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Seit über 30 Jahren reitet Lassiter schon als Agent der "Brigade Sieben" durch den amerikanischen Westen und mit über 2000 Folgen, mehr als 200 Taschenbüchern, zeitweilig drei Auflagen parallel und einer Gesamtauflage von über 200 Millionen Exemplaren gilt Lassiter damit heute nicht nur als DER erotische Western, sondern auch als eine der erfolgreichsten Western-Serien überhaupt.
Dieser Sammelband enthält die Folgen 2392, 2393 und 2394.
Sitzen Sie auf und erleben Sie die ebenso spannenden wie erotischen Abenteuer um Lassiter, den härtesten Mann seiner Zeit!
2392: Prärie der Schande
Die gräuliche Tat, die einige Monate darauf als Robertson-Mord in den Gazetten zu lesen sein würde, war bis in die letzte Einzelheit geplant. Sie schloss die kaltblütige Überlegung ein, dass Earnest D. Robertson das Haus stets gegen neun Uhr abends betrat, sich in seinen Lehnstuhl gegenüber dem Bett setzte und mit seiner Gattin den Tag besprach. Die britische Purdey mit ihren verzierten Beschlägen lag ruhig in den Händen von Robertsons Mörder.
2393: Des Teufels bester Spieler
Ausdruckslos schaute Henry Duvray in sein Blatt, sah danach seinen gefährlichsten Gegner am Pokertisch an und suchte sich einen Punkt an der Wand hinter ihm, auf dem sein Blick ruhen blieb. Nacheinander schoben die Spieler ihren Einsatz in die Tischmitte, dann hob der Dealer den Flop, die ersten drei Gemeinschaftskarten, ab: Pik acht, Kreuz neun und Karo zehn. Duvray blieb gelassen. Mit seinem Pik Buben und der Herz Dame hatte er einen Straight.
2394: Jennifers Liste
Der straff gespannte Hanfstrick knarrte über dem Haken, als der Wind den Gehenkten in Bewegung versetzte und ihm damit scheinbar neues Leben einhauchte. Die Schaulustigen hatten den Platz längst verlassen und waren nach Hause oder in den Saloon gegangen. Nur ein paar Präriehexen taumelten um das Schafott und leisteten dem Unglückseligen Gesellschaft, während sich düstere Wolken über dem Abendhimmel zusammenballten.
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Seitenzahl: 418
Veröffentlichungsjahr: 2022
Jack Slade
Lassiter Sammelband 1837
Cover
Impressum
Prärie der Schande
Vorschau
Prärie der Schande
Die gräuliche Tat, die einige Monate darauf als Robertson-Mord in den Gazetten zu lesen sein würde, war bis in die letzte Einzelheit geplant. Sie schloss die kaltblütige Überlegung ein, dass Earnest D. Robertson das Haus stets gegen neun Uhr abends betrat, sich in seinen Lehnstuhl gegenüber dem Bett setzte und mit seiner Gattin den Tag besprach.
Die britische Purdey mit ihren verzierten Beschlägen lag ruhig in den Händen von Robertsons Mörder. Sie war an diesem Tag erst einmal abgefeuert worden, weit jenseits der Stadtgrenze. Der Schuss hatte einen Kalbsschädel durchschlagen und ein daumennagelgroßes Loch in einen Weidepfosten gerissen.
Nun warteten die Purdey und ihr Besitzer geduldig auf den Augenblick, in dem der alte Farmer den Mantel ablegte, sich ächzend die Stiefel auszog und auf seinem Stuhl Platz nahm …
Der Einspänner hatte keine seiner üblichen Macken gezeigt, als Earnest D. Robertson an diesem Nachmittag hinüber nach Stokes gefahren und die alte Melberry-Witwe behandelt hatte. Die Achse hatte nicht geklappert, das Verdeck war an den Streben geblieben, und nicht eine einzige der vier Muffen, über die Wagenmeister Hank Boroughsfield eine Woche zuvor geschimpft hatte, war aus ihrer Nut gesprungen.
Das Coupé hatte seine Pflicht erfüllt.
Jedenfalls war Robertson davon ausgegangen, als er den Gaul ausgespannt und in den Stall hinter dem Haus gebracht hatte. Er war sogar ein wenig stolz auf den Kauf der Tilbury Model 1878 gewesen, der ihn knapp fünfhundert Dollar gekostet hatte, eingeschlossen die Verschiffung aus Großbritannien.
Nun jedoch bemerkte Robertson den fehlenden Stift.
Der Keilstift hätte im dazugehörigen Befestigungsloch an der Achse stecken und das Rad davor bewahren müssen, in voller Fahrt abzuspringen. Er war jedoch irgendwo in der Prärie zwischen Stokes und der Robertson-Farm herausgesprungen und hatte den Doc damit erheblichen Gefahren ausgesetzt.
»Verdammte Briten«, murmelte Robertson und trat mit dem Fuß gegen die Radspeichen. Er wollte weitere Flüche gegen die Erbauer der Tilbury ausstoßen, begnügte sich jedoch mit einem Knurren.
Wenig später stieg Robertson die Stufen zum Haus hinauf.
Er hatte seiner Frau Virgie und seinen beiden Söhnen Don und Burrell ein gutes Stück Land ausgesucht, das im Westen von einem Fluss und im Osten von einer sachten Hügelkette begrenzt wurde. Weiter im Norden lagen saftige Weiden, der Süden gehörte einem kleinen Hain aus Ahornbäumen, in dem sie nach Herzenslaune Holz schlagen konnten. Der Robertson-Clan hätte es schlechter treffen können.
»Virgie?«
Seit seinen Tagen an der Pennsylvania University klapperte Robertson jedes Mal mit dem Schlüsselbund, ehe er aufschloss, um seine Gattin nicht zu erschrecken. Er hatte Virgie in seinen frühesten Studententagen kennengelernt, und obwohl inzwischen viel Wasser den Ohio River hinuntergeflossen war, änderten sich die Rituale des Doktors nur wenig.
»Komm doch herein, Earnest!«, hörte Robertson seine Frau aus der Schlafkammer rufen, in der sie oft ihre Modemagazine las, weil die Kammer über die hellste Petroleumlampe im Haus verfügte. »Don ist auch schon gekommen.«
Robertsons Miene hellte sich auf, als er den Namen seines Ältesten vernahm, und er stapfte mit langsamen Schritten den Flur hinunter. Vor dem Spiegel blieb der Arzt kurz stehen und betrachtete sein bärtiges Antlitz, in dem noch die Aschereste der Zigarre hingen, die er im Hof der alten Melberry geraucht hatte.
»Vater, wie schön.«
Sein ältester Sohn saß auf dem klapprigen Stuhl beim Fenster, den er immer für sich beanspruchte, sobald sie sich am Abend in der Schlafkammer trafen und über den Tag sprachen. Sie hätten sich ebenso gut in die Wohnstube oder in die Küche setzen können, aber weder seine Söhne noch Robertson wollten Virgie zu so später Stunde noch aufscheuchen.
»Zäune gemacht?«, brummte Robertson und nickte seiner Frau zu Begrüßung zu. »Wir müssen morgen die Kälber rübertreiben.«
»Ist erledigt«, erwiderte Don mit einem Nicken. Er war ein kräftiger Junge mit rosigen Wangen und einem Schneid, der Robertson immer wieder Respekt abnötigte. »Ich hab’s mit Burry erledigt. Ich hab’ ihm gesagt, dass er Nägel mitnehmen soll, und er hat’s trotzdem nicht getan.«
»Wo steckt der Faulpelz?«, erkundigte sich Robertson und streifte die Stiefel von den Füßen. Er massierte sich die Knöchel, die von der langen Fahrt aus Stokes herüber angeschwollen waren. »Ich werd’ ihm noch die Leviten lesen.«
Das schmächtige Gesicht seiner Frau nahm einen betrübten Ausdruck an. Sie richtet sich im Bett auf und warf den Kindville Coroner zur Seite, den sie vor sich auf dem Deckbett ausgebreitet hatte. »Du bist zu streng mit ihm, Earnest. Er ist schwächlicher als Don, aber er hat ein gutes Herz, so wie wir’s brauchen auf der Farm.« Sie schürzte die Lippen. »Wie war’s bei der Mulberry?«
»Grässlich war’s!«, behauptete Robertson und schämte sich für die gute Zigarre, die er nach der Behandlung geraucht hatte. »Ich sag’s euch von ganzem Herzen, ich lass den Arztberuf sein und werd’ Farmer. Es gibt genug zu tun auf der –«
Ein Donnerschlag und splitterndes Glas verschlangen den Rest von Robertsons Satz, der Virgie und Don ohnehin so vertraut war, dass sie ihn auch selbst hätten vollenden können. Der Arzt spürte einen stechenden Schmerz in der Brust und wandte den Kopf zu Don.
