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Die Zelle befand sich im unteren Stockwerk, ungefähr sechs Meter vom Wachraum entfernt. Sie war gut zwei Meter hoch, anderthalb Meter breit und etwas mehr als zwei Meter lang. Die Wände bestanden aus roh behauenem Granit. Die Tür war aus solidem Eichenholz gezimmert und mit dicken Stahlbändern verstärkt.
In der Zelle gab es eine eiserne Bettstelle, die mit zwei Haken an der Wand befestigt war. Sie konnte bei Nacht heruntergelassen und bei Tage hochgeklappt werden. Der Rahmen war nicht ganz zwei Meter lang und etwa achtzig Zentimeter breit. Heruntergeklappt nahm das Bett fast den gesamten Platz in der Zelle ein.
Ein Strohsack lag darauf. Das Kopfpolster, ebenfalls mit Stroh gefüllt, war noch schmutziger als die Matratze. Für Bettwanzen war es hier viel zu kalt. Die dünne dunkelgraue Decke stank nach Schweiß und allen möglichen anderen Dingen.
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Seitenzahl: 187
Veröffentlichungsjahr: 2022
Cover
WENN LASSITER IN DIE HÖLLE SPUCKT
Vorschau
Impressum
WENN LASSITER IN DIE HÖLLE SPUCKT
von Jack Slade
Die Zelle befand sich im unteren Stockwerk, ungefähr sechs Meter vom Wachraum entfernt. Sie war gut zwei Meter hoch, anderthalb Meter breit und etwas mehr als zwei Meter lang. Die Wände bestanden aus roh behauenem Granit. Die Tür war aus solidem Eichenholz gezimmert und mit dicken Stahlbändern verstärkt.
In der Zelle gab es eine eiserne Bettstelle, die mit zwei Haken an der Wand befestigt war. Sie konnte bei Nacht heruntergelassen und bei Tage hochgeklappt werden. Der Rahmen war nicht ganz zwei Meter lang und etwa achtzig Zentimeter breit. Heruntergeklappt nahm das Bett fast den gesamten Platz in der Zelle ein.
Ein Strohsack lag darauf. Das Kopfpolster, ebenfalls mit Stroh gefüllt, war noch schmutziger als die Matratze. Für Bettwanzen war es hier viel zu kalt. Die dünne dunkelgraue Decke stank nach Schweiß und allen möglichen anderen Dingen.
Dieser Roman erschien erstmals im Jahr 1971 als Lassiter-Taschenbuch Nr. 10 als Übersetzung aus dem Amerikanischen. Originaltitel: Gunfight at Ringo Junction
An einer Wand gab es einen Klapptisch, siebzig Zentimeter hoch, achtzig Zentimeter lang und vierzig Zentimeter breit. Dazu einen Schemel. Ansonsten gab es noch eine Blechtasse, ein Eisenmesser ohne scharfe Schneide, eine Gabel, einen Löffel, eine dicke dunkelfarbene Flasche mit minderwertiger Melasse. Und einen Kübel.
Lassiter hatte schon schlechtere Gefängnisse von innen gesehen als dieses hier in Trail, Britisch-Kolumbien.
Frühmorgens ging ein Kalfakter herum und teilte die fettige Suppe aus. Die Schüssel wurde durch ein Loch am unteren Ende der Zellentür hereingeschoben. Einen Brotkanten warf er durch die Gitterstäbe hinterher. Später kam er mit einer riesigen Kaffeekanne zurück und füllte die Blechtassen, die von den Gefangenen durch die Gittertür nach draußen gehalten wurden.
Bei der Kaffeepause wurde Lassiter vom Kalfakter, einem alten, sabbernden Schotten, dahingehend informiert, dass die Suppe an sich nicht zur regulären Gefängnisverpflegung gehörte. Lassiter würde dafür bezahlen müssen. Er sagte dem Kalfakter, dass sich sein Geld — zusammen mit Gewehr und Revolver — im Büro des Gefängnisaufsehers befanden.
