Lassiter 2623 - Katja Martens - E-Book

Lassiter 2623 E-Book

Katja Martens

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Beschreibung

Das Miststück hat mich reingelegt! Wie im Fieber trommelte Oliver Walsh gegen die Holzbretter, bis die Haut an seinen Händen aufplatzte und ihm warmes Blut auf die Brust tropfte. Er lag eingezwängt in eine Enge, die ihm das Atmen schwer machte. Die Schwärze um ihn herum lastete auf seiner Brust wie ein verendeter Büffel.
Oh, dieses Frauenzimmer würde er sich vorknöpfen. Bei Gott! Hatte sie eigentlich eine Ahnung, mit wem sie sich angelegt hatte? Vor fünfzehn Jahren war er ein Niemand gewesen. Doch das Gold hatte alles geändert. Er war nun ein mächtiger Mann und...
Verdammt! Was war das? Etwas klatschte von außen auf das Holz. Erde! Sie schaufelten das Grab zu! Nein. Nein! Rasend vor Wut und Verzweiflung hämmerte er gegen den Sargdeckel. "Lasst mich raus! Lasst mich sofort hier raus!"


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Seitenzahl: 153

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Inhalt

Cover

Tödliche Freuden

Vorschau

Impressum

TödlicheFreuden

von Katja Martens

Knirschend schwang die schwere Eichenholztür auf. Eine Gestalt schob sich durch den Spalt ins Freie und presste sich mit dem Rücken gegen die Hauswand. Niemand nahm zu dieser späten Stunde Notiz davon. Im Saloon auf der anderen Straßenseite waren die Lichter schon vor über einer Stunde ausgegangen. Die Mainstreet war menschenleer. Nur ein struppiger gelber Hund stromerte umher und schnupperte an den Hinterlassenschaften eines Pferdes.

Die Gestalt huschte zur Viehtränke und warf einen letzten Blick zurück. Hinter dem Türspalt lag ein Mann in einer Lache aus Blut. Ein goldener Stern war an seine Weste geheftet. In dem spiegelten sich nun die ersten züngelnden Flammen.

Alles hatte wie am Schnürchen geklappt. Nicht mehr lange, dann würde das Marshal's Office lichterloh brennen!

Zusammengerollt wie ein junges Kätzchen lag Grace Cox in ihrem Bett und träumte von einem eigenen Pony, als das Verhängnis über ihre Familie hereinbrach.

Das Geläut der Kirchenglocke wehte durch die Straßen von Newdale und zerriss die nächtliche Stille wie ein Kanonendonner. Ein Hund gab aufgeregt Laut, weitere fielen ein. Fenster öffneten sich scharrend. Die ersten aufgeregten Stimmen wurden laut.

Etwas stimmte nicht!

Grace fuhr aus dem Schlaf. Die mit Stroh gefüllte Matratze unter ihr raschelte, als sie sich die Augen rieb und blinzelte. Es sollte dunkel sein, aber das war es nicht. Stattdessen erhellte ein orangerotes Flackern die Nacht. Der Schein fiel durch das Fenster der Schlafkammer herein.

»Feuer! Auf! Auf! Es brennt!«

Die Rufe vertrieben auch den letzten Rest Schläfrigkeit aus den Gliedern der Neunjährigen. Ihre Mutter hatte ihr schon von Feuersbrünsten erzählt, die ganze Ortschaften niedermähten und ein Haus nach dem anderen zerstörten, wie hungrige Raubtiere, die erst von ihrer Beute abließen, wenn nichts mehr davon übrig war. Erlebt hatte sie in ihren jungen Jahren noch keines.

»Oh! O nein!« Ihre Mutter hatte im Bett nebenan geschlafen, saß nun jedoch aufrecht da und starrte aus geweiteten Augen aus dem Fenster. Und ihr Vater ... Grace blickte sich verunsichert um, denn ihr Vater war nirgendwo zu sehen.

Die Kirchenglocke schien kein Ende zu finden, läutete weiter und weiter.