Fassungslos starrte der Junge seinen Vater an.
»Was ist los?«, knurrte Robertson und spürte einen leichten Schwindel. Er sah an sich herunter und machte einen roten Fleck auf seiner Weste aus, der sich sekündlich vergrößerte. »Zur Hölle, was war das?«
Erst nach und nach setzte sich in Robertsons Bewusstsein die Einsicht durch, dass er soeben von einer Kugel durchlöchert worden war, die jemand vor dem Fenster abgefeuert hatte. Der Angriff war so plötzlich erfolgt, dass Virgie und Don wie vom Schlag gerührt waren.
»Vater!«, schrie Don auf, als Robertson kraftlos von seinem Lehnstuhl rutschte. »Vater, was …«
»Wo ist … Burry?«, keuchte Robertson und hielt sich an der Sessellehne fest. Aus seiner Brustwunde quoll Stoß um Stoß frisches Blut. »Du musst ihn holen. Ich sterbe … Don, ich gehe drauf!«
Als Arzt war Robertson stolz auf seine Diagnose, denn er hatte mit den Fingern von der untersten Rippe an gezählt und war zum Schluss gekommen, dass die Kugel sein Herz gestreift haben musste. Er schaute zu Virgie, die mit weit aufgerissenen Augen im Bett saß und sich nicht rührte.
»Don!«, flüsterte Robertson. »Hol Burry … schnell!«
»Bei Gott!«, schrie Don und eilte seinem Vater zu Hilfe. »Burry ist noch in Whitefield! Weißt du nicht mehr? Whitefield, Vater!«
Die Bezeichnung des südtexanischen Ortes war das letzte Wort, das Robertson bei klarem Sinn zu fassen imstande war.
Die Finsternis des Todes erwartete ihn bereits.
☆
Der letzte Schluck Mohongahela Whiskey in Lassiters Glas schmeckte so bitter wie der ganze verdammte Tag. Der Mann der Brigade Sieben stürzte ihn in die Kehle und wischte sich mit dem Handrücken die Lippen ab. Er starrte auf die Wandregale des Southfork Saloon, die mit leeren Brandy- und Ginflaschen gefüllt waren.
»Noch einen?«, raunte ihm das brünette Barmädchen und wienerte ein Glas trocken. Es hatte blassblaue Augen und ein schmal geschnittenes Gesicht. »Oder hast du genug, Mister?«
»Genug«, brummte Lassiter und drehte den Glasboden, unter dem sich die Maserung der Thekenplatte wölbte. »Ich hab’ wirklich genug, Abby. Ist kein guter Tag, weißt du.«
»Kein Tag in Stokes ist gut«, gab das Mädchen zurück und lächelte tapfer. Es stellte das Glas aus der Hand und griff nach einem anderen. »Bei mir waren es Harvey und seine verfluchten Brüder. Ich werd’ ihnen die verdammten Griffel abhacken, wenn sie mir noch einmal unter den Rock greifen.«
»Recht so!«, pflichtete ihr Lassiter bei und starrte sie aus glasigen Augen an. Er hätte eine oder zwei Stunden länger im Bett bleiben sollen. »Kein Kerl hat das Recht, einer Frau unter den Rock zu gehen. Kein verfluchter Kerl, Abby.«
Sie wechselten einen langen Blick miteinander, der in einer flüchtigen Berührung seitens Abby mündete. Sie stützte sich mit beiden Ellbogen auf die Theke und fuhr Lassiter durchs Haar. Außer ihnen war lediglich der Pianospieler im Saloon, der sich nicht darum scherte, ob sich jemand mochte oder nicht.
»Was ist los?«, raunte Abby und wischte ihm den Schweiß von der Schläfe. »Du bist erst seit einer Woche hier und versinkst in Schwermut. Ich kenne dich anders.«
Nur allzu gern hätte Lassiter Abby vom Tod seines guten Freundes Bramstock erzählt, der vor gut zwei Monaten auf dem Amazonas umgekommen war. Sie hatten einander in Punto Negro getroffen und sich Bramstocks Sammlung von über hundert Regenwaldpflanzen angesehen. Einen Tag darauf hatte Bramstock tot im trüben Amazonaswasser gehangen.
Er war von einer Horde Diamantenräuber erschossen worden, die Lassiter von Texas aus über dreitausend Meilen weit in den Süden verfolgt hatte.
»Nichts«, log der große Mann und schob Abby stumm das Glas hin. Er sah ihrer zierlichen Hand dabei zu, wie sie die Mohongahela-Flasche ansetzte. »Es ist nichts. Es sind bloße miese Geschäfte derzeit.«
»Miese Geschäfte«, wiederholte Abby und lächelte. Sie zog seinen Kopf zu sich heran und küsste Lassiter. »Du sollst dich aber nicht grämen.«
Sie vernahmen einen schrillen Pianoton, mit dem der Klavierspieler seinen Platz verließ und durch die Tür im hinteren Teil des Schankraums trottete. Der Southfork Saloon gehörte Abby und Lassiter jetzt allein.
»Gleich hier?«, wisperte das Barmädchen und streckte sich verführerisch. »Ich hänge das Closed-Schild vor und bring’ dich auf andere Gedanken.«
Für einen Moment vergaß Lassiter das Telegramm in seiner Westentasche, das erst vor einer Stunde gekommen war und von ihm forderte, dass er sich ins Büro von Gemeindeschreiber John Kenley begeben sollte. Er vergaß die freundlichen Züge von Bramstock, der ihm den Amazonas hatte zeigen wollen und seinetwegen auf dem Fluss gestorben war. Er vergaß seine ganze verdammte Pflicht, seine Abgebrühtheit, die ihn immer wieder dazu zwang, gerade jene Menschen in Gefahr zu bringen, die er mochte.
»Gleich hier!«, erwiderte Lassiter und schwang sich zu Abby über die Theke. Er rutschte fast in ihre Arme und betrachtete eine Weile das ausladend geschnittene Kleid, in dem sie steckte. »Oder willst du es woanders?«
»Keine Sekunde lang«, hauchte Abby und knöpfte ihm ungeduldig das Hemd auf. Sie stöhnte vor Verlangen auf, als Lassiter die Arme um ihre Taille schwang und die Schnürung des Kleides löste. »Ich hab’ doch nur darauf gewartet.«
Sie hatten es in all den Nächten getan, die Lassiter bisher in Stokes verbracht hatte, und keiner von beiden hatte je etwas davon bereut. Sie hatten vorsichtig sein müssen, wegen Harvey vor allem, und wegen des Rufes, den eine Frau in Stokes rascher weghatte als eine Dirne in den New Yorker Docks.
»Zieh dich aus!«, flehte Abby und schlüpfte aus ihrem Kleid. Sie hatte makellos glatte Schenkel, zwischen denen ein dunkelblonder Busch hervorlugte. »Oder willst du mich warten lassen?«
Sie räumte eine Reihe Flaschen mit dem Arm beiseite und ließ sich von Lassiter auf die staubigen Dielen hinunterdrückten. Der Mann der Brigade Sieben drang fordernd und hart in sie ein und hielt ihre Handgelenke fest umfasst.