»Sechsunddreißig Dollar, um genau zu sein«, krächzte der Kalfakter und versprühte beim Sprechen Speichel. »Dafür kannst du dir für 'ne ganze Weile Suppe leisten.«
Lassiter hatte eine Frage.
»Und wenn ich nun gar keine Suppe will?«
»Ich an deiner Stelle würde sie lieber nehmen«, sagte der Schotte. »Der Aufseher wünscht, dass alle zahlungskräftigen Gäste die Suppe nehmen. Sie brauchen sie ja nicht zu essen.«
Lassiter sagte, dass fettige Suppe seine Lieblingsmahlzeit sei.
»So ist's recht«, sagte der Schotte anerkennend. »Aber außer der Suppe gibt's hier auch noch 'n paar andere Vergünstigungen... solange das Geld reicht. Die Melasse gibt's ja umsonst, aber sicher möchtest du doch richtigen Zucker für deinen Kaffee, oder? Und natürlich auch 'n bisschen geräucherten Fisch. Vielleicht wird dir der Aufseher sogar einen Ölofen für deine Zelle erlauben. Einige der anderen Burschen haben solche Öfen. Ist eben alles 'n bisschen teuer hier drin, verstehste? Aber vergiss nicht, dass eben nicht alles reiner Profit ist.«
In der Zelle war es kalt wie in einem Lagerraum für Gefrierfleisch.
Lassiter sagte, dass ihm ein Ölofen gerade recht wäre, ganz gleich, was es kosten sollte.
»Dass du kein Schotte bist, sehe ich auf den ersten Blick«, meinte der Kalfakter und lachte über seinen eigenen Witz. »Yankee, was? Warum bist du überhaupt hier?«
Nach Lassiters Sprechweise zu urteilen, konnte ihn nur ein Kanadier irrtümlich für einen Yankee halten. Für Kanadier waren eben alle Amerikaner Yankees, ob sie nun aus Maine oder Alabama stammten.
Bei seinen nächsten Worten grinste Lassiter.
»Du wirst's mir wahrscheinlich nicht glauben, Opa, aber ich weiß selbst nicht, warum ich hier bin. Ich kam gestern ganz friedlich in die Stadt geritten, als eine Horde dieser Milizleute über mich herfiel. Man hat mich auf Verdacht verhaftet, haben sie behauptet. Aber ich habe keine Ahnung, unter was für 'nem Verdacht.«
Der Alte sah unbehaglich drein.
»Na, das wirst du früh genug herausfinden«, meinte er. »Gibt allerhand Ärger hier oben. Du hast dir entschieden 'nen falschen Zeitpunkt für deinen Besuch hier bei uns ausgesucht.«
Die Gefangenen in den anderen Zellen wurden ungeduldig und verlangten lärmend ihren Kaffee.
Bevor der alte Kalfakter weiterging, flüsterte er Lassiter noch rasch zu: »Wenn man dich zu Colonel Cameron bringt, stopf dir vorher lieber 'n Stück Stoff in den Mund. Dann behältst du deine Zähne vielleicht noch 'n bisschen länger.«
Während Lassiter seine Suppe löffelte, ertönte eine Dampfpfeife. Sofort wurde es in den anderen Zellen lebendig. Die Bettstellen wurden krachend hochgeklappt und an der Wand befestigt.
Zwei Wärter in blauen Uniformen, flache Mützen auf dem Kopf, stapften im Zellengang auf und ab, schlossen die Türen auf und brüllten wie Verrückte.
