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Seit einer halben Stunde beobachtete Lassiter die Geier. Sie kreisten träge über einer bestimmten Stelle weiter im Norden und warteten beharrlich. Dass sie noch nicht nach unten stießen, zeigte Lassiter, dass dort noch Leben war. Wahrscheinlich Menschen. Für Lassiter bedeutete es Gefahr, gleichzeitig aber auch Hoffnung. Wo Menschen waren, gab es auch Wasser und Nahrung.
Lassiter hatte seit zwanzig Stunden nichts mehr gegessen. Ebenso lange war seine Wasserflasche leer. Er besaß kein Geld mehr, und seine einzige Waffe war der mexikanische daga, dessen rasiermesserscharfe Klinge in der Scheide an Lassiters Gürtel steckte. Alles andere hatte ihm die Yaquihorde abgenommen, die ihn in der Sierra plötzlich umzingelt hatte. Sein Pferd, das Geld, die Schusswaffen.
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Seitenzahl: 172
Veröffentlichungsjahr: 2023
Cover
LASSITERS GROSSER TOTENTANZ
Vorschau
Impressum
LASSITERSGROSSER TOTENTANZ
von Jack Slade
Seit einer halben Stunde beobachtete Lassiter die Geier. Sie kreisten träge über einer bestimmten Stelle weiter im Norden und warteten beharrlich. Dass sie noch nicht nach unten stießen, zeigte Lassiter, dass dort noch Leben war. Wahrscheinlich Menschen. Für Lassiter bedeutete es Gefahr, gleichzeitig aber auch Hoffnung. Wo Menschen waren, gab es auch Wasser und Nahrung.
Lassiter hatte seit zwanzig Stunden nichts mehr gegessen. Ebenso lange war seine Wasserflasche leer. Er besaß kein Geld mehr, und seine einzige Waffe war der mexikanische daga, dessen rasiermesserscharfe Klinge in der Scheide an Lassiters Gürtel steckte. Alles andere hatte ihm die Yaquihorde abgenommen, die ihn in der Sierra plötzlich umzingelt hatte. Sein Pferd, das Geld, die Schusswaffen.
Er hatte keine Zeit gehabt, sich die Sachen zurückzuholen. Er musste weiter. Er war wie ein angeschossenes Tier, das sich ins Dickicht zurückziehen muss, um seine Wunden zu lecken. Er brauchte dringend eine Verschnaufpause.
Seit ihn Sidney Blood in Manitoba aufgespürt hatte, ließ er ihn nicht mehr zur Ruhe kommen. Lassiter floh bis zur Ostküste, schiffte sich nach Mexiko ein, glaubte, die Verfolger endlich abgeschüttelt zu haben. Aber der Apparat von Wells Fargo arbeitete präzise wie ein Uhrwerk. Sidney Blood ließ nicht locker. In Vera Cruz wurde Lassiter von Bloods Agenten erneut aufgespürt.
Er setzte sich nach Norden ab, tötete einige seiner Verfolger, aber es wurden nicht weniger. Im Gegenteil.
Aber wo waren sie jetzt? Seit dem Zwischenfall mit den Yaquis hatte Lassiter nichts mehr von Verfolgern bemerkt. Nichts wies darauf hin, dass sie noch hinter ihm her waren.
Lassiter marschierte weiter. Er sah aus wie ein mexikanischer Landarbeiter. Bastsandalen an nackten Füßen, verschossene Leinenhose, bunter Poncho, spitzkroniger Sombrero.
Sein scharfgeschnittenes Gesicht war von der Sonne verbrannt.
Die Geier kreisten jetzt tiefer, trauten sich aber noch immer nicht an das tote oder sterbende Wesen heran, das Lassiter nicht sehen konnte.
Aber dann war es endlich soweit.
Lassiter blickte hinunter in eine langgestreckte Senke. Er sah ein Maisfeld, eine karge Wiese, auf der drei magere Kühe weideten, und er sah die baufällige Hütte und den morschen Schuppen.
Der Mann hing an der Schuppenwand. Gekreuzigt. Man hatte Nägel durch seine Hände und Füße getrieben. Sein Körper war mit Pfeilen gespickt.