Abby stöhnte vor Lust auf.
Sie wand sich unter Lassiters Händen wie ein Fisch, der zu früh ins Netz gegangen war und sich seinem Schicksal dennoch ergab. Nach einigen Minuten erlahmte ihr gespielter Widerstand und sie genoss mit geschlossenen Augen die festen Stöße ihres Liebhabers.
»Noch härter!«, seufzte Abby und wagte die Worte doch kaum auszusprechen. Sie biss sich verschämt auf die Lippen, warf den Kopf zur Seite und drückte Lassiter mit beiden Händen an sich. »Du musst mich nicht schonen … Nicht einen Augenblick lang, hörst du?«
Die zarten Glieder des Barmädchens rekelten sich unter Lassiters Armen, als würde jeder Lendenstoß sie in neue Ekstase stürzen, als gäbe es nur das Diktat ihrer Körper, die sich einander preisgaben. Er starrte auf Abbys Brüste, die voll und prächtig vor ihm lagen und unter seinen Bewegungen erbebten.
»Willst du es noch härter?«, fragte Lassiter und schloss eine Zeitlang ebenfalls die Augen. Er genoss die zärtlichen Berührungen von Abbys Händen, die ihn bald in diese, bald in jene Richtung dirigierten. »Oder hast du genug?«
»Nie!«, hörte er Abby unter sich seufzen. »Ich will dich ganz, Lassiter! Ich will dich … spüren.« Sie umschlang seinen Hals und zog ihn zu sich herunter. »Man findet in Stokes keinen Mann wie dich.«
Auf der Mainstreet ratterte ein Planwagen durch den verkrusteten Schlamm, einer der zahllosen Siedlerwagen, die Lassiter unten am Depot gesehen hatte. Abby spreizte die Schenkel, so weit sie es vermochte, und schrie schrill auf, als sie gemeinsam mit ihrem Liebhaber kam.
»Oh, Lassiter!«, stieß Abby keuchend hervor. »Du darfst Stokes nie … nie mehr verlassen.«
☆
Aus dem Büro des Gemeindeschreibers schlug Lassiter der erkaltete Qualm Dutzender Zigarillos entgegen, die ihr kurzes Erdendasein in einem Aschekrug auf dem Schreibtisch von John Kenley beendet hatten. Der groß gewachsene Mann mit dem sauber gestutzten Bart erhob sich bei der Ankunft seines Gastes und bat ihn mit einer freundlichen Geste herein. Er befand sich in Gesellschaft einer rothaarigen Frau.
»Mr. Lassiter«, sagte Kenley höflich zur Begrüßung und wies auf die Frau im Stuhl. »Ich darf Ihnen sogleich Miss Jackson vorstellen.«
Die Fremde mit den kupferroten Haaren wandte sich zu Lassiter um und musterte ihn für längere Zeit. Sie hatte ein rundes Gesicht mit kindlichen Grübchen und hellwachen Augen.
»Miss«, grüßte Lassiter und wandte sich zurück an Kenley. »Ich fürchte, dass ich ein Gespräch unter vier Augen mit Ihnen führen muss.«
Der Mittelsmann griff nach seinem Brieföffner, der die Form einer Feder hatte, und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Er drehte den Öffner zwischen den Fingern und lächelte. »Sie denken bereits an Ihren Auftrag, was ich für löblich und angemessen halte. Miss Jackson ist jedoch aus eben diesem Grund bei uns.«
Erstaunt glitt Lassiters Blick zu der Rothaarigen, die ihn noch immer ansah. Er zog sich den Stuhl heran, auf den Kenley beiläufig gedeutet hatte. »Gewöhnlich erledige ich meine Pflichten allein.«
»Gewöhnlich«, pflichtete ihm Kenley mit einem Kopfnicken bei. »Bei diesem Auftrag werden Sie jedoch mit Miss Jackson zusammenarbeiten. Sie haben kürzlich einen guten Freund verloren.«
Grimmige Wut stieg in Lassiter auf und legte sich wie ein Panzer um seine Brust. »Was am Amazonas geschehen ist, geht lediglich mich allein etwas an. Ich brauche keine Amme.«
Betretenes Schweigen füllte den Raum und veranlasste Kenley zu einem langen Atemzug. Er beugte sich nach vorn und zog ein dunkelbraunes Kuvert unter dem Schreibtisch hervor. Das Wachssiegel des Justizministeriums darauf war noch nicht gebrochen. »Es liegt nicht in Ihrer Hand, Mr. Lassiter. Die Anweisung bezüglich Miss Jackson ist an oberster Stelle getroffen worden.«
Aus den Augenwinkeln heraus bemerkte Lassiter, dass die junge Frau neben ihm unbehaglich hin und her rutschte. Sie schien etwas sagen zu wollen, wartete jedoch Kenleys Vortrag ab.
»Sie ist keine Amme«, stellte der Mittelsmann klar. »Sie ist eine erfahrene Kopfgeldjägerin und wird Sie hinsichtlich eines feigen Mordes unterstützen, der sich vor einigen Tagen auf der Robertson-Farm zugetragen hat.«
Scheu richtete die Rothaarige die Augen auf Lassiter, der seinerseits auf Kenleys Schreibtisch starrte. Er hätte eine Frau üblicherweise höflicher behandelt, wäre sie nicht gerade wegen Bramstocks Tod zu ihm geschickt worden.
»Earnest D. Robertson«, meinte Miss Jackson unvermittelt. Sie besaß eine schneidend scharfe Stimme. »Er ist vor vier Tagen in seinem Haus erschossen worden, als er gerade mit seiner Frau und seinem Sohn sprach. Die Kugel durchschlug das Fenster und hat Robertson eine Ader am Herzen zerfetzt. Er starb nach einer guten Stunde.«
Langsam hebelte Kenley mit dem Brieföffner das Siegel des Ministeriums auf. Er zog die Kordel darunter hervor, klappte die Lasche am Kuvert auf und schob die Sendung über den Schreibtisch. »Sie finden darin alles zu Robertson und seiner Farm. Er ist ein wichtiger Mann in Texas und zugleich der erfahrenste Arzt in der Gegend rings um Stokes.«
Stumm nahm Lassiter das Kuvert und warf einen Blick hinein. Es war mit den üblichen Informantenberichten gefüllt, denen man Zeichnung von Robertson beigelegt hatte. Ein weiteres Blatt listete das Vermögen von Robertson auf.
»Am Tage seines Todes hatte Robertson fünfzigtausend Dollar erhalten«, fuhr Kenley fort. »Er bewahrte sie in einer Stahlkassette im Haus auf. Man glaubt in Washington, dass nicht einmal seine Söhne von dem Geld wussten.« Er wies mit einem Finger auf das Kuvert. »Es soll aus dem Verkauf von Ranchland stammen, das ursprünglich der West Coast Railway gehört hat.«
Die Rothaarige beobachtete jeden von Lassiters Handgriffen und entspannte sich erst, als der Mann der Brigade Sieben mit Lesen begann. Sie wechselte einen Blick mit Kenley.
»Miss Jackson wird Ihre Frau spielen«, erklärte Kenley weiter. »Sie werden sich auf der Robertson Ranch als Wanderarbeiter vorstellen und um eine Anstellung bitten. Man hat bereits dafür gesorgt, dass die Witwe Sie erwartet.« Er ließ eine kurze Pause. »Sie werden das Vertrauen von Robertsons Söhnen erwerben und herausfinden, ob der 50.000-Dollar-Deal etwas mit seinem Tod zu tun hat.«
Ein spöttisches Lächeln erschien auf Lassiters Lippen. »Mit meiner Frau im Schlepptau? Ich könnte genauso gut die Ranch durchstöbern und dabei laut verkünden, dass ich nach einer Kiste voller Dollars suche.«
Die Miene des Mittelsmannes zeigte keinerlei Regung. »Sie verstehen mich nicht, Mr. Lassiter. Der Auftrag enthält einen klaren Befehl.« Er kniff die Augen zusammen. »Sie reiten gemeinsam mit Miss Jackson zur Farm hinaus.«
Inzwischen war die Spannung in Kenleys Büro mit Händen zu greifen. Sie schwang wie ein Pendel zwischen den beiden Männern und der jungen Frau, die jetzt steif und aufrecht in ihrem Stuhl saß.
