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Seit dem frühen Morgen kauerte Lassiter zwischen den Büschen am Hang und beobachtete die kleine Ansiedlung. Sie bestand aus einem Dutzend niedriger, weißgetünchter Adobehütten, die sich wie Küken um das große zweigeschossige Holzhaus scharten, das den alles überragenden Mittelpunkt der Ortschaft bildete. Es war das Haus des Reservationsagenten. Außer der Agentur beherbergte es einen General Store und einen kleinen Saloon.
Lassiter hatte sich alle Einzelheiten genau eingeprägt. Es war wichtig für ihn, lebenswichtig. In seiner augenblicklichen Situation konnte schon ein winziger Fehler tödlich sein.
In einem der Corrals hinter dem Agenturgebäude standen sechs Pferde, denen man ansah, dass sie hart geritten worden waren. Die sechs Männer, die mit ihnen gekommen waren, hielten sich noch immer im Haus auf. Erst wenn sie verschwunden waren, konnte es Lassiter wagen, sein Versteck zu verlassen.
Sechs harte Burschen, das war auch für Lassiter zu viel.
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Seitenzahl: 188
Veröffentlichungsjahr: 2023
Cover
LASSITER UND DIE TOCHTER DES HENKERS
Vorschau
Impressum
LASSITER UND DIE TOCHTER DES HENKERS
von Jack Slade
Seit dem frühen Morgen kauerte Lassiter zwischen den Büschen am Hang und beobachtete die kleine Ansiedlung. Sie bestand aus einem Dutzend niedriger, weißgetünchter Adobehütten, die sich wie Küken um das große zweigeschossige Holzhaus scharten, das den alles überragenden Mittelpunkt der Ortschaft bildete. Es war das Haus des Reservationsagenten. Außer der Agentur beherbergte es einen General Store und einen kleinen Saloon.
Lassiter hatte sich alle Einzelheiten genau eingeprägt. Es war wichtig für ihn, lebenswichtig. In seiner augenblicklichen Situation konnte schon ein winziger Fehler tödlich sein.
In einem der Corrals hinter dem Agenturgebäude standen sechs Pferde, denen man ansah, dass sie hart geritten worden waren. Die sechs Männer, die mit ihnen gekommen waren, hielten sich noch immer im Haus auf. Erst wenn sie verschwunden waren, konnte es Lassiter wagen, sein Versteck zu verlassen.
Sechs harte Burschen, das war auch für Lassiter zu viel.
Dieser Roman war der erste LASSITER, der von einem deutschen Autor – Karl Wasser – geschrieben wurde und keine Übersetzung aus dem Amerikanischen ist.
I
Die Sonne stieg. Die Hitze wurde unerträglich. Reglos hockte Lassiter zwischen den verdorrten Creosotbüschen, die nur wenig Schatten spendeten.
Um zwei Uhr wurde eine Tür des großen Hauses geöffnet. Als erster trat Sidney Blood ins Freie. Obwohl die Entfernung zu groß war, um das Gesicht des Mannes zu erkennen, wusste Lassiter, dass es der Wells Fargo-Agent war. Seine große, eckige Gestalt, die Art, wie er den Stetson trug, die geschmeidige Lässigkeit, mit der er sich bewegte, das alles waren die unverkennbaren Merkmale des Mannes, der geschworen hatte, Lassiter zu stellen oder zu töten.
Seit Jahren war Sidney Blood hinter Lassiter her. Er hatte ihm schon oft eine Falle gestellt. Aber Lassiter hatte es noch immer geschafft, zu entkommen.
Vor drei Wochen schien es Sidney Blood endlich geschafft zu haben. Es war in Colorado. Eine Geldsendung wurde von Denver nach Grand Junction transportiert. Sidney Blood hatte Wind davon bekommen, dass Lassiter sich in Colorado aufhielt. Überall ließ er die Nachricht verbreiten, an welchem Tag die Kutsche mit den zweihunderttausend Dollar die Hauptstadt verlassen würde.
Lassiter brauchte Geld. Zusammen mit drei anderen Männern stoppte er die Kutsche fünfzehn Meilen nördlich von Colorado Springs. Alles ging glatt, viel zu glatt. Der Kutscher und der Begleitfahrer streckten sofort die Hände zum Himmel. Die vier bewaffneten Agenten ergaben sich ebenfalls, ohne einen Schuss abzufeuern.