»Strammstehen! Füße zusammen! Hände an die Hosennaht! Gesicht zur Tür!«, schrien die Wärter. »Und Mundhalten! Auf Kommando raustreten, rechts um! Jeder legt die rechte Hand auf die Schulter des Vordermannes! Los, los, dalli, dalli! Links, rechts! Links, rechts!«
Lassiter stand an der Gittertür stramm. Die Tür blieb verschlossen. Ein Wärter ging auf dieser Seite an den Zellen entlang. Seine nagelbeschlagenen Stiefelsohlen knirschten auf dem Steinfußboden. Die anderen Gefangenen traten aus ihren Zellen heraus, machten rechts um, nahmen wie befohlen Aufstellung und marschierten ab, als die Dampfpfeife ein weiteres Signal gab.
Der Wärter am Schluss der Kolonne warf Lassiter im Vorbeigehen einen Blick durch die Gittertür zu. Ein ungeschlachter Mann mit karottenrotem Haar. Er sah aus wie jeder andere Gefängniswärter sonst wo.
Lassiter versuchte gar nicht erst, den anderen anzusprechen. Er würde den Grund seiner Verhaftung schon noch früh genug erfahren, wie der Kalfakter ihn informiert hatte.
Na, willkommen in Britisch-Kolumbien!, dachte Lassiter ironisch und setzte sich auf den Schemel. Aber da eine Posse aus Montana hinter ihm her war, hatte es für ihn nur eine Alternative gegeben... entweder Britisch-Kolumbien oder nichts weiter als einen Strick um den Hals.
Lassiter war noch nie zuvor in Kanada gewesen. Deswegen wurde er hier oben auch nicht gesucht. Und doch hatten die zwanzig oder mehr Milizangehörigen, die ihn von beiden Seiten der Straße angefallen hatten, dreingesehen, als wollten sie ihn auf der Stelle umbringen, falls er es auch nur gewagt hätte, kräftig zu blinzeln. Anfangs hatte Lassiter noch geglaubt, die Männer hätten auf irgendeine telegrafische Anweisung der Behörden in Montana gehandelt, doch davon war kein Wort erwähnt worden. Man hatte ihn nicht einmal nach dem Namen gefragt.
Die alte Wunde im Bein begann unter der Kälte wieder zu schmerzen.
Lassiter wusste zwar nicht, ob der alte Kalfakter es ernst gemeint hatte, aber sicherheitshalber riss er doch zwei Streifen von seinem Hemd ab und bildete daraus eine Art Mundschutz. Nachdem er ihn ausprobiert hatte, steckte er ihn in die Hemdentasche. Falls dieser Colonel Cameron tatsächlich so gemein sein sollte, wie der alte Schotte vorhin behauptet hatte, dann würde später möglicherweise keine Zeit mehr sein für irgendwelche Vorsichtsmaßnahmen.
Nach etwa einer Stunde kam der Kalfakter zurück und stopfte eine schwarz-rote Gefängniskluft durch die Essenluke in der Tür. Es war der gottverdammteste Sträflingsanzug, den Lassiter je gesehen hatte. Ein Hosenbein war schwarz, das andere rot. Das runde Käppi ohne Schirm war ebenfalls halb schwarz, halb rot. Die übrigen Klamotten waren genauso gemustert.
»Reg dich nicht auf, sondern zieh das Zeug an«, riet ihm der alte Schotte. »Und dann gib mir deine Sachen raus.«
Lassiter verschwendete keine Zeit mit nutzlosem Protest, sondern erklärte rundheraus, dass er gar nicht daran dächte, diese Klamotten anzuziehen.
»Geh zurück und sag ihnen, dass sie 'ne Kleinigkeit übersehen haben«, meinte er. »Bisher bin ich weder angeklagt noch verurteilt worden.«
Der Alte zuckte mit den Schultern und schlurfte davon.
Lassiter rechnete mit dem Auftauchen der beiden Wärter.
Nichts geschah.