Grace reckte den Hals, spähte neugierig nach draußen. Im nächsten Augenblick wusste sie, was ihre Mutter vor Schreck lähmte: Ein Stück die Straße hinunter befand sich das Marshals Office. Ein flaches Haus war das, mit vergitterten Fenstern, einer Veranda und einem Anbau, in dem drei Zellen untergebracht waren. Ihr Vater war der Marshal von Newdale und hatte den Anbau selbst bei Mr. Clark durchgesetzt, der die Fäden in der Stadt in der Hand hielt. Clark hatte auch das Geld dafür aufgetrieben, dass Gefangene nicht mehr im ausgetrockneten Brunnen der Double-T-Ranch ausharren mussten, bis der Richter wieder in der Stadt war, sondern eine Pritsche und ein Dach über dem Kopf hatten. Das jedoch änderte sich gerade, denn das Haus stand lichterloh in Flammen!

»Wir müssen aufstehen, Grace! Komm!« Ihre Mutter schüttelte das Entsetzen ab und sprang aus dem Bett hoch. Sie nahm eine der Decken und legte sie Grace um die Schultern. Ihre Augen flackerten vor Angst. »Wir dürfen nicht im Haus bleiben.«

Ihre Mutter eilte umher, wickelte einige Habseligkeiten in ein Tuch und schlang es zu einem Bündel zusammen.

Grace schlang die Decke fester um sich. Ihr Herz pochte heftig, und die Aufregung schien wie winzige Flammen über ihre Haut zu tanzen. Ihr erschien das Feuer wie ein großes Abenteuer. Das änderte sich, als sie nach draußen lief und die Hitze spürte, die ihr von dem brennenden Gebäude entgegenschlug.

Das Feuer toste und fauchte wie ein gefangener Wolf. Die Flammen loderten aus dem Fenster wie glühende Finger, die sich in den Himmel reckten. Jäh mischte sich ein lautes Knirschen in das Prasseln, gefolgt von einem Krachen, als Teile des Dachs einstürzten. Es regnete orangerote Funken.

Fasziniert und entsetzt zugleich beobachtete Grace das Spektakel.

Die Flammen erhellten die Umgebung. Hinter den Häusern zeichneten sich dunkel die Silhouetten der Bergkette ab. Newdale war eine Stadt im nordöstlichen Montana. Die meisten Menschen lebten hier vom Bergbau oder verdienten ihr Brot als Holzfäller. Die Winter waren bitterkalt und reich an Schnee. Bis die ersten Flocken fielen, würde es jedoch noch einige Zeit dauern. Gerade neigte sich der Sommer gerade erst dem Herbst entgegen, und die Wälder ringsum färbten sich in einem Rausch aus warmen Erdfarben.

Jetzt jedoch schien es nichts zu geben als das Feuer. Wie lebendig es wirkte! Es zog Grace an. Sie sah dem Spiel der Flammen zu und merkte kaum, wie sie näher heranlief. Die Decke brauchte sie nicht. Sie warf sie ab.

Derweil hatten sich die ersten Nachbarn aufgeteilt und eine Kette gebildet. Etliche Helfer versuchten, mit der Hilfe von ledernen Feuereimern den Brand zu löschen. Die anderen setzten auf die Wasserspritze, um die benachbarten Häuser vor einem Überspringen der Funken zu bewahren. Es brauchte zehn Männer, um die Pumpen zu bedienen und genug Druck zu erzeugen. Im hohen Strahl schoss das Wasser hervor und benetzte die Nachbarhäuser. Immer mehr Menschen strömten aus den Häusern, griffen zu Ledereimern und nahmen den Kampf gegen die Flammen auf.

Als die Gefahr für die Nachbarhäuser gebannt war, richteten die Helfer das Wasser auf das brennende Haus. Zischend trafen die Elemente aufeinander und fochten einen kurzen, aber heftigen Kampf aus. Die Luft füllte sich mit beißendem Qualm.

Grace musste husten, aber sie wich nicht zurück. Unvermittelt legte ihr jemand eine Hand auf die Schulter, sodass sie zusammenzuckte. Ihre Mutter war hinter sie getreten, bleich wie der Mond in einer rauen Nacht. Grace schaute sich suchend um. Pa! Wo ist mein Pa?