Lassiters Partner schleppten die schwere, eisenbeschlagene Kiste aus der Kutsche. Ein Stück abseits vom Weg machten sie sich sofort über die Kiste her. Sie konnten es kaum erwarten, das Geld in den Fingern zu haben. Die Gier wurde ihnen zum Verhängnis. Lassiter hatte gerade die Wells Fargo-Leute ein Stück von der Kutsche weggetrieben, als eine gewaltige Detonation die Erde erzittern ließ. Lassiter und die Männer von Wells Fargo wurden von der Druckwelle zu Boden gerissen. Von Panik erfasst, rannten die Pferde davon.
Lassiter stand als erster wieder auf den Beinen. Sofort sah er, dass seinen Partnern nicht mehr zu helfen war. Die Explosion der in der Kiste versteckten Dynamitladung hatte sie in Stücke gerissen.
Aber Sidney Bloods teuflischer Plan hatte nur zu einem Teil geklappt. Wieder einmal konnte Lassiter entkommen. Seine Verfolger waren ihm schon bald auf den Fersen. An ihrer Spitze Sidney Blood. Lassiter kam nicht mehr zur Ruhe. Auf einem gestohlenen Pferd ritt er quer durch Colorado. Als er das Indianerterritorium erreichte, fühlte er sich einigermaßen sicher. Doch Sidney Blood ließ nicht locker. Seine Sondervollmachten gingen so weit, dass Lassiter auch bei einigen indianischen Freunden keinen Unterschlupf finden konnte, ohne deren Sicherheit zu gefährden.
Seit zwei Tagen besaß Lassiter kein Pferd mehr. Es war an einem Klapperschlangenbiss verendet. Vor zwanzig Stunden hatte er den letzten Bissen zu sich genommen. Ebenso lange war er ohne Wasser. Wie lange noch? Erst wenn Sidney Blood mit seinen fünf Begleitern verschwunden war, konnte Lassiter hinuntergehen.
Lassiters Augen brannten. Sie waren entzündet vom feinen Alkalistaub. Er spürte auch den Geschmack von Staub in seinem Mund. Staub bedeckte sein Gesicht wie eine feine Puderschicht, lag auf seinen Stiefeln, den Kleidern, dem Hut.
Hinter Sidney Blood waren jetzt auch die fünf Männer aus dem Haus gekommen. Sie gingen zu den Corrals hinüber. Ein mexikanischer Peon trieb frische Pferde heran. Die Männer sattelten und ritten davon.
Lassiter wartete noch. Er besaß die Geduld eines Indianers. Sidney Blood war nicht mit normalen Maßstäben zu messen. Deshalb beging Lassiter nicht den Fehler, jetzt schon loszugehen.
Er wartete bis zum Einbruch der Dunkelheit. Er nahm die Winchester vom Boden auf und marschierte auf die Ansiedlung zu.
Der Saloon befand sich in einem kleinen Nebenraum des General Stores. Eine Theke, ein hölzernes Flaschenregal und vier Tische mit primitiven Holzschemeln bildeten die ganze Einrichtung. An zwei Stellen hingen einfache Petroleumlampen von der Decke herab und sorgten für trübes Licht.
Lassiter nahm an einem Tisch in der Ecke Platz. Er setzte sich so, dass er den Rücken gegen die Wand lehnen und gleichzeitig den ganzen Raum überblicken konnte.
Der Saloonkeeper war ein älterer Mann mit schütterem Haar und zerknittertem Gesicht. Beim Gehen zog er das rechte Bein nach. Lassiter bestellte Whisky und ein Steak. Der Keeper sah ihn misstrauisch an und verschwand in der Küche.
Lassiter war gerade mit dem Essen fertig, als weitere Gäste kamen. Sie blieben am Tresen stehen und spähten manchmal verstohlen zu ihm hin. Er lehnte sich zurück und rollte sich eine Zigarette.
Einer der Männer löste sich vom Tresen. Breitbeinig blieb er vor Lassiter stehen.
Lassiter hatte die Hände vor der Brust verschränkt.
Er machte den Eindruck eines müden Mannes, der leicht zu schlagen sein würde.
Der andere grinste breit und umschloss mit der Rechten den Revolverkolben.
»Lassiter, wie?«
»Kann ich was für dich tun?«, fragte Lassiter zurück.