Gegen Mittag, vier Stunden später, schrillte erneut die Dampfpfeife. Die Gefangenen wurden zum Essen in die Zellen zurückgebracht. Gittertüren klappten. Die Wärter gingen links und rechts im Gang entlang und schlossen die Zellen ab. Danach tauchte der alte Schotte mit dem Suppenwagen auf und teilte das Essen aus. Die Suppe bestand in der Hauptsache aus fettigem Wasser. Kleine Klümpchen aus Knochenmark und Knorpel schwammen darin herum.
»Du bist ja immer noch nicht umgezogen«, sagte der Kalfakter zu Lassiter.
Die Gefangenen marschierten kurz darauf wieder hinaus.
Lassiter löffelte die dünne Suppe versuchsweise, kippte aber sofort das meiste davon in den Kübel. Er probierte einen Schluck aus der Melasse-Flasche, stellte jedoch nur fest, dass auch dies ein Irrtum war.
Als die Gefangenen am Abend zurückgebracht wurden, hatte Lassiter inzwischen die Nase voll von ganz Britisch-Kolumbien. Viel hatte er davon bisher zwar noch nicht zu sehen bekommen, aber das Wenige war schon zu viel.
Zum Abendbrot gab es gesalzenen Fisch, mit Flossen, Haut und Gräten gekocht. Dazu zwei seifige Pellkartoffeln. Kein Kaffee. Kein Brot.
Lassiter fragte den alten Schotten nach Tabak. Er erhielt die lakonische Auskunft, dass der Aufseher ein fanatischer Kirchgänger war und deshalb nichts vom Trinken und Rauchen hielt.
Nur von Durchstechereien, dachte Lassiter grimmig.
Es wurde sehr früh dunkel, und damit wurde die Kälte noch schlimmer.
Die Wärter gingen noch einmal durch den Zellenblock, überprüften die Türschlösser und warnten vor Reden, Flüstern und Singen. Sie warnten vor allem... mit Ausnahme von Schlafen.
Kaum hatte sich jedoch die breite Eingangstür des Zellenblocks hinter den Wärtern geschlossen, als das Tuscheln und Zischen in den Zellen auch schon anfing.
Eine heisere Stimme rief mit französischem Akzent: »He, Yankee! Was hast 'n angestellt?«
Als Lassiter keine Antwort gab, fuhr dieselbe Stimme fort: »He, Yankee? Du in der dritten Zelle! Hörst du nicht? Was hast 'n ausgefressen?«
Wieder gab Lassiter keine Antwort, doch der Bursche blieb beharrlich.
»Warum hat man dich denn eingesperrt, Yankee?«
Lassiter zog die dünne Decke bis zum Kinn hoch und wünschte den lästigen Frager zum Teufel. Konnte der Kerl nicht endlich die Klappe halten und ihn schlafen lassen? Der salzige Fisch, den es zum Abendessen gegeben hatte, rumorte in Lassiters Eingeweiden. Er hatte grässlichen Durst und hätte jetzt liebend gern fünf Dollar für einen kräftigen Schluck Wasser bezahlt.
»Lausiger Yankee!«, rief eine andere Stimme.
Doch das Flüstern verstummte bald, als sich die Kälte und Dunkelheit über das Gefängnis herabsenkten.
Lassiter erwachte, als er sie kommen hörte. Sie gingen wie Männer, die genau wussten, wohin sie wollten und was sie vorhatten. Lassiter hatte schon oft genug in anderen Gefängnissen gesessen. Er kannte dieses Geräusch. Man brauchte es nur dreimal in seinem Leben zu hören, um es nie wieder zu vergessen.
Hastig stopfte er sich den präparierten Mundschutz zwischen die Zähne, dann wartete er und starrte zur Decke empor. Um den Schlaf der übrigen Gäste dieses Hotels kümmerten sie sich einen Dreck. Ein Schlüssel wurde rasselnd ins Schloss gesteckt und herumgedreht. Die schwere Eichentür mit den eingelassenen Gitterstäben wurde aufgerissen. Lichtschein aus einer Laterne erhellte die dunkle Zelle.