Er war tot, war langsam und qualvoll gestorben.
Aber warum wagten sich die Geier noch immer nicht an ihn heran?
Lassiter ließ seinen Blick schweifen. Irgendein lebendes Wesen musste sich noch in der Nähe der Hütte befinden. Jemand, vor dem sich die Raubvögel fürchteten.
Nach einer Weile erspähte er eine Bewegung am Rande des Maisfeldes. Eine Frau kauerte zwischen den Halmen, reglos, furchtsam lauernd, wie ein scheues Reh. Soweit Lassiter erkennen konnte, war sie nur notdürftig bekleidet. Sonnenlicht spielte auf ihrer bronzefarbenen Haut und auf dem Lauf des Gewehrs, das sie in den Händen hielt.
Lassiter wandte sich nach links. Er durfte sich dem Anwesen nicht offen nähern. Die Frau würde sofort schießen. Nach allem, was sie durchgemacht hatte, war das die wahrscheinlichste Reaktion.
Lautlos und geduckt glitt Lassiter den Hang hinunter. Das Maisfeld nahm ihn auf. Wie eine Schlange kroch er zwischen den großen Halmen hindurch. Ein aufgeschrecktes Kaninchen flitzte hakenschlagend davon.
Nach einer Weile sah Lassiter wieder die Frau. Sie kauerte noch immer an derselben Stelle. Sie weinte leise vor sich hin, ihre Schultern zitterten. Sie hatte kräftige Schultern, einen kräftigen Rücken. Ihre ganze Kleidung bestand aus einem roten Tuch, das sie sich um die Lenden geschlungen hatte.
Sie war noch jung, nicht viel älter als zwanzig, schätzte Lassiter.
Er näherte sich ihr lautlos. Als sein Schatten über sie fiel, warf sie sich herum.
Sie bewegte sich sehr schnell. Und sie schoss sofort. Aber in derselben Sekunde, als sie abdrückte, schlug Lassiter den Lauf des Gewehrs beiseite. Die Kugel zupfte an seinem Poncho und fetzte durch die dichtstehenden Maishalme.
Lassiter zog ihr die Waffe aus den Händen.
»Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte er auf Mexikanisch. »Ich bin nicht dein Feind.«
Seine Stimme schien beruhigend auf sie zu wirken. Sie starrte ihn lange an, ungläubig, erstaunt, hilflos.
Lassiter lächelte. Sie war gut gebaut, einen Kopf kleiner als er, kleine straffe Brüste, runde Hüften. Straffes, pechschwarzes Haar hing ihr bis über die Schultern.
»Wer bist du?«, fragte sie leise.
Er nannte seinen Namen.
»Americano?«, fragte sie.
Er nickte.
»Ich heiße Franca«, sagte sie.
Er deutete zum Haus hin. »Dein Mann?«
Sie nickte hastig. Dann begann sie wieder zu weinen. Er legte ihr den Arm um die Schultern und führte sie zum Haus. Ihre Haut war warm und weich. Es war schon Wochen her, seit er zum letzten Mal mit einer Frau zusammen gewesen war. Er spürte Verlangen in sich aufsteigen, aber dann dachte er an den Mann draußen an der Schuppenwand.
Zusammen mit der Frau ging er in die armselige Hütte. Das Innere war in zwei Räume unterteilt, einen Wohnraum und den kleineren Schlafraum. Die Einrichtung war ärmlich, aber sauber. Lassiter fand eine Flasche Tequila und füllte der Frau einen Becher. Sie trank gierig. Dann wankte sie zum Bett und ließ sich niedersinken. Mit geschlossenen Augen blieb sie liegen. Das Tuch um ihre Lenden war etwas verrutscht, so dass Lassiter jetzt fast ihren gesamten Körper bewundern konnte.
Er ging wieder nach draußen. Zum Brunnen. Er ließ den Holzeimer am Seil in die Tiefe und holte kühles, klares Wasser hoch. Er trank und steckte anschließend seinen Kopf in den Eimer. Dann kümmerte er sich um den Toten.