»Bist du Lassiter, oder bist du es nicht?«
Lassiter nickte gleichgültig. Er hatte keine Lust, sich vor diesem Mann zu verkriechen.
»Ja«, sagte er, »ich bin Lassiter.«
Der Mann zog seinen Colt. Er war sehr schnell – ein ausgekochter Revolvermann.
Lassiter war schneller. Er zog im Sitzen und schoss ohne zu zögern. Die Kugel drang dem Mann mitten in die Brust. Der Mann schrie gellend auf. Und in seinen Schrei mischte sich das Krachen des eigenen Revolvers, den er noch hatte abfeuern können. Er machte noch zwei Schritte auf Lassiter zu und brach zusammen.
Die Hände der anderen drei Männer zuckten nun auch zu den Revolvern. Aber sie zogen nicht.
»Bringt euren Partner nach draußen!«, sagte Lassiter. »Wenn ihr vernünftig seid, bleibt es bei dem einen Toten.«
Die drei brachten ihren toten Partner nach draußen. Später kamen sie wieder. Lassiter verwickelte sie in ein Gespräch. »Gehört ihr zur Agentur?«, fragte er.
»Wir sind auch nur auf der Durchreise«, sagte ein breitschultriger Mann. Ein pechschwarzer Bart rahmte sein Gesicht ein und gab ihm einen düsteren Ausdruck. »Wir waren hinter jemand her. Wenn wir den geschnappt hätten, wäre mehr dabei rausgekommen als die lumpigen fünftausend Bucks, die Wells Fargo auf dich ausgesetzt hat, Lassiter.«
»Ihr seid Kopfgeldjäger?«
»Was dagegen? Es ist ein Beruf wie jeder andere.«
»Du hast recht«, sagte Lassiter. Er grinste. »Irgendwie muss man sein Geld verdienen, wenn man anständig leben will. Hinter wem wart ihr denn her?«
»Cheerokee-Bill.«
Lassiter pfiff durch die Zähne.
»Wieviel bringt er euch denn, wenn ihr ihn schnappt?«
»Nichts mehr«, brummte der Schwarzbart. »Sie haben ihn schon. Sie haben ihn nach Fort Smith gebracht. In spätestens vier Wochen legen sie ihm den Strick um den Hals.«
Lassiter kannte Cheerokee-Bill nicht persönlich. Aber er hatte bereits viel von ihm gehört. Cheerokee war ein Halbblut. Es hieß, dass seine Brutalität alles bisher Dagewesene in den Schatten stelle.
»So ist das«, murmelte Lassiter. »Irgendwann erwischt es jeden. Früher oder später.« Er nickte dem Keeper zu. »Mach noch mal die Gläser voll. Für mich auch einen.«
Der Keeper füllte vier Gläser. Lassiter steckte den Colt ins Holster zurück und stellte sich zu den vier Hombres an den Tresen. Er tat so, als ob überhaupt nichts vorgefallen wäre. Den Kopfgeldjägern schien sein Verhalten zu imponieren. Der Schwarzbart sah ihn anerkennend an.
Leise sagte Lassiter zu ihm: »Fünftausend Dollar sind nicht viel Geld, Amigo. Wenn ihr Geld verdienen wollt, müsst ihr euch schon was Besseres einfallen lassen.«
Der Schwarzbart schüttelte den Kopf.
»Dabei kommt auch nichts raus, Lassiter. Du siehst es an Cheerokee-Bill. Jetzt nützen ihm die hundertfünfzigtausend überhaupt nichts mehr, die er bei seinem letzten Coup erbeutet hat.«
Lassiter horchte auf. Der Mann hatte da gerade eine Summe genannt, die ihn interessierte.
»Das ist eine Menge Holz«, sagte er.
Der Schwarzbart grinste.
»Das Schönste an der ganzen Sache ist, dass Wells Fargo zwar den Mann, aber nicht das Geld hat«, sagte er. »Bis jetzt hat Cheerokee-Bill das Versteck noch nicht verraten.«
»Und er wird es auch nicht tun«, meinte der rothaarige Bursche neben ihm. »Wie ich Bill kenne, wird der sein Geheimnis mit ins Jenseits nehmen.«
Lassiter nickte geistesabwesend. In seinem Kopf formte sich ein Plan. Er hatte vergessen, dass Sidney Blood hinter ihm her war und dass auf seinen Kopf fünftausend Dollar ausgesetzt waren.