»Rauskommen!«, befahl einer der beiden Wärter. »Und die Sachen dort mitbringen! Na los, wird's bald? Links, rechts! Links, rechts!«
Beide Wärter waren große Männer. Größer und vor allem stämmiger als Lassiter. Der Kerl, der so laut herumschrie, verströmte fauligen Atem wie ein Aasgeier... verrottete Zähne, Bier, billige Zigarren. Es stank widerlicher als der offene Kübel in der Ecke.
»Ein Gefangener hat strammzustehen, wenn ein Gefängnisbeamter mit ihm spricht! Los, los, Kopf hoch, Brust raus! Dalli, dalli!«, brüllte er in einem Atemzug. Die Adern an seinem Hals traten dick hervor. Er hielt beide Fäuste geballt.
Lassiter wartete auf einen Schlag, der jedoch nicht kam.
Der andere Wärter verhielt sich wesentlich ruhiger.
»Los, durch die Tür!«, forderte er Lassiter auf, aber als wollte er beweisen, dass er genauso rau sein konnte wie sein großmäuliger Kollege, fügte er hinzu: »Dalli! Dalli!«
Es war ein kleines Gefängnis mit drei übereinanderliegenden Zellenblocks. Lassiter stieg vor den beiden Wärtern eine eiserne Wendeltreppe hinauf, die in den obersten Block führte, wo der Aufseher sein Büro hatte. Hier gab es eine doppelte Tür. Die äußere bestand aus Eisen und hatte in Augenhöhe ein Guckloch.
Der großschnauzige Wärter klopfte mit dem Schlüssel gegen diese Eisentür.
Die innere Tür wurde geöffnet.
Jemand spähte durch das Guckloch in der Eisentür.
Dann wurde ein schwerer Riegel zurückgeschoben und die Eisentür geöffnet.
Lassiter hatte den Aufseher gestern Abend schon gesehen. Der Mann trug eine graue Hose und ein schwarzes Jackett. Sein hängender Schnurrbart wies die gleiche Farbe auf wie seine Hose.
An einer Wand hing ein großes Bild von der Queen Victoria, an einer anderen eine große Landkarte von Kanada. Daneben gab es eine sehr detaillierte Karte von Britisch-Kolumbien.
Die Tür war vom Aufseher geöffnet worden. Hinter seinem Schreibtisch saß einer der größten Männer, die Lassiter je gesehen hatte. Die dunkelblaue Uniform saß wie angegossen. Nur wenn der Mann sich bewegte, strammte sie etwas in den Schultern. Er mochte etwa fünfzig Jahre alt sein, hatte ein derbes, rotes Gesicht, und sein braunes Haar wurde bereits grau. Vor ihm auf dem Schreibtisch standen eine Flasche und ein leeres Glas. Eine frisch angezündete Zigarre — dem Duft nach eine sehr gute und teure — lag auf einer Untertasse, die als Aschenbecher diente. Aromatischer Rauch kräuselte sich zur Decke empor.
Die beiden Wärter stießen Lassiter ziemlich unsanft in die Mitte des Raumes. Dann gingen sie zur Tür zurück und blieben links und rechts davon stehen.
Im offenen Kamin prasselte ein helles Feuer. Es war ein sehr gemütliches Büro, das den Aufenthalt darin zum Vergnügen machte.
Der Aufseher zupfte an seinem Hängeschnurrbart und brummte etwas davon, jetzt nach Hause gehen zu wollen.
»Meine Empfehlung an die Missus«, sagte der große Mann hinter dem Schreibtisch.
Es war offensichtlich, dass der Aufseher vor diesem Mann Angst hatte.
»Mary besteht darauf, dass Sie eines Abends einmal zu uns zum Essen kommen müssen, Colonel«, sagte er zaghaft.