»Verstanden«, sagte Lassiter so leise, dass Kenley abermals die Stirn runzelte. »Washington hat das letzte Wort.«
»Miss Jackson kennt die Gegend ausgezeichnet«, fügte Kenley rasch an und griff nach dem Kuvert. Er nahm eine Karte mit der ausgedehnten Prärie rings um die Stadt zur Hand. »Es gibt fünf Farmen und zwei Ranches entlang des Flusses. Die Robertsons verfügten über den größten Landbesitz.« Er faltete die Landkarte in der Mitte zusammen. »Der Mörder muss sich ebenso gut ausgekannt haben.«
Als er zu Miss Jackson blickte, wurde Lassiter bewusst, dass es in Wahrheit der Verlust seines Freundes war, der ihm in den Knochen saß. Er zweifelte nicht daran, dass die junge Rothaarige ihr Handwerk verstand. Ohne entsprechende Einträge in ihrer Akte hätte man sie in Washington kaum ausgewählt.
»Zwei Wochen«, erklärte Kenley nach einer Weile. »Sollten Sie zu keinem Resultat kommen, wird man Sie von dem Auftrag abziehen und einen anderen Agenten beauftragen.« Er schaute zu Miss Jackson und wieder zurück zu Lassiter. »Sie sollten sich zusammenraufen.«
»Selbstverständlich, Sir«, erwiderte Lassiter mürrisch und steckte das Kuvert ein. »Die Interessen der Regierung gehen vor.«
☆
»Vergessen Sie’s!«
Die lederne Provianttasche landete mit einem krachenden Geräusch auf den Frachtsäcken, die bereits zu zwei Dritteln die Ladefläche des Planwagens füllten. Der Mietstallbesitzer hatte ihnen außerdem Harken, Spaten und anderes Gerät beschafft, die auf der Robertson-Farm glaubhaft vermitteln würden, dass ein junges Ehepaar nach Arbeit suchte.
»Vergessen?«, entgegnete Lassiter mit einem müden Lächeln. Er stritt seit einer guten halben Stunde mit Evie. »Ich muss auf Ihre Loyalität vertrauen können.«
»Sie haben meine Loyalität«, versetzte Evie und stemmte die Arme in die Seiten. Sie stand im Schatten neben der Planwagenplane, die träge im Wind flatterte. »Sie werden sich auf mich verlassen müssen. Sie haben gehört, was Kenley über den Auftrag gesagt hat.«
Ungerührt griff Lassiter nach einer zweiten Provianttasche und warf sie sich über die Schulter. Er umrundete den massigen Planwagen, mit dem sie hinaus zur Farm fahren würden. »Er hat lediglich gesagt, dass Sie mir zur Seite stehen sollen. Ich lege fest, wann und wie Sie mit Robertson sprechen.«
Die zweite Tasche landete knapp neben der ersten, geriet ins Rutschen und verschwand zwischen zwei Jutesäcken. Der Mann der Brigade Sieben sprang auf den Wagen, zog den Proviantvorrat wieder heraus und legte ihn an die vorgesehene Stelle. Als er sich zu Evie zurückdrehte, funkelte ihn die Rothaarige wütend an.
»Sie wissen nichts über mich«, zischte Evie und reckte das Kinn nach vorn. »Sie halten mich für lästigen Ballast, der Ihnen von irgendeinem Bürohengst in Washington aufgezwungen wurde. Ich kenne Stokes und die angrenzende Prärie.« Sie gab Lassiter den Weg frei. »Ich könnte Ihnen von Nutzen sein.«
Der große Mann sprang vom Wagen und schlug sich den Staub von den Händen. »Daran zweifle ich nicht, Miss Jackson. Ich bin nur nicht überzeugt, dass Sie und ich ein gutes Gespann sind.«
»Gespann ist mein Stichwort!«
Vom Mietstall her kam Dave Hanford herangelaufen, die ihnen den Planwagen und die Ladung für drei Wochen überließ. Er war ein enger Freund von Kenley und hatte kaum Fragen gestellt.
»Mr. Hanford!«, wandte sich Lassiter von Evie ab und ging mit dem Inhaber des Hanford Livery Stable zu den beiden Pferden. »Sie haben uns gute Tiere gegeben.«
»Zwei der besten!«, behauptete Hanford und grinste. »Sie lassen die beiden Hammelköpfe bei den Robertsons stehen. Ich komme sie holen, sobald Not am Mann ist.« Er dämpfte die Stimme. »Gibt es Ärger mit Ihrer Frau? Sie ist nicht glücklich über das Gespann.«
Offenbar hatte Kenley vor Hanford tatsächlich davon gesprochen, dass Lassiter und Evie verheiratet waren. Der Mann der Brigade Sieben beschloss, vorerst keine Zweifel daran zu säen. »Sie ist ein leicht zu erregendes Gemüt. Ich kümmere mich später um sie.«
»Wie Sie meinen«, sagte Hanford und klopfte dem Pferd neben ihm auf den Hals. »Eine Frau braucht Zuneigung, falls Sie mich fragen. Aber sei’s drum! – Die Biester ziehen Ihnen notfalls ’nen ganzen Bullen von der Weide.«
»Werden die Robertsons nicht misstrauisch werden?«, fragte Lassiter und ließ den Blick über den Planwagen mit dem schweren Segeltuchverdeck gleiten. »Man kennt Ihre Fuhrwerke dort sicher.«
»Nicht dieses eine hier«, beruhigte ihn Hanford. »Es ist erst vor zwei Tagen aus Phoenix gekommen. Hab’s einem Mormonen abgeschwatzt.« Er ging um die Pferde herum. »Und die Gäule … Es ist nichts Ungewöhnliches, dass sich einer in Stokes frische Pferde geben lässt. Sie könnten rüber in die Hügel wollen.« Er grinste. »Was wissen die Robertsons schon davon?«
»Kannten Sie Earnest Robertson?«
Die scharfe Stimme von Evie unterbrach das Gespräch der beiden Männer. Sie trat hinter dem Planwagen hervor und wischte sich das Wagenfett von den Fingern.
Hanford sah erstaunt zu Lassiter. »Nicht allzu eng, Miss. Er war unser Doc in Stokes. Man war froh, wenn man nicht mit ihm zu tun bekam.«
Die Pferde blähten die Nüstern auf, als der Mietstallbesitzer mit den Händen über ihre Mäuler strich. Evie schwang sich auf den Kutschbock und griff nach den Zügeln. »Sie sollten die Deichsel wechseln lassen. Das Holz ist voller Wurm und wird bald brechen.«
Wiederum wechselte Hanford einen verwunderten Blick mit Lassiter. Er warf selbst einen Blick auf die Deichsel, die tatsächlich deutliche Spuren von Wurmfraß zeigte. »Sie haben ein gutes Auge, Miss. Wär’ ich an Ihrer Stelle, würd’ ich’s mit den guten Ratschlägen nicht übertreiben.«
»Sie sind nicht an meiner Stelle«, konterte Evie und wickelte sich die Zügel um die rechte Hand. »Sie waren nie an der Ostküste, wo eine Frau nur etwas gilt, wenn sie’s ihrem Mann recht macht.«
»Verdammtes Weibsvolk!«, brummte Hanford und legte die Stirn in Falten. »Überall wollt ihr plötzlich das Sagen haben! Es wär’ besser für euch, wenn ihr eure Hände in den Kochtöpfen lasst.«
»Hanford!«, wies Lassiter den Mietstallbesitzer zurecht. »Sie sollten nicht vergessen, dass Sie mit meiner Frau sprechen.«
Auf Evies Gesicht zeigte sich ein Ausdruck der Genugtuung. Sie ließ Lassiters Bemerkung unkommentiert, schlug die Plane zur Seite und stieg über die Bordwand in den Wagen. Nach einer Weile erschien ihr Kopf zwischen den beiden Segeltuchhälften. »Der Proviant reicht kaum für fünf Tage. Ein halbes Dutzend Säcke müssen es mindestens sein.« Sie fasste Hanford ins Auge. »Kriegen Sie das hin, Mister?«
Unter einem griesgrämigen Brummen machte sich Hanford davon und schlug die Lagertür bei den Ställen hinter sich zu. Er kehrte in der folgenden Viertelstunde nicht zurück.