Wenn er das schaffte, was er vorhatte, würde Sidney Blood vor Wut platzen. Lassiter musste unwillkürlich grinsen. Er verließ den Saloon. Die drei Kopfgeldjäger unternahmen nichts, um ihn aufzuhalten. Sie hatten erkannt, dass es gesünder war, sich mit Lassiter nicht anzulegen. Die drei verfügten über eine gute Menschenkenntnis. Sie rettete ihnen das Leben.
Auf dem Ladentisch im Store stand eine Glocke. Lassiter läutete. Ein Mädchen tauchte zwischen den Regalen auf. Der gelbe Schein der Deckenlampe fiel auf pechschwarzes Haar. Sie hatte es im Nacken mit einer Spange zusammengerafft. Die Haut des Mädchens war kaffeebraun.
Lassiter sah in große, dunkle Augen. Er blickte auf die vollen, weichen Lippen und den straffen Busen, und das Verlangen nach diesem Mädchen stieg jäh in ihm auf.
Er kaufte Patronen für seinen Colt und die Winchester. Und er ließ sich Proviant einpacken für den Ritt, den er am nächsten Morgen antreten wollte.
Das Mädchen beugte sich über den Ladentisch und begann, die einzelnen Preise aufzuschreiben und die Zahlen zu addieren. Sie war anscheinend noch nicht lange in diesem Job oder aber nur zur Aushilfe hier, denn das Rechnen schien sie über Gebühr anzustrengen.
Aus dem Dunkel, das im hinteren Teil des Raumes herrschte, drang eine harte, befehlsgewohnte Stimme.
»Beeil dich, Lorraine. Ich will nicht noch bis morgen früh hier warten.«
»Immer mit der Ruhe, Mister«, sagte Lassiter grinsend. »Zuerst werde ich bedient, verstanden!«
Lassiter hörte einen Fluch. Ein Mann kam aus der dunklen Ecke und baute sich neben der Mulattin hinter dem Ladentisch auf. Feindselig starrte er Lassiter an und legte den Arm um die Schultern des Mädchens. Seine Hand umfasste eine ihrer Brüste. Die Mulattin ließ es geschehen, ohne etwas zu sagen.
»Siebzehn Dollar«, sagte das Mädchen zu Lassiter. Er zählte das Geld ab und legte es auf den Ladentisch.
»Und jetzt verschwinde!«, fuhr ihn der Mann an. Seine Stimme klang heiser vor Erregung. Er konnte es kaum noch erwarten, mit der Mulattin wieder allein zu sein.
Lassiter grinste ihn spöttisch an.
»Ich habe aber noch keine Lust zu gehen«, sagte er. »Viel lieber möchte ich mich mit der Lady noch eine Weile unterhalten.«
Der Mann sah überrascht auf. Er runzelte die Stirn. Er schien es nicht gewöhnt zu sein, dass jemand so mit ihm sprach.
»Seien Sie vorsichtig, Fremder«, sagte das Mädchen schnell. »Das ist Bull Jenkins. Er wird Ihnen alle Knochen brechen, wenn Sie nicht tun, was er sagt.«
So war das also. Bull Jenkins war der starke Mann hier, vor dem sich alle fürchteten. Mit ihm wollte keiner Streit haben. Und auch die Mulattin musste sich seinen Wünschen fügen, weil sie Angst vor ihm hatte.
Bull Jenkins kam jetzt um den Ladentisch herum. Er trug ein großkariertes Hemd, unter dem sich gewaltige Muskelstränge abzeichneten.
»Ich werde dir nicht nur die Knochen, sondern auch das Genick brechen«, brummte er.
Lassiter legte die Winchester auf die Theke und ließ den Riesen kommen. Er war einen halben Kopf größer als Lassiter und wog mindestens fünfzig Pfund mehr als dieser.
»Wenn du das schaffst«, sagte Lassiter, »hast du gleichzeitig fünftausend Bucks verdient. Ich bin der Mann, hinter dem Sidney Blood her ist.«
Bull Jenkins riss vor Überraschung die Augen weit auf. Dann grinste er breit. Und gleichzeitig schlug er zu.
Der Schlag kam so schnell und für Lassiter unerwartet, dass er nicht mehr ausweichen konnte. Er hatte das Gefühl, von dem Huf eines auskeilenden Pferdes getroffen worden zu sein. Er flog zurück bis zur Wand, stieß gegen einen Stapel voller Mehlsäcke und spürte, wie der Stapel ins Wanken kam. Das Mädchen schrie leise auf.