Der Mann sah entsetzlich aus. Blut hatte die morsche Holzwand des Schuppens gefärbt. Fünf Pfeile steckten in seiner nackten Brust. Lassiter fand eine Zange und zog die langen Nägel aus dem Holz. Etwas abseits vom Schuppen hob er ein Grab aus und legte den Mann hinein.
Als Lassiter ins Haus zurückkam, war die Frau eingeschlafen. Er fand im Vorratsschrank Rauchfleisch, Käse und Maisbrot. Endlich konnte er seinen knurrenden Magen wieder beruhigen. Nach dem Essen trank er Tequila. Dann zog er sich aus und legte sich neben die Frau auf das niedrige Bett.
Sie schlief fest. Es war die Nachwirkung auf den Schock.
Auch Lassiter schloss die Augen. Sein Körper verlangte nach Schlaf. Als er erwachte, war es dunkel in dem kleinen Raum. Durch den Glasperlenvorhang fiel gedämpfter Lichtschein. Die bunten Perlen glitzerten. Im Wohnraum hantierte Franca.
Lassiter stand auf. Es duftete nach gebratenem Fleisch und Tortillas. Er schob die Perlenschnüre beiseite. Franca stand vor der Feuerstelle. Es war noch immer recht warm, und ihr Gesicht war vom Feuer erhitzt. Sie trug als einziges Kleidungsstück weiterhin das rote Tuch, das sie wie einen Rock um ihre Lenden geschlungen hatte.
»Du wirst Hunger haben«, sagte sie mit ihrer herben Stimme.
Er ging zu ihr hin und zog sie an sich. Sie wehrte sich nicht, sondern presste ihre Brust gegen ihn. Er streichelte über ihren Rücken, löste das Lendentuch. Sie ließ es wie etwas völlig Selbstverständliches geschehen.
Ruhig ging sie vor ihm her auf die kleine Kammer zu. Ihre Schenkel waren ein wenig zu dick, und sie hatte einen leicht watschelnden Gang. Aber sonst stimmte alles an ihr.
Sie ließ sich auf das Bett sinken und maß ihn mit einem hungrigen Blick.
Schweigend legte er sich neben sie. Er war erregt, und das Pochen in seinen Lenden wurde fast unerträglich.
Er wälzte sich über sie. Ihre runden Hüften hoben und senkten sich. Ihre Augen brannten, und die Innenseiten ihrer Schenkel waren heiß und feucht.
Ohne Umschweife drang er in sie ein. Ihre festen Schenkel schlossen sich um seine Hüften. Sie keuchte und stöhnte und umklammerte seinen Nacken wie eine Ertrinkende. Und das hölzerne Bettgestell knarrte in immer schneller werdendem Rhythmus.
Schon sehr bald kam für den großen Mann die Entspannung. Aber die Frau hatte noch lange nicht genug. Sie lachte wild, und ihre Bewegungen wurden noch heftiger. Lassiter grinste. Er hätte sich nicht gewundert, wenn das Bett in diesen Minuten zusammengebrochen wäre.
Plötzlich stieß Franca ein Knurren aus. Es kam tief aus ihrer Brust und hatte tatsächlich Ähnlichkeit mit dem zornigen Knurren eines Raubtieres. So viel animalische Wildheit hatte Lassiter noch bei keiner Frau erlebt.
In dieser Mexikanerin steckte ein unglaubliches Temperament. Sie stöhnte, fauchte, schrie. Sie gönnte sich und dem Mann keine Pause.
Lassiter gab ebenfalls nicht nach. Ihr Zusammensein hatte Ähnlichkeit mit einem zügellosen Kampf. Franca schien den Mann in sich aufnehmen zu wollen wie ein vielarmiger Polyp. Aber schließlich war sie es, die die ersten Ermüdungserscheinungen zeigte.
Schwer atmend lag sie neben ihm.
»Du kannst bei mir bleiben«, sagte sie. »Die Farm wirft genug ab, um zwei Leute zu ernähren.«
Er schüttelte grinsend den Kopf.