»Bilden Sie sich bloß nichts ein!«, rief Evie Lassiter durch die Wagenplane hindurch zu. »Auf den edlen Gentleman kann ich verzichten.«
Als Lassiter keine Antwort gab und sich stumm um das restliche Gepäck kümmerte, tauchte das vor Schweiß glänzende Antlitz der Rothaarigen über dem Kutschbock auf. Sie legte den Kopf schief und presste die Lippen zusammen. »Sind Sie jetzt beleidigt?«
»Keineswegs«, gab Lassiter zurück und warf Evie einen Gepäcksack zu. »Aber Sie und ich müssen an einem Strang ziehen. Der Mord an Mr. Robertson ist zu bedeutsam, um sich im Grabenkampf zu zerfleischen.«
Die roten Locken der Kopfgeldjägerin verschwanden schwungvoll hinter der Wagenplane. »Ich bin ganz Ihrer Meinung, Mr. Lassiter.«
☆
Etliche Jahrzehnte vor dem Tag, an dem aus Fort Stokes die gleichnamige Ortschaft geworden war, hatte ein verheerender Präriebrand das Gras auf über neunhundert Morgen Land vernichtet und den Tawakoni-Stamm darauf ein für alle Mal vertrieben. Das Feuer hatte fünf Tage und Nächte in Folge gewütet und alles in Asche verwandelt, das sich ihm in den Weg gestellt hatte.
An manchem Morgen wünschte sich Don Robertson ein solches Inferno zurück.
Der älteste Sohn der Robertson-Familie stellte sich oft vor, wie die Flammen über den Indian Hills emporloderten und sich mit tödlichem Gleichmut durch das hüfthohe Büffelgras fraßen. Sie verbrannten Büsche und Sträucher, ab und zu einen schwächlichen Gabelbock und würde auch vor der Robertson-Farm mit ihrer markanten Scheune und dem gedrungenen Farmhaus nicht haltmachen.
Das Feuer würde etwas von Endgültigkeit haben.
»Hammer.«
Die knarrende Stimme seines jüngeren Bruders Burrell riss Don aus seinen Gedanken und lenkte seine Aufmerksamkeit auf den schadhaften Weidezaun zurück. Sie hatten den Zaun schon vor zwei Wochen reparieren sollen, oder – wie Don jetzt dachte – zehn Tage vor dem Tod ihres Vaters. Es war Burrells Vorschlag gewesen, damit zu warten, bis Burrell aus Whitefield zurück war.
»Hammer!«, verlangte Burrell erneut und starrte Don vorwurfsvoll an. Er kniete in der matschigen Erde und hielt mit einer Hand die Querlatte fest. »Bist du taub geworden?«
»Spiel dich nicht so auf, Burry!«, knurrte Don und zog den Hammer aus der Satteltasche. Er reichte seinem Bruder das Werkzeug und sah zu den Kuppen der Indian Hills hinüber. »Ist ’ne Weile her, dass wir hier draußen waren. Das letzte Mal mit Earnest, glaub’ ich.«
Sie nannten ihren Vater seit jeher beim Vornamen, weil es vor den Erntehelfern dann keine Umgewöhnung mehr bedurfte, wenn sie einander rufen wollten. Als sie jünger gewesen waren, hatte ihr Vater sogar eine Weile auf die Anrede Sir bestanden.
»Nagel«, sagte Burrell und streckte die Hand in die Höhe. »Ich sag’ dir, der Dreck hält wie ein verdammter Rinderschwanz. Es wackelt und zappelt bei jedem Schlag.«
Don kramte in den Hosentaschen nach einem Nagel und gab ihn Burrell. Er erinnerte sich gut daran, dass er Burry einmal dafür verdroschen hatte, dass er ihm nicht rechtzeitig einen Nagel gebracht hatte. Die Zeiten änderten sich, und die Robertson-Farm fünfzehn Meilen nördlich von Stokes war keine Ausnahme.
»Willst du immer noch weg?«, fragte Burry und hämmerte auf das Querholz ein. »Ich hab’ in Whitefield einen Haufen Stellenzettel gesehen. Könnten gut Dollars machen dort unten, verstehst du?«
Noch immer verharrte Don mit dem Blick auf den Hügelkuppen, die schon seine Sehnsüchte verkörpert hatten, als er kaum sieben Jahre alt gewesen war. Er hatte das Stokes-Becken nie gemocht, so oft ihm sein Vater auch dessen Vorzüge erläutert hatte.
Fettes Gras ist der Anfang von allem, Junge.
Am Anfang hatten sie nur Mais und Rüben angebaut, ehe ihnen ein windiger Saatgutkrämer aus Blakeson zweihundert Sack Weizen eingeredet hatte. Das Getreide war so schlecht aufgegangen, dass Earnest noch im selben Jahr die ersten Rinder angeschafft hatte. Sie wären sonst nicht über den Winter gekommen.
»Ich geh’ nicht weg«, sagte Don und kniete sich neben den Zaunpfosten. Er hielt den Querbalken fest, während Burry aus Leibeskräften dagegen hämmerte. »Ich lasse Mutter jetzt nicht im Stich.«
Das Farmhaus mit dem flach abgeschrägten Dach lag hinter einem Erdwall, der im Winter den Sturm abhielt und im Sommer die schwülen Südostwinde. Sie hatten es gemeinsam errichtet, Earnest, Burry und er, und es war selten vorgekommen, dass sie sich einen Tag lang miteinander vertragen hatten.
»Wir könnten sie mitnehmen«, sagte Burry und zog sich einen Nagel aus dem Mund. Er hatte zwei von ihnen zwischen den Lippen. »Es tut ihr nicht gut, an ’nem Ort zu bleiben, an dem ihr Mann umgekommen ist. Ich kenne sie. Die Prärie macht sie krank.«
Die Brüder hatten nie verstanden, was ihre Mutter an Earnest gefunden hatte, diesem jähzornigen Patriarchen, der sie allein gelassen hatte, sobald es um seine Angelegenheiten ging. Sie hatten die Mutter in ihrer Kammer weinen hören, und sie hatten darüber schweigen müssen, weil Virgie nie einen Ton darüber verlor.
»Mutter verkauft die Farm nicht«, meinte Don und gab seinem Bruder einen weiteren Nagel. »Sie würde ums Verrecken nicht aus Stokes weggehen. Die Scheune … Du weißt, was mit der Scheune war.«
Der Sturm hatte das Scheunendach weggefetzt, im Winter vor zwei Jahren, und Earnest hatte noch in der Nacht damit begonnen, den Schaden zu beheben. Er war mit seiner schweren Kutte bis auf den First hinaufgestiegen und hatte die Löcher mit Planen und Latten gestopft.
Danach war die Scheune heilig gewesen.
Bei jedem Streit, den die Söhne mit ihrem Vater ausfochten, hatte sie als Beleg dafür herhalten müssen, dass die Brüder in ihren Betten gelegen hatten, während Earnest der bitteren Winterkälte die Stirn geboten hatte. Sogar Virgie hatte Don und Burry zuweilen damit aufgezogen.