Lassiter stieß sich nach vorne. Mit einer schnellen Seitwärtsbewegung glitt er an dem erneut angreifenden Bull Jenkins vorbei. Der rannte genau in den zusammenbrechenden Stapel von mindestens zehn prall gefüllten Mehlsäcken hinein.
Lassiter wartete, bis sich Bull unter den Säcken vorgearbeitet hatte. Eine feine Mehlschicht bedeckte den großen Mann von Kopf bis Fuß. Schnaufend stampfte er auf Lassiter zu und hielt plötzlich ein langes Messer in der Hand.
»Jetzt wirst du geschlachtet, Lassiter«, sagte er, und es gab keinen Zweifel, dass er es auch so meinte.
Lassiter konzentrierte seine Aufmerksamkeit auf das Messer. Im Lampenlicht blitzte die Klinge, als Bull Jenkins zustieß. Lassiter packte mit beiden Fäusten das Handgelenk des Gegners. Jenkins stöhnte vor Schmerz auf, aber er ließ das Messer nicht los. Das war sein großer Fehler. Denn Lassiter wandte den Trick an, den er bei dem Japaner Isemurato gelernt hatte. Er drehte sich um die eigene Achse, ein heftiger Ruck am Arm des Riesen, und Bull Jenkins flog durch die Luft. Hart prallte er auf dem Fußboden auf. Mit dem Schädel zuerst. Jenkins blieb liegen wie ein Toter.
Lassiter drehte ihn auf den Rücken. Jenkins würde für die nächsten Stunden bewusstlos bleiben. Lassiter sah zu der Mulattin hin. Ihr Gesicht war aschgrau, der Mund halb geöffnet. Es sah aus, als ob sie schreien wollte, aber kein Laut kam aus ihrer Kehle.
Lassiter zuckte die Achseln.
»Bull ist selbst dran schuld«, sagte er.
»Ich werde Schwierigkeiten bekommen«, sagte das Mädchen. »Wenn der wieder zu sich kommt, bringt er mich um. Er wird seine ganze Wut an mir auslassen.«
»Bringen wir ihn erst mal an die frische Luft«, sagte Lassiter.
Er griff unter die Arme des Bewusstlosen und schleifte ihn in den hinteren Teil des Stores. Die Mulattin öffnete eine kleine Tür, die auf den Hinterhof führte. Schweigend deutete das Mädchen auf den Schuppen, der knapp zwanzig Schritt entfernt lag. Lassiter verstand. Er schleppte Jenkins dorthin und wuchtete ihn auf einen Kastenwagen. Gemeinsam deckten sie ihn mit leeren Säcken zu.
»Ich möchte sein Gesicht sehen, wenn er wach wird«, murmelte Lassiter. »Komm, Lorraine! Lass uns gehen.«
Sie nickte, fasste seine Hand und ging mit ihm zum Haus zurück. Im Store löschte sie die Lampe.
»Komm!«, flüsterte sie. »Mein Zimmer ist oben.«
Über eine morsche, knarrende Stiege gelangten sie ins Obergeschoss. Das Zimmer war klein. Das Mädchen zündete die Lampe an, die auf dem Tisch stand. Wortlos öffnete es die Knöpfe seines langen Leinenkleides. Das Kleid glitt zu Boden, und das Mädchen stand nackt da.
Ihre braune Haut bekam im Lampenlicht einen seidigen Glanz. Ihre Brüste waren klein und fest, die Hüften noch schlank und mädchenhaft.
Lassiter zog sich ebenfalls aus. Er hatte lange keine Frau mehr gehabt, und er konnte es kaum erwarten. Die Mulattin schien es ebenfalls eilig zu haben.
Das Bett war schmal und hart, aber das störte Lassiter nicht. Wochenlang war er durch die Wildnis gezogen und hatte unter freiem Himmel geschlafen.
Die Mulattin besaß wenig Erfahrung. Bull Jenkins musste es sehr an Fantasie mangeln. Doch Lorraine glich das durch ihr wildes, ungezügeltes Temperament aus. Sie gab erst Ruhe, als Lassiter völlig erschöpft war. Dann lagen sie eng nebeneinander, und Lassiter streichelte ihren festen braunen Körper, der einen herben, fremdartigen Geruch ausströmte.