»Es wird mir ein Vergnügen sein«, antwortete der Colonel. »Richten Sie das Mary von mir aus. Sie soll mir einen Platz reservieren. Ich werde sehen, ob ich an einem der nächsten Abende einen Besuch ermöglichen kann.«
Das gefiel dem Aufseher, der nun hastig den Raum verließ und dabei nervös vor sich hin lächelte.
Der großmäulige Wärter schloss die Tür hinter ihm.
Der große Mann hinter dem Schreibtisch stand nicht sofort auf. Er schenkte sich erst einen mittelgroßen Drink ein und leerte das Glas. Dann griff er nach der Zigarre, klopfte die Asche ab und paffte daran. Er ließ sich sehr viel Zeit mit seiner Zigarre. Schließlich sagte er aber doch: »Mein Name ist Cameron. Simon Cameron. Colonel Simon Cameron. Sie werden mich mit ›Colonel‹ oder ›Sir‹ anreden, verstanden? Ich ziehe ›Colonel‹ vor.«
»Sind Sie ein echter Colonel?«, fragte Lassiter.
Cameron lachte laut und herzlich.
»Echt genug!«, sagte er. »Ich bin Colonel der Provinz-Miliz. Der einzige Colonel der Provinz-Miliz. Mit anderen Worten... an Macht und Ruhm komme ich gleich hinter dem lieben Gott.« Er fügte aber doch hinzu: »Jedenfalls hier in Britisch-Kolumbien.«
»Ich stehe voll und ganz zu Ihren Diensten, Colonel«, sagte Lassiter.
Das gefiel Cameron.
»Sehr richtig«, sagte er. »Und jetzt möchte ich Ihren Namen wissen und was Sie hier in Britisch-Kolumbien zu tun haben. Aber ich möchte die Wahrheit wissen und nichts weiter, klar? Wozu die Zeit mit Lügen verschwenden? Wir werden die Wahrheit letzten Endes doch aus Ihnen herausholen.«
Die Story, die Lassiter nun dem Colonel auftischte, entsprang keineswegs einer augenblicklichen Eingebung. Er hatte den ganzen Tag lang sehr sorgfältig darüber nachgedacht. Er war ein herumziehender Cowboy. Das Rindergeschäft in den Staaten war heutzutage nicht mehr das, was es früher einmal gewesen war. Nachdem die großen Schneefälle in den achtziger Jahren das Rindergeschäft im Nordwesten ruiniert hatten, war er vorübergehend Goldgräber gewesen. Aber das hatte auch nicht so recht geklappt. Die letzte freie Weide war eingezäunt worden. Farmer und Lehrer gaben jetzt den Ton an. Ein Mann durfte Samstagnacht nicht mal mehr seinen Colt abfeuern. Er wurde dann wegen Ruhestörung eingelocht. Aber West-Kanada war immer noch groß und leer und offen. Auf dem Zentral-Plateau blühte das Rindergeschäft auf. Man sprach von neuen Gold- und Silbervorkommen, die tagtäglich in den Bergen entdeckt wurden.
Lassiter nannte sich Harvey McCall aus Salter City, Texas. West-Texas, um genau zu sein.
Und warum, zum Teufel, hatte man ihn eigentlich hier in Britisch-Kolumbien ins Gefängnis geworfen?
Cameron hob eine fleischige Hand.
Lassiter verstummte, doch als der Colonel nichts sagte, fuhr er fort: »Ich meine es ernst mit meiner Frage, Colonel! Seit ich in dieses Land gekommen bin, habe ich nichts getan, was eine Verhaftung rechtfertigen könnte! Überhaupt nichts!«
»Strecken Sie Ihre Hände aus!«, forderte ihn der Colonel auf. »Handflächen nach oben!«
Lassiter tat es. Die Hände, die er nun dem Colonel entgegenstreckte, waren gewiss keine Spielerhände. Sie wiesen sogar ein paar Narben und Schwielen auf, aber es war doch schon reichlich lange her, seit Lassiter zum letzten Mal ein Lasso geschwungen oder eine Schaufel angepackt hatte.