»Hör mir bloß auf damit!«, knurrte Burry und schlug den nächsten Nagel mit besonderer Verve ein. »Ich hätte das verfluchte Ding am liebsten heruntergebrannt.« Er seufzte. »Aber was Mutter angeht, hast du wohl recht. Sie will in Stokes bleiben.«
Der letzte Nagelkopf verschwand im Holz, dann war der Zaun wieder repariert, und Burry erhob sich. Er strahlte Don an, und dem Älteren fiel auf, dass auch an den knabenhaften Zügen seines Bruders die Zeit nicht spurlos vorüberging. Er hatte Fältchen um die Augen bekommen, die sich wie ein flaches Geäder durch Burrys seidenweiche Haut zogen.
»Reiten wir zurück?«, fragte Burry und ließ den Hammer in einem gekonnten Wurf durch die Luft wirbeln. Er war von Kindesbeinen an eine unbeschwerte Natur gewesen. »Oder willst du hier Wurzeln schlagen?«
Schweigend kehrten die Brüder zu ihren beiden Wallachen zurück, die mit den Hufen in der Erde kratzten und im Radius ihres Führstricks alles Gras abgeweidet hatten. Als Don das Werkzeug in der Satteltasche verstauen wollte, erspähte er einen weißen Fleck in der Weite der Prärie.
Er stieß Burry an. »Siehst du das? Dort drüben … Hinter dem alten Ranchweg?«
Der Jüngere der beiden Robertson-Brüder stülpte die Lippen nach vorn und spähte unwillig über den Sattel seines Pferdes hinweg. Er winkte ab und setzte den Stiefel in den Steigbügel. »Wird nichts weiter sein, Bruderherz. Ist vielleicht ein Fetzen, den’s von der Schutzhütte gerissen hat.«
Ohne ein Wort zu erwidern, folgte Don mit den Augen dem flatternden Weiß, das wie ein loses Segelboot durch das Büffelgras trieb. Er ließ es nicht aus dem Blick, bis er gewiss war, dass er einen langsam dahinrollenden Planwagen aufgespürt hatte. »Verdammt, Burry. Es sind Leute … Siedler vielleicht.«
»Siedler?«, wiederholte Burry zweifelnd. »Glaub nicht, dass sich ein Siedlertreck auf unser Land verirrt. Könnten aber die Wanderarbeiter sein, von denen Mutter erzählt hat.« Er griente. »Sie plappert den halben Tag davon.«
Don furchte die Stirn und schwang sich in den Sattel.
☆
Die beiden Pferde ließen bereits träge die Köpfe hängen, als der Planwagen auf den ausgefahrenen Karrenweg einbog und durch eine Reihe von tiefen Erdmulden holperte. Die Tiere hatten am Anfang kräftig gezogen und sich nach einiger Zeit dem gemächlichen Tempo geschlagen gegeben, das Lassiter mit der Peitsche vorgab.
»Ostküste?«, fragte der Mann der Brigade Sieben und legte die Zügel in die rechte Hand. Er wandte den Kopf zu seiner Sitznachbarin. »Sie kommen von der Ostküste?«
»Ricksfield«, erwiderte Evie und nickte. »Ricksfield, Virginia. Mein Vater war Matrose und Deckhelfer, schrubbte tagein, tagaus Planken. Ich bin zwischen Teerfässern und Fischernetzen groß geworden.«
Sie hatten wenig miteinander gesprochen, seit die Häuser von Stokes wie schwarze Bretterverschläge in der Prärie hinter ihnen zurückgeblieben waren. Bei der Handvoll Worte, die sie zusammen gewechselt hatten, war es ausschließlich um ihren Auftrag auf der Robertson-Farm gegangen.
»Washington scheint Ihnen zu trauen«, sagte Lassiter und verzog den Mund zu einem schiefen Grinsen. »Es kommt nicht oft vor, dass eine Frau bei meinem Mittelsmann sitzt.«
»Weil Sie die Weiber sonst ins Bett zerren?«, parierte Evie und spie aus. »Ich kenne Kerle wie Sie. Eine Frau ist für Sie eine hübsch ausstaffierte Trophäe.« Sie blickte auf das im Wind wogende Büffelgras. »Sie würden sich wundern, wozu mancher Rock fähig ist.«
Der heilige Zorn seiner Gefährtin ließ Lassiter an die Dutzenden starken Frauen denken, denen er in den vergangenen Jahren begegnet war. Sie hatte ihm allesamt Ähnliches gesagt, und aus ihren Worten hatte stets die gleiche Kränkung gesprochen. »Ich bin nur erstaunt, Miss Jackson. Um mehr geht es nicht.«
»Erstaunt!«, zischte Evie verächtlich. »Erstaunt darüber, dass ich Kopfgeldjägerin bin? Ich wollte nicht das gleiche Schicksal haben wie mein Vater, der für einen Hungerlohn seine Seele verkauft hätte. Ich wollte gute Dollars, und ich wollte sie auf gleiche Weise verdienen, wie sie sich ein Kerl beschaffen würde.«
»Mit dem Buntline?«, meinte Lassiter und wies auf den Colt mit dem verlängerten Lauf, der in Evies Holster steckte. Er hatte die Waffe bereits in Stokes längere Zeit begutachtet. »Mit ein paar Toten jeden Monat?«
»Auf mein Gewissen kommen vier Tote«, stellte Evie klar. »Durch die Bank weg hatten sie es verdient. Es waren Mörder, Spekulanten und Diebe. Ich gab ihnen Gelegenheit, sich zu ergeben, aber sie taten’s nicht.« Sie drehte den Kopf zur Seite. »Was ist mit Ihrem Remington?«
Die Toten, in deren Leibern eine.38er-Kugel aus Lassiters Remington steckte, hätte der Mann der Brigade Sieben nicht zählen können. Er wusste von ihnen, dass sie die Schüsse gleichfalls verdient hatten, und mehr gab es darüber nicht zu sagen. »Solche Angelegenheiten sind kein Wettbewerb, Miss. Ich habe getan, was notwendig war, um die Interessen unseres Landes zu schützen.«
Der Wind griff in das Büffelgras neben dem Planwagen und drückte es wie eine dahinbrausende Brandungswelle zu Boden. Das prall gespannte Segeltuch hinter ihnen stemmte sich knatternd gegen die Böen.
»Ich habe meinem Land auch gedient«, sagte Evie und lehnte sich auf dem Kutschbock nach vorn. »Aber ich tat es auf meine Weise. Ich habe die Gattin von Präsident Cleveland geschützt, und seine Söhne. Ich bin eine verdammt gute Schützin.« Sie stockte und hob den Kopf. »Lassiter!«
Von der Robertson-Farm hielten zwei Reiter in raschem Galopp auf sie zu. Die Männer waren mit wehenden Staubmänteln begleitet und machten sich nicht die Mühe, ebenfalls den Karrenweg zu benutzen.
»Wooaah!«, rief Lassiter und brachte die beiden Pferde aus dem Hanford Livery Stable zum Stehen. Er sah zu Evie und presste die Lippen zusammen. »Es wird ernst. Ab jetzt bist du meine Frau.«
Die beiden Reiter erschienen auf der Hügelkuppe nördlich des Weges und hielten in respektvollem Abstand an. Sie waren jung und sprachen sich einen Moment lang untereinander ab.
»Hey da!«, rief der Ältere von beiden und reckte den Arm in die Höhe. »Sie durchqueren gerade unser Land, Sir. Mein Bruder und ich sind in Sorge, dass Sie’s nicht gut mit den Robertsons meinen.«
Langsam ließ Lassiter die Zügel sinken und drehte sich auf dem Kutschbock zur Seite. Er schob sich den Hut aus der Stirn und tippte sich mit zwei Fingern an dessen Krempe. »Nichts für ungut. Meine Frau und ich suchen nach Arbeit. Ich hörte, Sie hätten Arbeit für uns.«
Die Männer im Sattel ritten den Hügel hinunter und umrundeten den Planwagen von hinten. Sie nickten Evie zu und betrachteten die Pferde am Fuhrwerk.