»Ich hatte noch keinen Mann, der so gut war wie du«, sagte sie. »Bull Jenkins hat mich nachher immer geschlagen.«
»Ist er dein Boss?«
»Ja. Ihm gehören der Store und der Saloon. Als ich vierzehn war, hat er mich hierhergebracht. Er hat mich gezwungen, mit ihm zu gehen. Das war vor drei Jahren.«
»Niemand kann dich hindern, von hier wegzugehen, wenn du es willst.«
Sie presste ihren warmen Körper noch enger an ihn.
»Nimm mich mit, Lassiter!«, sagte sie fordernd.
Er schüttelte den Kopf.
»Tut mir leid, Lorraine. Du wärst nur eine Belastung für mich. Ich gehöre zu den wenigen Männern, die sich den Luxus Frau nicht leisten können.«
Draußen wurden Pferde gezügelt. Lassiter und die Mulattin hörten, wie Männer ins Haus kamen. Lassiter dachte an Sidney Blood. Der Agent war ein unberechenbarer Mann. Sehr oft tat er Dinge, die man nicht ahnen konnte.
Lassiter blickte zu seinem Revolvergurt, der drüben an der Stuhllehne hing.
Er sprang aus dem Bett, um die Waffe zu holen. Er kam nicht mehr dazu.
Die Tür wurde aufgestoßen. Sidney Blood sprang in den Raum. Er hielt den Revolver auf Lassiter gerichtet. Er grinste. Ohne Lassiter aus den Augen zu lassen, ging er zum Stuhl, nahm Lassiters Waffengurt an sich und warf ihm die Kleider vor die Füße. Lassiters Stiefeln gab er einen Tritt, dass sie unmittelbar neben den Kleidern liegenblieben.
»Ziehen Sie sich an, Lassiter!« Seine Stimme klang kalt und unpersönlich. Es war zu Sidney Bloods zweiter Natur geworden, jegliche Gefühle völlig aus seinem Bewusstsein zu verdrängen.
Lassiter zog Hemd und Hose an und schlüpfte in die Stiefel. Ebenso lässig wie der Agent sagte er: »Sie haben es wieder einmal geschafft, Sidney. Viermal haben Sie mich in ein Gefängnis gebracht, aber ich bin noch jedes Mal wieder ausgerückt. Freuen Sie sich also nicht zu früh.«
Die fünf Revolvermänner, die Sidney Blood seit Wochen begleiteten, kamen in das Zimmer. Sie warfen begehrliche Blicke zu der Mulattin hin. Sie hatte sich die bunte Wolldecke bis zum Kinn hochgezogen, aber ihre weiblichen Formen waren deutlich zu erkennen.
»Bringt ihn nach unten«, sagte Sidney Blood. »Lasst ihn keine Sekunde aus den Augen. Ihr wisst, wie gefährlich er ist.«
»Ihr werdet es bald erfahren«, sagte Lassiter.
Einer der Revolvermänner trat auf ihn zu. In der linken Hand hielt er den Colt, mit der rechten schlug er zu. Zweimal klatschte der harte Handrücken gegen Lassiters Mund. Seine Lippen platzten auf. Er schmeckte Blut in seinem Mund.
»Lass das, Red«, sagte Sidney Blood. »Wir haben es nicht nötig, Gefangene zu misshandeln. Außerdem ist es verboten.«
»Er hat's nicht besser verdient«, knurrte Red. Er schob den Revolver ins Holster und holte ein Paar Handschellen aus der Rocktasche.
»Na, dann streck mal schön deine Pfoten her«, grinste er.
Lassiter tat, was der Rothaarige verlangte. Allerdings schneller, als der andere es erwartet hatte. Viel schneller. Seine Hände schnellten zu dem Mann hin. Die Rechte traf den Magen. Mit der linken Hand riss er ihm den Revolver aus dem Holster.
Der Mann würgte und krümmte sich vor Schmerz. Lassiter zerrte ihn zu sich heran und hielt ihn wie einen Schutzschild an sich gepresst. Ein Schuss donnerte auf. Einer der Revolvermänner hatte ihn abgefeuert. Lassiter spürte, wie der Mann zusammenzuckte. Er stieß einen unartikulierten Schrei aus. Aus dem Schrei wurde ein qualvolles Stöhnen, und wenige Sekunden später war der Mann völlig still. Sein Kopf sank haltlos zur Seite.