Ihr Vater drückte sich nie, wenn es zu helfen galt. Im Gegenteil. Er ritt immer an vorderster Front. Jetzt jedoch konnte sie ihn nirgendwo entdecken. Ein dumpfer Druck breitete sich in ihr aus.

Sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, bis das orangerote Leuchten allmählich verschwand und die Dunkelheit nur noch von den Laternen der Helfer ferngehalten wurde. Wolken aus Rauch waberten die Straße entlang. Das Marshals Office war nur noch eine geschwärzte Ruine.

Zwei Helfer wagten sich hinein, zögernd nur. Sie blieben nicht lange verschwunden.

Als sie geduckt durch die Tür ins Freie traten, drängten sich die Nachbarn vor dem Office. Grace reckte sich auf die Zehenspitzen, konnte jedoch nicht viel mehr erkennen, als dass die beiden Männer eine Gestalt aus dem Haus trugen und behutsam neben der Viehtränke ablegten. Dumpf schüttelten sie den Kopf. In diesem Augenblick gellte ein Schrei hinter Grace.

»Brawley!« Ihre Mutter drängte sich an den Nachbarn vorbei, schob sich zu den Helfern durch und fiel neben der Viehtränke auf die Knie. In nichts als ihr weißes Nachthemd gehüllt und mit einem Tuch, das sie um ihre Schultern geschlungen hatte und das ihren sanft gerundeten Babybauch verbarg. Der letzte Winter hatte das Fieber gebracht. Graces zwei Brüder waren ihm zum Opfer gefallen. Im nächsten Winter sollte wieder ein Baby ankommen. Grace konnte es kaum erwarten. Nun jedoch sank ihre Mutter über der Gestalt am Boden zusammen und schrie mit einer Stimme, die nichts Menschliches an sich hatte.

»Ma?« Grace wollte ihr nachlaufen, aber da vertrat Charley Hansom ihr den Weg. Der Deputy war grau im Gesicht. Seine Augen schienen rot und blutunterlaufen. Er fasste Grace an den Schultern und schüttelte den Kopf. »Nicht, Grace.«

»Ich muss zu meiner Ma.« Sie wimmerte leise.

»Bleib hier, kleine Lady.«

»Aber ...«

»Es ist dein Pa, Grace. Sie haben ihn gefunden. So solltest du ihn nicht sehen, so nicht.«

Grace wusste nicht genau, was er damit sagen wollte, aber nun gewann die Furcht die Oberhand und ließ sie handeln, ohne nachzudenken. Ihr Herz wummerte wild in ihrer Brust und in ihren Ohren rauschte es. Impulsiv wirbelte sie herum, biss ihn in die Hand und riss sich los, während ihm ein Schmerzensruf entfuhr. Sie schob sich zwischen den Nachbarn hindurch.

Zwei Männer hatten inzwischen eine Pferdedecke über der Gestalt am Boden ausgebreitet. Verzerrte Umrisse zeichneten sich darunter ab. Einer der Helfer wischte einen kleinen, metallenen Gegenstand an seinem Ärmel ab, ehe er ihn auf die Decke legte. Es war ein Marshal-Stern ...

»Pa?« Ihre Augen weiteten sich schmerzhaft. »Pa!« Sie wollte zu der Gestalt eilen, aber da fing ihre Mutter sie ein. »Nicht, Grace. Nicht.« Mit ungewohnt festem Griff hielt die Mutter sie fest. Sie bebte am ganzen Leib, aber ließ Grace nicht los.

Charley Hansom war ihr gefolgt. Er war ein kleiner, stämmiger Mann mit braunen Augen, denen nie etwas zu entgehen schien. Sein Hut musste ihm in den Wirren der Löscharbeiten abhandengekommen sein. Seine braunen Haare standen nach allen Seiten ab. Mit der flachen Hand wischte er über sein rußgeschwärztes Gesicht, ehe er den Blick wieder auf Jane Cox richtete. »Wir kriegen den Mistkerl, der das getan hat, Ma´am. Darauf haben Sie mein Wort.«

Ihre Mutter antwortete nichts, stieß nur ein gedämpftes Stöhnen aus, von dem es Grace ganz flau wurde. Ihre Mutter starrte auf sie nieder, schien jedoch geradewegs durch sie hindurchzusehen.