»Nun ja...«, sagte Cameron und betrachtete Lassiters derbknochige Hände. Kein weiterer Kommentar folgte auf diese beiden lakonischen Worte. Cameron zog den mittleren Schub im Schreibtisch des Aufsehers heraus und suchte nach einem Schlüssel. Als er ihn gefunden hatte, warf er ihn dem großschnauzigen Wärter zu und sagte: »Wir wollen uns doch mal die Waffen dieses einfachen Cowboys ein wenig genauer ansehen, ja?« Vorsichtshalber fügte er hinzu: »Überprüfen Sie sie aber vorher, Lecky!«
Lecky öffnete den dicken Panzerschrank in der Ecke des Büros und holte Lassiters Waffengurt mit dem geholsterten 45er-Colt heraus. Bevor er dem Colonel die Waffe samt Gurt reichte, überzeugte er sich davon, dass die Munition aus der Trommel entfernt worden war.
»Das Gewehr ist eine ganz gewöhnliche 44 – 40er Winchester«, sagte Lecky. Er war sichtlich stolz auf sich selbst, als er seinen Posten hinter Lassiter wieder einnahm.
Cameron sah sich Lassiters Revolver sehr genau an, brauchte dazu aber nicht länger, als unbedingt nötig war.
Lassiter stand stocksteif da, als Cameron schließlich die leere Waffe auf den Bauch des Gefangenen richtete. Trockenes Klicken echote durch den Raum, als der Colonel den Hammer mehrmals rasch hintereinander betätigte.
Als Cameron schließlich hinter dem Schreibtisch aufstand, ohne die leere Waffe aus der Hand gelegt zu haben, wirkte er wie ein ausgewachsener Grizzlybär. Ein großes, schwarzpoliertes Holster mit zugeschnallter Klappe baumelte an einem Gurt, der von einem Schulterriemen gehalten wurde, aber trotzdem unter dem Gewicht der schweren Waffe nach unten durchsackte.
»Das ist eine gut präparierte Waffe, McCall«, sagte Cameron. »Der Abzugsbügel ist haarfein zurückgefeilt. Wozu braucht ein schlichter Cowboy wie Sie eine solche Waffe, he?«
Lassiter hatte zwar eine Antwort auf diese Frage parat, doch er kam nicht mehr dazu, sie dem Colonel anzubieten.
Cameron holte unerwartet aus und knallte Lassiter dessen eigene Waffe auf den Schädel. Der Schlag sollte ihn keineswegs umbringen, nicht einmal bewusstlos machen. Es war ein sehr gekonnter Schlag, der auf viel Erfahrung des Colonels schließen ließ.
Lassiter spürte den explodierenden Schmerz in seinem Kopf, dann das Rieseln von warmem Blut. Instinktiv brachte er die Fäuste hoch. Sofort schlug Lecky mit dem schweren Schlüsselbund zu und traf Lassiter im Nacken. Dieser brutale Schlag mit den scharfkantigen Schlüsseln tat viel mehr weh als der Schlag mit dem stumpfen Revolver. Lassiters Knie wurden schwach.
»Halten Sie ihn aufrecht!«, befahl Cameron. Dann brachte er sein Gesicht so dicht an das von Lassiter heran, dass die blauen Äderchen auf der Nase des großen Mannes deutlich zu erkennen waren. Cameron presste die Lippen fest um die Zigarre.
»Sie sind ein Yankee-Revolverschwinger, das sind Sie!«, schrie er Lassiter an. »Und versuchen Sie erst gar nicht, es abstreiten zu wollen, es sei denn, dass Sie noch etwas mehr von dieser Behandlung haben wollen. So, und nun verraten Sie mir einmal, ob Ihnen der Name Felix Papineau etwas bedeutet.«
Lecky hatte einen Arm um Lassiters Hals geschlungen, die andere Hand ins Haar verkrallt. Es war also für Lassiter gar nicht so leicht, jetzt den Kopf zu schütteln.