»Dave Hanford«, sagte der Ältere. »Sie haben Hanfords Pferde. Ich kenne die zwei Raufbolde.«
»Bisher waren sie brav«, entgegnete Lassiter und lächelte. »Blake Williams heiße ich. Ich komme wegen …« Er griff unter den Kutschbock und zog einen Zettel darunter hervor. »Der Aufruf war in Stokes angeschlagen. Hatten ihn von Mr. Hanford.«
Der ältere Reiter gab seinem Pferd einen Sporentritt und griff nach dem Papier in Lassiters Hand. Er las es und reichte es an seinen Gefährten weiter. »Ist ein Gesuch von unserer Mutter. Sie hat es vor ein paar Tagen herausgehängt. Unser Vater ist … Er ist kürzlich verstorben.«
»Äußerst betrüblich«, sagte Lassiter und senkte beklommen den Kopf, während er nach den Colts im Holster seines Gegenübers spähte. Noch konnten sie niemandem trauen. »Meine Frau und ich, wir suchen bloß nach Arbeit. Anständige Arbeit für anständigen Lohn.«
Der Berittene gab ihm das Gesuch zurück und richtete sich im Sattel auf. »Don Robertson ist mein Name. Ich bin der älteste Sohn von Earnest D. Robertson.« Er drehte sich halb um. »Der andere Kerl ist mein Bruder Burrell.«
Der jüngere Robertson antwortete mit einem Kopfnicken und schloss zu Don auf. Er maß Evie mit einem langen Blick und wies mit der rechten Hand zur Farm. »Sie können das alte Quartier unseres Rittmeisters haben. Es ist nichts sonderlich bequem, aber sie werden es mit der Zeit mögen.« Er lächelte kühl. »Oder sehen Sie’s anders, Ma’am?«
»Ganz und gar nicht«, entgegnete Evie rasch und gefasst. »Sie müssen sich um nicht sorgen. Ich folge meinem Mann überallhin. Er trifft kluge und weitsichtige Entscheidungen.«
Die Brüder schauten sich kurz an, bevor Don wieder das Wort an sich riss. »Hören wir gern, Ma’am! Die Farm braucht gerade jede Hand, die sie bekommen kann. Ich schlage vor, dass Sie und Ihr Mann das Heumachen übernehmen.«
Lassiter nahm die Zügel auf und schnalzte mit der Zunge. »Gern! Dafür sind wir gekommen!«
☆
Drei Wochen gingen ins Land, in denen Lassiter und Evie kaum etwas anderes taten, als das gemähte Büffelgras von den östlichen Weiden mit dem Lastgespann zum Hof der Robertson-Farm zu fahren. Sie füllten den Heuspeicher über der Scheune bis unters Dach und erschlichen sich bei den gemeinsamen Abendessen im Haus allmählich das Vertrauen des Brüderpaares.
Virgie Robertson dagegen begegnete ihnen zunehmend mit Abneigung.
Die Witwe kam fast nie aus dem Haus, obgleich das Gesuch aus Stokes von ihr aufgesetzt worden und sie bei der ersten Begegnung mit Lassiter und Evie guter Dinge gewesen war. Sie verkroch sich in ihrer Kammer, stellte Lassiter nach einiger Zeit fest, und überließ die Geschicke der Farm ihren Söhnen.
Don und Burry wurden jeden Tag gereizter deswegen.
»Verdammte alte Krähe!«, entfuhr es Don eines Tages vor Lassiter. Er hatte soeben sein Pferd gesattelt und wollte zu den Hügeln reiten, bei denen Burry und er eine frische Wasserquelle gefunden hatten. »Sie wird uns umbringen mit ihrer Miesepeterei. Die verfluchte Farm verkaufen will sie nicht, und sich drum kümmern auch nicht.«
An einem Sonntagabend schließlich bekam Lassiter mit, dass Burry und Don darüber nachdachten, einen Überfall auf die Eisenbahnlinie bei Clayville zu veranstalten. Die Brüder schienen in Geldnot zu stecken, was Evie darauf schob, dass sie von den fünfzigtausend Dollar, die ihr Vater angeblich besessen hatte, bislang keinen einzigen Cent gesehen hatten.
»Rutsch rüber!«, knurrte Evie und setzte sich neben Lassiter an den Ofen. Sie hatten einen Topf mit Bohnen aufs Feuer gestellt, der leise vor sich hin blubberte. »Oder willst du alleine in die Flammen starren?«
»Was gibt’s dagegen zu sagen?«, erwiderte Lassiter mit einem Grinsen. »Von dir hagelt es doch nur Bosheiten. Ich hätte meinen Frieden damit.«
»Du würdest dich zu Tode langweilen«, stichelte Evie und rührte mit dem Löffel in den Bohnen. »Burry hat mir schon wieder schöne Augen gemacht.«
Die roten Locken der jungen Frau sprangen vor seinem Gesicht auf und ab, indes Lassiter darüber nachgrübelte, ob die Brüder tatsächlich einen Gesetzesbruch planten. Er hatte mit Evie über die Unterhaltung gesprochen, aber sie waren übereingekommen, dass sie zunächst abwarteten. Das größere Hindernis war die störrische Witwe im Haus.
»Ich sollte ihm auf die Finger klopfen«, meinte Lassiter und hob die Brauen. »Immerhin bin ich dein Mann.«
Seufzend schöpfte Evie einen Löffel Bohnen aus dem Topf und schlürfte ihn ab. »Was willst du jetzt hören? Oh, großer Blake, beschütze mich vor dem kleinen Burry?« Sie schlug Lassiter mit dem Löffel gegen die Brust. »Wir müssen herausbekommen, ob an dem Geschwätz über den Eisenbahnraub etwas dran ist.«
»Es sind brave Farmerssöhne«, gab Lassiter zu bedenken. »Sie stürmen nicht hinüber nach Clayville und halten einem Heizer die Winchester unters Kinn. Diese beiden Jungen –«
Vom Hof der Farm her erklang ein durchdringender Schrei, der Lassiter und Evie gleichermaßen zusammenfahren ließ. Sie sahen einander an und sprangen fast gleichzeitig auf.
Rasch fasste Lassiter nach seinem Holstergurt und legte ihn um.
Erst erschien Ron in der Tür und schnappte nach Luft, dann folgte ihm der blasse Burry, der auf der Schwelle fast zusammensackte. Sie brachten kein Wort hervor.
»Was ist geschehen?«, sprach Lassiter sie nacheinander an. »Wer hat dort im Hof geschrien?«
Durch Dons feiste Wangen wanderte ein Zucken, das von seinen bebenden Kiefern verursacht wurde. Er griff Lassiter bei den Schultern, nach einer Weile Evie und schüttelte wieder und wieder den Kopf. »Virgie! Unsere Mutter! Sie ist ausgeraubt worden!«
»Von einem verdammten Nigger!«, keuchte Burry und hielt sich am Türrahmen fest. Er richtete sich auf und blickte wirr um sich. »Es muss Arthur Pools gewesen sein … Arthur Pools …« Er schaute zu Lassiter. »Ein Farbiger aus Stokes! Ich kenne ihn aus der Apotheke von Richard Johnson!«
An die Apotheke an der Mainstreet von Stokes konnte sich Lassiter entsinnen; sie war jedoch geschlossen gewesen, als Evie und er aus der Stadt hinausgefahren waren. Er hatte niemanden in der Nähe des Arzneimittelladens gesehen. »Was ist mit eurer Mutter? Braucht ihr Hilfe?«
»Sie sitzt in der Scheune!«, flüsterte Don und sammelte sich allmählich. »Kommt mit! Sie kann ein paar ruhige Stimmen gebrauchen!«
Draußen herrschte stockfinstere Nacht.
Sie liefen mit den Brüdern zur Scheune hinüber, in der es nach frischem Heu und ausgedörrtem Holz roch. Die Witwe saß breitbeinig an einem Dachpfosten und wischte sich das silberne Haar aus dem Gesicht, als sie den kleinen Trupp in der Finsternis ausmachte. Sie hatte längere Zeit geweint.
