstand mochte noch immer der eines Zehnjährigen sein, aber mittlerweile hatte er die Statur eines Bären und konnte mühelos Säcke schleppen und Waren auf- und abladen.
Er wuchtete ein Fass von dem Frachtwagen und stellte es neben dem Eingang des Ladens ab. »Heute wird es sicher wieder heiß. Ist es jetzt schon.« Er wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn.
»Würdest du gern etwas Limonade trinken?«
»Sehr gern sogar, Miss.«
»Ich werde dir welche holen.« Rose lehnte ihren Besen an die Hauswand, wirbelte herum und strebte hinein. Sie hatte aus Zitronen, Erdbeeren und Minzeblättern frische Limonade angesetzt. Davon schenkte sie nun ein Glas ein und kehrte zu Joe zurück.
Er stand noch immer neben den Pferden. Nun jedoch umringt von drei Cowboys, die sich um ihn herum aufgebaut hatten. Schlaksige Kerle mit genug Selbstvertrauen, um eine Revolte anzuzetteln. Sie gehörten zur Double-T-Ranch und schienen gerade Lohn bekommen zu haben, aufgekratzt, wie sie wirkten. Einer stieß Joe vor die Brust, dass er einen Schritt rückwärts taumelte.
»Wie ein tanzender Bär«, spottete er.
Joe rappelte sich auf und grinste gutmütig. Er nahm nie jemandem etwas übel, und das wussten die drei genau.
»Bist nicht der hellste Stern am Nachthimmel, was?«
»Eher der Neumond«, warf ein anderer ein.
Die drei grinsten breit, als wollten sie einen Barsch quer verschlingen.
Der Erste lehnte sich vor und verzog dann das Gesicht. »Puh, du stinkst wie zehn tote Stinktiere. Wasch dich mal.«
»Hab ich letzten Samstag erst.« Joe blickte arglos zwischen den dreien hin und her. »Wollt ihr in den Laden? Der Boss schließt gleich auf.«
»Wir wollen nichts kaufen. Nur 'n bisschen Spaß.«
»Da bin ich dabei.« Joe nickte lebhaft.
»Du? Dann zupf dir erst mal die Petersilie aus den Ohren.«
»Was denn für Petersilie?«
»Na die, die da sprießt.« Grienend deutete der Cowboy auf Joes rechtes Ohr.
Joe fasste hin, was sein Gegenüber zu Gelächter reizte.
»Weiter oben ... noch weiter oben ...« Die Cowboys wollten sich schier ausschütten vor Lachen, während Joe an seinem Ohr fummelte.
»Genug!« Rose trat vor und funkelte die Cowboys an. »Hört sofort auf.«
»Sonst was?« Herausfordernd stieß einer der drei seinen Hut in den Nacken. »Legst du mich übers Knie? Oh, nur zu, Darling. Ich mag es gern ein bisschen härter.«
Ihre Wangen begannen zu glühen, aber sie ließ sich nicht verunsichern. »Ich glaube, du weißt nicht, wie man mit einer Lady spricht. Vielleicht liegt es an der Hitze und du brauchst eine Abkühlung.« Damit schüttete sie ihm die Limonade geradewegs ins Gesicht!
Prustend wich er zurück. Während seine Begleiter wiehernd lachten und ihm versicherten, eine Lektion in Benehmen könnte ihm nicht schaden, starrte er Rose böse an. »Kein Wunder, dass dich kein Mann anrührt.« Damit machte er auf dem Absatz kehrt und marschierte mit klirrenden Sporen davon.
Seine beiden Begleiter bedachten Rose mit nachdenklichen Blicken, ehe sie ihm folgten.
Joe tastete noch immer nach seinem Ohr.
»Da ist keine Petersilie«, versicherte Rose ihm sanft.
Er ließ die Hand sinken. Bevor er jedoch noch etwas sagen konnte, wurde die Tür des Bankgebäudes auf der anderen Straßenseite geöffnet und Mr. Henley trat auf den Sidewalk. Bei ihm stand ihr Vater hoch in der Kreide. Unter anderem bei ihm ...
Rose seufzte leise. Dieser Tag wurde immer besser und besser.
Mr. Henley überquerte die Mainstreet und kam zielstrebig auf sie zu.
»Miss Fuller.« Er zupfte an seinem Hut. »Ist Ihr Vater zu Hause?«
»Er ist oben.« In ihrem Magen schien sich ein kalter Klumpen zu formen.
»Gut. Ich habe mit ihm zu reden.«
»Wenn es um die Rückzahlung geht ...«
»Genau darum geht es. Ich kann nicht länger auf mein Geld warten. Das muss ihm klar sein.«
»Ich weiß, Sie haben uns schon mehrmals Aufschub gewährt. Es ist nur ... Wir brauchen noch etwas Zeit. Die Leute kaufen immer weniger Futter ...«
»Und das wird sich in absehbarer Zukunft auch nicht ändern, nicht wahr?« Mr. Henley sah Rose eindringlich an.
Sie öffnete den Mund zu einer Erwiderung, aber ihr Kopf schien mit einem Mal wie leergefegt zu sein. Es stimmte ja. Die Schulden lasteten wie Bleigewichte auf ihnen. Die Geschäfte liefen schon lange schlecht. Ihr Vater hatte versucht, seine Verluste am Pokertisch wettzumachen. Beim ersten Mal hatte er gewonnen. Das hatte seine Hoffnungen angeheizt, aber dann hatte er mehr und mehr verloren. Als Rose es herausgefunden hatte, war es längst zu spät gewesen.
Sie drehte den Kopf und spähte nach oben. Das Fenster zum Arbeitszimmer ihres Vaters stand offen. Ob er den Besucher bereits gehört hatte? Rose wandte sich um und griff nach ihrem Besen. Hoffentlich konnte ihr Vater noch einen Aufschub erwirken, sonst würde sich die Bank ihr Haus nehmen. Wie sie das Geld allerdings auftreiben sollten, wusste sie nicht, aber ihnen würde gewiss etwas einfallen und ...
Über ihnen krachte es unvermittelt.
Joe riss die Augen auf. »W-war das ein Schuss, Miss?«
Rose ließ vor Schrecken den Besen los. In der Tat. Das war ein Schuss gewesen. Und er war aus dem Büro ihres Vaters gekommen!
✰
»Hier kann ich nicht mehr helfen. Es tut mir wirklich leid, Miss Fuller.« Doc McAllister zog bedauernd das Laken über den Toten. Doch es war zu spät. Der Anblick ihres Vaters hatte sich in Roses Verstand eingebrannt. Wenn sie die Augen schloss, sah sie sein verwüstetes Gesicht vor sich. Und sie konnte nicht aufhören zu zittern.
Die Wand hinter seinem Schreibtisch war ebenso wie der Teppich mit rötlichen und gelblichen Flecken gesprenkelt.
Rose presste ihre Faust vor den Mund, um ein Schluchzen zurückzuhalten.
Ihr Vater hatte die Waffe noch in der Hand gehabt, als sie ihn gefunden hatte.
In letzter Zeit war er wortkarg gewesen. Nachts hatte sie ihn häufig durch das Haus geistern hören, getrieben von Sorgen und Ungewissheit. Und doch hatte sie nicht geahnt, dass er so verzweifelt war, sich zu erschießen.
Nun kann uns nichts mehr retten, dachte sie. Die Bank wird sich das Haus und den Laden nehmen.