»Ich muss weiter.«
»Wohin?«
»El Paso.«
»Nimm mich mit, Lassiter.«
»Was willst du in El Paso?«
»Ich möchte mich vor Sartana in Sicherheit bringen.«
»Ist das der Kerl, der deinen Mann auf dem Gewissen hat?«
Sie nickte.
»Er ist ein Schuft«, sagte sie. »Hast du schon mal von ihm gehört, Lassiter?«
Er schüttelte den Kopf.
»Früher war er Waffenschmuggler«, erzählte sie. »Heute handelt er mit Mädchen. Ein lohnendes Geschäft. Er verkauft sie an die Bordelle in großen Städten. Sie werden dort wie Sklavinnen gehalten. Wer nicht gehorcht, wird schwer bestraft. Wenn man einmal in den Händen dieser Schufte hängt, ist man verloren.«
»Und warum musste dein Mann sterben?«
Sie setzte sich auf und strich sich gedankenverloren über die Spitzen ihrer Brüste.
»Sehe ich eigentlich sehr gut aus, Lassiter?«
Er grinste. »Kommt darauf an«, meinte er. »So etwas ist Geschmackssache. Mir gefällst du. Bis auf die Tatsache, dass du ziemlich breit in den Hüften bist und dadurch etwas gedrungen erscheinst. Aber wie gesagt, das ist alles Geschmackssache. Möglicherweise bist du in den Augen dieses Señor Sartana die schönste und begehrenswerteste Frau auf der Welt.«
»Sartana begehrt mich«, sagte sie. »Er ist wild auf mich. Vor drei Tagen war er hier und wollte mich mitnehmen. Paco sagte, er solle sich zum Teufel scheren. Als das geschah, stand Paco mit dem Gewehr hinter dem Fenster und bedrohte Sartana. Der ritt davon. Es blieb ihm nichts anderes übrig, da er allein war. Heute ist er zurückgekommen. Mit einem Teil seiner Bande. Ich konnte mich im letzten Augenblick verstecken. Ich hörte noch, wie sie Paco einen verdammten Verräter nannten. Dann schlug ihn jemand mit dem Gewehrkolben nieder, und sie kreuzigten ihn an der Wand des Schuppens. Es war schrecklich. Niemals werde ich seine Schreie vergessen...«
Von der Erinnerung überwältigt, begann sie wieder zu schluchzen. Lassiter wartete, bis sie sich wieder beruhigt hatte. Nach einer Weile sprach sie weiter.
»Sartanas Männer stöberten mich anschließend drüben im Maisfeld auf. Sie brachten mich zu ihm. Er demütigte mich draußen vor der Hütte. Vor den Augen seiner Banditen. Vor den Augen meines sterbenden Mannes...«
»Warum hat er dich nicht mitgenommen?«
»Er möchte, dass ich hierbleibe«, sagte sie. »Die Farm soll in Zukunft gewissermaßen als Station dienen, als Stützpunkt. Ich soll immer für ihn da sein. Und damit ich keine Möglichkeit zur Flucht habe, hat er die beiden Mulis mitgenommen, alles Geld – und meine Kleider. Bis auf dieses Tuch. Sartana ist sicher, dass ich so niemals fliehen kann. Bis zum nächsten Dorf sind es fünfzehn leguas. Diesen Weg schaffe ich niemals.«
Lassiter nickte. Das war in der Tat eine für diese Frau unüberbrückbare Entfernung, zumal sie kein Pferd und keine Kleider mehr besaß.
»Er hat dir das Gewehr gelassen«, murmelte er. »Das ist gut. Wir werden es gebrauchen können.«
»Du nimmst mich also mit?«
Er nickte. Sie würde zweifellos eine Belastung für ihn sein. Aber gleichzeitig reizte es ihn, diesem großspurigen Sartana ein wenig in die Suppe zu spucken.
Franca stand auf und schlang sich das rote Tuch wieder um die Hüften. Lassiter zog sich ebenfalls an und folgte ihr in den Wohnraum. Hungrig machte er sich über den Chilibraten und die Tortillas her. Die Mexikanerin war eine ausgezeichnete Köchin.