Im Zimmer war es ebenfalls still. Sidney Blood schien Lassiters Anwesenheit vergessen zu haben. Er sah nur den Mann an, der den Schuss abgegeben hatte.
»Idiot!«, sagte Blood und schmetterte ihm die Faust ins Gesicht.
Er wandte sich wieder Lassiter zu, der noch immer den getroffenen Mann an sich gepresst hielt.
»Red ist tot«, sagte einer von Bloods Begleitern. »Jetzt brauchen wir keine Rücksicht mehr zu nehmen, Mr. Blood.«
»Er lebt noch«, sagte Lassiter. »Es liegt an euch, ob er gerettet wird, oder ob er hier in meinem Griff verblutet.«
»Okay«, sagte Blood. »Sie haben gewonnen, Lassiter.«
»Geben Sie mir Ihr Wort, Sidney, dass ich diesen Raum verlassen kann, wenn ich Ihnen den Verwundeten übergeben habe.«
»Sie haben es.«
Lassiter ließ den Mann langsam zu Boden gleiten. Sidney Blood gab Lassiter den Revolvergurt zurück. Ohne Hast ging er hinaus. Auf Blood konnte man sich verlassen. Was er versprach, das hielt er auch. Lassiter hatte schon manches Mal die Gelegenheit gehabt, seinen Feind zu töten. Aber das lag nicht in seinem Interesse. Wenn Sidney Blood nicht mehr lebte, würde Wells Fargo einen anderen Mann auf Lassiter ansetzen. Vielleicht auch zwei. Bei Sidney Blood wusste Lassiter, woran er war. Es hatte sich beinahe eine Art Hassliebe zwischen ihnen entwickelt in all den Jahren. Sidney Blood, Spezialagent von Wells Fargo, und Lassiter. Jäger und Gejagter.
Lassiter trat in den dunklen Flur. Er hörte noch, wie Blood zu den anderen sagte, dass sie sich um den Verwundeten kümmern sollten. Dann traf ein harter Gegenstand Lassiters Hinterkopf. Er griff nach seiner Waffe und warf sich herum. Er wollte den Revolver aus dem Holster zerren. Aber seltsam – sein Arm war wie gelähmt. Er sah die schemenhaften Umrisse eines Mannes vor sich. Der Mann hatte einen Knüppel und schlug erneut zu. Diesmal traf er besser. Lassiter brach in die Knie.
»Ich habe ihn!«, brüllte jemand triumphierend. »Ich hab' Lassiter erwischt!« Es war Bull Jenkins' Stimme.
Lassiter kämpfte gegen die Ohnmacht an, die ihn zu packen drohte. Er kauerte auf dem Fußboden, stützte sich mit beiden Händen, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren.
Wie aus weiter Ferne hörte er die Stimmen von Männern und den verhaltenen Schrei einer Frau. Es war Lorraine, die Mulattin. Lassiter vernahm auch Sidney Bloods Stimme.
Harte Fäuste packten Lassiter. Sie rissen ihn hoch. Vor seinen Augen drehte sich alles. Ihm war übel. Er hatte das Gefühl, sich übergeben zu müssen. Handschellen schlossen sich um seine Gelenke. Die Männer stießen ihn zurück in den Raum. Langsam wurde Lassiters Gehirn wieder klar. Er sah Sidney Bloods Gesicht dicht vor seinen Augen.
»Ich wusste selbst nicht, dass Jenkins im Flur auf Sie lauerte«, sagte der Spezialagent. »Nun, Lassiter, damit haben wir Sie also endgültig. Red ist übrigens tot.«
»Ich habe ihn nicht erschossen.«
»Sie haben genug andere Sachen auf dem Kerbholz. Die reichen für einen soliden Strick, Lassiter.«
Blood wandte sich an Bull Jenkins. »Gibt es hier einen soliden Raum für ihn?«
»Ja. Ich hab' 'nen Keller unter dem Saloon. Ringsum festes Mauerwerk, keine Fenster. Man kommt nur durch eine Falltür rein oder raus. Setzen Sie einen Posten auf die Tür, und Lassiter ist sicherer aufgehoben als in Fort Smith.«
Lassiter wurde nach unten gebracht. Er wechselte einen stummen Blick mit der Mulattin, bevor er das Zimmer verließ. Sie schien seine Nachricht verstanden zu haben.