Cameron versetzte ihm einen gemeinen Schlag mit dem Handrücken auf den Mund, um Lassiter zu verstehen zu geben, dass dies eben die falsche Antwort gewesen war. Um dafür zu sorgen, dass die nächste Antwort besser ausfallen würde, schlug der Colonel gleich noch einmal zu.
»Und was ist mit Ballard Mackenzie?«, fragte Cameron. »Das ist doch wohl ein Name, den Sie kennen sollten, oder?«
Der Colonel gab Lecky einen Wink, Lassiter wieder loszulassen.
»Bringen Sie unseren Yankee-Freund nur nicht gleich um«, sagte er.
Lassiters nächste Antwort brachte ihm erneut einen Faustschlag des Colonels ein. Cameron ließ gleich zwei weitere folgen. Lassiters Augen nahmen einen leicht glasigen Ausdruck an.
Durch den Nebel in seinem Kopf hörte er, wie der Colonel den Wärtern befahl, einen Stuhl zu holen und Whisky einzugießen. Der Whisky brannte auf den aufgeplatzten Lippen, und der Stuhl wurde ihm von hinten so heftig gegen die Kniekehlen gerammt, dass es ihm glatt die Beine unter dem Leibe wegschlug. Mit einem harten Plumps kam Lassiter zum Sitzen.
Es war heiß im Büro.
Cameron schnallte seinen Waffengurt ab und legte ihn samt Holster auf den Schreibtisch. Dann zog er den blauen Uniformrock aus und hängte ihn über die Stuhllehne. Der Colonel trug ein hellrotes Hemd, das an den Achseln durchgeschwitzt war.
Lecky riss Lassiters Hände nach hinten und fesselte sie durch die Stuhllehne hindurch mit Handschellen.
Cameron schenkte noch einen Drink ein und hielt Lassiter das Glas entgegen.
Lassiter sagte gar nichts.
Cameron leerte das Glas selbst. Dann zog er den Stuhl des Aufsehers hinter dem Schreibtisch hervor und setzte sich Lassiter gegenüber.
»Sie kennen also Papineau nicht? Und Sie kennen auch Mackenzie nicht? Das ist ziemlich enttäuschend, mein Freund. Ich könnte sogar sagen, dass Papineau und Mackenzie jetzt selbst sehr enttäuscht wären. Sie planen nämlich die größte Rebellion, die Kanada je erlebt hat. Größer als die Rebellionen, die ihre Vorväter vor fünfzig Jahren angezettelt hatten. Würden Sie mir glauben, McCall, wenn ich Ihnen jetzt sage, dass sich die beiden im Ernst einbilden, eine unabhängige Republik Britisch-Kolumbien ausrufen zu können? Dass sie sich sogar zutrauen, sie zu regieren? Natürlich nennen es die beiden nicht so. Sie haben eine andere Bezeichnung dafür. Sie haben sogar eine ganze Menge anderer Bezeichnungen dafür. Genau wie sie eine ganze Anzahl von Vätern haben. Sie haben jedes Halbblut und Viertelblut. Sie haben jeden Franzosen, jeden Russen, jeden Deutschen. Sie haben jeden Yankee-Fremden... und mit ihrem Gefasel von Unabhängigkeit haben sie alle Leute in der Provinz rebellisch gemacht. Aber Sie wissen natürlich nichts davon, was? Überhaupt nichts, he?«
Lassiter hielt den Kopf ganz still. Cameron würde ihn so oder so schlagen. Nachdem Lassiter nun einmal die erste Geschichte aufgetischt hatte, dürfte es gar keinen Zweck haben, jetzt etwas von der Montana-Posse zu erwähnen, die ihn über die Grenze und in diesen Schlamassel gejagt hatte.