Draußen pochte Hufschlag durch die Nacht. Die Frau wurde steif.
Sie sah Lassiter erschrocken an.
»Sartana«, flüsterte sie.
Lassiter stand auf und nahm das Gewehr an sich, das neben der Feuerstelle an der Wand lehnte. Es war eine siebenschüssige Spencer. Im Magazin waren noch sechs Kugeln.
»Hast du noch mehr Munition?«, fragte er.
Sie schüttelte den Kopf.
»Was jetzt, Lassiter?«
»Abwarten«, sagte er lässig.
Der Hufschlag wurde stärker. Lassiter schätzte etwa ein Dutzend Reiter. Sie kamen von Norden und schienen es nicht sehr eilig zu haben. Er setzte sich wieder, füllte sich den Becher mit Tequila. Das Gewehr lag vor ihm auf dem Tisch. Sein Rücken war durch die fensterlose Südwand der Hütte gedeckt.
Die Reiter hielten draußen an.
»Franca!«
Die Stimme des Rufers klang herrisch, keinen Widerspruch duldend. Kalt. Befehlsgewohnt. Aber nicht unangenehm.
»Hier bin ich, Sartana!«, rief die Frau.
»Komm raus!«
Franca sah Lassiter fragend an. Der nickte. Zögernd setzte sie sich in Bewegung, öffnete die Tür einen Spalt breit und schlüpfte ins Freie.
Lassiter schlürfte an seinem Tequila. Gelassen hörte er den Stimmen draußen zu.
»Wo ist er?«, fragte Sartana.
»Ich – ich habe ihn begraben«, sagte die Frau zögernd.
»Habe ich dir nicht verboten, ihn abzunehmen?«, fragte Sartana mit trügerischer Sanftheit. »Er sollte doch an diesem Platz bleiben, bis ihn die Geier gefressen haben.«
Lassiter holte sein letztes Zigarillo aus der Hemdtasche und zündete es hinter vorgehaltener Hand an. Er wartete auf eine Antwort der Frau, aber in ihrer Angst brachte sie wahrscheinlich kein Wort hervor.
Eine andere Stimme meldete sich jetzt. Guttural. Anscheinend ein Indianer.
»Ich glaube nicht, dass sie das alleine geschafft hat, Capitan. Vielleicht ist jemand hier gewesen.«
»Ich habe es allein getan!«, rief Franca hastig. »Bei allen Heiligen, ihr müsst mir das glauben.«
Sie ist viel zu aufgeregt, dachte Lassiter. Ihre Stimme verrät sie.
»Wenn du uns belogen hast, wirst du sterben«, sagte Sartana kalt. »Wie Paco, dein Mann...«
Pferde tänzelten unruhig. Sattelleder knarrte. Metall klirrte. Jemand schritt mit klingelnden Sporen auf die Hütte zu. Die Tür wurde aufgestoßen.
Zuerst stolperte die Frau über die Schwelle. Der Mann hinter ihr hatte ihr einen heftigen Stoß gegen den Rücken versetzt. Und dann stand er selbst breitbeinig im Türrahmen.
Lassiter saß ruhig da. Das glimmende Zigarillo hing in seinem Mundwinkel. Seine Rechte lag auf dem Kolbenhals der Spencer.
»Hallo, amigo«, sagte Lassiter.
Der Mann war groß und hager. Ein breitkrempiger, schwarzer Sombrero beschattete sein braunes Gesicht mit dem pechschwarzen Schnurrbart und der Messernarbe auf der linken Wange. Eine geflochtene Silberschnur und eine rote Feder zierten den Hut. Silberbeschläge glänzten auf dem Revolvergurt unter dem weiten, vorne auseinanderklaffenden schwarzen Umhang. Aus Silber waren die großen Chihuahua-Sporen an den weichen braunen Stiefeln.
In seinem Gesicht zuckte kein Muskel. Weder Furcht noch Überraschung waren ihm anzumerken.
»Gringo!«, sagte er verächtlich.