»Was ist mit dem Halunken aus der Zelle?«, rief jemand aus der Menge den beiden Helfern zu, die ihren Vater geborgen hatten.

»Der ist weg«, kam es dumpf zurück. »Abgehauen.«

»Hat das Feuer wohl gelegt, um seine Spuren zu verwischen, der Mistkerl.«

»Oder um uns aufzuhalten.«

»So oder so: Der Mistkerl hat unseren Marshal ermordet. Damit darf er nicht durchkommen.«

»Ermordet?«

»Ganz recht.«

Um Grace herum verschwamm alles. Beim Abendessen hatte ihr Vater erzählt, dass er einen Goldräuber geschnappt hatte. Finster hatte er dabei dreingeschaut. Es ging ihm gegen den Strich, wenn sich Verbrecher in seiner Heimatstadt herumrieben. Für deren Sicherheit war er immerhin verantwortlich – und diese Verantwortung nahm er sehr ernst. Das wusste sie.

Der Bandit hatte mit seinen beiden Kumpanen einen Goldtransport in der Nähe von Newdale überfallen. Vor drei Tagen war das gewesen. Sie hatten Münzen im Wert von 200.000 Dollar gestohlen. Grace konnte sich eine solche Menge nicht einmal vorstellen, aber die Räuber hatten das Gold nun in ihrem Besitz.

»Diese Kerle kennen kein Gewissen«, murmelte Charley Hansom nun. »Sie haben die Wachleute erschossen, die den Goldtransport begleitet haben. Keiner von ihnen hat überlebt. Und nun unser Marshal ...« Er ballte die Hände zu Fäusten. »Wir hatten einen von ihnen geschnappt. Der ist nun weg, aber nicht für lange. Nicht für lange!«

Grace konnte den Blick nicht von der Pferdedecke wenden. Der goldfarbene Stern schimmerte im Schein der Fackeln. »Pa?«, wisperte sie. »Bitte, Pa ...« Vor ihren Augen verschwamm alles in Tränen.

»Wir werden diese Bastarde finden und vor den Richter bringen«, raunte der Deputy. »Weit können sie noch nicht sein. Wir reiten noch heute Nacht los und spüren sie auf. Dann werden sie für ihre Taten büßen.«

Grace hörte die Entschlossenheit in seiner Stimme. Und doch sollte alles ganz anders kommen ...

Fünfzehn Jahre später

Newdale war kaum wiederzuerkennen.

Als Grace aus der Postkutsche stieg, hielt sie auf der oberen Sprosse inne und blickte sich um. Während viele Ansiedlungen im Lauf der Zeit von den Landkarten verschwunden waren und dann nur noch verlassene Häuser die gespenstisch leeren Straßen säumten, war ihre Heimatstadt größer geworden – und sehr viel lauter. Fußgänger schoben sich zwischen Fuhrwerken und Reitern über die Straße, nicht selten die Gefahr missachtend, die ein heranpreschendes Gefährt darstellte.

Wie das Netz einer Kreuzspinne zogen sich Straßen und Gassen von der Mainstreet ausgehend in alle vier Himmelsrichtungen. An den Straßenecken standen Jungen, den Arm voller Zeitungen und boten Neuigkeiten feil. An der Stelle von Earls Inn, das früher kaum mehr als eine Hütte gewesen war, stand jetzt ein zweigeschossiges Hotel. Auf der anderen Straßenseite reihten sich Geschäfte aneinander – ein Gemischtwarenladen, eine Hutmacherin, ein Eisenwarenhandel. Alles schien vor allem eines zu sein: größer.

Grace spürte einen Knuff in ihrem Rücken.