»Mutter!«, brach Don das Schweigen und hockte sich neben die alte Farmerin. »Du hättest im Haus bleiben sollen! Du wirst dir den Tod holen!«
»Wen kümmert’s schon?«, versetzte die Alte und winkte unwirsch ab. »Den Earnest haben sie schon, und bei mir wird’s kein Aufwand sein. Die Engel werden mich auf Händen tragen, jawohl.« Sie schluchzte. »Ich hab’ genug gelitten, Kinder. Ich hab’ genug gelitten.«
Nach einem kurzen Blick zu Evie kniete sich Lassiter neben die alte Robertson und stützte sie. Er konnte im Schein von Burrys Petroleumleuchte ihre Fingernägel sehen, die schwarz vor Schmutz waren. »Sind Sie verletzt, Ma’am? Wurde Ihnen wehgetan?«
»Die Totenurkunde hat er!«, stieß die Witwe hervor und riss die Augen auf. »Er hat sie gestohlen! Ein Schwarzer war’s! Schmächtiger Kerl mit Kraushaar … Er wollte die Totenurkunde von eurem Vater!«
Die Brüder richteten die Blicke auf Lassiter, der fieberhaft versuchte, sich ein Bild von der Sache zu machen. Er hatte kaum etwas über den Tod von Earnest D. Robertson gefragt, um keinen Verdacht auf der Farm zu erregen.
»Verfluchter Dreckskerl!«, sagte Burry leise und fuhr sich durch das dunkelblonde Haar. »Ich würde ihm den Arm bei lebendigem Leib ausreißen! Er bestiehlt uns!«
»Arthur?«, fragte Lassiter. »Sie kannten ihn gut?«
»Jeder in Stokes kannte ihn!«, brummte Burry und heischte bei Don Zustimmung. »Er schnorrte sich überall durch, hielt sich mit Almosen über Wasser. Er konnte unseren Vater nicht leiden, weil Earnest ihm im letzten Winter einmal die Arznei verwehrte.« Er schwieg kurz. »Hatte nie auch nur einen Vierteldollar in der Tasche.«
Evie hielt die Arme vor dem Körper verschränkt. »Kennt ihr seine Verstecke? Wisst ihr, wo wir ihn finden können?« Sie deutete auf Lassiter. »Blake und ich … Wir würden nach ihm suchen.«
Aus den Mienen der Brüder sprach Erleichterung. Sie halfen ihrer Mutter auf die Beine und geleiteten sie langsam zum Scheunentor.
»Clayville«, sagte Don und nickte. »Er hat einen Onkel in Clayville, bei dem er etliche Male übernachtet hat. Ich könnte mir vorstellen, dass er sich dort verkriecht.«
☆
Die frostige Nachtluft stach Arthur Poole in die Kehle, als er mit einem ungelenken Sprung über den Zaun hinwegsetzte und reglos in der Dunkelheit verharrte. Er starrte zum Haus seines Onkels Neill, das gemeinsam mit der nahen Bahnlinie der West Coast Railway die Stadtgrenze von Clayville markierte.
Dem jungen Schwarzen schlug das Herz bis zum Hals.
Er lauschte auf das Bellen der Hunde, die angeschlagen hatten, sowie er sich dem Grundstück seines Onkels genähert hatte, und atmete erleichtert durch, als es nachließ und am Ende gänzlich verebbte. Die Fenster im Haus blieben schwarz wie die Nacht.
Gott stehe mir bei!
Die wenigen Gebetszeilen, die Arthur jetzt murmelte, drehten sich im Wesentlichen um die Tat, die er soeben hinter sich gebracht hatte. Er flehte den Herrn an, dass er seine Verfolger zerstreuen und ihm wenigstens für diese Nacht Schutz verschaffen würde.
Vor allem Schutz vor den Robertson-Brüdern.
Geduckt schlich Arthur zum Haus hinüber und klopfte leise gegen die Hintertür. Er wusste, dass Neill in einer Kammer unweit der Tür schlief und ihn hören musste. Arthur hatte so oft hinter diesem Haus gestanden, dass er es nicht mehr zählen konnte.
»Neill!«, zischte Arthur mit seiner hohen Stimme. Er klopfte erneut und duckte sich wieder. »Neill! Ich bin’s Arthur! So mach doch endlich auf!«
Hinter dem Türbrett mit seiner abblätternden Farbe darauf ertönte ein Rumoren, das gleich darauf zu schlurfenden Schritten wurde. Neill schloss ihm auf und steckte den Kopf heraus. »Was willst du?«, knurrte der alte Schwarze mit dem grauen Schopf und musterte ihn von Kopf bis Fuß.
»Nur eine Bleibe, Onkel Neill!«, beteuerte Arthur und schaute kaum vom Boden auf. »Ich hab’s getan! Ich hab’ es dabei!«
Das faltige Gesicht seines Onkels zuckte für einen Moment. »Du warst auf der Farm? Du hast die verdammte Urkunde?« Er hieb mit der Faust gegen die Tür. »Verflucht, ich hab’ dir gesagt, du sollst dir einen Monat oder zwei damit Zeit lassen.«
Die schroffen Worte seines Onkels versetzten Arthur in noch größere Aufregung. Er hatte seine Anstellung in der Apotheke aufgegeben, um dieses Stück Papier von der Robertson-Farm zu stehlen. Er hatte es auf Neills Rat hin getan. »Ich … konnte nicht mehr, Onkel Neill. Ich hielt es nicht mehr aus.« Er starrte sein Gegenüber an. »Du hast es verlangt! Du wolltest es!«
Knurrend trat Neill zur Seite und ließ seinen Neffen herein. Er wies mit der Hand auf Arthurs schlammige Schuhe und gab ihm eine Bürste. »Schlepp bloß nicht die ganze Prärie mit hinein! Komm mit in die Küche und zeig mir die Beute!«
Bis zu der Sache mit Robertson hatte Arthur kaum etwas mit Neill zu schaffen gehabt, obgleich Clayville kaum einen Stundenritt von Stokes entfernt lag. Sie hatten sich an Weihnachten und Ostern gesehen, waren gemeinsam in die Kirche gegangen und hatten über Missouri und die übrigen Verwandten dort gesprochen.
Neill hatte von Arthur nie viel gehalten.
»Da hast du’s, Onkel!«, sagte Arthur und warf die zerknitterte Urkunde auf den Tisch. Er hatte sie vor wenigen Stunden aus dem Sekretär von Virgie Robertson gerissen und die Witwe dabei grob zu Boden gestoßen. »Ist es richtig so?«
Der ältere Farbige wischte sich mit dem Finger über die Nase und faltete die Urkunde mit der anderen Hand auseinander. Er las das Bündel Zeilen darauf, das Arthur so rätselhaft wie ägyptische Hieroglyphen geblieben war.
»Wer ’nen Doc umlegt«, sagte Neill nach einer Weile, »muss sich in acht nehmen. Sie haben ihn fast noch seziert, um rauszubekommen, woher die Kugel kam.« Er lächelte Arthur kühl an. »Ich glaub’, du hast dir noch einmal den Hals gerettet, Junge.«
Von Arthurs Herz rutschte eine zentnerschwere Last.
Er wäre seinem Onkel gern um den Hals gefallen, so glücklich war er über dessen Worte, aber er wusste, dass Neill ihn mit einem Anflug von Ekel von sich gestoßen hätte. Er war zornig über die Einfalt seines Neffen, hatte er einmal Arthurs Mutter anvertraut, im festen Glauben, dass Arthur ihn nicht hören konnte.
»Freu dich nicht zu früh!«, brummte Neill und rollte die Urkunde säuberlich zusammen. Er ging zum Küchenschrank hinüber, zog eine Schublade heraus und kehrte mit einem Stück Bindfaden zurück. »Die Robertsons werden dich dabei jagen. Sie haben die Urkunde nicht ohne Grund ins Haus gebracht.« Er band die Papierrolle mit dem Faden zusammen. »Kein Marshal hat sie je zu Gesicht bekommen.«