Lassiter hatte das Gewehr so gedreht, dass die Mündung auf den Bauch des Mexikaners zeigte. Hinter ihm tauchten einige seiner Männer auf.
»Seid vernünftig, hombres!«, rief ihnen Lassiter zu. »Schick Sie hinaus, Sartana. Du bist Sartana, oder?«
Der Mexikaner nickte. Er befahl seinen Leuten, die Tür zu schließen und sich ruhig zu verhalten.
»Du kannst dich setzen, Sartana«, sagte Lassiter.
Der Mexikaner blieb stehen.
»Ich nehme keine Einladungen von einem Gringo an«, sagte er feindselig. »Erst recht nicht in meinem Haus.«
»Dein Haus? Ich denke, es gehört Franca.«
»Ich habe es mir genommen. Also ist es jetzt mein Eigentum.«
Lassiter grinste.
»Ich finde dein Selbstbewusstsein imponierend«, sagte er spöttisch. »Du scheinst ein ausgesprochen einnehmendes Wesen zu haben.«
Der hochgewachsene Mexikaner überhörte den Spott.
»Wer bist du?«, fragte er. »Was suchst du hier?«
»Lassiter«, antwortete der Mann am Tisch. »Ich habe zwar nichts Bestimmtes gesucht, aber etwas Schönes gefunden. Zum Beispiel diese Frau. Sie gefällt mir, Sartana. Sie gefällt mir ebenso sehr wie dein glänzender Revolvergurt. Schnall ihn ab, amigo!«
Sartana war verblüfft. So hatte noch nie jemand mit ihm gesprochen. Aber ein Blick auf Lassiters entschlossenes Gesicht und ein weiterer Blick in die Gewehrmündung überzeugten ihn, dass es besser war, diesem Gringo keinen Ärger zu bereiten.
Oder sollte er doch...
Lassiters Stimme schnitt in seine Gedanken.
»Du kannst natürlich deinen Leuten den Befehl zum Angriff geben, Sartana«, sagte er. »Aber dann bist du in der gleichen Sekunde ein sehr toter Mann.«
Sartana maß ihn mit einem langen, düsteren Blick. Die beiden fochten ein stummes Duell mit den Augen. Lassiter hatte die Gefährlichkeit des Mexikaners längst erkannt. Er wusste, dass der kleinste Fehler oder das geringste Zeichen von Schwäche ihn das Leben kosten würde. Trotzdem war er eiskalt bis ins Mark.
»Du bist loco«, sagte Sartana. »Hier kommst du niemals lebend heraus.«
»Na und?«, gab Lassiter trocken zurück. »Ich habe mir noch nie eingebildet, ewig leben zu können.«
In diesem Augenblick nahm er an dem kleinen Fensterloch rechts von der Tür eine Bewegung wahr. Er feuerte blitzschnell, repetierte sofort durch und richtete die Mündung wieder auf Sartana.
Draußen war es nach dem Todesschrei eines Mannes wieder still geworden.
»Zum Teufel mit euch!«, schrie Sartana. »Habt ihr meine Befehle nicht gehört?«
»Es war Benito, Capitan!«, rief die gutturale Stimme des Indianers, den Lassiter schon einmal gehört hatte. »Er hat seine Strafe schon bekommen.«
»Wenn noch einer etwas versuchen will, dann gib ihm deine Machete zu kosten, Cuchillo!«, rief Sartana.
»Du siehst, dass ich meine Drohungen wahrmache, Capitan«, sagte Lassiter. »Lass uns endlich wie Männer verhandeln. Du hast nun mal im Augenblick die schlechteren Karten in der Hand. Mach dir nichts draus, Sartana.«
Der Mexikaner nickte. Er war mit Lassiter einer Meinung, obwohl es ihm schwerfiel, es vor sich selbst einzugestehen.
»Was verlangst du, Lassiter?«
»Zwei Pferde, Waffen und etwas Proviant«, sagte Lassiter.
»Bekommst du«, sagte Sartana schnell. Er war plötzlich von einer Bereitwilligkeit, die Lassiter ein Grinsen entlockte. Sartana rechnete sich jetzt schon seine Chancen für die Zukunft aus.