»Verzeihen Sie, Miss.« Die Matrone, die in der Kutsche neben ihr gesessen hatte, schnaufte hörbar. »Würden Sie bitte weitergehen? Ich kann es nicht erwarten, aus dieser Enge herauszukommen und meine Glieder wieder in die ihnen von der Natur zugedachte Position zu strecken.«

»Natürlich.« Grace raffte ihre Röcke und sprang mit einem kleinen Satz nach unten. Ein leises Einatmen ... dann richtete sie den Blick zu dem Gebäude, in dem einst ihr Vater gearbeitet hatte. Das Marshals Office war neu errichtet worden, verfügte nun über zwei Stockwerke und einen Anbau, in dem gewiss mehr als drei Zellen Platz hatten. Vor ihrem inneren Auge spielten sich die Ereignisse jener Nacht wieder ab, fast meinte sie, den stinkenden Rauch wieder riechen zu können ...

Nein! Entschlossen straffte sie sich. Das alles war fünfzehn Jahre her. Sie konnte nicht mehr ändern, was geschehen war, aber sie konnte dafür sorgen, dass die Toten von damals endlich ihren Frieden fanden.

Grace hob das Kinn und verbarg ihre Gefühle hinter einer gleichmütigen Miene, wie sie es gelernt hatte. Das war notwendig, wenn man im Osten überleben wollte. Oder besser gesagt, bei Tante Gladys.

Grace schüttelte ihre Röcke aus und blickte sich um. Der Kutscher hob das Gepäck seiner Fahrgäste von der Kutsche. Gerade lud er einen Korb mit zwei Hühnern ab. Die Matrone reckte die Arme danach, aber der Korb entglitt ihr. Er wäre in den Staub gefallen, hätte Grace sich nicht gedankenschnell gereckt und zugegriffen. Sie fing den Korb auf und reichte ihn der anderen Frau. Diese öffnete den Mund, aber anstatt sich zu bedanken, starrte sie Grace auf den Hals. Ihre Augen weiteten sich bestürzt.

Grace tastete nach ihrer Kehle. Verflixt! Der Seidenschal war verrutscht und gab die handlange Narbe an ihrem Hals den Blicken preis. Hastig zog sie den Schal zurecht, sodass er das Wundmal verbarg. Eine weitere Erinnerung an das Leben bei ihrer Tante. Ein betrunkener Freier hatte nicht genug Geld für einen Besuch in Gladys´ Etablissement gehabt, aber anstatt nach Hause zu stiefeln, hatte er Radau gemacht. Grace wollte beschwichtigen und hatte plötzlich seine Klinge an ihrem Hals gehabt. Viel hatte damals nicht gefehlt, und sie wäre ihren Eltern vor der Zeit gefolgt.

Ihre Mutter war nicht über den Tod ihres Vaters hinweggekommen und nur wenige Wochen nach ihm gestorben. Der Doc hatte damals gemeint, an gebrochenem Herzen. Grace war allein zurückgeblieben und zu ihrer einzigen noch lebenden Verwandten in den Osten geschickt worden: Tante Gladys. Diese führte ein Bordell in Pittsburgh und hatte ihr am ersten Tag bereits klargemacht, dass sie nichts zu verschenken hatte. Bei ihr musste arbeiten, wer essen wollte. In den ersten Jahren war Grace dann zu niedrigen Putzarbeiten herangezogen worden. Und später hatte Tante Gladys ihr beigebracht, wie man einen Mann so verwöhnte, dass er immer wiederkam. Zuneigung aber hatte sie ihrer Nichte nie entgegengebracht.

Grace hatte die Zähne zusammengebissen und darauf vertraut, dass der Mörder ihres Vaters und seine Kumpane gefunden wurden und ihre gerechte Strafe erhielten. Das hatte sie durchhalten lassen. Allein: Das war nicht geschehen.

Die Räuber waren und blieben verschwunden – ebenso wie das Gold, das sie geraubt hatten. Gewiss machten sie sich damit ein schönes Leben, während ihr Vater und ihre Mutter längst tot und begraben waren. Dieses Wissen brachte Grace um den Schlaf, und so hatte sie beschlossen, das Gesetz in die eigenen Hände zu nehmen. Sie war heimgekehrt, um für Gerechtigkeit zu sorgen.