Auch Sartana grinste. Hinterhältig und zuversichtlich. Lassiter konnte nicht wissen, dass der Banditenboss jetzt schon eine Karte ausspielte, die erst viel später stechen sollte.
Von nun an wurde alles sehr schnell abgewickelt. Sartana rief seine Befehle. Dann verließ Lassiter mit der Frau und seinem Gefangenen die Hütte. Jetzt trug Lassiter Sartanas silberbeschlagenen Revolvergurt mit dem kostbaren 45er Colt Remington. Die Griffschalen waren aus Elfenbein und mit Silber ausgelegt. Auf der Innenseite des Kolbens war Sartanas Name eingraviert. Es war ein Einzelstück, das mindestens zweihundert Dollar gekostet hatte.
Draußen befanden sich sechs Männer. Der von Lassiter erschossene Bandit lag zusammengekrümmt auf der Erde. Etwas abseits standen drei Frauen, der Kleidung nach Amerikanerinnen. Im Mondlicht sah Lassiter nur die vagen Umrisse ihrer Gesichter. Eine von ihnen hatte langes, blondes Haar, das im Mondlicht golden glänzte. Lassiter ahnte, dass sie sehr schön war.
Mit dumpfer Hoffnungslosigkeit beobachteten sie, wie er sich in den Sattel schwang. Keine von ihnen sagte etwas. Sartana hatte sich ebenfalls auf sein Pferd gezogen, unablässig von Lassiters Gewehr bedroht.
Die sechs Banditen Sartanas standen in finsterem Schweigen. Der Capitan sagte ein paar beruhigende Worte zu ihnen und befahl, dass sie sich bis zu seiner Rückkehr ruhig verhalten sollten.
Dann ritten sie an und verschwanden in der Dunkelheit. Niemand folgte ihnen.
Lassiter wunderte sich, dass alles so reibungslos verlief. Dass sich ein so grausamer Bursche wie Sartana dermaßen widerstandslos in sein Schicksal ergab.
Aber wahrscheinlich brütete er jetzt schon finstere Rachegedanken aus.
»Wer waren diese drei Frauen?«, wollte Lassiter wissen.
»Keine Frauen«, sagte Sartana. »Muchachas aus Texas. Unsere Freundinnen.«
»Keine Freundinnen!«, rief Franca. »Was er betreibt, nennt man in Mexiko trata de blancas. Er handelt mit diesen Mädchen.«
»Schweig, Franca!«, knurrte Sartana. »Eines Tages werde ich dich auch noch holen und dich an das übelste Hafenbordell von Tampico oder Vera Cruz verkaufen.«
»Mich bekommst du niemals!«, schrie Franca. »Lieber sterbe ich.«
Sartana wandte sich wieder ungerührt an Lassiter.
»Nun, gringo«, sagte er spöttisch. »Möchtest du nicht auch noch versuchen, deine Landsleute zu retten? Wäre das nicht deine Pflicht als guter Americano?«
Lassiter schüttelte den Kopf.
»Ich habe genug eigene Sorgen«, sagte er. »Ich schätze, dass jetzt schon halb Texas hinter euch her ist, um euch die Mädchen wieder abzujagen. Und wie ich die Texaner kenne, werden sie es auch schaffen.« Sartana lachte.
»Dazu müssten sie erst wissen, wo sich die Mädchen befinden und wer sie entführt hat. Sie wissen ja noch nicht einmal, ob sie geraubt worden sind.«
»Ich werde es ihnen sagen!«, rief die Frau böse.
Der Mexikaner wischte verächtlich mit der Hand durch die Luft.
»Sie werden dir nicht glauben«, sagte er ruhig. »Denn du hast nicht den geringsten Beweis. Man wird deine Worte für das Geschwätz einer puta halten und dich auslachen.« Er wandte sein Gesicht wieder Lassiter zu. »Wie steht es mit dir, gringo?«
Lassiter grinste bei dem Gedanken, dass ausgerechnet er einen Sheriff aufsuchen sollte.
»Es ist dein Geschäft, Sartana«, sagte er.