Ihr erster Weg führte sie zum Stiefelhügel. Der lag inzwischen inmitten der Stadt, umgeben von einer mannshohen Hecke. Grace musste eine Weile suchen, um das Grab mit dem krummen Holzkreuz ausfindig zu machen, unter dem ihre Eltern ruhten.

Sie kniete sich hin, strich über die warme, braune Erde und flüsterte: »Ich bin zurück. Und ich werde für Gerechtigkeit sorgen. Das verspreche ich euch.« Mit brennenden Augen schaute sie auf das Holz nieder. Keine Blume schmückte das Grab. Nur dürres Gras.

Grace fasste an ihren Hals und löste die schlichte silberne Kette, die sie trug. Sie breitete sie über dem Kreuz aus. Ein Unterpfand ihres Versprechens.

Als sie sich aufrichtete, entdeckte sie einen Mann, der in einiger Entfernung stand und zu ihr herübersah. Reverend Hastings war ein hagerer Mann, der in seiner dunklen Kleidung mit den Schatten zu verschmelzen schien. Sein stechender Blick schien all ihre Geheimnisse ergründen zu wollen. Er war Grace schon früher ein wenig unheimlich gewesen, und daran hatte sich bis heute nichts geändert. War sie als Kind jedoch vor ihm weggelaufen, schritt sie jetzt auf ihn zu. »Reverend Hastings, guten Tag. Können Sie mir sagen, wo ich Deputy Hansom finde?«

Seine Augen verengten sich. Er schien sie nicht wiederzuerkennen, entschied sich dann jedoch, ihre Frage zu beantworten. »Mr. Hansom arbeitet schon lange nicht mehr als Deputy. Nicht mehr, seit er so krank ist.«

»Er ist krank?« Grace erinnerte sich an den kleinen, stämmigen Mann, der sie auf seinen Schultern getragen und ihr zu jedem Geburtstag ein Tier geschnitzt hatte.

»Sehr krank. Er wird den nächsten Winter wohl nicht überleben.«

»Oh.« Grace ließ die Schultern sinken. »Das wusste ich nicht.«

»Er hat mit seiner Frau die alte Hancock-Farm im Süden der Stadt übernommen. Sie müssen dem Bach folgen und sich an der Brücke links halten.«

Grace nickte. »Ich kenne die Farm. Den Weg werde ich finden. Haben Sie vielen Dank.«

»Gern geschehen, Miss ...« Der Geistliche bedachte sie mit einem nachdenklichen Blick. Bevor er sie jedoch nach ihrem Namen fragen konnte, hatte sie sich schon auf den Weg gemacht. Den Mietstall hatte sie von der Postkutsche aus entdeckt, als sie in die Stadt gefahren war. Er schien das einzige Gebäude in der Stadt zu sein, das sich nicht verändert hatte. Grace mietete sich eine Stute, ein sanftmütiges Tier, das sie aus der Stadt und die wenigen Meilen hinunter zu ihrem Ziel trug.

Schon von weitem konnte Grace erkennen, dass die Farm ihre besten Tage bereits hinter sich hatte. Das Dach war löchrig, der Zaun windschief und halb eingestürzt und im Garten wucherte das Unkraut mannshoch. Auf einer Wiese standen Ziegen, die wohlgenährt wirkten. Dafür war der Mann, der soeben ihre Tränke mit Wasser füllte, ausgemergelt und so krumm, als würde er eine schwere Last auf seinen Schultern tragen. Seine Haut war gelb und verriet, dass er so krank war, wie der Reverend angedeutet hatte. Charley Hansom, der ehemalige Deputy ihres Vaters.

»Grace?« Seine Augen richteten sich auf sie, forschend, dann breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus. Er beschattete seine Augen mit einer Hand. »Bist du das wirklich?«

»Charley.« Sie ließ ihr Pferd stehenbleiben und glitt aus dem Sattel.

»Heiliger Rauch. Grace. Du bist hier. Nach all den Jahren.«

»Ich musste zurückkommen. Vaters Tod ist noch immer nicht gerächt.«